Theorien zum Verhältnis von Rechtsordnungen
-es gibt zwei verschiedene Theorien, wie nationales und internationales Recht zueinanderstehen
-Dualismus:
-nationales und internationales Recht haben zwei eigenständige Rechtszwecke
-unterschiedliche Geltungsgründe, Regelungsgegenstände und Adressaten
-Monismus:
-einheitliche Gesamtordnung
-Recht gleicher Qualität des Stufebaus der Rechtsordnung
-dieselben Geltungsgründe, Regelungsgegenstände, Adressaten
Die Grundlegenden Fragen
-Wie gelangt nicht-staatliches Recht ins staatliche Recht?
-Wie erlangt es dort Geltung?
-Wie wirkt es dort?
-Wie ist es dort anwendbar?
-Welche Wirkung kann das Unionsrecht (nicht-staatlich) auf völkerrechtlichen Verträgen basierenden Rechtsordung haben, insbesondere in Bezug auf Mitgliedstaaten und Individuen?
3 Eigenschaften/Konstellationen
Funktionalität
Supranationalität
Verhältnis gegenüber den Mitgliedstaaten
® Funktionalistische Sichtweise des Unionsrecht – jede Rechtsnorm dient einem Zweck und sollte diesen effektiv verwirklichen
® EuGH: „effet utile“ = praktische Wirksamkeit/Effektivitätsgrundsatz
§ Auswirkung auf Rechtsprechung in Form der teleologischen Auslegung
® Bestimmungen der Verträge sind nicht Selbstzweck, lediglich Mittel zum Zweck (zur Erreichung der Unionsziele; Art 3 EUV)
® teleologische Auslegung gewichtiger als Interpretation des Wortlauts oder der Systematik
2.Suprantionalität
® Umschreibt folgende Eigenschaften der EU, die für klassische IOen untypisch sind:
§ Unionsrecht besitzt in den Mitgliedstaaten unmittelbare Geltung, wird nicht durch nationales Recht begründet, bzw. später durch dieses relativiert
§ Anwendungsvorrang vor nationalem Recht
§ Kann staatliche Behörden/Gerichte und Individuen unmittelbar berechtigen oder verpflichten
§ Union verfügt über unabhängige Beschlussorgane (z.B. Kommission, EuGH, EZB)
§ Soweit sie z.B. im Rat vom Willen der Mitgliedstaaten abhängig sind, kann grs auch nach dem Mehrheitsprinzip entschieden werden (nicht immer Einstimmig)
§ Union und Mitgliedsstaten unterliegen im Anwendungsbereich des Unionsrecht einer umfassenden obligatorischen Kontrolle durch EuGH
3.Verhältnis gegenüber Mitgliedstaaten
® = Kernpunkt einer langwierigen, aber wichtigen Diskussion und Rechtsfrage
® Grundsatz – Wirkung eines völkerr. Vertrags im innerst. Recht hängt vom jeweiligen nationalen Recht ab (in Ö z.B. Ratifikation durch Zustimmungsgesetz des Parlaments nach Art. 50 B-VG)
® Völkerr. Vertrag wird durch nationales Gesetz Bestandteil der geltenden nationalen Rechtsordnung – dadurch wird Vertragsinhalt Gesetz und kann auch durch späteres Gesetz innerstaatlich geändert werden
® Probleme?
o Diskrepanz staatliches Recht ß à Völkerrecht
o Uneinheitliche Wirkung in den Vertragsstaaten
® völkerr. Grundsatz ist daher im Unionsrecht nicht anwendbar
® ansonsten – völlige Fragmentierung der Unionsrechtsordnung
® im Unionsrecht à Gebot der einheitlichen Wirkung
® Wirkung des Unionsrechts ergibt sich aus einheitlichen Kriterien, welche das Unionsrecht selbst festlegt (damit der Disposition der Mitgliedstaaten entzogen)
® Dahinter: Gedanke des effet utile, praktische Wirksamkeit und Verwirklichung der Unionsziele
Unmittelbare Geltung
® betrifft Frage, ob und inwieweit Unionsrecht Bestandteil der Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten ist
® ¹ unmittelbare Anwendbarkeit
® Unionsrecht à gilt unmittelbar in allen MS, ist Bestandteil der nationalen Rechtsordnung; existiert dort, ohne von nationalen Umsetzungs- oder Vollzugsakten abhängig zu sein
® Konsequenzen dieser innerstaatlichen Geltung =
o Pflicht aller nationalen Gerichte/Behörden, Unionsrecht von Amts wegen zu beachten, z.B. und va. bei Auslegung
o Unmittelbare Verpflichtung dieser, Unionsrecht anzuwenden
o Fähigkeit des Unionsrechts, Individuen unmittelbar Rechte und Pflichten zur verleihen/aufzuerlegen
o Unionsrecht gilt innerstaatlich, bedarf nicht eines vermittelnden nationalen Rechtsaktes
o gilt neben dem staatlichen Recht und unabhängig davon
o bestimmt selbst, welche Rechtswirkungen es für die oder in den Mitgliedstaaten entfaltet
o Bestätigung in Art 288 Abs 2 AEUV: unmittelbare Geltung von VO nicht nur für sondern auch in jedem Mitgliedstaat
Unmittelbare Wirkung
o Innerstaatliche Geltung des Unionsrechts = Voraussetzung für dessen unmittelbare Wirkung
o Fähigkeit des Unionsrechts, ohne Inkorporations- oder Transformationsakte für nationale Behörden und Gerichte Bindungswirkung zu entfalten, sie bei entsprechender Bestimmtheit zu einer bestimmten Rechtsanwendung zu verpflichten und uU auch unmittelbar Rechte/Pflichten für Individuen zu begründen
Unmittelbare Anwendbarkeit
o damit verbunden: können unionsrechtliche Normen auch unmittelbar von mitgliedsstaatlichen Behörden angewandt werden, wenn diese z.B. individuelle Rechte begründen, auch wenn Norm nur wechselseitige Verpflichtungen zwischen Mitgliedstaaten festlegt?
§ Wortlaut von Artikel 12 (EWGV) enthält klares und uneingeschränktes Verbot, eine Verpflichtung, nicht zu einem Tun, sondern zu einem Unterlassen (= Zollverbot). Diese Verpflichtungen ist durch keinen Vorbehalt der Staaten eingeschränkt, der die Erfüllung von einem internen Rechtssetzungsakt abhängig machen würde
· Verbot des Artikels 12 eignet sich dazu unmittelbare Wirkungen in den Rechtsbeziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und den ihrem Recht unterworfenen Einzelnen zu zeugen
Eine zentrale Frage: Gegenüber und wem gilt das Unionsrecht und wie ist es damit anwendbar?
o Bindung der Staaten an das Unionsrecht = unumstritten
o Mitgliedstaat
Vertikalverhältnis bzw. umgekehrtes
Vertikalverhältnis
Individuum
o Individuum —> Individuum (Horizontalverhältnis) – nähere Prüfung erforderlich
o Beantwortet also die Frage, ob Unionsrechtsnorm zur Lösung eines Sachverhaltes vor nationalen Behörden/Gerichten herangezogen werden kann und damit Rechte und Pflichten begründet
o àim allgemeinen Völkerrecht untypisch
o Für das Unionsrecht durch das Unionsrecht selbst entschieden -> Rs 26/62 Van Gend & Loos (1963)
o Union als neue Rechtsordnung (Mitgliedstaaten haben ihr Souveränitätsrecht zu ihren Gunsten eingeschränkt)
o „eine Rechtsordnung, deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind“
o „Solche Rechte entstehen nicht nur, wenn der Vertrag dies ausdrücklich bestimmt, sondern auch auf den Grund von eindeutigen Verpflichtungen, die der Vertrag den Einzelnen wie auch den Mitgliedstaaten und Unionsorgane auferlegt“
o „nach dem Geist, der Systematik und dem Wortlaut ist (Art 30 AEUV) dahin auszulegen, dass er unmittelbare Wirkung erzeugt und individuelle Rechte begründet, welche die staatlichen Gerichte zu beachten haben“
o „das Ziel (der Verträge) ist die Schaffung eines gemeinsamen Markes, dessen Funktionieren die der (Union) angehörigen Einzelnen unmittelbar betrifft“
o „dieser Vertrag ist mehr als ein Abkommen, das nur wechselseitige Verpflichtungen zwischen den vertragsschließenden Staaten begründet“
Voraussetzungen für unmittelbare ANwendbarkeit von Unionsrechtsnormen
§ Norm hinreichend klar, bedarf keiner Konkretisierung
· + Art 157 AEUV
· - Art 3 Abs 1 EUV
§ Norm ist uneingeschränkt und unbedingt (keiner weiteren Bedingung abhängig)
· + Art 21 AEUV
· - Art 19 AEUV
§ Norm räumt Mitgliedstaaten kein Ermessen ein
· + Art 30 AEUV
· - Art 72 AEUV
-Auch Sekundärrecht unter diesen Voraussetzungen unmittelbar anwendbar
Verordnungen
§ Allgemeine Geltung, unmittelbar wirksam und anwendbar
§ vertikale und horizontale
Richtlinien
§ Rahmenregelung zur Rechtsangleichung/-vereinheitlichung
§ an Mitgliedstaaten gerichtet, muss in nationales Recht umgesetzt werden
§ unmittelbare Wirkung und Anwendbarkeit nur in bestimmten Fällen
Wichtigste Konsequenzen der unmittelbaren Anwendbarkeit
§ Verpflichtung der nationalen Behörden und Gerichte, von Amts wegen derartige Unionsrechtsnormen in Rechtsstreitigkeiten unmittelbar anzuwenden und daraus Rechtsfolgen abzuleiten
§ Recht von Einzelpersonen, sich von solchen Stellen auf diese Vorschriften zu berufen
Vorrang
o = Kollisionsregel; bestimmt, wie man Kollision/Konflikt zwischen Unionsrecht und nationalem Recht lösen kann, wenn sich diese sachlich widersprechen
o Wie könnte dies ausgestaltet sein?
§ Nationales Recht könnte eine Lösungsregel dafür enthalten -> Problem?
§ Unionsrecht selbst enthält Lösungsregel -> ungeschriebene Norm der Unionsverfassung aus Rs 6/64 Costa/ENEL (1964)
o SV: Italien verstaatlichte die Erzeugung/Verteilung von Strom gründete die jurstische Person ENEL (Ente nazionale per l’energia elettrica)
o Es folgte ein Rechtstreit zwischen ENEL und Signor Costa
o Costa machte Verletzung des Unionsrechts geltend -> Vorabentscheidungsverfahren vor EuGH
o Rechtsmeinung ital, Regierung -> staatliche Gerichte hätten nur innerstaatliches Recht anzuwenden
o Rs 6/64 Costa/ENEL (1964)
o EuGH: nutzte Gelegenheit, Verhältnis zwischen Unionsrecht und nationalem Recht zu präzisieren
Vorrang 2
o Recht der Union = „eigene Rechtsordnung, die bei Inkrafttreten in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen wurde und von ihren Behörden/Gerichten anzuwenden ist“
o „Gründung der (Union) für unbegrenzte Zeit“
o „mit eigenen Organen“, mit echten Hoheitsrechten aus der Beschränkung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten oder der Übertragung von Hoheitsrechten der Mitgliedstaaten auf die Union ausgestattet
o „es ist den MS unmöglich, gegen eine von ihnen auf der Grundlage der Gegenseitigkeit angenommene Rechtsordnung nachträgliche Maßnahmen ins Feld zu führen“
Kernpunkte
§ „Die Verpflichtungen, die die MS im Vertrag zur Gründung der (Union) eingegangen sind, wären keine unbedingten mehr, sondern nur noch eventuelle, wen sie durch spätere Gesetzgebungsakte der Signatarsaaten in Frage gestellt werden könnten“
§ „der Vorrang des (Unionsrechts) wird auch durch Artikel (288AEUV) bestätigt; ihm zufolge ist eine Verordnung „verbindlich“ und „gilt unmittelbar in jedem Mitgliedstaat. Diese Bestimmung wäre ohne Bedeutung, wenn die Mitgliedstaaten sie durch Gesetzgebungsakte einseitig ihrer Wirksamkeit berauben könnten. Dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließende Recht können wegen dieser seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen.“
o in Erklärung Nr. 17 der Regierungskonferenz 2007 kodifiziert (Erklärung = Anhang zu Verträgen):
§ die Konferenz weist darauf hin, dass die Verträge und das von der Union auf der Grundlage der Verträge gesetzte Recht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union unter den in dieser Rechtsprechung festgelegten Bedingungen Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten haben“
§ + bestätigendes Gutachten des juristischen Dienstes des Rates vom 22. Juni 2007
Tragweite des Vorrangs
§ Manche MS bzw. deren oberste Gerichte/Verfassungsgerichte: nationales Verfassungsrecht nicht von Vorrang umfasst (BVerfG: „unantastbarer Kerngehalt der Verfassungsidentität“)
§ Unionsrecht: Vorrang bezieht sich auf Rechtsquellen des Unionsrecht, wirkt auch gegen alle Quellen des nationalen Rechts à Abfederung: Art 4 Abs 2 EUV = Rücksicht der Union auf nationale Identität der MS
§ Vorrang ist von allen Einrichtungen der MS zu beachten
Vorrang ist nicht gleich Geltungsvorrang
o Vorrang = Anwendungsvorrang
o Geltungsvorrang – automatische Inexistenz des widersprechenden nationalen Rechts
o Anwendungsvorrang – widersprechendes nationales Recht existiert weiter, darf jedoch im Anwendungsbereich des Unionsrechts nicht angewendet werden (Rs 106/66 Simmenthal (1978))
o darf in Fällen mit reinem Inlandsbezug weiterhin angewendet werden
o Reichweite: umfasst auch nationale Verfassung und Grundrechte (Rs 11/70 Internationale Handelsgesellschaft (1970))
Last changed2 years ago