Wo gab es Gemeinsamkeiten, wo Unterschiede in der Begründung und Ausprägung der Proteste?
Grundlegend:
“Arabische Frühling” / “Arabische Revolution” 2010 einsetzende Massendemonstrationen im Nahen und Mittleren Osten
14. Januar 2011 Sturz des tunesischen Präsidenten als Quelle der Inspiration für ähnliche Proteste (nur in 3 der 22 MGs der Arabischen Liga kam es nicht zu Protesten)
Auch in Ägypten, Lybien und Jemen kam es zum Sturz von Langzeitdespoten
Mobilisierung richtete sich nicht gegen äußere Feinde wie USA und Israel oder nach ideologischen Elementen, sondern gegen das herrschende Regime und deren Kompetenz für effektive Regierungsführung!
Gemein war den Protestbewegungen, dass
der autoritäre Gesellschaftsvertrag nicht mehr eingehalten wurde/werden konnte, was zu
Unzufriedenheit als Ursache führte
Forderungen nach Gerechtigkeit, Freiheit, Würde und Respekt
Gemeinsame Protestkultur: Einheitliche Namensgebung von Protesttagen, Parolen und Songs
Ähnliche Strategien und Techniken, Aktivisten tauschten sich aus und inspirierten sich
Ähnliche Mobilisierung, die vor allem bei den von der hohen Arbeitslosigkeit frustrierten Jugendlichen ansetzte
Große Unterschiede in der Protestdynamik und der Regimereaktion
ergeben sich hauptsächlich aus regionalen und innerstaatlichen Wohlstandsgefällen, Bildungsniveau, sozialen Schichtung und dem Grad der Industrialisierung und Urbanisierung
1) Jugendliche aus gebildeten Mittelschichten der urbanen Zentren nutzen soziale Netzwerke (Verbreitung von Fotos und Videos, Austausch etc.). Moderne Medien erreichen viel mehr Menschen und führten zur Transnationalisierung der Proteste (Ägypten, Libanon, Marokko)
2) Proteste beginnen in der Peripherie und wurde von sozioökonomisch, konfessionell, ethnisch und regional diskriminierten Gruppen getragen. In manchen Fällen schaffte man es den Protest “in die Hauptstadt zu tragen”, in anderen beschränkte er sich regional auf wenige Gruppen und Gebiete außerhalb der Hauptstadt
3) In Ländern mit Bürgerkriegserfahrung fiel der Protest relativ moderat aus (Libanon, Sudan)
Worin bestand der "autoritäre Gesellschaftsvertrag", der die Arabischen Staaten viele Jahre zusammengehalten hat? Warum funktionierte er in den 2000er Jahren nicht mehr hinreichend?
“Authoritarian bargain” = das Regime sorgt für soziale Dienstleistungen und umfassende Beschäftigung im öffentlichen Sektor, im Austausch gibt es politische Gefolgschaft
1950er/1960er relativ kleine Bevölkerungsgrößen
1970er: Öl-Boom gleich Bevölkerungswachstum aus
1970-2010 verdreifachte sich die Bevölkerung in der arabischen Welt
nahezu 30% sind zwischen 25 und 30 Jahren
Strukturelle Faktoren für Zusammenbruch des gesellschaftsVertrag
Regime schafft es nicht, hinreichend Arbeitsplätze im öffentlichen und formellen privaten Sektor zu schaffen (Grundbedingung somit nicht erfüllt)
Ungleichgewicht zwischen hohen Wachstumsraten und verschlechterten Lage bei der Beschäftigung
Austeritätspolitik durch Strukturanpassungsprogramme von Weltbank und IWF (Subventionen für Grundversorgung gekürzt oder gestrichen, Privatisierung nationaler Industrien, Abbau von Stellen im öffentlichen Sektor)
Frustration in der Mittelschicht, da Öffentlicher Sektor nicht mehr ausreichend Jobs im öffentlichen Sektor zur Verfügung stellen kann
Keine Jobgarantie für die nach 1980 Geborenen
Höhere Jugendarbeitslosigkeit, da Studium hauptsächlich auf die Unterstützung der Staatsbürokratie ausgelegt ist, allerdings stellt öffentlicher Sektor keine entsprechenden Jobs mehr bereit
Qualifikationen für adäquate Beschäftigung in der Privatwirtschaft oftmals nicht vorhanden
mangelnde Bereitschaft, schlecht bezahlte, niedrig qualifizierte Jobs anzunehmen
Jugend und Bildung
keine kostenfreie Bildung
trotz verbesserter Bildung höhere Jugendarbeitslosigkeit
Steigende Preise und Ungleichheit
gestiegene Nahrungsmittelpreise infolge WK 2007-8, dabei sind vor allem arabische Staaten häufig abhängig von Nahrungsmittelimporten
Schere zwischen Arm und Reich vergrößert sich
Korruption und Konzentration des Reichtums unter den Eliten
patrimoniale Mechanismen favorisieren kleine Segmente der Eliten (herrschende Partei, Familie des Herrschers, Gefolgsleute und Loyalisten)
=> Privatisierungsmodell!!! das nicht selten zum Staatskollapps führt, da es den öffentlichen Sektor unterläuft
Frustration in der Mittelschicht (47,3% der arabischen Bevölkerung)
hoher Anteil des Einkommens muss für Bildung und gesundheitsfürsorge ausegegebn werden)
Dienstleistungen und Renten konnten nicht exportorientiert transformiert werden
Warum wurden autokratische Staaten vom Protest überrascht? Welches Spektrum an Reaktionen gab es?
Überraschung durch Spontanität, spontane Proteste, ohne direkte Verbindung zu einer politischen Partei
Dezentralität (teilweise aus der Peripherie heraus)
und Breite der Proteste (gemeinsames Ziel: Sturz korrupter Regime, massenhafte Sit-ins und friedliche Proteste schafften Allianz zwischen Säkularisten und Konservativen, Stadt- und Landbevölkerung, unterschiedlichen ethnischen Gruppen)
Reaktion der Staaten:
Teilweise Repression
Rückgriff auf Gewalt (gerade in Syrien und Lybien)
Einsatz von Schlägertruppen in Zivil
Verunglimpfung der Opposition als Islamisten und Extremisten bzw. “Agenten des Auslands”
Mobilisierung der eigenen Anhängerschaft, um zu zeigen, dass sie den “Willen des Volkes” vertreten
=> ABER Boomerang-Effekt: Wut über GEwalt mobilisierte für weitere Proteste
Machterhalt durch Zugeständnisse:
materiell: Lohnerhöhung, Rentenerhöhung und Subventionserhöhungen, Ausweitung von Sozialleistungen und Investitionsprogrammen
“immateriell”: symbolische politische Zugeständnisse bspw. unbedeutende Verfassungsreformen oder Rotation politischer Ämter in hohen politischen Ämtern
Beständigkeit der acht Monarchien durch:
Traditionell bzw. religiöse ligitimierte Herrschaft
Effektive Eliteneinbindung und Familienherrschaft
Großzügige Distributionspolitik
Westliche & regionale Unterstützung
Rolle der Streitkräfte in der Entwicklung (Tunesien, Ägypten, Syrien)
Tunesien:
Militär als als bedeutender Faktor der erfolgreichen und verhältnismäßig friedlichen Revolution
Militär relativ klein und vom politischen Geschehen ausgeschlossen = wenig Anreize für Regimeunterstützung
Militär signalisierte nicht gegen die Demonstranten vorzugehen
Ägypten:
Anfänglich ambivalente Position der Streitkräfte
umfasste den Kern der ägyptischen politischen und wirtschaftlichen Eliten, die einen wesentlichen Teil des Regimes darstellten
Schließlich entschieden sie sich, Mubarak zum Rücktritt zu zwingen und Polizei ruhig zu stellen
Diente dem Schutz eigener institutioneller und ökonomischer Interessen
Syrien:
Trotz Desertation stand Kern der Streitkräfte zu Assad
Dennoch kam es zum Bürgerkrieg
Handelt es sich bei den Bewegungen um Demokratiebewegungen?
“Vierte Welle der Demokratisierung” oder “fünfte Demokratisierungswelle”
Nicht unbedingt, denn durchaus demokratische Werte wie die Forderungen nach Freiheit, Grechtigkeit, Respekt und Würde, aber auch eindeutig Forderung nach Abschaffung Despotismus, Korruption und Klientelismus
Drei Faktoren für das Scheitern des Demokratisierungsprozess
1) Kultur kritische Auseinandersetzung jahrzentelang unterdrückt worden, um nationale Einheit und Sicherheit nicht zu gefährden
2) Eliten überzeugten den Westen, dass der politische Islam eine Bedrohung darstellt und “gelenkte Demokratie” zu bevorzugen sei
3) Liberale Demokratie als Konzept trifft auf Argwohn in der Region und wird als Durchsetzungsargument für die Interessen des Westens gesehen
Tunesien versus Ägypten
Tunesien
Ägypten
Anfangsbedingung
Ein-Parteien-Diktatur (Zine el-Abidine Ben Ali 24 Herrschaftsjahre), keine signifikanten Proteste
Outcome
nachhaltiger demokratischer Wandel
Nicht erfolgreiche Etablierung eines demokratischen Systems
Charakter der Protestbewegung
verhältnismäßig friedlich,
Akteure
zivilgesellschaftliche Akteure tunesischer Gewerkschaftsverband, linke und islamische Mächte
Zurückhaltung des Militärs, wenig Bereitschaft der Protestbekämpfung seitens Polizei,
Eliten, internationale Unterstützungsnetzwerke (westliche und regionale Staaten),
junge gebildete Ägyper*innen (weniger ländliche Bevölkerung), Muslim Brotherhood,
ägyptische Militär
Erfolg/Miserfolg durch
Lokale Ebene relativ unabhängig von Regierung und demokratisch organisiert,
Demokratischer Wandel wurde organisiert und zielgerichtet vorangetrieben,
Vereinigung einer Vielzahl an Akteuren=breite Bewegung,
Zurpckhaltung Milität und Polizei
Stark Eliten geführtes Land, die nicht abgelöst oder ausgetauscht wurden,
Eliten Zufriedenheit des Regimes “Bewahrer”,
finanzielle und rhetorische Unterstützung für die ägyptische Regierung und das Militär, aufgrund des vermeintlich stabilisierenden Charakters des Landes als größter Staat,
fehlene Einigkeit, politische Erfahrung und Handlungsfähigkeitunter den revolutionären Kräften, wenig Breite Bewegung (Interessensvertretung der gebildeten urbanen Mittelschicht), Musli-Brotherhodd als zu starker Konkurrent, elitengeprägtes Militär, welches Staat unterstützte
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