Unterkategorien
F44
Dissoziative Störungen / Somatoforme Störungen
ICD 10 vs DSM 5
Dissoziative Symptome vs. Störungsbilder
Dissoziative Amnesie (F44.0)
Eine 28-jährige Patientin kann sich nur sehr lückenhaft an ihre Kindheit und Jugend erinnern. Sie erinnert einige Episoden ihrer Schulzeit, kann jedoch kaum konkrete Ereignisse in der Familie erinnern. Erst mit dem Auszug aus dem elterlichen Haus mit 17 Jahren setzen die Erinnerungen ein. Auch aktuell leide sie unter Gedächtnislücken. Sie merke auf einmal, dass Stunden vergangen sind und wisse nicht, was sie gemacht habe. Fremdanamnestisch ist bekannt, dass sie zwischen dem 10. und 14. Lebensjahr von ihrem Stiefvater sexuell missbraucht wurde.
-> teilweise oder vollständige Unfähigkeit, sich an vergangene belastende oder traumatische Ereignisse zu erinnern
-> ausgeprägter und anhaltender als normale Vergesslichkeit
Dissoziativer Stupor (F44.2)
Eine 29-jährige junge Frau sitzt seit mehrerer Stunden überwiegend bewegungslos auf einem Stuhl, reagiert nicht auf äußere Reize wie Berührung oder Ansprechen. Wird ein Arm angehoben und losgelassen, fällt dieser wieder in seine ursprüngliche Position zurück, ohne jedoch Schaden, z.B. durch Anschlagen an der Stuhllehne, zu nehmen. Der Zustand ist sehr plötzlich nach einer Auseinandersetzung mit dem Freund aufgetreten.
-> Verringerung oder Fehlen willkürlicher Bewegung, Sprache und Reaktion auf Licht, Geräusche und Berührung
-> Normaler Muskeltonus, aufrechte Haltung und Atmung sind erhalten
Dissoziative Bewegungsstörung (F44.4)
Eine 19-jährige Frau leidet seit Wochen unter Episoden, in denen sie ihre Beine nicht bewegen kann. Sie berichtet, dass die morgens im Bett liege und aufstehen will, jedoch kein Gefühl und keine Kraft in den Beinen habe. Dies halte manchmal mehrere Stunden an, sodass sie nicht zur Berufsschule gehen könne.
-> teilweiser oder vollständiger Verlust der Bewegungsfähigkeit oder Koordinationsstörungen
Dissoziative Krampfanfälle (F44.5)
Die 34-jährige Patientin berichtet von Anfällen, in denen sie zusammensacke und ihre Arme und Beine mehrere Minuten zucken würden. Im Vorfeld eines Anfalls erlebe sie ein starkes Druckgefühl auf der Brust. Es kam dabei bislang nicht zu Verletzungen, Zungenbiss oder Einnässen.
-> plötzliche krampfartige Bewegungen, die an einen epileptischen Anfall erinnern
Dissoziative Sensibilitäts- und Empfindungsstörungen (F44.6)
Der 35-jährige Patient schildert, unter hohen Anspannungszuständen nur noch einen Ausschnitt seiner Umgebung visuell wahrnehmen zu können („Tunnelblick“). Vor allem seine Extremitäten würden sich taub anfühlen; in sehr starken Anspannungszuständen könne es auch vorkommen, dass er gewisse Körperteile gar nicht mehr spüre.
-> Teilweiser oder vollständiger Verlust von Hautempfindungen oder Seh-, Hör- oder Riechverlust
Dissoziative Identitätsstörung (Multiple Persönlichkeitsstörung (F44.81)
Die 34-jährige Patientin zeigt während des Interviews mehrmals Wechsel im Sprechverhalten und im Verhalten. Sie wirkt häufig abwesend und kann die letztgestellten Fragen nicht erinnern. Von sich selbst spricht sie teilweise im Plural (wir), teilweise verwendet sie die 3. Person oder konkrete Namen. Auf Nachfrage berichtet sie, dass sie mehrere Personen in sich habe, die sich häufig in einem inneren Dialog befinden würden. Je nachdem, welche Person da sei, denke und fühle sie ganz anders. Sie sei unsicher darüber, wer sie eigentlich ist. Auch häben ihr Bekannte schon mehrmals gesagt, dass sie sich wie eine andere Person verhalte.
-> 2 oder mehr unterschiedliche Persönlichkeiten mit eigenem Gedächtnis, Vorlieben, Verhaltensweisen, die zu bestimmten Zeiten Kontrolle über das Verhalten der Person haben
-> Unfähigkeit, sich an wichtige persönliche Informationen zu erinnern
Depersonalisations-/Derealisationssyndrom (F48.1)
Ein 32-jähriger Patient berichtet von Episoden, die ihm große Angst machen würden. Er komme sich dann stundenlang fremd und unwirklich vor. Irgendwie fühle es sich an, als ob nicht er, sondern ein anderer die Dinge erlebe und er nur zuschaue. Wenn es besonders schlimm sei, nehme er seinen Körper ganz verändert war. Insbesondere seine Arme und Beine würden ihm dann viel zu lang und wie Gummi vorkommen.
-> Depersonalisation: Entfremdung gegenüber eigener Person
-> Derealisation: Unwirklichkeitsgefühl gegenüber Umgebung
Überblick Dissoziative Störungsbilder
DSM-5: Dissoziative Störungen (Welche gehören dazu?)
• Depersonalisations-/Derealisationsstörung
• Dissoziative Amnesie (mit Fugue?)
• Dissoziative Identitätsstörung
• Andere näher bezeichnete Dissoziative Störungen (chronische oder wiederkehrende gemischte dissoziative Symptome; dissoziative Zustände, die sekundär bei „Gehirnwäsche“ oder Gedankenmanipulation auftreten; akutes Zustandsbild mit Dauer von < 1 Monat; dissoziative Trance, dissoziativer Stupor/ Koma; Ganser-Syndrom)
DSM 5 Dissoziative Identitätsstörung
Somatische Belastungsstörung und verwandte Störungen DSM-5
• Somatische Belastungsstörung
• Krankheitsangststörung
• Konversionsstörung (Störung mit Funktionellen Neurologischen Symptomen)
• Psychologische Faktoren, die eine Körperliche Krankheit Beeinflussen
• Vorgetäuschte Störung
• Andere Näher Bezeichnete Somatische Belastungsstörung und Verwandte Störungen
• Nicht Näher Bezeichnete Somatische Belastungsstörung und Verwandte Störungen
DSM 5 Konversionsstörung (Störung mit funktionellen neurologischen Symptomen)
ICD 11
ICD 10 / ICD 11 / DSM 5
ICD-10 zu ICD-11
• Stab multiple Persönlichkeit: Dissoziative Identitätsstörung (DIS), analog DSM-5
• differenziertere und adäquatere Beschreibung
• Stab «Persönlichkeiten» neu «Persönlichkeitszustände» (“personality states”)
• Neu: inkomplette dissoziative Identitätsstörung
• Aus Beschreibung von ICD-10 gestrichen:
○ Diese Störung ist selten
○ wird kontrovers diskutiert
○ Iatrogen bedingt? kulturspezifisches Phänomen?
○ Aufreten der Wechsel in Therapiesitzungen (Hypnose durch Therapeut)
Epidemiologie
Punktprävalenz, Geschlechter, Erkrankungsgipfel, häufigste Komorbiditäten
Epidemiologie und Verlauf
• Kürzere Episoden dissoziativer Phänomene, insbesondere Depersonalisation und Derealisation, v.a. in und nach belastenden Situationen häufig
• Auch bei Borderline-Persönlichkeitsstörung und PTBS häufig Dissoziation als trauma- bzw. stressassoziiertes Symptom
• Häufige komorbide Störungen bei Patienten mit dissoziativen Störungen sind Depressionen, Persönlichkeitsstörungen, Angststörungen und somatoforme Störungen
• Bei Störungen mit einem hohen Ausmaß an Desintegration wie bei der DIS und den Konversionsstörungen ist eher mit chronischen Verlauf zu rechnen
• Dissoziative Amnesie und das Depersonalisations-/ Derealisationssyndrom verlaufen häufig episodenhaft
• Bei hoher Komorbidität, einem späten Zeitpunkt der adäquaten Diagnosestellung und einer langen Erkrankungsdauer ist eher von einer ungünstigen Prognose auszugehen
Diagnostik
Kernsymptomatik
• Amnesien im Alltag
• Wiederholte oder chronische Depersonalisation/ Derealisation
• Stimmenhören im Kopf
• Anzeichen für „Identitätswechsel“
• Verwendung des Plurals oder der 3. Person in der Sprache
• Verbale oder schriftliche Dialoge zwischen States
• Spontane, erlebte oder berichtete Altersregression
Warnzeichen
• „Nicht-Richtig-Dasein“ (z.B. Tunnelblick, Abwesenheit, verringerte Modulation der Stimme)
• Physiologischer Erregungsprozess vs. Umkehr der physiologischen Erregung (Erblassen der Haut, warme stab kalte Hände, Taubheit, Tonusverlust, Abfall von Herzrate und Blutdruck)
• Veränderung in Sprachverständnis, Sprachfragmentierung, verspätete Reaktion
• Merke: Dissoziative Symptome müssen aktiv erfragt werden. Zur Quantifizierung des Ausmaßes sowie zur Sicherung der Diagnose empfiehlt sich der Einsatz psychometrischer Instrumente -> Goldstandard ist SCID-5-PD
Was ist wichtig zu beachten? Hinsichtlich dissoziativen Erlebens werden 4 Dimensionen unterschieden - Welche?
• dissoziative Symptome und Störungen sind als ein Kontinuum zu konzeptualisieren -> reicht von alltäglichen, subklinischen Symptomen bis zu schwersten Formen der multiplen Persönlichkeit
• viele Menschen erleben unter bestimmten Bedingungen (z.B. bei starker Müdigkeit oder kurz nach dem Erwachen) dissoziative Phänomene -> unterscheiden sich jedoch gegenüber dissoziativen Störungen hinsichtlich Qualität, Dauer und Stärke und beeinträchtigen darüber hinaus meist nicht soziale, interpersonelle oder berufliche Funktionen
• hinsichtlich dissoziativen Erlebens werden 4 Dimensionen unterschieden:
○ Amnesie
○ Tendenz zu imaginativen Erlebnisweisen
○ Depersonalisation/Derealisation
○ Pseudoneurologische Phänomene
• Gründliche somatische und neurologische Diagnostik
• Primäre dissoziative Störung vs. dissoziative Symptome im Verlauf einer anderen Störung
• Berücksichtigen: Scham, mangelnde Begriffe um Phänomene zu beschreiben
Differenzialdiagnostik
SCID-5-PD
• Hirnorganische Störungen
• Affektive, Angst- und somatoforme Störungen
• Schizophrenien
• Artifizielle Störungen und Simulationstendenzen
• SCID-5-PD zur Absicherung der Diagnose (Screening- Fragen bei Verdacht auf dissoziative Störung)
• halbstandardisiertes Interview
• erlaubt Diagnosestellung aller im DSM-5 aufgeführten dissoziativen Störungen anhand operationalisierter Kriterien
• in fünf Kapiteln werden Auftreten und Schweregrad der 5 dissoziativen Hauptsymptome (Amnesie, Depersonalisation, Derealisation, Identitätsunsicherheit, Identitätsänderung) erfasst
• Neben den Antworten werden auch Auffälligkeiten in der Interviewsituation kodiert.
v.a. welche Störungen sollten berücksichtigt werden?
• PTBS
• Borderline Persönlichkeitsstörung
• affektive, Angst- und somatoforme Störungen
• artifizielle Störungen und Simulationstendenzen
• Temporallappenepilepsie
• Medikamenten- oder Drogen-induzierte dissoziative Symptomatik
PTBS:
• Äußert sich häufig in Form von Depersonalisation / Derealisation
• Kann einem Flashback vorausgehen
• Dissoziative Amnesie bei 50% aller PTBS-Patienten, jedoch nicht als eigenständige Diagnose
Angststörungen:
• Dissoziation häufig in Form von Körperempfindungen (Schwindel, Gefühl einen Schleier vor den Augen zu haben, Taubheitsgefühl, Derealisation, meist verbunden mit starker Angst)
Schizophrenie:
• Früher die häufigste Fehldiagnose bei DIS-Patienten
• Positivsymptome der Schizophrenie häufig mit inneren Stimmen verwechselt
Ätiologie
Dissoziation und Trauma
• In retrospektiven Studien findet sich ein enger Zusammenhang zwischen traumatischen Erfahrungen und dissoziativen Symptomen
• Je schwerer die dissoziative Störung, desto mehr Patienten berichten von traumatischen Erfahrungen
• Je früher und je chronischer die Traumatisierung, desto wahrscheinlicher ist das Auftreten von dissoziativen Störungen oder dissoziativen Symptomen
• Vor allem wenn sexuelle und physische Gewalt erlebt wurde, treten häufig später dissoziative Symptome auf
• Der Zusammenhang ist in nicht-klinischen Populationen weniger stark ausgeprägt, bei schweren dissoziativen Störungen ist der Zusammenhang stark ausgeprägt
Dissoziation und Bindung
• In longitudinalen Studien finden sich als Einflussfaktoren auf die dissoziativen Symptome bei Kindern, Jugendlichen und jungen Erwachsenen vor allem Faktoren, die mit der Qualität des familiären Umfeldes der Probanden und spezifischer mit den Bindungsangeboten zusammenhängen (Dutra et al., 2009):
○ Vernachlässigung zw. 0-24 Monate
○ Missbrauchserfahrung der Mutter
○ Vermeidendes Bindungsverhalten
○ Gestörte Kommunikation zwischen Mutter und Kind
○ Fehlende affektive Beteiligung der Mutter
im Kopf
-> Unteraktivierung der Amygdala
-> Überaktivierung des anterioren Cingulum
• Glutamatsystem: NMDA-Rezeptor-Antagonisten wie Ketamin lösen dissoziative Symptome aus
• Serotonerges System: Serotonerge Halluzinogene wie Psilocybin lösen dissoziative Symptome aus
• Opioidsystem: Eine durch traumassoziierte Stimuli ausgelöste Analgesie kann durch Naloxon zumindest teilweise blockiert werden (Pitman et al., 1990)
• HPA-Achse: Zentral bei der Stressreaktion, widersprüchliche Studienlage, Rolle in Bezug auf dissoziative Symptome unklar
Therapie
Wie sollte sie aufgebaut sein?
• Insgesamt Mangel an kontrollierten Therapiestudien
• Psychotherapie gilt als die Methode der Wahl
• Phasenorientiertes Vorgehen:
○ Stabilisierung und Symptomreduktion (Psychoedukation, Verbesserung der Gefühls- bzw. Spannungsregulation, Reduktion emotionaler Verwundbarkeit, Frühwarnzeichen, Antidissoziative Fertigkeiten, Reizdiskrimination)
○ Auseinandersetzung mit traumatischen Erlebnissen (Sicherheit, Gefühlsregulation, Unterbrechung akuter dissoziativer Zustände, traumafokusierte Therapie (bei hoher Dissoziationsneigung graduiertes Vorgehen bei Exposition))
• Medikamentös: Keine eindeutige Behandlungsempfehlung SSRI (Paroxetin) oder Naltrexon
Interventionen zur Stabilisierung und Symptomreduktion
Früher vs Heute
Früher: Nach Diagnose und Aufbau einer guten Arbeitsbeziehung: Stabilisierung und danach Durcharbeiten.
Heute: Dito, aber: Frühtraumatisierte haben destruktive Bindungsmuster und dysfunktionale Stressbewältigungsmuster verinnerlicht. Sie müssen sichere Bindung und Distanzierung von Stress lernen. Traumaintegration in bits and pieces (z. B.: „Können Sie diese Erkenntnis ein paar Sekunden lang mit Ihrem Innenleben teilen?“).
Früher: Kennenlernen und Arbeit mit einzelnen Anteilen (mapping), Tiefenhypnose, Traumabearbeitung mit einzelnen Anteilen
Heute:
• Arbeit am Ausstieg aus destruktiven und Aufbau konstruktiver Bindungen
• Innere Landkarten
• Verhandlungen auf der inneren Bühne
• Ressourcen-Verankerung (Ressourcen-Team etc.)
• innere Rettungsaktionen und „In-Sicherheit-Bringen“ traumatisierter/ verletzlicher Anteile
• ausgiebige Verstehens-Arbeit mit täterloyalen und täteridentifizierten Anteilen
• Integration zu einem kohärenten Ich-Gefühl mit Fähigkeit zu Affektmodulation und -kontrolle
Lernziele
- Symptome
- Epidemiologie/Verlauf
- Diagnostik
- Ätiologie (Biologische Modelle/Psychologische Theorien)
- Behandlung (wenn thematisiert)
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