Lernziele
- Symptome
- Epidemiologie/Verlauf
- Diagnostik
- Ätiologie (Biologische Modelle/Psychologische Theorien)
- Behandlung (wenn thematisiert)
Vorher hatten wir: Emotionale Störungen des Kindesalters (F93)
Kennzeichnend für diese Gruppe von Störungen:
Verstärkung normaler Entwicklungstrends
Entwicklungsbezogenheit ist das diagnostische Schlüsselmerkmal zur Abgrenzung der emotionalen Störungen mit Beginn in der Kindheit (F93) von den Angst-, Belastungs- und somatoformen Störungen (F40-48)
Vorher hatten wir: Störungen sozialer Funktionen des Kindesalters (F94)
Abweichungen in der sozialen Funktionsfähigkeit
Abgrenzung zu tiefgreifenden Entwicklungsstörungen (F84): keine offensichtlich konstitutionellen sozialen Beeinträchtigungen oder Defizite in allen Bereichen sozialer Funktionen
Jetzt haben wir: Störungen des Sozialverhaltens (F91)
-> Wann liegt ein Hinweis für störungsverhalten vor?
F91
sich wiederholendes und anhaltendes Muster dissozialen, aggressiven und aufsässigen Verhaltens
Verhalten übersteigt die altersentsprechenden sozialen Erwartungen und muss mindestens 6 Monate oder länger bestanden haben
Beispiele:
extremes Maß an Streiten oder Tyrannisieren
Grausamkeit gegenüber anderen Personen oder Tieren
erhebliche Destruktivität gegenüber Eigentum
ungewöhnlich häufige und schwere Wutausbrüche
F91 Untergruppen
Kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (F92)
Kombination von anhaltendem aggressiven, dissozialen oder aufsässigen Verhalten und offensichtlichen und eindeutigen Symptomen von Depression, Angst oder anderen emotionalen Störungen
Sowohl Kriterien für Störungen des Sozialverhaltens im Kindesalter (F91.-) als auch für emotionale Störungen des Kindesalters (F93.-) bzw. für eine erwachsenentypische neurotische Störung (F40-F49) oder eine affektive Störung (F30-F39) müssen erfüllt sein
Störung des Sozialverhaltens mit depressiver Störung (F92.0)
Sonstige kombinierte Störung des Sozialverhaltens und der Emotionen (F92.8)
Regulationsstörung - Was ist das
Extreme Ausprägungen eigentlich typisch kindlicher Verhaltensweisen in den ersten 3 Lebensjahren wie exzessives Schreien, Ein- und Durchschlafstörungen sowie Fütterstörungen
für das Alter oder den Entwicklungsstand außergewöhnliche Schwierigkeit, sein Verhalten angemessen zu regulieren
Gekennzeichnet durch Symptomtrias (Papousek et al. 2010): wechselseitige Abhängigkeit zwischen
dem Verhalten des Kindes
der Belastung der Eltern
Störung der Eltern-Kind-Beziehung
meisten Regulationsprobleme sind vorübergehend (Papousek et al., 2010)
Prognose eher schlecht, wenn:
mehrere Regulationsbereiche betroffen sind
Entwicklungsverzögerungen (z. B. der Motorik, Sprache) vorliegen
zwischen Eltern und Kind schwer veränderbare Kommunikations- und Beziehungsmuster vorherrschen
Resultat dann:
schwerwiegende und langfristige Probleme der Eltern-Kind-Beziehung und der kindlichen Entwicklung (z. B. postnatale Depression auf mütterlicher Seite, Vernachlässigung und Misshandlung des Kindes oder Beziehungsstörungen aufseiten der Eltern)
Regulationsstörung: Epidemiologie
MARI-Studie (Maternal Anxiety in Relation to Infant Development; Martini et al., 2017):
exzessives Schreien: 10.1 %
Ein- und Durchschlafprobleme: 12.2 %
Fütterprobleme: 36.4%
Risiko für exzessives Schreien und Fütterprobleme signifikant erhöht bei Kindern, deren Mütter eine Angststörung vor oder in der Schwangerschaft hatten
Risiko für frühkindliche Schlafprobleme signifikant erhöht bei Kindern, deren Mütter eine depressive Störung vor oder in der Schwangerschac haften
Regulationsstörung: Therapie
Regulationsstörungen sind gut, mit geringem zeitlichem Aufwand und Fokus auf Interaktions- und Beziehungsmuster behandelbar
Therapeutische Elemente:
Psychoedukation und Entwicklungsberatung
Entlastung der Eltern durch Informationsvermittlung und emotionale Unterstützung
Herbeiführen einer Reizreduktion und geregelten Tagesstruktur
Durchbrechen negativer Interaktionskreise
bei Schrei- und Schlafstörungen i.d.R. ambulante Beratung und Behandlung ausreichend
bei Fütter- und Essstörungen mit entsprechendem Schweregrad und Chronizität auch stationäre Aufnahme in Betracht ziehen
Störungen des Sozialverhaltens (F91)
Unterschied zwischen Jungs und Mädchen
Kategorien
Verschiedene Arten
Unterscheidung zwischen reaktiven/ impulsiven und instrumentellen/ proaktiven Formen aggressiven Verhaltens (unterscheiden sich hinsichtlich Auslösern, aufrechterhaltenden und begleitenden Faktoren):
Reaktive/ impulsive Formen aggressiven Verhaltens:
in der Regel nicht geplant
ausgelöst durch eine erlebte Bedrohung
offen ausgeübt
Konsequenzen in der Regel negativ
Handlungen werden begleitet von Emotionen wie Enttäuschung und Wut oder Angst
instrumentelle/ proaktive Formen aggressiven Verhaltens:
Aggression verläuft eher verdeckt
in der Regel mit positiven Konsequenzen verbunden (z. B. Machtgewinn oder materielle Vorteile)
F91 Epidemiologie
Untergruppen
Lebenszeitprävalenz 15%; Anteil von Störungen des Sozialverhaltens an psychischer Gesamtmorbidität in der späten Kindheit ca. 50 %; im Jugendalter ca. 40 %
Häufige Komorbiditäten: Substanzmissbrauch, hyperkinetische Störungen, depressive und Angststörungen
ca. 50 % erfüllen im Erwachsenenalter die Kriterien für eine dissoziale PS
Aggressive Verhaltensweisen i.d.R. erstmals im Vorschul- und frühen Grundschulalter; Vollbild in später Kindheit bis früher Jugend
2 Untergruppen:
Typ mit Beginn in der Kindheit (vor 10. Lj.) -> vorrangig körperliche Aggressionen und gestörte soziale Beziehungen zu Gleichaltrigen
Typ mit Beginn in der Adoleszenz (nach 10. Lj.) -> günstigere Prognose; Symptomatik weniger stark ausgeprägt und häufig Rückbildungen bis hin zum Erwachsenenalter
Einteilung leicht mittel schwer
F91 Diagnostik
Fragebogen zum aggressiven Verhalten von Kindern (FAVK; Görtz-Dorten und Döpfner , 2010)
Erfassungsbogen für aggressives Verhalten in konkreten Situationen (EAS; Petermann und Petermann, 2015)
Fragebogen zur Erfassung von Empathie, Prosozialität, Aggressionsbereitschaft und aggressivem Verhalten (FEPAA; Lukesch, 2005)
Inventar zur Erfassung von Impulsivität, Risikoverhalten und Empathie bei 9- bis 14-jährigen Kindern (IVE; Stadler et al., 2004)
F91 Therapie und Behandlungsziele
Abbau von Spannungen und Unruhe
Aggressivitäts- und Selbstkontrolle (Impulskontrolle)
Förderung differenzierter Selbst- und Fremdwahrnehmung
Einüben angemessener Selbstbehauptung
Erlernen kooperativer und unterstützender Verhaltensweisen, Kommunikationstraining
Aufbau prosozialer Verhaltensweisen
Psychopharmakologische Behandlungsmaßnahmen zur Minderung der Aggressivität und Impulsivität mittels Antikonvulsiva, Stimulanzien und Neuroleptika; Verringerung komorbider Störungen mittels Antidepressiva oder Lithium
Disruptive, Impulskontroll- und Sozialverhaltensstörungen
Was ist das und was zählt dazu
Schwierigkeiten, Emotionen und Verhaltensweisen zu kontrollieren
Verhaltensweisen sind mit einer Verletzung der Rechte Dritter verbunden (z. B. Aggression, Zerstörung von fremdem Eigentum) und/oder bringen Betroffene in erhebliche Konflikte mit gesellschaftlichen Normen oder Autoritätspersonen
Störung mit Oppositionellem Trotzverhalten
Intermittierende Explosible Störung
Störung des Sozialverhaltens
Antisoziale Persönlichkeitsstörung
Pyromanie
Kleptomanie
ICD 11
Störung mit Oppositionellem Trotzverhalten DSM-5
Störung des Sozialverhaltens DSM-5
Störung des Sozialverhaltens - Reduzierte Prosoziale Emotionalität oder Callous-Unemotional (CU)
Was ist das
Besondere Untergruppe der Störung des Sozialverhaltens: besonders aggressiv, mehr instrumentelle und vorgeplante Aggression, stabilerer Verlauf ins Erwachsenenalter
Fallbeispiel: Justin, 7 Jahre alt
Wiederholtes antisoziales Verhalten: nicht impulsiv, sondern durchgeplant, sadistisch und vorsätzlich (Bsp. er wartete so lange, bis keine Erwachsenen in der Nähe waren, ging ins Badezimmer mit anderen jungen Kindern und goss ihnen heißes Wasser über ihre Hände in dem Versuch, sie zu verbrühen)
Gegenüber Erwachsenen: gefällig, überangepasst, oberflächlich, unaufrichtig, zeigte keine realistische Reue und fuhr trotz negativer Konsequenzen mit seinen negativen Handlungen fort
Kontraindiziert: Soziales-Kompetenz-Training
Therapie: Hochintensive, langfristige stationäre Jugendhilfemaßnahmen mit dem Ziel, Empathiedefizite zu kompensieren und prosoziales Verhalten zu lernen
Fallbeispiel: Devon, 16 Jahre alt
Wiederholung der 2. Klasse der Grundschule und 5. Klasse der erweiterten Realschule, Abgang nach der 7. Klasse, wegen umfassender Fehlzeiten kein HSA
Redebereit, freundlich, nicht altersgerecht auftretender, sehr unbedarft wirkender Jugendlicher bei durchschnittlicher Intelligenz
Wiederholtes antisoziales Verhalten: nicht impulsiv, sondern durchgeplant, sadistisch und vorsätzlich (z.B. schüttete heimlich Putzmittel in den Kaffee der Putzfrau)
Gegenüber Erwachsenen: gefällig, überangepasst, oberflächlich, unaufrichtig, manipulativ, erpresserisch, zeigte keine realistische Reue und fuhr trotz negativer Konsequenzen mit seinen negativen Handlungen fort
CU Eigenschaften
CU-Eigenschaften: Ableitung vom Psychopathie-Konzept des Erwachsenenalters mit 3 Domänen (Pisano et al., 2017):
Interpersonell: Narzissmus, Grandiosität, verbale und manipulative Fähigkeiten, soziale Kompetenzen, oberflächlicher Charme, Egozentrizität
Impulsiv-waghalsig: fehlendes Verantwortungsbewusstsein, Neigung zu Langeweile, Suche nach Neuem, antisoziales Verhalten
Emotional: fehlende Empathie und Reue, d.h. CU- Eigenschaften
Entwicklung von CU-Eigenschaften (Frick et al., 2014)
Gewissen: Schuldgefühl und Empathie -> Prosoziales Verhalten ↑
Schuldgefühl: Gedanken und Gefühle von Leid bei Regelverletzungen, entwickelt sich im 2. Lebensjahr
Empathie: Hineinversetzen und Verstehen emotionaler Zustände anderer, entwickelt sich im 2.-3- Lebensjahr
Kognitive Charakteristika bei CU (Frick et al., 2014; Pisano et al., 2017)
Verbale Intelligenz ↓
Kreativität ↓
Analytisches Denken ↓
Empathie, Reaktion auf Leid anderer ↓
Gesichtserkennung von Angst und Trauer ↓
Reaktion auf negative Stimuli, Bestrafung ↓
Schuldzuweisung an andere ↑
Akzeptanz von Aggression, um Ziele zu erreichen ↑
Betonung von Dominanz und Rache in sozialen Konflikten ↑
CU (Pisano et al., 2017)
Ätiologie, Prävalenz, Diagnostik
Prävalenz: ca. 12-46% der Betroffenen mit Störung des Sozialverhaltens weisen CU- traits auf -> schlechtere Prognose
Ätiologie: 42-68% der ätiologischen Varianz durch genetische Faktoren erklärbar
Umweltfaktoren:
Elterliches Temperament, Persönlichkeitsmerkmale, Interaktion, Armut, niedrigerer sozioökonomischer Status, Peer-Gruppen-Einflüsse
Erziehungsverhalten: geringe Wärme, Strenge, Inkonsistenz, Strafen, Aggression
Diagnostik: Inventory of Callous-Unemotional Traits (ICU; Frick et al., 2004)
CU- Therapie
Intensive, spezifische Therapie angepasst an emotionale, kognitive und motivationale Voraussetzungen
CARES Programm (Coaching and Rewarding Emotional Skills), Alter 3.5-8 Jahre, Ziele:
Gesichtsausdrücke erkennen
Emotionales Verständnis fördern
Prosoziales Verhalten trainieren
Positive Verstärkung o.g. Ziele
Frustrationstoleranz erhöhen
Medikation:
Keine spezifische Therapie
Bei ADHS: Methylphenidat
Bei Aggression: Risperidon und andere Neuroleptika
Disruptive Affektregulationsstörung DSM-5
Disruptive Affektregulationsstörung
Warum eine neue Diagnose?
Bislang gab es keine Kategorie, die die Symptomatologie von Kindern erfasste, die primär und fundamental aufgrund von nicht episodischer Irritabilität beeinträchtigt sind.
Bei der Störung mit Oppositionellem Trotzverhalten ist Irritabilität für die Diagnose nicht zwingend notwendig -> kann allein auf der Grundlage von oppositionellem Verhalten diagnostiziert werden. (was ist dann mit massiv reizbaren Kindern?)
Probleme mit kindlicher bipolarer Störung
Von 1994 – 2003 stieg in den USA die Diagnoserate von bipolaren Störungen bei Kindern um 4000 %
Diagnose wurde entwickelt um Kinder zu identifizieren, die NICHT die Diagnose für bipolare Störung erfüllen aber trotzdem signifikant beeinträchtigt sind.
Störung mit Oppositionellem Trotzverhalten (ODD) vs. Disruptiver Affektregulationsstörung (DMDD)
15% der ODD Patienten erfüllen DMDD Kriterien, alle Patienten mit DMDD Kriterien erfüllen ODD Kriterien
Schwere affektive Dysregulation mit 10.6 Jahren und chronische Gereiztheit mit 13.8 Jahren: Prädiktor für Major Depression im Erwachsenenalter -> daher im Kapitel affektive Störungen (Copeland et al., 2009, Brotman et al., 2006, Leibenluft et al., 2006)
Prädiktoren im Alter von 3 Jahren für DMDD im Alter von 6 Jahren (Dougherty et al., 2014)
ADHS
Störung des Sozialverhaltens mit oppositionellem Verhalten
Geringere Eingliederung bei Gleichaltrigen
Temperament (geringere Kontrollmöglichkeiten)
Sucht bei den Eltern
-> Höhere elterliche Feindseligkeit Rate von DMDD von unter 6jährigen betrug 8 %. Es fanden sich zahlreiche prädiktive Indikatoren, bei den 6jährigen zahlreiche komorbide Störungen.
DMDD epidemiologie
DMDD trat mit allen häufigen psychiatrischen Störungen auf -> höchste Komorbidität mit depressiver Störung (Betroffene, die im Alter von 10 Jahren die Diagnosekriterien erfüllten waren im Alter von 18 Jahren 7x häufiger von einer depressiven Störung betroffen)
Bei 62 – 92 % lag bei DMDD gleichzeitig eine andere Störung vor
Bei 32 – 68 % lag eine emotionale und Verhaltensauffälligkeit vor (internalisierende und externalisierende Verhaltensauffälligkeiten)
Kinder mit DMDD zeigten soziale Einschränkungen, häufiger Schulverweise, häufiger Inanspruchnahme sozialer Services und Armut
DMDD Differentialdiagnose (bipolare Störung vs DMDD)
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