Was macht Verhaltensbeobachtungen in der psychologischen Praxis so wichtig?
Dient der Beschreibung des Verhaltens einer oder mehrerer Person(en)
Erlaubt Gewinnung ergänzender Informationen, die durch Tests, Fragebögen und diagnostische Interviews nicht zugänglich bzw. fehleranfällig sind, z.B.
wenn Selbstauskünfte von Personen nicht valide sind, etwa durch mangelnde Introspektionsfähigkeit („nicht können“) oder die Tendenz zur sozialen Erwünschtheit („nicht wollen“)
wenn sich das Sprach-/Kommunikationssystem von beobachteter und beobachtender Person unterscheidet
Beispiele
Sozialverhalten eines Kindergartenkindes
Symptome einer psychischen Störung (z.B. Depression); Zwangsverhalten eines Patienten
Interaktionsstile im Team, Verhalten einer Führungskraft im Mitarbeitergespräch
Welche Arten von Verhaltensbeobachtung gibt es?
Unterscheidung nach mehreren (kombinierbaren) Aspekten:
Systematik:
frei (Alltagsbeobachtung) oder systematisch (wissenschaftlich)
Ort:
im Feld oder Labor
Grad der technischen Vermittlung:
direkt oder indirekt
Offenheit der Datenregistrierung:
verdeckt oder offen
Grad der Teilnahme:
teilnehmend vs. nicht teilnehmend o wenn teilnehmend: aktiv vs. passiv
Perspektive:
Selbst- vs. Fremdbeobachtung
frei (Alltagsbeobachtung)
Beobachter*in entscheidet, was ihm/ihr wichtig ist
Kein Beobachtungsplan und -regeln
zur Exploration/Hypothesenbildung
systematisch (wissenschaftlich)
Beobachter*in protokolliert nach Vorgaben (durch Hypothesen), welche Beobachtungsgegenstand und -merkmale festlegen
Erfordert Kodierungsvorschrift/-system zur Datenregistrierung
Auswertungsregeln liegen vor
dient der Prüfung von Hypothesen
im Feld
Verhaltensbeobachtung und - registrierung im natürlichen Kontext
Eingeschränkte Kontrollmöglichkeiten
Externe Validität > Interne Validität
Labor
Höheres Maß an Kontrolliertheit und Ausschluss von Störeinflüssen
Künstlichkeit der Bedingungen
Externe Validität < Interne Validität
direkt
Flexible Anpassungsmöglichkeit des Beobachtungsblickwinkels
Gleichzeitige Verhaltensbeobachtung und Verhaltensregistrierung → reduktive Deskription (= eingeschränkte Erfassung des zu Beobachtenden)
indirekt
Trennung zwischen Beobachtung und Registrierung → Isomorphe Deskription (= vollständige Erfassung des zu beobachtenden Verhaltens)
verdeckt
Beobachtete wissen nicht oder vergessen, dass sie beobachtet werden (ethisch problematisch → Einverständnis)
Erfordert technischen Aufwand (z.B. Einwegscheiben, Tarnung)
Vermeidung von Reaktivität
offen
Beobachtete wissen über Beobachtung Bescheid → Reaktivität
Nichtteilnehmende Beobachtung:
Beeinflusst das zu beobachtende Geschehen nicht
Sofortige Protokollierung
Hoher Grad an Systematisierung
Teilnehmende Beobachtung:
Passiv: Beobachter*in läuft mit
kann Geschehen durch Anwesenheit beeinflussen
sofortige Protokollierung möglich
mittlerer Grad der Systematisierung
Aktiv: Beobachter*in agiert im Geschehen
beeinflusst das Geschehen durch Mitwirken
Datenregistrierung erst nach Geschehen möglich
geringerer Grad der Systematisierung
Fremdbeobachtung:
Mehrere Beobachtende möglich (Beobachterübereinstimmung)
Intersubjektive Objektivität steigt mit Anzahl der Beobachtenden
Selbstbeobachtung:
Registrierung (z.B. durch Tagebuch) von Verhalten, dass Introspektion bedarf (Denk-und Verarbeitungsprozesse) sowie anderem kaum durch Fremdbeobachtung zugängliches Verhalten (z.B. Sucht und Sexualverhalten)
Subjektiv, schwer kontrollierbar
Ambulatory Assessment
Vorteile:
Erfassung von Zuständen und Verhalten in alltäglichen Situationen (außerhalb des Labors)
automatische Datensicherung
Auslesen der Daten für statistische Weiterverarbeitung
Messung in kurzen Zeitabständen mit automatischer Alarm-und Erinnerungsfunktion
zuverlässiges zeitliches Protokollieren der Eingaben (einschließlich der Antwortlatenzen)
Unzugänglichkeit der vorausgegangenen Antworten
keine nachträgliche Änderungen der Eingaben möglich
Vermeidung von Retrospektionseffekten
Nach welchen Aspekten lassen sich Methoden der Verhaltensbeobachtung klassifizieren?
Nicht jede Situation ist gleichermaßen gut geeignet, um ein bestimmtes Verhalten zu beobachten
Trait-Relevanz
Eine Situation wird als relevant für einen Trait im Sinne der Trait Activation Theory erachtet, wenn sie „Cues“ enthält, die grundsätzlich geeignet sind, Trait-bezogenes Verhalten hervorzurufen.
-> wenn die notwendigen Cues enthalten sind, um einen Trait hervorzurufen
Situationsstärke
Sog. starke Situationen ungünstig, denn sie vermitteln klare Verhaltensanforderungen, sodass wenig / keine interindividuellen Unterschiede im Verhalten auftreten
Bsp: klatschen im Theater nach der Vorstellung, geprägt durch gesellschaftliche Normen, wenig Handlungsspielraum
Was für Arten der Verhaltensregistrierung / -beurteilung gibt es?
3 Arten der (reduktiven) Verhaltensregistrierung/-beurteilung
Zeichensystem -> Verhaltensregistrierung
Kategoriensystem -> Verhaltensregistrierung
Ratingverfahren -> Verhaltensbeurteilung
Zeichensystem
Verhaltensweisen werden als Zeichen für Zielmerkmale verstanden
Wenn in Beobachtungszeitraum keine „Zeichen“ auftreten, ist der Protokollbogen an dieser Stelle leer
Es können mehrere „Zeichen“ gleichzeitig auftreten
Unterscheidung in time-sampling (Häufigkeit wird erfasst, Dauer unerheblich) und event-sampling (Häufigkeit und Dauer wird erfasst)
Kategoriensysteme
Gesamter Verhaltensstrom auf begrenzte Zahl von Oberbegriffen reduziert
Ziel bei Entwicklung des Kategoriensystems: Verhalten wird vollständig erfasst, eindeutige Zuordnung zu einer Kategorie
Beispiel: Kategoriensystem für Partnerschaftliche Interaktionen
Ratingverfahren (Verhaltensbeurteilung)
Abbildung des Verhaltens auf Skalen
Höchstes Maß an Datenreduktion (geringste Objektivität)
Zu bevorzugen bei komplexem Verhalten
Welche Beobachterfehler können auftreten?
Halo-Effekt (Hof-Effekt):
Registrieren/Urteil über ein herausragendes Merkmal einer Person überstrahlt die Registrierung/Beurteilung eines anderen Merkmals
Konsistenzeffekte:
Informationen, die im Widerspruch zu unseren Überzeugungen/Erwartungen/Annahmen stehen, werden ignoriert oder abgewertet, während Informationen, die zu unseren Überzeugungen/Annahmen passen, bevorzugt oder aufgewertet werden
Kontrasteffekt
aufeinanderfolgende Beobachtungen beeinflussen sich
Reihenfolgeneffekte (Primacy, Recency):
Anfangs- und Schlussbeobachtungen werden als bedeutsamer angesehen als Beobachtungen in restlichen Zeit
Logischer Fehler:
Implizite Theorien über Zusammenhänge von Verhaltensweisen und Merkmalen leiten Beobachtung bzw. Beurteilung → Ausblendung oder Verzerrung wichtiger Informationen
Antworttendenzen bei Abbildung des Urteils auf Ratingskala
Milde-/ Strengeeffekt, Tendenz zur Mitte, Tendenz zu Extremurteilen
Beobachterdrift:
Nachlassen der Aufmerksamkeit des Beobachtenden
Reaktivität:
Beeinflussung der Beobachteten durch offene Beobachtung/Anwesenheit des Beobachtenden (z.B. Impression Management von Eignung oder Simulation von Symptomen)
Durch welche Maßnahmen kann man die Qualität von Verhaltensbeobachtungen steigern?
Vor der Beobachtung:
Beobachtungstraining
Standardisierung der Beobachtungssituation
Klare Definition der Beobachtungseinheiten
das was beobachtet werden soll, muss klar definiert werden
Eingrenzung der Beobachtung auf „Leistbares“
nicht sich zu hohe Ziele setzen, im Rahmen des Möglichen handeln
Einsatz mehrerer BeobachterInnen
damit valider und objektiver
Reflexion der eigenen Haltung gegenüber der Zielperson
Während der Beobachtung:
Ausrichten der Beobachtung ausschließlich auf im Beobachtungsplan enthaltene Verhaltensweisen
nur das beobachten, was auch beobachtet werden soll
Stichpunktartiges Protokollieren von konkretem Verhalten
Keine Bewertung während der Beobachtung vornehmen
Kein Austausch mit anderen BeobachterInnen
Supervision von Beobachtungen
Wodurch lässt sich eine geringe Beurteiler(innen)übereinstimmung anhand des Linsenmodells von Brunswick erklären?
Linsenmodell von Brunswik:
Linsen-Modell, von Brunswik skizzierter theoretischer Ansatz, der verstehen helfen soll, wie wir in einer probabilistischen Welt aus unseren Bobachtungen Schlüsse ziehen.
Wir können Ereignisse, Objekte oder Zustände in der Welt nie "direkt" erfahren, sondern nur über sensorische Informationen. Diese erlauben uns eine mentale Repräsentation von Ereignissen, Objekten oder Zuständen.
Im vereinfachten Modell ( Abb. ) stehen links distale, vom Beobachter "entfernte, Zustände der "Welt" (e steht für environment), die über proximale, mehr oder weniger ökologisch valide Hinweisreize (cues), erfahrungsbezogener Gewichtung sowie mometanem subjektivem Eindruck im kognitiven System zu einem Urteil zusammenfließen.
Wozu dient Cohen‘s Kappa?
Cohen‘s Kappa
für nominalskalierte und dichotome Daten geeignet
zwei BeobachterInnen (Interrater-Reliabilität)
Gute Übereinstimmung erfordert Werte zwischen .60 und .75; >.75 sehrgut
Wozu dient Intra-Class-Correlation?
ICC (Intra-Class-Correlation)
mindestens Intervallskalenniveau
Annahme, dass Urteile durch additive Verknüpfung der wahren Merkmalsausprägung der beurteilten Personen, indiv. Merkmale des Beurteilers (z.B. ind. Strenge) und zufällige Fehlerkomponente ergeben
Die Reliabilität von Beurteilungen ist definiert als Anteil der Varianz der Beurteilungsdaten, der durch die wahre Merkmalsvarianz der beurteilten Personen erklärt werden kann.
Verschiedene Arten, je nachdem
ob alle BeobachterInnen alle Fälle beurteilen
ob die BeobachterInnen zufällig ausgewählt wurden
ob systematische Messfehler – z.B. durch ähnliche Einflüsse auf Beobach- terInnen (z.B. Besuch derselben Uni) berücksichtigt werden müssen
Gute Übereinstimmung erfordert Werte ≥ .75 (sehr gut: ≥ .90)
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