Was sind Zwangsstörungen
Zwangsstörungen - Zwangsgedanken und Zwangshandlungen
• Mehrheit aller Menschen (80%) mit Zwangsstörung leiden unter Zwangsgedanken u. Zwangshandlungen
• Zwangsgedanken: sich wiederholt, spontan aufdrängende Gedanken o. Vorstellungen, die starke Angst oder Unwohlsein auslösen
○ Meist auf etwas bezogen, das auf keinen Fall passieren sollte o. im extremen Gegensatz zu persönlichen Werten steht
Beispiele: Inhalte von Zwangsgedanken
• Kontamination, Verschmutzung: „Die Türklinke ist mit HIV kontaminiert.“
• Aggression: „Ich könnte mein Kind erstechen!“
• Zufälliges Unglück: „Ich könnte jemanden mit dem Auto angefahren haben.“
• Sozial unangepasstes Verhalten: „Ich könnte mich auf den Tisch übergeben!“
• Sexualität: „Ich könnte jemanden vergewaltigen.“
• Religion: „Ich versündige mich und verhalte mich blasphemisch.“
• Ordnung, Symmetrie: „Alles muss an seinen richtigen Platz.“
Zwangshandlungen: willentliche Handlungen oder Gedanken, zu deren Ausführung sich Betroffener gedrängt fühlt
• Ritualisierte Handlungen, die willentlich zur Reduktion von Anspannung oder zur Abwendung einer vermeintlichen Katastrophe ausgeführt werden
• Zweck: Neutralisierung vorangegangener Zwangsgedanken (ggf. verdeckt)
Unterscheidung:
• Zwangsgedanken treten ungewollt auf und lösen Angst aus
• Zwangshandlungen werden willentlich ausgeführt und wirken angstreduzierend
Häufige Inhalte von Zwangsgedanken u. Zwangshandlungen
Unterschied Zwangsgedanken und Zwangshandlungen
Zwangsgedanken:
• Drängen sich unwillentlich auf
• Werden als wesensfremd empfunden (ich- dyston)
• Wiederkehrend, anhaltend
• Gedanken, Impulse, Vorstellungen
→ Unwillkürlich
Zwangshandlungen:
• Widerstand gegen den Gedanken
• Gegenmaßnahmen
• Als übertrieben, unsinnig erlebt
• Ziel: Bannen einer Gefahr, Reduktion von Unruhe, Neutralisierung des Zwangsgedankens
→ Willkürlich
Eine Patientin hatte den Zwangsgedanken, ihre Familie mit Krebs anstecken zu können, und wusch und desinfizierte ihre Hände bis zu 40-mal am Tag, jeweils zwischen 5 und 20 min lang (Zwangshandlung).
Sie wusste, dass Krebs nicht durch Hautkontakt übertragen werden kann (obwohl sie sich dabei nicht 100 % sicher war), und sie empfand das dauernde Waschen meist als sinnlos und als außerordentlich störend. Dennoch wurde sie immer dann, wenn sie die Zwangsgedanken erlebte, ängstlich und verzweifelt und konnte die Sicherheit, ihrer Familie keinen Schaden zuzufügen, nur über das Händewaschen erlangen.
Der Waschvorgang war stereotypisiert, indem sie jeden Finger und jeden Teil der Hand in einer strengen Reihenfolge mit genau ausgearbeiteten Bewegungen wusch. Jedes Abweichen von diesen Regeln hatte zur Folge, dass der Waschvorgang wiederholt werden musste.
Zwangsstörung ICD 10
Angststörungen DSM-5
• Zwangsstörungen und PTBS werden nicht mehr unter Angststörungen gefasst, sondern in eigenen Kapiteln
• Zwangsstörungen werden gemeinsam mit körperdysmorpher Störung, Trichotillomanie, pathologischen Horten und Dermatillomanie in einem neuen Kapitel aufgeführt (Zwangsstörung und verwandte Störungen)
• Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) wird gemeinsam mit Akuter Belastungsstörung, reaktiver Bindungsstörung, Beziehungsstörung mit Enthemmung und Anpassungsstörungen in einem neuen Kapitel unter Trauma- and belastungsbezogene Störungen aufgeführt
Epidemiologie
-> Lebenszeit Prävalenz
-> Geschlechterverhältnis
Onset
Verlauf
Komobidität
Prädisposition
• Epidemiologie: Lebenszeit-Prävalenz 2-3%; bei Erwachsenen Frauen = Männer, bei Jugendlichen Männer > Frauen
• Schweregrad: + alleinstehend
• Onset: oft bereits im Kindes-/Jugendalter, mittleres Onsetalter 20 Lj. (Männer ~ 19 Lj., Frauen ~ 22 Lj.); bei etwa 65% aller Pat. vor 25 Lj., meist rascher Onset der Symptomatik; bei 50-70% Auslöser durch life event (z.B. Schwangerschaft, sexuelles Problem, Tod eines Angehörigen)
• Verlauf: meist langdauernd, Symptomatik fluktuierend oder konstant vorhanden
• Komorbidität: MD ~ 60%, soziale Phobie ~ 25%, oft auch Alkoholabhängigkeit, spezifische Phobie, Panikstörung
• Prädisposition: vorbestehende zwanghafte Persönlichkeitsstörung bei 15-35%
• Prognose:
○ negativ: geringer Widerstand, bizarre Zwänge, MDD, Persönlichkeitsstörungen;
○ positiv: gute soziale und berufliche Anpassung, auslösende Ereignisse, episodischer Verlauf
S3 Leitlinie Zwangsstörungen (Kordon et al., 2013)
Diagnostik
• Strukturierte klinische Interviews (z.B. SKID, DIPS)
• Fremdbeurteilungsverfahren: Vorhandensein, Schweregrad u. Ausprägung verschiedener Zwangsgedanken u. – handlungen
○ Yale-Brown Obsessive Compulsive Scale (Y-BOCS): Symptomcheckliste
• Selbstbeurteilungsverfahren: Symptombelastung
○ Hamburger Zwangsinventar (HZI)
○ Padua-Zwangsfragebogen
Differentialdiagnose bei Zwangssymptomen
Ätiologie
• Genetische und physiologische Faktoren: Anteil an Zwangsstörungen bei Verwandten ersten Grades von Erwachsenen mit einer Zwangsstörung ist annähernd zweimal so hoch
• Neurobiologisch: Gestörte kortiko-striato-thalamo-kortikale (CSTC-) Regelkreise
• Temperamentsfaktoren: Stärkere internalisierende Symptome, höhere negative Emotionalität und Verhaltenshemmung in der Kindheit
• Life- events: Körperlicher und sexueller Missbrauch in der Kindheit; belastende oder traumatische Lebensereignisse
• Lernpsychologisch: kognitives Modell von Salkovskis (1989)
-> Genetik
-> starke Genetik
-> Verwandte ersten Grades: doppelt so hohe Wahrscheinlichkeit, auch eine Zwangsstörung zu haben
-> Patient:innen mit einer Zwangsstörung haben eine genetische Vulnerabilität, die sie empfänglicher gegenüber anderen Umwelteinflüssen macht (z.B. Stress)
-> das führt zu einer Modifikation von anderen Genen, die wichtig für die Transmission von Glutamat, Serotonin und Dopamin sind
-> Transmitterveränderung führt zu einer In-Balancen von Striatum, Cortex und Thalamus
-> das wird dann in Verbindung gebracht mit den verschiedenen Dimensionen der Zwangsstörung (z.B. Symmetrie)
-> Kognitives Modell (Salkovskis, 1985)
• Erklärung von Zwangsgedanken durch katastrophisierende Bewertung von spontan auftretenden Gedanken (kognitiver Mechanismus) -> Gesunde messen solchen Gedanken keine weitere Bedeutung zu
• Häufige Überzeugungen von Zwangspatienten, die zu katastrophisierender Bewertung unsinniger Gedanken führen
-> es geht nicht um den Inhalt von den Gedanken
-> der Unterschied zwischen gesunden Menschen und Menschen mit einer Zwangsstörung liegt an der Häufigkeit und der Intensität der Gedanken
-> quantitativer Unterschied
Kontinuum
• Übersteigertes persönliches Verantwortungsgefühl
• Intrusion als Indikator für die eigene Persönlichkeit
• Zwangspatienten fühlen sich verantwortlich für eigene Gedanken und deren Bedeutung
• (Dysfunktionale) Grundannahmen sind zentral
• Übermäßige Bedeutungszuschreibung
• Die Interpretation einer Intrusion, nicht die Intrusion an sich, führt zu Unbehagen und neutralisierendem Verhalten
Dysfunktionale Grundannahmen:
• Thought-Action-Fusion: Gedanken führen zu Handlungen (Gedanke macht Ereignis wahrscheinlicher)
• Übersteigerte Verantwortlichkeit
• Überzeugung der Kontrollierbarkeit von Gedanken
• Perfektionismus
• Gefahrenüberschätzung
• Geringe Unsicherheitstoleranz
• Katastrophisierende Bewertung von an sich normalen Gedanken bedingt Angstanstieg und vermehrtes Auftreten des jeweiligen Gedankens und vermehrtes Richten der Aufmerksamkeit auf vermeintlich bedeutungsvollen Gedanken
• Konsequenz: Ausführung ritualisierter Zwangshandlungen zur Verhinderung der vermeintlich bevorstehenden Katastrophe
• Aufrechterhaltung von Zwangshandlungen durch operante Konditionierungsprozesse erklärt
○ Kurzfristige Reduktion der (durch Zwangsgedanken ausgelösten) Angst -> negative Verstärkung der Zwangshandlung
○ Langfristig 2 Konsequenzen:
§ erneutes Ausführen von Zwangshandlung bei erneutem Angstanstieg wird wahrscheinlicher
§ Betroffener lernt nicht, dass Katastrophe auch nicht eingetroffen wäre, wenn Zwangshandlung nicht ausgeführt worden wäre -> Irrglaube bleibt bestehen, dass Zwangshandlung effektives Mittel zur Katastrophenverhinderung ist
Therapie: KVT (Kognitive Verhaltenstherapie)
Zentrales Behandlungselement: Exposition mit Reaktionsverhinderung
• Konfrontation des Patienten mit Angst auslösenden Reizen, ohne Ausführung sonst folgender neutralisierender Zwangshandlungen
• Ziel: Habituation an Angst auslösenden Reiz:
○ Patient erlebt, dass Angst nach einiger Zeit alleine abnimmt, auch ohne Einsatz von Zwangshandlungen
• Wichtig: Beachtung der Nicht-Ausführung verborgener Rituale, diese verhindern Habituation
• Gemeinsame Herleitung des therapeutischen Vorgehens
○ individuelle Problemanalyse (Auslöser, Gedanken, Gefühle, Verhalten, lang- u. kurzfristige Konsequenzen werden angeguckt)
○ Ableitung von kognitiven Modell -> Zentral: Verständnis der lang- u. kurzfristigen Konsequenz von Neutralisierungsverhalten
• Parallel zur Konfrontation: Identifikation und Disputation expliziter irrationaler Überzeugungen
• Exposition als Verhaltensexperiment:
○ Überprüfung, ob antizipierte Katastrophe bei Nicht-Ausführung eintritt
○ Schrittweise Veränderung der zugrundeliegenden irrationalen Überzeugungen
○ Wichtig: gemeinsame Erarbeitung, dass erwünschte absolute Sicherheit nie gegeben sein wird -> Akzeptanz der Ungewissheit im Leben
• Wirksamkeit in mehreren kontrollierten Therapiestudien nachgewiesen
○ Erzielte ES deutlich über d=1.0
○ Stabile Symptomverbesserung (2 Jahres Follow-up)
○ Dennoch: Verweigerung oder Abbruch der Behandlung durch viele Patienten
Therapie
• KVT: Therapie der Wahl bei Zwangsstörungen
• Medikamentöse Behandlung:
○ Hoch dosierte SSRIs als Methode der Wahl i.d. medikamentösen Therapie der Zwangsstörung
○ Wirksamkeit mehrfach nachgewiesen
○ Problematisch: Absetzen der Medikamente -> Erneuter Anstieg der Symptomatik
• KVT-Behandlung erzielt im Vergleich zu medikamentöser Therapie stabilere Therapieerfolge
-> Tiefe Hirnstimulation (THS)
-> Verbesserung bei 60-70% der Patient:innen
-> Ungleichgewicht wird wieder hergestellt (zwischen Cortex, Thalamus und Striatum)
-> Wiederherstellung des Gleichgewichtes
-> Stimulation der Hirnareale führte:
- zur signifikanten Reduktion der Zwangshandlungen
- zur Verbesserung der kognitiven Flexibilität
- zur Verbesserung der Stimmung
Lernziele
- Symptome
- Epidemiologie/Verlauf
- Ätiologie (Biologische Modelle/Psychologische Theorien)
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