Lernziele
- Symptome
- Epidemiologie/Verlauf
- Diagnostik
- Ätiologie (Biologische Modelle/Psychologische Theorien)
- Behandlung (wenn thematisiert)
Allgemeine Diagnosekriterien für Persönlichkeitsstörungen nach ICD 10 (was sind Bedingungen für eine Diagnose)
Persönlichkeitsstörungen: ICD-10
Bedingungen für Diagnosestellung: Erfüllung
allgemeiner Kriterien (sog. G-Kriterien)
Weiterer störungsspezifischer Kriterien
Persönlichkeitsstörungen als heterogene Störungsgruppe: Erfordert genauere Festlegung durch entsprechenden Subtyp
Allgemeine Diagnosekriterien für Persönlichkeitsstörungen nach DSM 5 (was sind Bedingungen für eine Diagnose)
Paranoid, schizoid, dissozial
F60.0 Paranoide PS: misstrauisches, nachtragendes, selbstbezogenes Verhalten; übertriebene Empfindlichkeit gegenüber Zurückweisung; streitsüchtiges Bestehen auf eigene Rechte
F60.1 Schizoide PS: wenig Interesse an sozialen Beziehungen; emotionale Kühle und Distanz; einzelgängerisches, zurückgezogenes Leben; Mangel an Sensibilität im Erkennen und Befolgen gesellschaftlicher Regeln
F60.2 Dissoziale PS: mangelndes Mitgefühl und Schuldbewusstsein; Missachtung sozialer Normen und Regeln; Unfähigkeit zwischenmenschliche Beziehungen aufrechtzuerhalten; niedrige Frustrationstoleranz; niedrige Schwelle für aggressives oder gewalttätiges Verhalten; vordergründig: Befriedigung eigener Bedürfnisse
Emotional instabil
F60.3x Emotional Instabile PS: Tendenz zu impulsivem Handeln, ohne Berücksichtigung von Konsequenzen (Äußerung in gewalttätigem Verhalten möglich); launische, unvorhersehbare Stimmung mit Neigung zu Streit und Wutausbrüchen
.30 Impulsiver Typ: emotionale Instabilität und mangelnde Impulskontrolle als wesentliche Charakterzüge; Ausbrüche oftmals als Reaktion auf Kritik
.31 Borderline-Typ: emotionale Instabilität und mangelnde Impulskontrolle; Unklarheit über eigenes Selbstbild, Ziele oder innere Präferenzen; chronisches Gefühl innerer Leere; ob selbstverletzendes und suizidales Verhalten; Neigung zu intensiven oder instabilen zwischenmenschlichen Beziehungen bei gleichzeitiger massiver Angst vorm Verlassenwerden
Histrionisch, ängstlich vermeidend, anankastisch zwanghaft
F60.4 Histrionische PS: Neigung zur Dramatisierung, Selbstinszenierung und Egozentrismus; andauerndes Bedürfnis nach Anerkennung; leichte Beeinflussbarkeit; theatralische, übertriebene oder oberflächliche Affektivität
F60.5 Anankastische (zwanghafte) PS: ständige Beschäftigung mit Details, ausgeprägter Perfektionismus, übermäßige Pedanterie; rigides und eigensinniges Denken, beherrscht durch übermäßige Zweifel und Vorsicht sowie übertriebene Gewissenhaftigkeit und Leistungsbezogenheit
F60.6 Ängstliche (vermeidende) PS: andauerndes Gefühl von Anspannung und Besorgnis sowie Unsicherheit und Minderwertigkeit; Übertriebenes Sorgen um Ablehnung in sozialen Situationen, daher Vermeidung sozialer Kontakte und Aktivitäten
Abhängig, kombinierbar, sonstige spezifisch, nicht näher bezeichnet
F60.7 Abhängige (dependente) PS: Unterordnung eigener Wünsche und Bedürfnisse; alleiniges Treffen von Entscheidungen nicht oder kaum möglich; Angst davor, auf sich selbst angewiesen zu sein, daher Unterordnung zur Konfliktvermeidung
F60.8 Sonstige spezifische PS: beschreibt näher bezeichnete PS (z.B. narzisstische oder passiv-aggressive PS); keine der anderen Kategorien ist zutreffend
F60.9 nicht näher bezeichnete PS: Subsummierung der n.n.b. PS
F61.0 Kombinierte PS: Vorliegen von Merkmalen mehrerer F60-Störungen ohne Bestehen eines vorherrschenden Symptombildes
Nach dsm 5
-> im DSM 5 die selben, schizotypisch gibt es aber nur im DSM 5 (nicht im ICD 10), einzige Ausnahme
Paranoide PS
Paranoide Persönlichkeitsstörung
übertriebene Empfindlichkeit gegenüber Zurückweisung
Nachtragen von Kränkungen
Misstrauen
Neigung, Erlebtes zu verdrehen, indem neutrale oder freundliche Handlungen anderer als feindlich oder verächtlich missgedeutet werden
wiederkehrende unberechtigte Verdächtigungen hinsichtlich der sexuellen Treue des Ehegatten oder Sexualpartners
streitsüchtiges und beharrliches Bestehen auf eigenen Rechten
überhöhtes Selbstwertgefühl und übertriebene Selbstbezogenheit
Schizoide PS
Schizoide Persönlichkeitsstörung
Rückzug von affektiven, sozialen und anderen Kontakten
übermäßige Vorliebe für Phantasie
einzelgängerisches Verhalten
in sich gekehrte Zurückhaltung
nur begrenztes Vermögen, Gefühle auszudrücken und Freude zu erleben
Dissoziale PS
Dissoziale Persönlichkeitsstörung
Missachtung sozialer Verpflichtungen
Eingeschränkte/ Keine Empathie
zwischen dem Verhalten und den herrschenden sozialen Normen besteht erhebliche Diskrepanz
Verhalten erscheint durch nachteilige Erlebnisse, einschließlich Bestrafung, nicht änderungsfähig
geringe Frustrationstoleranz und niedrige Schwelle für aggressives, auch gewalttätiges Verhalten
Neigung, andere zu beschuldigen oder vordergründige Rationalisierungen für das Verhalten anzubieten
Emotionale instabile PS
Borderline Häufigkeit
Emotional instabile Persönlichkeitsstörung
deutliche Tendenz, Impulse ohne Berücksichtigung von Konsequenzen auszuagieren
unvorhersehbare und launenhafte Stimmung
Neigung zu emotionalen Ausbrüchen und eine Unfähigkeit, impulshaftes Verhalten zu kontrollieren
Tendenz zu streitsüchtigem Verhalten und zu Konflikten mit anderen, insbesondere wenn impulsive Handlungen durchkreuzt oder behindert werden
2 Erscheinungsformen:
impulsiver Typus: emotionale Instabilität und mangelnde Impulskontrolle
Borderline- Typus: zusätzlich Störungen des Selbstbildes, der Ziele und der inneren Präferenzen; chronisches Gefühl von Leere; intensive, aber unbeständige Beziehungen; Neigung zu selbstdestruktivem Verhalten mit parasuizidalen Handlungen und Suizidversuchen
Borderline-Persönlichkeitsstörung
handlungssteuernde negative Grundannahmen: „Ich bin nichts wert, ich bin der letzte Dreck, bin schuldig und verdammenswert“
z.T. fragmentiertes, psychosenahes Denken
70-75% aller Patienten vollziehen regelmäßig selbstschädigende Handlungen
Suizidrate zwischen 8 und 10%
ca.75% der Patienten mit Borderline-Störungen sind weiblich
5x häufiger bei biologischen Verwandten ersten Grades
Histrionische PS, narzisstischerer PS
Histrionische Persönlichkeitsstörung
oberflächliche und labile Affektivität
Dramatisierung
theatralischer, übertriebener Ausdruck von Gefühlen
Suggestibilität, Egozentrik, Genusssucht, Mangel an Rücksichtnahme, erhöhte Kränkbarkeit
dauerndes Verlangen nach Anerkennung, äußeren Reizen und Aufmerksamkeit
Zwanghafte PS
Zwanghafte Persönlichkeitsstörung
Perfektionismus
Übertriebene Gewissenhaftigkeit
ständige Kontrollen
Halsstarrigkeit, Vorsicht und Starrheit
Es können beharrliche und unerwünschte Gedanken oder Impulse auftreten, die nicht die Schwere einer Zwangsstörung erreichen
Ängstliche vermeidende PS
Ängstliche (Vermeidende) PS
Gefühle von Anspannung und Besorgtheit
Unsicherheit
Minderwertigkeit
andauernde Sehnsucht nach Zuneigung und Akzeptanz
Überempfindlichkeit gegenüber Zurückweisung und Kritik mit eingeschränkter Beziehungsfähigkeit
Überbetonung potentieller Gefahren oder Risiken alltäglicher Situationen bis zur Vermeidung bestimmter Aktivitäten
Abhängige PS
Abhängige Persönlichkeitsstörung
verlassen sich bei kleineren oder größeren Lebensentscheidungen passiv auf andere Menschen
große Trennungsangst
Gefühle von Hilflosigkeit und Inkompetenz
Neigung, sich den Wünschen älterer und anderer unterzuordnen
Versagen gegenüber den Anforderungen des täglichen Lebens
bei Schwierigkeiten besteht die Tendenz, die Verantwortung anderen zuzuschieben
Diagnostik
Was ist hier die besondere Herausforderung?
Besondere Herausforderung: Persönlichkeitsstörungen als ich-syntone Störungen
Erlebens- und Verhaltensmuster von Betroffenen als passend und zur Person zugehörig wahrgenommen
Betroffene erleben Symptome häufig nicht als auffällige oder störende Verhaltensweisen
Symptomatik als wesentliches, stabiles Element der Persönlichkeit
-> für Betroffene nur schwer als Störung erkennbar
Ich-Syntonie der Symptomatik erschwert Identifikation auf Grundlage von Selbstauskünften
Empfehlung für Grundlage der Diagnosestellung:
Einsatz von Screening-Fragebogen (zur Erfassung relevanter Symptome aus Patientensicht)
anschließend zusätzlich (halb-)strukturiertes Interview
Interviewer macht sich Bild von Symptomatik anhand von Selbstauskunft und Verhaltensbeobachtung (falls möglich: Einbezug von Auskünften Dritter)
(Strukturierte) Interviews
SCID-5-PD (Beesdo-Baum et al., 2019)
IDCL für Persönlichkeitsstörungen (Bronisch et al., 1995)
Selbstbeurteilungsfragebögen
Persönlichkeits-Stil und -Störungsinventar (PSSI, Kuhl & Kazen, 1997)
Borderline-Persönlichkeitsinventar (Leichsenring, 1997)
Narzissmusinventar (Deneke & Hilgenstock, 1989)
Personality Diagnostic Questionnaire (Hyler et al., 1983)
Psychopathy Checklist-R (Hare, 1991)
Epidemiologie
Prävalenz, Geschlechter, Alter, Wohnort, Suizid, Komorbidität
Punktprävalenz PS gesamt: ca. 10% § BPS- Punktprävalenz 1% (ABER: 22% in psychiatrischen Kliniken; 12% der ambulanten Patienten)
Geschlechterverteilung gleich, jedoch erhebliche Geschlechtsunterschiede bei spezifischen Persönlichkeitsstörungen
Altersverteilung: Tendenz zur Abnahme im Alter
Stadtbevölkerung und sozial schwächere Schichten häufiger betroffen
hohe Komorbidität der Persönlichkeitsstörungen untereinander und mit anderen psychischen Störungen
unterschiedliche Suizidhäufigkeit (Borderline: fast 10%; paranoide PS: unter 1%)
Verlauf
Wann tritt es auf, remission, kann man arbeiten (Leistungsfähigkeit)
Auftreten von PS definitionsgemäß erstmals in Kindheit, Adoleszenz oder frühem EA; kennzeichnend: stabiler zeitlicher Verlauf
Aktuelle Untersuchungen: Bedeutsame Unterschiede zwischen einzelnen PS-Subtypen bzgl. der langfristigen Remissionsraten (40–60% innerhalb von 2 Jahren)
Generell: sinkende Prävalenzraten von PS mit zunehmendem Alter
Kriterien für gesamtes Störungsbild nicht mehr vollständig erfüllt
Dennoch: Bestehen bleiben einiger (meist affektiver) Merkmale der PS
Ausprägungsgrad abhängig von Passung an aktuelle Lebensumstände
bei BPS weisen 90% der Patienten symptomatische Remission innerhalb von 10 Jahren auf, ABER nur bei 50% liegt sowohl eine symptomatische Remission als auch eine psychosoziale Genesung vor (Zanarini, 2010)
80% der BPS-Patienten erfüllen Kriterien eines guten Funktionsniveaus
30% sind in der Lage, in Vollzeit zu arbeiten
persönliche Leistungsfähigkeit im Alltag bleibt erheblich eingeschränkt
Deshalb im Langzeitverlauf Wert auf soziale Integration außerhalb des psychiatrischen Versorgungssystems legen
Ätiologie
Biologisch und psychosoziale Faktoren
-> Interaktion biologischer und psychosozialer Faktoren: individuell unterschiedlicher Beitrag einzelner Faktoren zur Prädisposition für PS, zur Auslösung u. Aufrechterhaltung
Biologisch relevante Faktoren:
Genotyp: Erblichkeitseinflüsse von bis zu 60% für PS Vorhandensein im Allgemeinen; Nachweis genetischer Einflüsse bei nur 3 Störungsbildern (dissoziale, schizotypische und selbstunsichere PS) (Fiedler, 2006)
prä-, peri-, postnatale Komplikationen
Temperament (ängstlich-vermeidend, impulsiv oder emotional instabil)
Erkrankungen des ZNS; neurophysiologische Funktionsstörungen
Psychosozial relevante Faktoren:
(frühe u. lang anhaltende) traumatische Lebensereignisse
Missbrauch (sexuelle Gewalterfahrung: ca. 65 %; körperliche Gewalterfahrungen: ca. 60 %; schwere Vernachlässigung: ca. 40 %)
Interpersonelle Stressoren
Erziehungsstil (überbehütend o. ablehnend bis feindselig)
Positive Familienanamnese bzgl. Angststörungen, Depression u. Suizidalität
Mangel an sozialer Unterstützung
Vulnerabilität Stress Modell (was sind hier diathetische und psychosoziale Prädispositionen)
Therapie
Psychotherapeutische Ansatzpunkte, auf deren Veränderung die meisten Verfahren nach Fiedler (2009) abzielen, sind …?
KVT (Ziel, Regeln, …)
Behandlungsziel: möglichst realitäts- und gegenwartsnahe Therapie der aus PS resultierenden Einschränkungen
Behandlungsplanung anhand klarer Regeln: Behandlungshierarchie (Bohus et al.,1999)
1. Behandlung akuter Suizidalität o. Fremdgefährdung
2. Behandlung allgemeiner therapiegefährdender Faktoren
3. Behandlung der Störungen der Verhaltenskontrolle
4. Behandlung von Störungen des emotionalen Erlebens
5. Hilfestellungen bei Problemen der Lebensgestaltung
Psychoedukation: offene Kommunikation u. wertschätzende Aufklärung wichtig für Entwicklung von plausiblem Erklärungsmodell; therapeutische Beziehungsgestaltung: zentrale Voraussetzung für Veränderungen
Psychodynamisch orientierte Verfahren
Nach KVT am häufigsten angewendete Verfahren zur Behandlung von PS
Aufmerksamkeitsfokus verstärkt auf allgemeine Persönlichkeitsstruktur gerichtet
Wichtige Ansätze:
Mentalisierungsbasierte PT (Mentalisazation-based Treatment (MBT); Allen & Fonagy, 2009; Bateman & Fonagy, 2008)
Übertragungsfokussierte PT (Transference-focused Psychotherapy (TFP); Clarkin, Yeomans & Kernberg, 2001)
Metaanalyse (Leichsenring & Leibing, 2003): Nachweis der Effektivität psychodynamisch orientierter Therapien zur Behandlung von PS
Größere Behandlungseffekte gegenüber KVT assoziiert mit längerer Behandlungsdauer
Therapie DBT
Psychopharmakotherapie
keine Evidenz für Wirksamkeit einer pharmakotherapeutischen Behandlung -> kein Präparat ist in dieser Indikation zugelassen
klinische Realität: 85% der Patienten mit einer BPS nehmen mindestens 1 Psychopharmakon ein, davon 20% sogar mindestens vier Präparate
Empfehlung: nur in Einzelfällen symptomorientiert und zeitlich begrenzt verordnen (off-label- Therapie z.B. in Krisensituationen)
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