Klassifikationssystem
Es gibt aktuell 2 international gebräuchliche Klassifikations-Systeme:
Das DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) und
Die ICD-10 (International Classification of Diseases)
Sie unterscheiden sich hinsichtlich der Diagnosenbezeichnungen nur geringfügig (jedoch z.T. Unterschiede in den Inhalten!)
DSM-5 ist spezifisch für unser Fachgebiet und damit homogener, konsistenter, expliziter und ausführlicher als ICD-10
ICD-11 kommt bald
Historisches zur Klassifikationssystemen
Expert*innengremien haben sich zusammengesetzt … mit allen Vor-und Nachteilen (das ist bis heute nicht anders)
Relativ breiter Interpretationsspielraum in der Terminologie
wenige explizite Definitionen
Enthielten viele ungeprüfter ätiologischer Annahmen (Neurose vs. Psychose, endogen vs. Reaktiv; endogene Depression nicht haltbar -> ließ sich trotzdem teilweise in Klassifikationssystem finden, nicht ausreichend belegt (von innen entstehende Depression)
Folgen
Unzuverlässigkeit (geringe Reliabilität)
Keine / geringe Validität
Keine Übereinstimmung zwischen Diagnosen unterschiedlicher „Schulen“ und Ländern, keine gemeinsam „Sprache“ für die an der Versorgung psychisch Kranker beteiligten Berufsgruppen
Hohe unspezifische Stigmatisierungsgefahr
Was sollen Klassifikationssysteme leisten? I
Hinreichende Reliabilität
Übereinstimmung mit Forschungsergebnissen zur Validität diagnostischer Kategorien
Annehmbarkeit für Anwender*innen verschiedener theoretischer Orientierungen
Verzicht auf unbelegte (theoretische) Annahmen
Konsens über zuvor widersprüchlich verwendete Begriffe
Verzicht auf historisch „aufgeladene“ Begriffe
(vgl. Neurosenbegriff, aber auch aktuelle Begrifflichkeiten)
Brauchbarkeit für Therapie, Forschung und weitere Anwendung unter verschiedenen Bedingungen …
Was sollen Klassifikationssysteme leisten? II
Noch spezifischer für die Anwendung:
Zuordnung von präventiven und therapeutischen Maßnahmen (auch Kontraindikationen)
Diagnosen weltweit vereinheitlichen (schulenunabhängig) -> internationale Kommunizierbarkeit
Diagnostische Zuverlässigkeit erhöhen (Reliabilität)
Zukunftsgerichtete Forschung ermöglichen
Krankenstatus (Behandlung der Krankheit kann von den Krankenkassen bezahlt werden)
Weitere Rechtsfolgen (z.B. Schuldunfähigkeit, Arbeitsunfähigkeit)
ICD-10 und DSM-IV / DSM-5
Prinzipien:
Atheoretisch (basiert nicht auf einer bestimmten Theorie, nicht theriegeleitet —> Psychodynamisch etc., sondern reliable Kriterien, unabhängig von theoretischen Orientierung)
deskriptiv
operational
polythetisch d.h. jede Störung wird anhand mehrerer Symptome bzw. Kriterien beschrieben; die Identifikation einer bestimmten Anzahl von Symptomen führt zur Diagnose einer bestimmten Störung
nicht ätiologisch orientiert (aber: Ausnahmen) (beschäftigt sich mit den Ursachen für das Entstehen einer Krankheit.)
kategorial oder klassifikatorisch (im Gegensatz zu dimensional, aber: siehe alternatives Modell Persönlichkeitsstörungen DSM-5, ebenso Schweregradrating ICD-10 / ICD-11 / DSM-5)
ICD-10: International Classification of Diseases, Injuries and Causes of Death
Herausgeberin: WHO (Weltgesundheitsorganisation)
Umfasst „alle“ Störungs-und Krankheitsgebiete in 22 Kapiteln
Kapitel V (F-Kodierungen) = psychische Störungen (dt. Dilling, Mombour & Schmidt)
ICD ist mit ihren Codierungen für alle Erkrankungen zu Dokumentationszwecken verbindlich
ICD-10
Mit den Beschreibungen und Leitlinien sind keine theoretischen Implikationen verbunden.
Sie geben auch keine umfassende Darstellung des gegenwärtigen Kenntnisstandes über die Störungen wieder.
Die Leitlinien stellen vielmehr eine Zusammenfassung von Symptomen und Kommentaren dar, die in Übereinstimmung mit einer großen Anzahl von Experten und Klinikern aus verschiedenen Ländern zusammengestellt wurden.
Sie sind eine sinnvolle Grundlage, um „typische“ Störungen zu definieren“. (ICD-10, S. 20)
„Störung“ statt problematischer Begriffe wie „Krankheit“ oder „Erkrankung“
„«Störung» ist kein exakter Begriff. Seine Verwendung in dieser Klassifikation soll einen klinisch erkennbaren Komplex von Symptomen oder Verhaltensauffälligkeiten anzeigen, die immer auf der individuellen und oft auch auf der Gruppen-oder sozialen Ebene mit Belastung und mit Beeinträchtigung von Funktionen verbunden sind. Soziale Abweichungen oder soziale Konflikte allein, ohne persönliche Beeinträchtigung, sollen nicht als psychische Störung im hier definierten Sinne angesehen werden“ (ICD-10, S. 23).
ICD 10 Kodierung
-> von grob zu Feinkategorie
Ergänzung Buch
ICD-10 entspricht nun weitgehend den Prinzipien, Aufbau und Diagnose dem System von DSM-5 (kompatibel)
trotzdem einige Besonderheiten zu beachten: Codierungsoptionen für ICD-10 beschränkt: einzelne Diagnosegruppen werden daher unterschiedlich zusammengefasst, sodass es keine vollständige Entsprechung gibt
einzelnen Diagnosen werden nicht gleichermaßen trennscharf und operationalisiert dargeboten
DSM: Diagnostisches und statistisches Manual Psychischer Störungen
Beispiel Generalisierte Angststörung (GAS)
Übermäßige Angst und Sorge (furchtsame Erwartung) bezüglich mehrerer Ereignisse oder Tätigkeiten (wie etwa Arbeit oder Schulleistungen), die während mindestens 6 Monaten an der Mehrzahl der Tage auftraten
Die Person hat Schwierigkeiten, das Sorgen zu kontrollieren
Angst und Sorgen wird von drei oder mehr Symptomen begleitet (mindestens einige der Symptome lagen in den vergangenen 6 Monaten an der Mehrzahl der Tage vor; (bei Kindern genügt ein Symptom!)
Ruhelosigkeit oder ständiges „auf dem Sprung sein“
leichte Ermüdbarkeit
Konzentrationsschwierigkeiten oder Leere im Kopf
Reizbarkeit
Muskelspannung
Schlafstörungen
ICD10 Verglich vs DSM5 (GAS)
Zum Vergleich: ICD-10 GAS
Die Angst ist generalisiert und anhaltend. Sie ist nicht auf bestimmte Umgebungsbedingungen beschränkt, oder auch nur besonders betont in solchen Situationen, sie ist vielmehr "frei flottierend".
Die wesentlichen Symptome sind variabel, Beschwerden wie ständige Nervosität, Zittern, Muskelspannung, Schwitzen, Benommenheit, Herzklopfen, Schwindelgefühle oder Oberbauchbeschwerden gehören zu diesem Bild.
Häufig wird die Befürchtung geäußert, der Patient selbst oder ein Angehöriger könnten demnächst erkranken oder einen Unfall haben.
ICD-10 GAS ungleich DSM-5 GAS
Nur DSM-5 Diagnose positiv:
Fehlende autonome Symptome (ICD-10)
Komorbide Panikstörung, Agoraphobie, Soziale Angststörung oder Zwangsstörung möglich
Nur ICD-10 Diagnose positiv:
Sorgen liegen nicht übermäßig vor
Sorgen führen nicht zu klinisch bedeutsamem Leiden oder einer deutlichen Einschränkungen in der Lebensführung der betroffenen Person
Zusammenfassung - Was ist eine psychische Störung (klassifikatorisch)?
Eine Reihe von miteinander korrelierten Symptomen
Die über eine bestimmte Zeit auftreten
Zu Beeinträchtigung und Leid führen
Symptome treten auf verschiedenen Ebenen auf
Kognitiv (Veränderung der Informationsverarbeitung + und der Inhalte)
Emotional
Im Verhalten
Physiologisch usw.
Ausgewählte Argumente für eine kategoriale Diagnostik
bessere Kommunikation durch klar definierte Begrifflichkeiten
sinnvolle Informationsreduktion
Ökonomische Informationsvermittlung
Wissensakkumulation wird möglich
Handlungsanleitung für das praktische Vorgehen
Empirie stützt das Syndrom-Konzept
Ausgewählte Argumente für eine Kritik kategorialer Diagnostik
Gefahr von Etikettierung / Labeling
Informationsverlust
Verwechslung von Deskription und Erklärung möglich (Pseudoerklärungen/Zirkelschlüsse)
Reifikation künstlicher Einheiten möglich (Konstrukte werden Realität)
Verschleierung zu Grunde liegender Dimensionen (Ätiologie? Komorbidität?)
Ergänzungen zu DSM und ICD
Jegliche Form psychologischer Diagnostik
Verfahrensspezifische Modelle
Kontextabhängige Modelle
Ergänzungen zu DSM und ICD: RDoC
aktuell weitere Klassifikationssysteme: RDoC (research Domain criteria)
Negative Valence Systems
Positive Valence Systems
Cognitive Systems
Social Processes
Arousal& Regulatory Systems
Sensorimotor Systems
->Jeweils mit Subsystemen und Betrachtungsebenen: Gene, Moleküle, Zellen, Regelkreisläufe, Physiologie, Verhalten, Selbstauskunft, Untersuchungsparadigmata
Epidemiologie und ätiologische Modelle
Epidemiologie
Lehre von der Verbreitung von Krankheiten in einer Population
Deskriptive Epidemiologie: Erfassung der Häufigkeitsverteilung von Krankheiten und Krankheitsfolgen etc.
Analytischen Epidemiologie: Faktoren, welche diese Häufigkeitsverteilungen beeinflussen
Aufgabe der Epidemiologie
Feststellung der Krankheitsverteilung über Raum und Zeit in Abhängigkeit von Variablen wie Umwelt, Persönlichkeit, Organismus
Untersuchung von Entstehung, Verlauf und Ausgang von Erkrankungen
Aber auch: Ermittlung von individuellen Krankheitsrisiken, Prüfung von Hypothesen über kausale Beziehungen zwischen Umweltfaktoren und Krankheit
beschreibt wechselseitige Zusammenwirken von
Wirt (betroffenen Person mit ihren individuellen, genetischen biochemischen, physiologischen, psychologischen Dispositionen)
schädlichen Agenzien oder Noxen (z.B. akute oder chronische Einflüsse der psychischen, physikalischen, psychologischen Umgebung)
Umwelt (aktuelle soziale oder physische Umwelt, in der ein Wirt vom schädlichen Agens getroffen wird)
Basis epidemiologischer Kennwerte
Populationsbezogenheit („Wer genau?“)
Falldefinition (Diagnostische Kategorie, Syndromebene, Symptomebene; „Was genau?“)
Zeitlicher Bezugsrahmen (spezifischer Zeitpunkt, Zeitperiode, Lebenszeit; „Wann genau?“)
Epidemiologische Messgrößen
Messgrößen: Odds Ratio
Odds ratio(Quotenverhältnis)
„Odds“ (die Chance): Quotient aus dem Risiko (für das Auftreten einer Störung) und der Gegenwahrscheinlichkeit (für das „nicht-Auftreten“ einer Störung) (p/1-p)
Odds ratio ist der Quotient aus den Odds in zwei Gruppen (z.B. Geschlecht binär Frauen vs. Männer).
Odds ratio= 1 -> Frauen und Männer sind gleich häufig betroffen
Odds ratio(Frauen/Männer) > 1 -> Frauen sind häufiger betroffen
Buch:
Maßzahlen, die die Größe eines Zusammenhangs zwischen einem Faktor un dem Risiko einer Erkrankung quantifizieren
Odds = Chancenverhältnis
Risk Ratio (Relatives Risiko)
Verhältnis der Krankheitshäufigkeit in einer Population mit einem Risikofaktor im Vergleich zu einer Population ohne Risikofaktor
Beispiel aus Wikipedia: Menschen, die rauchen haben das 7,4-fache Risiko, an Herzinfarkt zu sterben (siehe Folie 40)
RR gibt Auskunft darüber, ob das Vorhandensein eines (Risiko-) Faktors die Wahrscheinlichkeit (= Chancen) für ein bestimmtes (erwünschtes oder unerwünschtes) Outcome erhöht oder erniedrigt
Anwendung des RR macht in longitudinalen Studiendesigns (Längsschnittstudien) Sinn
Odds Ratio oder RiskRatio (relatives Risiko)?
Das relative Risiko ist nur in prospektiven Studien eine zulässige Größe
In retrospektiven Case-Control-Studien ist es nicht zulässig, das relative Risiko zu berechnen, da die Erkrankungshäufigkeit (Zahl der Fälle) vom Untersucher (durch Selektion) vorgegeben ist
Die Odds Ratio kann sowohl in prospektiven Kohortenstudien als auch in retrospektiven Case-Control-Studien berechnet werden und kann als Schätzer des relativen Risikos dienen
Aber: Bei häufigen Krankheiten ist die Odds Ratio kein guter Schätzer für das relative Risiko (überschätzt das relative Risiko)
Zusammenfassung: Odds Ratio ist nicht dasselbe wie das relative Risiko! In Case-Control-Studien darf das relative Risiko gar nicht berechnet werden
Beispiele zur Prävalenz psychischer Störungen
Tabelle zeigt getrennt für Frauen und Männer die 12 Monats Prävalenz für psychische Störungen nach diagnostischen Gruppen & EInzeldiagnosen
informiert über die bevälkerungsbezogene Störungslast in DE
Angststörung in Kombi mit Substanzmissbrauch (Alkohol, um Aufregung zu lindern etc.) Abhängigkeitsgefahr
Komorbidität relativ häufig bei Menschen die eine psychische Störung diagnostiziert bekommen haben (etwas weniger als die Hälfte haben auch noch zweite Diagnose innerhalb dieser Störung)
Zusammenfassung Prävalenz I
Zwischen einem Drittel und der Hälfte aller Erwachsenen wird im Laufe des Lebens mindestens eine psychische Störung von Krankheitswert haben (Lebenszeitprävalenz)
Weltweit sind Affektive, Angst-und Substanzabhängigkeits-störungen die häufigsten Formen
Frauen sind insgesamt häufiger betroffen als Männer
Ca. 50-60% der Betroffenen leiden an mehr als einer psychischen Störung gleichzeitig (Komorbidität)
Psychische Störungen beginnen früh und verlaufen oft chronisch, wobei insbesondere die ersten drei Lebensjahrzehnte eine besondere Risikoperiode für die Entstehung chronischer psychischer Leiden sind (Markgraf, 2009)
Zusammenfassung Prävalenz II
Auswirkungen: DALY & QUALY
QUALY
Kennzahl, die die noch verbleibenden Lebensjahre mit der entsprechenden Störung /Krankheit hinsichtlich der angenommenen Minderung der Lebensqualität korrigiert (1= volle Gesundheit, 0 = Versterben)
Weitere Belastungen
WHO: „Undefined Burden“ (schwer fassbar)
Produktivitätsverlust durch vorzeitige Mortalität bei Suizid (in vielen Ländern häufiger als Verkehrsunfälle; vgl. Alter!)
Arbeitsunfähigkeit oder verminderte Produktivität der Patient*innen und ihrer (pflegenden) Angehörigen
Gehäufte Unfälle (Verkehr, Maschinenbedienung, Arbeit, Haushalt)
Unterstützung der Angehörigen psychisch Kranker
Schlechtere Entwicklung der Kinder psychisch Kranker
Emotionale Belastung und verringerte Lebensqualität in Familien psychisch Kranker
WHO: „Hidden Burden“
Zurückweisung durch Freund*innen, Angehörige, Nachbarn, Kolleg*innen etc.
Verweigerung gleichberechtigter Teilnahme an sozialen Aktivitäten in Arbeit, Freizeit und Familie
Remissionsverzögerungen durch Stigmatisierung
Zurückweisung auch der Angehörigen psychisch Kranker sowie anderer an der Versorgung beteiligter Personen
Kosten von Erkrankungen
Direkte Kosten für das Gesundheitswesen
Alle Güter und Leistungen, die für Prävention, Diagnostik und Behandlung von Erkrankungen/Störungen aufgewendet werden müssen; z. B. Behandlerkosten, Krankenhausaufenthalte, Psychotherapie, Pharmaka.
Direkt nicht-medizinische Kosten
Alle weiteren Güter oder Leistungen, die wegen der Erkrankung/ Störung aufgebracht werden müssen; z.B. Sozialhilfe, Rentengelder, Pflege, behindertengerechte Einrichtung etc.
Indirekte Kosten
z.B. verlorene Arbeitsleistung aufgrund von Fehltagen oder früherer Berentung
Weitere Auswirkungen
Psychische Störungen verursachen starke Einschränkungen der Arbeitsproduktivität, insbesondere Arbeitsunfähigkeitstage (Wittchen& Jacobi, 2005; Gustavssonet al., 2011)
Zu den größten Kostenfaktoren gehören stationäre Behandlungskosten und Arbeitsausfälle (Margraf, 2009)
Hoher Anteil an betrieblichen Fehltagen in Deutschland ist auf psychische Erkrankungen zurückzuführen
Hohe Bedeutung psychischer Störungen für Frühberentungen, wodurch sich ein immenser Produktivitätsausfall ergibt (Nübling et al., 2014)
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