Klassische Theorien der Denkentwicklung: Piaget‘s Stadientheorie
• Erste umfassende kognitive Theorie der Entwicklung
• Stufentheorie: vorhergehende Stufen= notwendige Basis für weitere Entwicklung
• Kognitivistisch-konstruktivistischer Ansatz:
Das sich entwickelnde Individuum
− ist aktiv
− konstruiert Wissen als Reaktion auf Erfahrungen
− ist intrinsisch zum Lernen motiviert
Piagets Theorie der Denkentwicklung
–> „Genetische Epistemologie“ (Entwicklung des Erkennens)
• Umfassende Theorie kognitiver Entwicklung: (Alters–) bereichsübergreifend
• Strukturalismus: Annahme abstrakter übergeordneter Denkstrukturen, die die Möglichkeiten und Beschränkungen auf der jeweiligen Entwicklungsstufe bedingen
• Stadientheorie
• Entwicklung des Denkens= aktiver Auseinandersetzung mit der Umwelt
• basierend auf Beobachtungen und Befragungen von Kindern verschiedenen Alters
Entwicklungsverlauf: Stadientheorie:
• Vier aufeinander aufbauende Stufen
• Qualitative Veränderungen: Kinder verschiedenen Alters denken qualitativ unterschiedlich
• Breite Anwendbarkeit: versch. Themen und Domänen
• Kurze Übergangszeit
• Invariante Abfolge
„Motoren“ der Entwicklung: Erkenntnistheoretische Grundannahmen
• Konstruktivistische Erkenntnistheorie
• Wissen als Produkt eines aktiven, erfahrungsgetriebenen Konstruktionsprozesses
• Lernen durch konstruktive Aktivität wichtiger als direkte Wissensvermittlung
• Intrinsische Neugier des erkennenden Subjekts
Interaktion von Anlage und Umwelt in der kognitiven Entwicklung
• Adaptation: Kinder reagieren auf Umweltanforderungen
• Organisation/Strukturierung: Partikuläre Erfahrungen werden in kohärentes Ganzes integriert
• Äquilibration: Nach Gleichgewicht strebender Prozess des Zusammenspiels von Assimilation (Einpassung neuer Erfahrung in vorhandene Strukturen) und Akkommodation (Anpassung der Strukturen an neue Erfahrungen)
• Vorhandene Strukturen noch nicht ausreichend, um neue Situation meistern (verstehen, handeln) zu können –> Adaptationsprozesse
Stadien der Denkentwicklung
Sensumotorische Phase
0 - 2 Jahre
• Handeln im Hier und Jetzt
• Entwicklung der Intelligenz durch sensorische und motorische Fähigkeiten in 6 Stufen
•Vor dem 8. Lebensmonat keine Objektpermanenz: Wenn ein Objekt außer Sicht ist, wird nicht danach gesucht, mit 1: Tendenz dorthin zu greifen, wo man ein Objekt zuvor gefunden hat, nicht dorthin, wo es zuletzt versteckt wurde
• ~ 2 Jahre: Fähigkeit zur zeitlich verzögerten Nachahmung als Beginn der Fähigkeit zu dauerhaft mentaler Repräsentation
Präoperationale Phase
2 – 6/7 Jahre (Vorschulalter)
• Sprach- und Symbolgebrauch
• Zunehmendes Ersetzen sensorischer Aktivität durch geistige Aktivitäten
• Fähigkeit zur symbolischen Repräsentation
• Einbeziehen von Vergangenheit und Zukunft
• Egozentrismus: Welt ausschließlich aus der eigenen Perspektive wahrzunehmen
• Zentrierung: sich auf ein einzelnes, auffälliges Merkmal eines Objekts konzentrieren
–> Fundamentale Einschränkungen des Denkens im Vorschulalter:
• Kinder bilden interne Repräsentationen, aber sind noch nicht fähig, diese mental zu manipulieren
• logisches Folgern
• Grundlegende Begriffe (Raum, Zeit, Kausalität) noch nicht entwickelt
• Unfähigkeit zur Repräsentation linearer Ordnungen und Schlussfolgerungen
• Unfähigkeit zur Perspektivenübernahme (Egozentrismus)
• Unfähigkeit zur Unterscheidung zwischen Schein und Sein
Piagets Drei-Berge-Versuch:
Kinder sollen das Bild auswählen, das der Perspektive der Puppe auf dem gegenüberliegenden Stuhl entspricht.
Die meisten Kinder unter sechs Jahren wählen das Bild, das die Szene so zeigt, wie sie ihnen selbst erscheint.
Schwierigkeit, die eigene Perspektive von der anderer zu trennen
Verfahren zur Prüfung der Invarianzkonzepte
Die meisten Vier- und Fünfjährigen sagen, dass die höhere Flüssigkeitssäule mehr Flüssigkeit enthält.
Konkret- operationale Phase
7 – 12 Jahre (Grundschule)
• Fähigkeit zu Transformationen durch mentale Operationen
–> logisch statt intuitiv denken
• Konzepte: Invarianz, Inklusion, Kausalität, Perspektiven
• Aber: logische Denkprozesse auf konkrete Situationen beschränkt
• Probleme beim Nachdenken über hypothetische Situationen
Formal-operationale Phase
• ab 12 Jahre (Sekundarschule)
• Denken in Möglichkeiten (abstrakt, hypothetisch, schlussfolgernd)
• Analysekomplexer Probleme: Prüfung von Hypothesen und systematisches Experimentieren
• Eigene Perspektive ist eine von vielen möglichen
• nicht alle Menschen erreichen dieses Stadium
Piaget: Fazit
+ Breiter Überblick über die Entwicklung
+ Berücksichtigung verschiedener Aufgaben und Altersgruppen
+ Faszinierende Beobachtungen
+ Antrieb für weitere Forschung
- Keine repräsentativen Stichproben
- Neue Untersuchungsmethoden zeigen manche Konzepte schon bei deutlich jüngeren Kindern
- Mehr Variabilität innerhalb von Stufen als angenommen: In vertrauten Inhaltsbereichen argumentieren/handeln Kinder auf einem höheren Niveau als in unvertrauten
- Die Theorie ist zu vage in Hinblick auf zugrunde liegende Mechanismen.
- Bedeutung der sozialen Interaktion für die Denkentwicklung wird kaum thematisiert
Pädagogisch-praktische Implikationen
–> Beachtung der kognitiven Voraussetzungen in der entsprechenden altersgemäße Erwartungen
• Bsp. Mangelnde Fähigkeiten zur Perspektivenübernahme erschweren soziales/kooperatives Lernen bei Vorschulkindern
• ABER: Piaget unterschätzte die Fähigkeiten von Kindern –>Wenn Aufgaben in Inhaltsbereich und Anforderungen passend konstruiert werden, sind auch junge Kinder schon zu deutlich höheren Leistungen fähig
Weiterentwicklung durch „kognitive Konflikte“
• zwingen das System zur „Akkommodation“ seiner Strukturen
• Lernen nur durch aktive Auseinandersetzung
• Gerade jüngere Kinder: Beginn mit Aktivitäten, „Herumprobieren“
–> Befunde und Erklärungen aus Sicht der Informationsverarbeitungstheorien und domänenspezifischer Ansätze zeigen, wie und warum die von Piaget ursprünglich postulierten Einschränkungen so im pädagogischen Bereich nicht haltbar sind
Klassische Theorien kognitiver Entwicklung: Vygotsky: Soziokulturelle Entwicklungstheorie
• Kinder sind soziale Wesen
• Personen gestalten Situationen so, dass andere mit geringeren Kenntnissen etwas lernen können
–> Lernen als Nebenprodukt gemeinsamer Aktivitäten
• Soziale Interaktion als Kerngeschehen, in dem Wissen angeeignet wird
• Kognitive Entwicklung = gesellschaftlich vermittelter Prozess
• Denken = verinnerlichter Dialog mit Anderen
Sozio-kulturelle Theorien: Zentrale Konzepte
• Angeborene, von äußerer Welt kontrollierte elementare Funktionen: Aufmerksamkeit, Sinneseindrücke, Wahrnehmung, Gedächtnis
• Diese elementaren Werkzeuge entwickeln sich durch die Interaktion mit der Umwelt weiter zu inneren höheren mentalen Funktionen
• Psychologische Werkzeuge: Helfen das Denken zu Organisieren, vermitteln zwischen Kind und Umwelt: Sprache, Zahlen- und Schreibsysteme
Zone proximaler Entwicklung
• Bereich der Leistungsfähigkeit = was das Kind ohne Hilfestellung kann und dem, was es mit optimaler Unterstützung bewältigt
• Entwicklung am wahrscheinlichsten, wenn das Denken des Kindes von einer lehrenden Person auf geringfügig höherem Niveau unterstützt, als es dem Kind von sich aus möglich wäre
• Wenn einfachere Aspekte einer Aufgabe beherrscht, auf höherem Niveau über Aufgabe nachdenken
• ideal sind Aufgaben, die noch zu schwer sind, um sie ganz allein zu lösen, aber innerhalb der ZPE
Soziale Stützung (Scaffolding)
• kompetentere Person bietet Rahmengerüst, welches Denken des Kindes auf höherer Ebene ermöglicht, als Kind von sich aus bewältigen könnte
− Erklärung des Ziels einer Aufgabe
− Aufzeigung von Lösungswegen
− Hilfe bei der Ausführung
• Stützmaßnahmen werden mit der Zeit zurückgeschraubt, bis Kinder Aufgabe auch allein ausführen können
Sozio-kulturelle Theorien: moderne Vertreter
Jerome Bruner (1915 – 2016, USA):
• maßgebliche Beteiligung an der „kognitiven Wende“
• führte den Begriff des “Scaffolding” ein
• Drei Ebenen der konzeptuellen Entwicklung
− Enaktive Ebene: Lernen durch Handeln (Bsp. Umblättern von Bilderbüchern)
− Ikonische Ebene: Lernen mit Bildern und Grafiken (Lernen durch Bilder in Büchern)
− Symbolische Ebene: Abstrakt-Begriffliches Lernen (z.B. Lernen durch Lesen)
• Gedanke des “Spiralcurriculums”:
–> Grundannahme: Bei Anwendung didaktischer Reduktion geeigneter Repräsentationsformen kann Lernen jeden Alters jeder Gegenstand gelehrt werden. –> Über die kognitive Entwicklung hinweg werden gleiche Themengebiete immer wieder auf zunehmend höherem Verständnisniveau bearbeitet
Barbara Rogoff
• Beschäftigt sich vor allem mit der Rolle der Kultur für kognitive Entwicklung und Lernen
• Konzept der „gelenkten Partizipation“: Kinder nehmen an Aufgaben teil, erhalten nach und nach anspruchsvollere Teilaufgaben, die sie schrittweise selbstständiger erfüllen
Intuitives Scaffolding im kulturellen Kontext (Rogoff et al., 1993)
• Eltern und Kleinkinde wurden bei einer Aufgabe beobachtet
• Kulturelle Settings:
− US-amerikanische Kleinstadt
− Großstadt in der Türkei
− Traditionelles Dorf in Indien
− Bergstadt in Guatemala
• Überall fanden sich Formen des Scaffolding,
z.B. Herunterbrechen in Teilschritte, kollaboratives Vorgehen, aber es ließen sich deutliche Unterschiede finden:
− Urbane Eltern verwendeten am meisten Sprache und Gesten, aber kaum Berührung und Blickkontakt
− Indische Eltern verwendeten sprachliche, gestische und kontaktbasierte Methoden ausgewogen
− Guatemaltekische Eltern verwendeten allgemein am meisten der beobachteten Verhaltensweisen
• Lernen durch kooperative Lernformen–>Interaktion mit kompetenteren Partnern
• Unterstützung des Lernens auf geringfügig höherem Niveau
– Vorgabe von Zielen
– Aufzeigen von Lösungswegen
– Hilfestellung beim schwierigsten Teil der Aufgabe
– Schrittweiser Abbau der Unterstützung
• Von sozialem Sprechen zu innerem Sprechen
– Aufmerksamkeitssteuerung
– Exekutive Funktionen
– Problemlösen
Kernwissenstheorien
–> Manche Arten von Wissen scheinen früh vorhanden und leicht erlernbar zu sein
–> Annahme spezialisierter Wissens- und Lernsysteme mit evolutionärem Vorteil
• Annahme einer biologischen Prädisposition für grundlegende Konzepte
Wie verändert sich Wissen, wie entsteht neues Wissen?
- Anreicherung vorhandener Wissensbestände
- Umstrukturierung / Entstehung neuen Wissens:
Theorie:
• erklärt begriffliche Entwicklung analog zum Theoriewandel in der Geschichte
• Auf der Basis angeborenen Kernwissens entstehen früh in der Kindheit zusammenhängende begriffliche Systeme („intuitive Theorien“)
• Funktion dieser intuitiven Theorien: viele Einzelphänomene eines Bereichs anhand weniger Grundprinzipien (Kausalmechanismen) zu erklären
Intuitive Theorien
Grundannahmen:
Auf Basis angeborenen Kernwissens entstehen früh in der Kindheit zusammenhängende begriffliche Systeme
Funktion intuitiver Theorien: Einzelphänomene eines Bereichs anhand weniger Grundprinzipien (Kausalmechanismen) erklären
Intuitive Theorien sind
domänenspezifisch
gekennzeichnet durch domänenspezifisches Begriffssystem und Kausalprinzipien
Entwicklungsmechanismen:
Der Input aus der Umgebung setzt die domänenspezifische Informations- verarbeitung in Gang, aber Kernprinzipien werden niemals durch Erfahrung revidiert
Entwicklung und Lernen durch:
− Anreicherung von Kernwissen
− Bildung und Restrukturierung größerer begrifflicher Systeme (intuitve Theorien)
Intuitive Psychologie
Ermöglicht alltagspsychologische Handlungserwartungen und –erklärungen
Schon Säuglinge haben absichtsvolle Zielgerichtetheit
Kleinkinder unterscheiden zwischen beabsichtigten und unbeabsichtigten Verhaltensweisen
Zuschreibung von mentalen Zuständen (Wünsche,...), zur Handlungsvorhersage und Handlungserklärung
Theorieanalogie:
Mentale Zustände
− sind nicht direkt beobachtbar
− ermöglichen Verhaltensvorhersagen und –erklärungen
− für den Phänomenbereich menschl. Handelns spezifischer Erklärungsmechanismus
− Schema: begriffliches System
Bsp. Intuitive Psychologie Wahrnehmung und Entscheidung
• Schon 2-3jährige verstehen, dass Handlungsentscheidungen von Zielen und Absichten der handelnden Person abhängen
• Beginnendes Verstehen von Wahrnehmungsperspektiven im Kiga-Alter
• Aber: Erst mit ca. 4 Jahren können Kinder explizit verstehen, dass Menschen falsche Überzeugungen haben können
Schulalter: Weiterentwicklung der Intuitiven Psychologie
Theory of Mind mit dem Bestehen der Aufgabe zur falschen Überzeugung nicht „abgeschlossen“
Komplexere Konzepte und Zusammenhänge werden erst im Schulalter verstanden.
– (falsche) Überzeugungen höherer Ordnung (Maxi glaubt, dass Oma glaubt, dass er nicht weiß, was er zum Geburtstag bekommt....)
– uneigentliches Sprechen (z.B. Ironie)
– Lüge/Irrtum
– interpretative Prozesse
– Voreingenommenheiten und Kontextbedingungen
relevant zum Verständnis wissenschaftlicher Argumentation
Fazit domänenspezifische Ansätze
Forschung zeigt, dass Kinder schon deutlich früher als angenommen, über zentrale Konzepte in Kerndomänen verfügen
Diese Ansätze können frühe Kompetenzen und Verschiebungen erklären
Sie zeigen aber auch die Bedeutung von Fehlkonzepten in der Entwicklung für Instruktion auf:
- Unter der Annahme, dass schon Kinder nicht mit Nicht-Wissen, sondern mit alternativen Wissenssystemen über physikalische und biologische Phänomene in die Schule kommen, müssen diese intuitiven Theorien zum Ausgangspunkt von Instruktion gemacht werden
- Durch widersprechende Evidenz und alternative Erklärungen Umstrukturierung ermöglichen
- Theory of Mind: nicht nur relevant in Bezug auf soziale Kompetenzen, sondern auch in Bezug auf Verständnis des wissenschaftlichen Denkens
Informationsverarbeitungsansätze
• Vor allem ab Mitte der 1980er Jahre
• „Öffnung“ der „Black Box“ des Behaviorismus
• Das Individuum als aktiver Verarbeiter von Information → Das Kind als aktiver Gestalter seiner Entwicklung
Computermetapher
• Fragen:
− Welche Informationsverarbeitungsmechanismen bestimmen
kognitive Leistungen?
− Wie bilden Kinder Konzepte?
− Soziale Kognition: Wie verstehen sie die soziale Welt?
• Denken als Informationsverarbeitung –> Mensch – Computer Analogie
• Entwicklung als kontinuierliche Veränderungen
• Das Kind als Problemlöser
− Zielbestimmung–> Hindernisse–> Strategie–> Ziel
− Analyse von Prozessen, Modelle kognitiver Veränderung
− Fokus auf Lernen, Gedächtnis, Problemlösen
kennzeichnende Merkmale
• Genaue Spezifikation der zugrunde liegenden Denkprozesse
–> Computeranalogie
• (serielle) Informationsverarbeitung
• „Hardwarebeschränkungen“: Speicherkapazität, Leistungsfähigkeit
• „Softwarebeschränkungen“: verfügbare Strategien, Informationen
• Begrenzungen durch
− Gedächtniskapazität
− Effizienz der Denkprozesse
− Verfügbarkeitrelevanter Strategien und Wissensbestände
Überblick IV-Theorien: Was entwickelt sich?
Vergleich strukturgenetischer Ansatz – IV-Theorien: Was entwickelt sich?
Bsp.: transitives Schließen:
• Hans ist größer als Peter, Peter ist größer als Max–>Wer ist größer? Hans oder Max?
Erklärung:
• Piaget: Unfähigkeit, zu dezentrieren führt zu fehlerhaftem Schlussfolgern
• IV-Theorien: Gedächtnisproblem bei der Enkodierung der Prämissen
Test:
• Trainingsstudie: 4-, 5-, und 6-jährigen Kinder übten so lange, bis die Prämissen sicher eingespeichert hatten
–>Alle Altersgruppen leisteten transitiven Schluss überzufällig häufig korrekt
IV-Theorien – Was entwickelt sich?
Theorien kognitiver Entwicklung Zusammengefasst
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