keine allgemein akzeptierte Begriffsbestimmung -> Hans Rattinger stellt für den Begriff
der politischen Partizipation 2 Komponenten heraus:
politische Teilhabe (political involvement): schließt auch Interesse an Politik ein & die
Aufnahme politischer Informationen durch die Massenmedien -> passives Verhalten
politische Partizipation im engeren Sinn:
• verschiedene Arten der politischen Beteiligung -> aktives Verhalten
—>dominiert sehr deutlich bei Untersuchungen zur politischen Partizipation
• der konkrete Partizipationsbegriff, wie er in der Forschung jeweils Anwendung findet,
ist abhängig vom jeweiligen Demokratieverständnis der Forscher*innen
• in der empirisch orientierten Partizipationsforschung wird dabei i.d.R. einem instrumentellen Partizipationsbegriff der Vorzug gegeben
• der instrumentelle Begriff, der in der heutigen Forschung verwendet wird, gibt Raum
für ein großes Artenspektrum politischer Partizipation
• eine weit verbreitete Definition dieser Art hat Max Kaase formuliert -> seine Definition
zählt zu den Standarddefinitionen in diesem Forschungsfeld
—> Politische Partizipation umfasst demnach alle Tätigkeiten, die Bürger*innen freiwillig mit
dem Ziel unternehmen, Entscheidungen auf den verschiedenen Ebenen des politischen
Systems zu beeinflussen
• Definition erfasst Menschen in Rolle als Bürger*innen -> nicht als politische Amts-
träger*innen
• außerdem werden Tätigkeiten erfasst -> mehr als nur politische Anteilnahme
• politische Partizipation ist freiwillig
• politische Partizipation ist zielorientiert & zweckgerichtet -> es geht darum, Re-
gierung & Politik im weitesten Sinne zu beeinflussen
Zweck & Funktion politischer Partizipation:
• Hauptfunktion politischer Partizipation besteht darin, wichtige Anliegen der Bevöl-
kerung an die politischen Akteure in Parlament, Regierung & politische Parteien heranzutragen
-> auf 2 Arten möglich:
• durch die Beeinflussung der politischen Amtsträger*innen selbst
• durch Mitsprache & Teilnahme der Bürger*innen an der Meinungs- & Willensbildung
der Gesellschaft
• manche Forscher*innen sehen auch noch eine andere Funktion politischer Partizipa-
tion:
• indem sich die Bürger*innen politische beteiligen, übernehmen sie auch Mitverant-
wortung für das politische Gemeinwesen
• sie lernen, ihre Anliegen an die Politik zu adressieren, mit Gleichgesinnten für ein Ziel
zusammenzuarbeiten & auf diese Weise soziales Vertrauen aufzubauen & Normen
der Reziprozität zu entwickeln
• politische Partizipation, so die Annahme, dient damit auch der Herausbildung & Einübung demokratischer Bürgertugenden
Repertoire politischer Partizipation = Summe der empirisch beobachtbaren Formen &
Modi politischer Bürgerbeteiligung
Modus politischer Partizipation = fasst verschiedene Formen der politischen Beteiligung zusammen, die gemeinsame Eigenschaften aufweisen
• eine Person, die eine Beteiligungsform aus einem Modus nutzt, nutzt wahrscheinlich
auch andere Formen, die zu diesem Modus gehören
• ob & - wenn ja, in welchem Maße die Menschen Partizipationsformen unterschiedlicher Modi nutzen, ist nur durch empirische Forschung zu klären
Verba & Nie
• nachfolgende Studie einer Forschungsgruppe um Sidney Verba & Norman Nie
• Ausgangspunkt war die Überlegung: die möglichen Formen politischer Beteiligung
unterscheiden sich nicht nur quantitativ, sie sind auch qualitativ verschieden, denn sie
lassen sich anhand bestimmter Eigenschaften differenzieren
Unterscheidungskriterien:
• Form der politischen Einflussnahme
• Reichweite der betreffenden politischen Entscheidung
• Stärke des Einhergehen mit Konflikten dieser Beteiligungsform
• Aufwand & Notwendigkeit der Zusammenarbeit mit anderen Menschen bei der
Nutzung dieser Beteiligungsform
—>Studie brachte 2 zentrale Ergebnisse hervor:
• fast alle untersuchten Partizipationsformen hängen eng miteinander zusammen
• Vorstellung eines eindimensionalen Partizipationsrepertoires widerlegt -> Verba & Nie
entdeckten 4 Dimensionen politischer Beteiligung -> auf dieser Basis fanden sie 4 Modi politischer Partizipation:
• 1. Modus: Wahlakt
• 2. Modus: Wahlkampfaktivitäten
• 3. Modus: Kommunale Aktivitäten
• 4. Modus: Individuelle Kontakte mit Amtsinhaber*innen
Partizipationstyp I
auch: konventionelle Partizipation
Minimalistische Definition: freiwillige Aktivität mit dem Ziel der politischen Einflussnahme über institutionalisierte Wege der Beteiligung
Bsp: Wählen, Mitgliedschaft in Parteien
Partizipationstyp II
auch: unkonventionelle Partizipation
Zielbestimmte Beteiligung: freiwillige Aktivität mit dem Ziel der politischen Einflussnahme über nicht-institutionalisierte Wege
Bsp: Teilnahme an Demonstrationen, Straßenblockaden, Petitionen
Partizipationstyp III
auch: soziale Partizipation
Zielbestimmte Beteiligung: freiwillige Aktivität mit dem Ziel der Lösung gesellschaftlicher Probleme
Bsp: soziales oder ehrenamtliches Engagement
Partizipationstyp IV
auch: expressive politische Beteiligung
Motivbestimmte Beteiligung: freiwillige Handlung mit dem Ziel, eine politische Absicht auszudrücken
Bsp: Kauf fairer Produkte, Boykott bestimmter Produkte
Die „Political Action“-Studie von 1979 wurde von einer international zusammengesetzten Gruppe von Forscher*innen unter Leitung von Samuel Barnes & Max Kaase durchgeführt
• unter dem Eindruck der damaligen Entwicklung ging die Forschungsgruppe entsprechend von einer Kern-Annahme aus: das Partizipationsrepertoire der Bürger*innen hat sich um neue Partizipationsformen erweitert -> Annahme konnten die Forscher*innen
empirisch untermauern
• hinzu gekommen sind demnach v.a. sog. „unkonventionelle Partizipationsformen“ ->
als „unkonventionell“ haben die Forscher*innen solche Partizipationsformen bezeich-
net, die mit den verbreiteten sozialen Normen in vielen Demokratien zu Beginn der
1970er Jahre nicht im Einklang waren
• bedeutende theoretische Innovation von Political Action: modifizierte Konzeptualisierung politischer Beteiligungsformen -> politische Partizipationsformen werden nun auch anhand von Merkmalen konzeptualisiert, die bis zum Zeitpunkt dieser Studie keine Rolle gespielt haben:
—>Verfasstheit
—>Legitimität -> Einstellungen der Menschen gegenüber einzelnen Partizipationsformen
—>Legalität
Dimensionalitätsraum politischer Partizipation
• auf Basis dieser neuen Konzeptualisierung lässt sich der Dimensionalitätsraum
politischer Partizipation im Rahmen von Political Action veranschaulichen:
• zunächst wird grundsätzlich zwischen demokratischen & aggressiven politischen
Partizipationsformen unterschieden
• interessant ist Unterscheidung zwischen konventionellem & unkonventionellem Modus
• dabei können unkonventionelle Partizipationsformen sowohl demokratischen als
auch aggressiven Charakter haben
• unkonventionelle Partizipation besitzt nach den damaligen Ergebnissen der Studie
eine mittleren bis niedrigen Akzeptanz-Grad in der Bevölkerung & sie ist unverfasst
-> Formen unkonventioneller Partizipation sind im Gegenteil zu wahlbezogenen oder
auch parteibezogenen Aktivitäten in keinem Verfassungsdokument genannt
• bedeutet aber nicht notwendigerweise, dass nun alle unkonventionellen Partizipationsformen verboten sind -> tatsächlich muss hier zwischen legalen & illegalen Formen unterschieden werden
Dimensionen & Formen politischer Partizipation
• Formen sind verschiedenen Schwellen zugeordnet
• je weiter man sich in der Abbildung von links nach rechts bewegt, desto anspruchs-
voller werden diese Partizipationsmöglichkeiten -> d.h., sie stellen sehr unterschied-
liche & von links nach rechts immer größere Anforderungen an die Bereitschaft des
Individuums, sich darauf einzulassen
• Political-Action-Forschungsgruppe fragte sich also auch: Wenn eine Person Einfluss
auf politische Entscheidungsprozesse nehmen will - wie weit ist sie bereit zu gehen?
• auf Grundlage der Antworten auf die Frage nach der Beteiligungsbereitschaft an
solchen Partizipationsakten entwickelten die Wissenschaftler*innen eine sog. Protest-
Potenzial-Skala -> auch das war eine Innovation in der politischen Partizipations-
forschung der damaligen Zeit
• besonders niedrigschwellig sind die klassischen, konventionellen Partizipationsformen, z.B. Wählengehen, Mitarbeit in politischer Partei oder Interessengruppe
• niederschwellige unkonventionelle Beteiligungsformen sind z.B. das Unterzeichnen
von Petitionen, die Teilnahme an Demonstrationen
• besonders hochschwellig sind dagegen illegale Partizipationsformen, wie z.B. Hausbesetzungen oder auch politisch motivierte Gewalt gegen Personen oder Sachen
• Political Action fand nun heraus: in allen der damals untersuchten Demokratien wurden
diese Beteiligungsformen von der Bevölkerung genutzt
• darin sahen die Forscher*innen den empirischen Beleg für ihre Kern-Annahme: das
Partizipationsrepertoire der Bevölkerung westlicher Demokratien hatte sich bemerkenswert erweitert
• Max Kaase sprach in diesem Zusammenhang zu Beginn der 1980er Jahre sogar von
einer „partizipatorischen Revolution“
• besonders auffällig dabei: politische Beteiligung in unkonventionellen Formen hat
sich de-institutionalisiert -> d.h.
• zum einen eine Loslösung von Organisationen mit fester Mitgliedschaft -> die
neuen Beteiligungsformen finden demnach nicht mehr notwendigerweise in strikten Organisationsgrenzen mit formaler Mitgliedschaft statt
• zum anderen die Entwicklung von Partizipationsformen jenseits verfassungsrecht-
licher oder gesetzlicher Regelsetzung -> unkonventionelle Partizipationsformen
nicht mehr unbedingt durch gesetzliche Regeln oder verfassungsrechtliche Vorschriften normiert
• die Grenzen kollektiver Zugehörigkeit sind bei unkonventionellen Partizipationsformen fluide -> hat auch damit zu tun, dass viele dieser Partizipationsformen eher
keinen Ad-hoc-Charakter haben
• außerdem sind unkonventionelle Partizipationsformen typischerweise Issue-orientiert
-> meistens an klar umrissene Themen geknüpft
• bei unkonventionellen Formen der politischen Beteiligung lässt sich ein neuer Stil
beobachten, mit dem die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit gewonnen werden soll
• v.a. politische Protestakte werden & wurden zunehmend medial inszeniert -> die
wachsende Bedeutung der Massenmedien spielte dafür natürlich eine große Rolle
• Grund: wachsende Fragmentierung der Öffentlichkeit -> um überhaupt noch wahr-
genommen zu werden, lassen sich Aktivisten in der medialen Inszenierung ihres
politischen Protests immer mehr einfallen
• Fazit: ein Teil der vormals unkonventionellen Partizipationsformen hat sich längst
konventionalisiert -> sie gehören inzwischen zum selbstverständlichen Repertoire
politischer Partizipation der Bürger*innen etablierter Demokratien
• einschneidende Konsequenz für die Forschung: Trennschärfe zwischen „konventio-
nellen“ & „unkonventionellen“ Partizipationsformen geht immer mehr verloren -> Be-
griffspaar hat inzwischen an analytischer Brauchbarkeit eingebüßt
• konventionelle & unkonventionelle Partizipationsformen stehen
nicht miteinander im Widerspruch
• eine sinkende Wahlbeteiligung ließe sich dann aber auch nicht damit erklären, dass
die Bevölkerung zunehmend andere Formen der politischen Beteiligung nutzt
• der Befund von der Vereinbarkeit konventioneller & unkonventioneller Partizipations-
formen bedeutet aber auch: wir können aus der Expansion des Beteiligungsrepertoires
nicht ohne weiteres schließen, dass auch der Umfang der politischen Beteiligung in den
Bevölkerungen etablierter Demokratien zugenommen hat -> tatsächlich sind die empi-
rischen Befunde in dieser Hinsicht eher widersprüchlich
•
Das Civic-Voluntarism-Modell integriert die bestehenden individualistischen
Partizipationstheorien in ein Gesamtmodell.
Es benennt dabei drei Bereiche, die eine Antwort liefern auf die Frage, warum sich
Bürgerinnen und Bürger beteiligen:
1. Sie müssen sich beteiligen wollen: Interesse und politisches
Einflussbewusstsein (Efficacy), aber auch Wertorientierungen sind zentrale
Motive für Beteiligung.
2. Sie müssen sich beteiligen können: Beteiligung setzt voraus, dass die Bürger
über die notwendigen Mittel im Sinne von Zeit, Geld und Fähigkeiten verfügen.
3. Sie müssen zu Beteiligung angeregt werden: Einbindung in soziale Gruppen
wie Nachbarschaften und Vereine, aber insbesondere intermediäre
Organisationen wie Kirchen, Gewerkschaften und Parteien bieten die Gelegenheit
zur Partizipation. Sie rekrutieren ihre Anhänger und Mitglieder zum Einsatz für die
gemeinsamen Belange und Anliegen.
Das Civic-Voluntarism-Modell berücksichtigt nur die Individualebene. Die partizipationsrelevanten Netzwerke sind dabei nicht nur auf der Mikroebene zu betrachten. Wie die Theorie der institutionellen Bindungen zeigt, müssen die
mobilisierenden Organisationen auch als Kontextfaktoren berücksichtigt
werden. Als solche haben sie neben einem direkten Effekt auf Beteiligung auch einen indirekten Einfluss auf die Wirkung von Ressourcen und
Partizipationsmotiven auf das Beteiligungsverhalten
1977 von Ronald Inglehart
-mögliche Ursache für den Partizipationsboom ist die sog. kognitive Mobilisierung breiter
Bevölkerungsschichten
-umfasst dabei 2 Prozesse:
Größere Fähigkeiten der Bürger*innen:
—>Entwicklung deutlich größerer Fähigkeiten um
mit politischen Informationen umzugehen
Mehr Ressourcen bei den Bürger*innen:
—> sinkende Kosten der Informationsbeschaffung
Inglehart nahm an, dass sich in Folge von Modernisierung & postindustrieller Entwick-
lung in den fortgeschrittenen Demokratien ein schleichender Wertewandel vollzieht
neu aufkommende gesellschaftliche Werte würden traditionelle Werte nicht nur ver-
drängen, diese neuen Werte würden Politik & Gesellschaft in den fortgeschrittenen
Demokratien auch fundamental verändern & herausfordern
diese revolutionäre Entwicklung vollziehe sich aber nicht mit einem großen Getöse oder
in Form eines abrupten Werteschubs -> Wandel würde leise & allmählich voran-
schreiten
—> Inglehart bezeichnet diese Art Wertewandel deshalb als eine „Silent Revolution“, die
von jungen Generationen getragen wird
—> im Ergebnis dieses Umwälzungsprozesses würden sog. materialistische Wert-
orientierungen zunehmend von postmaterialistischen Wertorientierungen verdrängt
Materialistische Werte:
reflektieren bestimmte physiologische Sicher-
heitsbedürfnisse
Postmaterialistische Werte:
Bedürfnisse nach Verwirklichung sozialer, kultureller, ästhetischer Ziele & Entfaltung der Persönlichkeit
Bsp.: Ordnung, Sicherheit, Wohlstand Bsp.: Selbst- & Mitbestimmung, Kreativität
Grundlage seiner Theorie sind 2 Kernhypothesen:
• Mangelhypothese
• Sozialisationshypothese
• aus beiden Hypothesen leitet Inglehart seine These vom generationalen Wertewandel
ab
postmaterialistischer Wertewandel förderte mit seiner Betonung von Selbst- & Mitbe-
stimmung sich das Aufkommen völlig neuartiger Partizipationsformen
Werte sind neben der Philosophie, auch für die Sozialwissenschaften interessant
• keine allgemein geteilte Definition des Wertebegriffs
• Wertebegriff wird in der Forschung immer wieder mit anderen Konzepten vermischt,
z.B. mit Bedürfnissen, Ansprüchen, Wünschen oder Normen
• hinzukommen Begrifflichkeit, bei denen Werte als Synonyme für Werthaltungen oder
Wertorientierungen verwendet werden
• eine in der Forschung weit verbreitete Definition stammt aus dem Jahr 1951 von Clyde
Kluckhohn: danach sind Werte Vorstellungen vom Wünschenswerten
• auf dieser Basis könnten wir politische Werte als Vorstellungen vom gesellschaftlich
Wünschenswerten bezeichnen
• Bsp. für solche politischen Werte sind Freiheit, Solidarität, Gleichheit oder Gerechtig-
keit
• Werte beeinflussen die Arten, die Mittel & die Ziele unseres Handelns
Merkmale:
in Abgrenzung zu Einstellungen:
• im Vergleich zu Einstellungen sind Werte weitaus stabiler
• sind auch langfristig konstanter als Einstellungen
• allgemeiner & in der Zahl begrenzter
• außerdem abstrakter & auch nicht notwendigerweise objektbezogen
• Werte besitzen eine viel größere gesellschaftliche Verbindlichkeit als Einstellungen
in Abgrenzung zu Bedürfnissen:
• Bedürfnisse sind viel unbewusster als Werte, denn Bedürfnisse werden von einer
diffusen Triebenergie hervorgerufen
• Werte hingegen werden durch kulturelle Deutung geprägt
in Abgrenzung zu Normen:
• im Vergleich zu Normen sind Werte viel allgemeiner & auch unabhängiger von
spezifischen Situationen oder auch einem konkreten Verhalten
• im Gegensatz zu Normen bieten uns Werte auch nur ein potenzielles Orientierungs-
mustern -> Werte formulieren Konjunktive & Normen Imperative
• außerdem sind Wertedifferenzen im Vergleich zu Normabweichungen weder einklag-
bar noch rechtlich sanktionierbar
-als analytische Kategorie:
ein Wert ist etwas, das wir nicht direkt erfassen & auch nicht unmittelbar beobachten
können -> auch Werte gehören also zu den hypothetischen Konstrukten & latenten
Phänomenen
• Was aber tun, wenn wir menschliche Werte nicht als manifeste Sachverhalte studieren
können? -> erforschen systematischer Muster von Werten in Form von Wertorientierungen
• Wertorientierungen können erfragt & anschließend empirisch untersucht werden
Makroperspektive
makroperspektivisch spielen Werte zunächst eine große Rolle für den Zusammenhalt
einer Gesellschaft
• nicht selbstverständlich, denn es gibt auch andere Möglichkeiten eine Gesellschaft
zusammenzuhalten, z.B. durch Gewalt & Repression
Werte haben auch besondere Bedeutung als Mechanismus sozialer Integration
• eine gemeinsame Wertegrundlage, die von der Mehrheit der Gesellschaftsmitglieder
freiwillig geteilt wird, erleichtert den Umgang miteinander & die Verständigung
untereinander
• v.a. lässt sich auf einer gemeinsam geteilten Wertebasis fundamentalen Konflikten
entgegenwirken
• umgekehrt bedeutet das natürlich auch: Konflikte und Auseinandersetzungen, die wir
in einer Gesellschaft beobachten, könnten auch dadurch verursacht sein, dass es an
einer hinreichend gemeinsamen Wertebasis unter den Gesellschaftsmitgliedern fehlt
-> mögliche Folge: Bildung von Parallelgesellschaften
Werten wird auch wichtige Rolle für die Koordination sozialer Handlungen zugeschrieben
• danach erleichtern gemeinsam geteilte Werte eine Verständigung über die Arten,
Mittel & Ziele gesellschaftlichen Handelns
• umgekehrt erschweren fundamentale Wertekonflikte Handlungskonsens & darauf
basierende gemeinsame Handlungsprogramme, Bsp. gemeinsame Migrations- & Asylpolitik der EU
Werte sind auch von großer Bedeutung für die Stabilität sozialer & politischer Systeme
Mikroperspektive
2 wichtige Funktionen:
Werte geben Orientierung:
• schaffen z.B. Rangfolgen der Bevorzugung
• wir orientieren uns an diesen Rangfolgen, wenn es darum geht, bestimmten Gütern,
Zielen, sozialen Gruppen oder auch Verhaltensstilen Vorrang vor anderen zu geben
• Werte spielen dementsprechend eine große Rolle dafür, auf welche Weise wir die
Welt wahrnehmen, & sie bieten uns Bewertungsstandards für soziale Tatbestände
• diese Funktion erfüllen sie in dem Maße, indem sie den Menschen erlauben,
Präferenzen zwischen verschiedenen Wünschbarkeiten zu bilden
Werte steuern individuelles Verhalten:
• Werte übernehmen zwar eine verhaltenssteuernde Funktion, aber sie üben keine
verhaltensdeterminierende Wirkung aus -> denn ob & - wenn ja - wie wir in einer
bestimmten Situation handeln, ist von vielen Einflussgrößen abhängig
• verhaltenssteuernde Funktion von Werten ist bei gesellschaftlichen Werten von besonderer Bedeutung -> gesellschaftliche Werte sind hier generalisierte Aussagen über die kulturelle & politische Entwicklung einer Gesellschaft, eines Kulturkreises oder sogar der gesamten Menschheit
• für Menschen, die sich diesen Werten verpflichtet sehen, stellen gesellschaftliche
Werte umfassende soziale Handlungsdirektiven dar
Funktionsvoraussetzung von Werten
• Mindestvoraussetzung für die Wirksamkeit von Werten: sie müssen verhältnismäßig
stabil sein
• Stabilität erhalten Werte durch ihre doppelte Verankerung im Individuum & in der
Gesellschaft
—>im Individuum:
• bei uns Menschen werden Werte durch Internalisierung verankert
• diese Verinnerlichung bedeutet: sie werden psychische Realität -> d.h., diese Werte
sind nicht nur in unseren Köpfen kognitiv präsent, sondern müssen auch in unseren
Gefühlen wirksam werden
• Internalisierung von Werten bedeutet also: Wir identifizieren uns mit bestimmten
Werten & machen sie uns deshalb auch zu Eigen -> verinnerlichte Werte schaffen um
Grunde unser Gewissen
• psychisch verankert, sind Werte bewährungskräftig & langfristig konstant
—>in der Gesellschaft:
• in der Gesellschaft werden Werte durch Institutionalisierungsprozesse verankert
• das erstreckt sich sowohl auf formale Institutionen, z.B. Verfassungen & Gesetze, als
auch auf informelle Regeln in Form von Konventionen & Bräuchen
• sieht einen Zusammenhang zwischen den Wertorientierungen einer Person & der
sozioökonomischen Umwelt, in der diese Person lebt
• unsere individuellen Wertorientierungen reflektieren unsere sozioökonomische Um-
welt, & zwar so, dass wir knappen Dingen eine höhere Priorität zuweisen -> Dingen,
an denen wir Mangel leiden, geben wir den Vorzug vor anderen Dingen
• für die Formulierung & die Begründung der Mangelhypothese hat sich Inglehart Pers-
pektiven aus 2 anderen Wissenschaftsdisziplinen ausgeborgt: Psychologie & Wirt-
schaftswissenschaften
• zum ersten hat sich Inglehart von den Arbeiten des US-amerikanischen Psychologen
Abraham Maslow inspirieren lassen -> Bedürfnispyramide
• danach befinden sich die grundlegendsten physischen Bedürfnisse des Menschen
im Fuß der Pyramide -> Bedürfnisse nach Nahrung & Obdach—> wenn diese Bedürfnisse annähernd befriedigt sind, entwicklen wir das Bedürfnis
nach Sicherheit & Schutz—>wenn diese Bedürfnisse gedeckt sind, entwickeln wir auf den nächsten Stufen Bedürfnisse nach sozialen Kontakten & nach Wertschätzung & Anerkennung
—> an der Spitze der Pyramide steht schließlich das Bedürfnis nach individueller Selbstverwirklichung
• wenn das Überleben nicht sicher scheint, tendieren die Menschen dazu, ihre Reihen
hinter einem starken Führer zu schließen & eine vereinte Front gegen Outsiders zu
Formen -> menschliche Überlebensstrategie, die er als „autoritären Reflex“ bezeichnet
zum zweiten bediente sich Inglehart für die Begründung seiner Mangelhypothese bei
der ökonomischen Grenznutzentheorie
• sobald ein Mangel befriedigt ist, orientiert sich unsere Aufmerksamkeit neu, denn von dem, was wir nun in ausreichendem Maße besitzen, geht kein zusätzlicher Nutzen mehr aus
• lässt sich auch grafisch darstellen:
• x-Achse steht für das Maß, nachdem wir etwas
besitzen (materielle Dinge & immaterielle Dinge)
• y-Achse steht für den Nutzen, den wir aus dem Besitz dieser Güter ziehen
• ist unser Bedarf an diesem Gut gesättigt, ziehen wir keinen zusätzlichen Nutzen mehr
daraus & die Kurve verflacht
• Inglehart hat die Maslowsche Bedürfnishierarchie zum einen auf Werte übertragen, zum
anderen hat er sie durch Dichotomisierung vereinfacht -> im Ergebnis stehen sich 2
voneinander verschiedene Wertearten gegenüber:
• Wandel von materialistischen hinzu postmaterialistischen Werten ist allerdings nur eine
Komponente in einem breiter angelegten Wandel von Überlebenswerten hin zu Selbst-
entfaltungswerten
in Bezug auf postmaterialistischen Wertewandel:
• gewinnen p.-m. Werte an Bedeutung, muss es auf Seiten der m. Werte zu einer
Abnahme kommen -> die Verbreitung p.-m. Werte muss in einer Gesellschaft ab-
nehmen, wenn die Bedeutung materialistischer Werte anwächst
• für Sozialisationshypothese folgt Inglehart dem Primacy-Modell politischer Sozialisation
• Annahme: die grundlegenden Wertprioritäten eines Menschen werden in seinen
„formative years“ geprägt & danach bleiben sie im weiteren Lebensverlauf weitgehend
stabil -> lebenszyklische Modelle des Wertewandels widersprechen dieser Sichtweise
• Wertprioritäten, die wir mit 16 oder 17 Jahren haben, sind mehr oder weniger die
gleichen, die uns auch noch als 40- oder 50-jährige wichtig sind
• Wertewandel wird dementsprechend nur durch einen Austausch der Generationen
ausgelöst -> für Inglehart ist das ein evolutionärer Prozess
• dieser Prozess entzieht sich dementsprechend der direkten Steuerung durch Eliten
• stattdessen sieht Inglehart die gesellschaftlichen, ökonomischen & politischen Ent-
wicklungsprozessen in den entwickelten Demokratien als Katalysator dieses Werte-
wandels
• die frühen Sozialisationsjahre der Kriegs- & Nachkriegsgenerationen waren von
physischer Bedrohung & Not geprägt
• entsprechend der Mangelhypothese geben diese Generationen materialistischen
Werten den Vorrang & halten daran aufgrund ihrer Sozialisationsprägung auch dann
noch fest, wenn sich die Zeiten gebessert haben
• die nachwachsenden jüngeren Generation erlebten ihre prägende Sozialisationsphase
aber in Zeiten wachsenden Wohlstands, politischer Stabilität & friedlicher Koexistenz
• die Sättigung grundlegender Bedürfnisse nach Nahrung & Obdach, Sicherheit &
Frieden schuf in diesen Generationen Raum für neue Bedürfnisse & damit für das
Aufkommen postmaterialistische Werte der Persönlichkeitsentfaltung & Selbst-
verwirklichung, der politischen Selbst- & Mitbestimmung
Last changeda year ago