Bedeutung der phonologischen Informationsverarbeitung für den Schriftspracherwerb
= Nutzung phonologischer Informationen (Sprachlaute einer Sprache) zur Verarbeitung gesprochener oder geschriebener Sprache
Wichtige kognitive Grundlage des Schriftspracherwerbs
Phonologische Informationsverarbeitung
Phonologische Bewusstheit
Phonologisches Arbeitsgedächtnis
Abruf phonologischer Informationen aus dem Langzeitgedächtnis (Benennungsgeschwindigkeit)
Phonologische Informationsverarbeitung - Phonologische Bewusstheit
= Fähigkeit, von der Bedeutungsebene der gesprochenen Sprache abzusehen und stattdessen ihre formalen lautlichen Aspekte zu betrachten
= Fähigkeit, lautliche Einheiten in der gesprochenen Sprache bewusst wahrzunehmen und zu manipulieren
= Fähigkeit zur Zerlegung von Wörtern in lautliche Einheiten (Analyse)
= Fähigkeit, lautliche Einheiten zu Wörtern zusammenzusetzen (Synthese)
In der Regel spontan in der Kindergartenzeit (Wörter in Silben zerlegen, Reimspiele, etc.), jedoch nur die phonologische Bewusstheit im weiteren Sinne
Bezieht sich auf größere lautliche Einheiten wie z.B. Silben oder Reime
Beispielaufgaben:
Zerlegung eines Wortes in Silben z.B. Ma-ma
Zusammensetzen von Silben zu einem Wort z.B. /ma/ + /ma/ ergibt Mama
Bezieht sich auf die kleinsten bedeutungsunterscheidenden lautlichen Einheiten (Phoneme)
Anlauterkennung z.B. Mama fängt mit /m/ an
Phonemsynthese z.B. /m/ + /a/ + /m/ + /a/ ergibt Mama
In der Regel in der Grundschulzeit parallel zum Schriftspracherwerb
Der schulische Einstieg in den Schriftspracherwerb beginnt mit der Vermittlung regelhafter Verbindungen zwischen Graphemen und Phonemen (Graphem-Phonem-Korrespondenzregeln)
Lesen und Schreiben unter Nutzung der Korrespondenzen zwischen Graphemen und Phonemen erfordert phonologische Bewusstheit
Studien zeigen, dass die phonologische Bewusstheit im Kindergartenalter und zu Schuleintritt die späteren Lese-Rechtschreibfähigkeiten vorhersagt
= Kleinste bedeutungsunterscheidende Einheiten geschriebener Wörter d.h. Buchstaben oder Buchstabengruppen, die mit einem Phonem korrespondieren
= Kleinste bedeutungsunterscheidene lautliche Einheiten einer Sprache
Umkodierung von Graphemen in Phoneme
Zusammensetzen der Phoneme zu einem Wort
Zerlegung eines gesprochenen Wortes in Phoneme
Umwandlung der Phoneme in Grapheme
Phonologische Informationsverarbeitung - Phonologisches Arbeitsgedächtnis
Dient der kurzfristigen Speicherung sprachlicher Informationen
Hält bei der Bearbeitung einer kognitiven Aufgabe aufgabenrelevante phonologische Informationen in einem aktiven Zustand
Beteiligung am Erlernen der Graphem-Phonem-Korrespondenzregeln
Beim Lesen: Speicherung der Phoneme bevor diese zu einem Wort zusammengesetzt werden
Studien zeigen, dass Leistungen des phonologischen Arbeitsgedächtnisses die späteren Lese-Rechtschreibfähigkeiten vorhersagen
Phonologische Informationsverarbeitung - Abruf phonologischer Informationen aus dem Langzeitgedächtnis (Benennungsgeschwindigkeit)
= Effizienz, mit der visuell präsentierte Objekte in eine phonologische Repräsentation umkodiert werden
Durch ein sehr schnelles und fehlerfreies Benennen von überlernten visuellen Items wie z.B. Farbnamen
Ist wichtig, um von einem geschriebenen Wort zu dessen lexikalischer Bedeutung zu gelangen
Studien zeigen, dass die Benennungsgeschwindkeit z.B. von Objekten oder Farbnamen die späteren Lesefähigkeiten vorhersagt
Die Benennungsgeschwindigkeit ist im Deutschen besonders relevant für die Leseentwicklung
Phonologische Bewusstheit ist im Deutschen besonders relevant für die Rechtschreibentwicklung
Phasenmodell der Lese-Rechtschreibentwicklung nach Frith
Grundlage sind empirische Daten zum Schriftspracherwerb im Englischen
Daher kann es vermutlich nicht in allen Punkten auf das Deutsche übertragen werden
Logographische Phase
Alphabetische Phase
Orthographische Phase
Die Phasen müssen in festgelegter Reihenfolge durchlaufen werden, weil die nachfolgenden Phasen auf den Lese-Rechtschreibstrategien der vorhergehenden Phase aufbauen
Beim Übergang in die jeweils nachfolgende Phase gehen die Lese-Rechtschreibstrategien der vorhergehenden Phase nicht verloren, sondern bleiben erhalten und können weiter verwendet werden
Phasenmodell der Lese-Rechtschreibentwicklung nach Frith - Logographische Phase -> Lesen
Erkennen bekannte Wörter direkt anhand hervorstechender graphischer Eigenschaften
Beispiel: Erkennen bekannte Firmennamen anhand der graphischen Aufmachung des Logos wie z.B. Kinder Schokolade
Phasenmodell der Lese-Rechtschreibentwicklung nach Frith - Alphabetische Phase -> Lesen
Nutzen Graphem-Phonem-Korrespondenzregeln zum Erlesen von Wörtern
Wandeln die Grapheme eines Wortes nacheinander in Phoneme um und synthetisieren sie dann, um das Wort zu lesen
Umwandlung der Grapheme in Phoneme
Synthese der Phoneme
Die alphabetische Lesestrategie erlaubt das Lesen von unbekannten Wörtern und Kunstwörtern
Gut: Erfolgreich beim Lesen von lautgetreuen Wörtern (direkte Übersetzbarkeit der Grapheme in Phoneme) z.B. Hut -> H = /h/ + u = /u:/ + t = /t/ -> /hu:t/
Schlecht: Schwierigkeiten und Fehler beim Lesen von nicht-lautgetreuen Wörtern z.B. lieb -> b = /p/ (Auslautverhärtung d.h. weiche Konsonanten werden am Ende von Wörtern hart ausgesprochen)
Phasenmodell der Lese-Rechtschreibentwicklung nach Frith - Orthographische Phase -> Lesen
Erkennen bekannte Wörter direkt durch den Abruf abstrakter Wortrepräsentationen aus dem Langzeitgedächtnis
Setzen bekannte Wörter aus verschiedenen orthographischen Einheiten zusammen z.B. Fußball = /fu:s/ + /bal/
Lesen ist nicht mehr phonologisch
Sondern: Lesen basiert auf größeren Einheiten
Auch nicht-lautgetreue Wörter können erfolgreich gelesen werden
Lesen erfolgt nicht mehr anhand hervorstechender graphischer Eigenschaften
Sondern: Direktes Worterkennen basiert auf der systematischen Zerlegung von Wörtern in orthographische Einheiten
Phasenmodell der Lese-Rechtschreibentwicklung nach Frith - Logographische Phase -> Schreiben
Schreibversuche haben bereits bestimmte lautliche Bezüge
Zu Beginn: Verschriftung so weniger Buchstaben, dass das dahinterstehende Wort nur schwer zu erkennen ist
Später: Skelettschreibungen d.h. das Geschriebene weist eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Wort auf, welches das Kind zu schreiben versucht
Phasenmodell der Lese-Rechtschreibentwicklung nach Frith - Alphabetische Phase -> Schreiben
Nutzen Graphem-Phonem-Korrespondenzregeln zum Schreiben von Wörtern
Zerlegen ein gesprochenes Wort in Phoneme und übersetzen dann die Phoneme in die dazugehörigen Grapheme
Übersetzung der Phoneme in Grapheme
Gut: Erfolgreich beim Schreiben von lautgetreuen Wörtern (direkte Übersetzbarkeit der Phoneme in Grapheme) z.B. /hu:t/ -> /h/ = H + /u:/ = u + /t/ = t -> Hut
Schelcht: Schwierigkeiten und Fehler beim Schreiben von nicht-lautgetreuen Wörtern z.B. Hund geschrieben als Hunt (Auslautverhärtung d.h. weiche Konsonanten werden am Ende von Wörtern hart ausgesprochen)
Phasenmodell der Lese-Rechtschreibentwicklung nach Frith - Orthographische Phase -> Schreiben
Schreiben bekannte Wörter direkt durch den Abruf abstrakter orthographischer Repräsentationen aus dem Langzeitgedächtnis nieder
Setzen bekannte Wörter aus verschiedenen orthographischen Einheiten zusammen z.B. /fu:s/ + /bal/ = Fußball
Wenden orthographische Regeln an wie z.B. Dehnungs- und Dopplungsregeln
Schreiben ist nicht mehr phonologisch
Sondern: Schreiben basiert auf größeren Einheiten
Auch nicht-lautgetreue Wörter können korrekt geschrieben werden
Übergeneralisierungen
Beispiel: Wörter, die auf “er” enden, werden gesprochen als hätten sie ein “a” am Ende -> Lernt das Kind diese Regel, kann es dazu kommen, dass es übergeneralisiert z.B. Zahnpaster statt Zahnpasta
Lese-Rechtschreibstörung
= Spezifische d.h. isolierte Störung des Leseerwerbs oder Lese- und Rechtschreiberwerbs, die nicht erklärbar ist durch:
eine allgemeine kognitive Beeinträchtigung (Intelligenz)
sensorische Defizite (Seh- oder Hörstörungen)
einen Mangel an schulischer Unterweisung
Entwicklungsstörung schulischer Fertigkeiten laut ICD-10
Persistierende Störung, die bis ins Erwachsenenalter andauert und von der mind. 5% der Bevölkerung betroffen sind
Drei-Ebenen-Rahmenmodell nach Frith zur Erklärung der Ursachen einer Lese-Rechtschreibstörung
Biologische Ebene
Kognitive Ebene
Verhaltensebene
Drei-Ebenen-Rahmenmodell nach Frith zur Erklärung der Ursachen einer Lese-Rechtschreibstörung - Biologische Ebene / Genetik
Die Wahrscheinlichkeit, dass die Eltern und Geschwister eines Kindes mit Lese-Rechtschreibstörung Leseprobleme haben, ist erhöht
Aber: Familien teilen neben den Genen auch die Umwelt, daher ist ein genetischer Einfluss nicht zweifelsfrei ableitbar
Der Anteil der Zwillingpaare, bei denen beide Zwillinge von einer Lese-Rechtschreibstörung betroffen sind, ist bei eineiigen Zwillingen größer als bei zweieiigen Zwillingen
Fazit: Die Lese-Rechtschreibstörung hat eine genetische Komponente
Nicht ein einzelnes bestimmtes Gen, sondern eine Konstellation verschiedener Gene
Genkonstellationen -> Subtile Effekte auf die Hirnentwicklung
Genkonstellation -> Anfälligkeit (Risiko) für die Entwicklung schwacher Leseleistungen, aber eine Lese-Rechtschreibstörung entsteht nicht zwingend
Genkonstellationen -> Nicht spezifisch für eine gestörte Leseentwicklung, sondern ebenso beteiligt an der Vererbung der Lesefähigkeiten allgemein
Drei-Ebenen-Rahmenmodell nach Frith zur Erklärung der Ursachen einer Lese-Rechtschreibstörung - Kognitive Ebene
Die Entwicklung der phonologischen Informationsverarbeitung steht mit der unbeeinträchtigen Entwicklung des Lesens und Schreibens in Beziehung
Menschen mit einer Lese-Rechtschreibstörung zeigen Defizite in der phonologischen Informationsverarbeitung
Kinder, die im Verlauf der Schulzeit eine Lese-Rechtschreibstörung entwickeln, zeigen bereits vor der Einschulung Defizite in der phonologischen Informationsverarbeitung
Phonologische Trainings können der Entstehung einer Lese-Rechtschreibstörung vorbeugen bzw. schriftsprachliche Leistungen von Kindern mit einer Lese-Rechtschreibstörung verbessern
Theorie: Lese-Rechtschreibstörung als Störung der phonologischen Informationsverarbeitung (Phonologische Theorie)
Ursache: Defizite in der phonologischen Informationsverarbeitung d.h. spezifisches kognitives Defizit in der Verarbeitung und Repräsentation von Sprachlauten
Theorie: Lese-Rechtschreibstörung als Störung der schnellen zeitlichen auditiven Verarbeitung (Auditive Theorie)
Ursache: Defizit in der Verarbeitung von auditiven Wahrnehmungsreizen, die durch schnelle zeitliche Übergänge und kurze Zeitdauern chrakterisiert sind
Folge: Störung der Entwicklung des phonologischen Systems d.h. Defizite in der phonologischen Informationsverarbeitung entstehen erst durch dieses Defizit (Ursache der Ursache)
Theorie: Lese-Rechtschreibstörung als Automatisierungsdefizit (Cerebellum Theorie bzw. motorische Theorie)
Ursache: Gestörte Automatisierung von gelernten mentalen Prozeduren im Cerebellum, was zu Defiziten in der phonologischen Informationsverarbeitung führt (Ursache der Ursache)
Cerebellum = Kleinhirn
Theorie: Lese-Rechtschreibstörung als Folge eines magnozellulären Defizits (Visuelle Theorie)
Ursache: Inadäquare Funktionsweise der magnozellulären Strukturen, was zu Defiziten in der phonologischen Informationsverarbeitung führt (Ursache der Ursache)
Beeinträchtigung der schnellen Kodierung und Verarbeitung transienter d.h. vorübergehender visueller Informationen
Suboptimale Integration der visuellen Teilinformationen während der frühen visuellen Verarbeitung
Störung des visuellen Steuerungs- und Optimierungsprozesses beim Lesen
Magnozelluläres System = Teilsystem der frühen visuellen Verarbeitung
Lese-Rechtschreibstörung als Störung der phonologischen Informationsverarbeitung (Phonologische Theorie)
Lese-Rechtschreibstörung als Störung der schnellen zeitlichen auditiven Verarbeitung (Auditive Theorie)
Lese-Rechtschreibstörung als Automatisierungsdefizit (Cerebellum bzw. motorische Theorie)
Lese-Rechtschreibstörung als Folge eines magnozellulären Defizits (Visuelle Theorie)
Alle Teilnehmenden mit einer Lese-Rechtschreibstörung zeigen phonologische Defizite d.h. haben eine Störung der phonologischen Informationsverarbeitung
Nur manche der Teilnehmenden mit einer Lese-Rechtschreibstörung zeigen auch andere kognitive Defizite d.h. haben darüber hinaus auch eine der drei anderen Störungen
Fazit: Die phonologische Theorie scheint am plausibelsten
Phonologische Defizite d.h. eine Störung der phonologischen Informationsverarbeitung zeigt nur etwa die Hälfte der Teilnehmenden
Aber: Phonologische Defizite d.h. eine Störung der phonologischen Informationsverarbeitung ist dennoch die vorwiegende Ursache
Fazit: Es gibt auch nicht-phonologische Typen der Lese-Rechtschreibstörung
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