Einleitung
benennt die Publikationsdaten, die Textsorte als Roman, den
literatur- und Punkte zeitgeschichtlichen Hintergrund der
Weimarer Republik (Neue Sachlichkeit) und die Thematik, wie
etwa: Lebensgefühl der späten 1920er bzw. frühen 1930er Jahre
aus der Sicht einer jungen, mittellosen Frau im Berliner
Großstadtleben
(u.a. Autorin, Titel, Textsorte, erschienen 1932, typischer
Zeitroman der Weimarer Republik, gestaltet in Form eines
Tagebuchs, Thematik des Romans, z. B. Entwicklung einer
jungen Frau in ihrem Bestreben nach Ruhm und Anerkennung -
unter den historischen Einflüssen der Weimarer Republik,
Protagonistin als Verkörperung des zeittypischen Rollenbildes
Bezug zur Epoche, der Autorin
und dem gesellschaftspolitischen
Hintergrund
Epoche der Neuen Sachlichkeit (1924-1932): u. a.
Nüchternheit/Objektivität/Entsentimentalisierung,
Präzisionsästhetik, Tatsachenpoetik, Realitätsbezug/Aktualität,
Reportagestil/Dokumentarismus/Bericht,
Antipsychologismus, Gebrauchswertorientierung,
Entindividualisierung
z.B. authentische Sprache von Doris ; Dokumentation
der Lebenswelt in der Oberschicht und relativ
detaillierte Beschreibung des dort zu finden
Materialismus inklusive realer Preise ; das Erlebte und
Gesehene wird von der Protagonistin recht pragmatisch
wiedergegeben und bewertet
Irmgard Keun (1905-1982): schrieb aus Sicht der
aufstrebenden Nationalsozialisten „Asphaltliteratur“
mit Charakteren, die dem „deutschen“ Frauenbild nicht
entsprachen (hier Doris als Frau, die keinen festen
Wohnsitz hat und sich von einem älteren Mann
aushalten lässt)
zur Entstehungsgeschichte des Romans/
gesellschaftliche und politische Umstände: : typische
Probleme der Menschen während der Weimarer
Republik, goldene Zwanziger können die Armut und
Chancenungleichheit nicht verbergen, aufkommende
Arbeitslosigkeit, scheinbare Emanzipierung der Frau,
Entwicklung der Vergnügungskultur – insbesondere
Tanz, Kino, Cafés; aufkommende politische Unruhen
zwischen Rechten und Linken
Vorgeschichte
Die Protagonistin Doris lebt zu Beginn der 1930er Jahre
in einer „mittlere[n] Stadt“
(S. 5) bei ihrer am Theater angestellten Mutter und
ihrem arbeitslosen Stiefvater:
Sie arbeitet als Schreibkraft bei einem Rechtsanwalt, hat
aber die Ambition, „ein Glanz“ (S. 45) zu werden.
Nachdem ihr erster Freund Hubert, der um einiges älter ist als sie, sie wegen
einer standesgemäßen Partie sitzen gelassen hat, hat sie wechselnde Männerbekanntschaften.
Zu Beginn der ausgewählten Textstelle sitzt Doris im
Café, nachdem sie kurz
zuvor aus ihrer Stellung entlassen worden ist, und
reflektiert, wie es dazu kommen konnte
Thematik und Inhalt
Thematik:
Doris' Doppelmoral und ihr berechnendes Verhalten gegenüber
ihrem
Vorgesetzten
Inhalt:
Doris berichtet, dass sie bei der Büroarbeit abgelenkt
ist, da sie tags zuvor Hubert
gesehen hat und ständig an ihn denken muss. Ihre
Briefe sind fehlerhaft, sodass
ihr Chef sie auffordert, länger zu bleiben.
Nachdem alle anderen gegangen sind, flirtet Doris mit
ihrem Chef, um zu
vermeiden, dass sie die Briefe neu schreiben muss. Ihr
Chef missversteht dies
jedoch als direkte Aufforderung und will sie auf das Sofa
zerren.
Sie wehrt ihn ab, indem sie ihm gegen das Schienbein
tritt und ihn fragt, wie er
glauben könne, dass sie jemanden wie ihn attraktiv
finde.
Daraufhin wird ihr vom Chef zum nächsten Ersten
gekündigt
Aufbau
Rückblick auf die Ereignisse im Büro:
Ausgangssituation: fehlerhafte Büroarbeit (vgl. Z. 1—16)
Taktik: Flirt mit dem Chef, um Mehrarbeit zu umgehen
(vgl. Z. 16—41)
Wendepunkt: Taktik geht nicht auf, vehemente Abwehr
und Beleidigung des
Rechtsanwalts (vgl. Z. 42—63
Figurenkonzeption
Doris, z. B.:
Die monotone Büroarbeit langweilt sie („wochenlang
schreib ich schon von
seine Backzähne, was einem eines Tages auf die Nerven
geht",
Z. 11—12) und sie ist abgelenkt durch ihre Gedanken an
Hubert („Ich hatte zu
wenig Briefe geschrieben wegen an Hubert denken", Z.
1).
An ihrem Vorgehen beim Briefeschreiben erkennt man
ihre Taktik und eine
gewisse Arbeitsscheu („denn lieber gar keine Kommas
als falsche, weil welche
reinstricheln unauffälliger geht als falsche fortmachen",
Z. 3—4).
Doris' Doppelmoral wird deutlich, da sie einerseits
gegenüber ihrem Vorgesetzten
selbstbewusst auftritt und ihre Reize bewusst einsetzt
(„Und guck schon gleich
beim Reinbringen wie Marlene Dietrich", Z. 5—6), a6er
andererseits auch Grenzen
setzt, wenn sie nicht bekommt, was sie will (vgl. Z. 24—
28).
Sie hat offenbar bereits vorher ähnliche Erfahrungen
mit Männern gemacht; ihre
Selbstwahrnehmung, etwas Besonderes zu sein,
spiegelt sich auch im Auftreten
gegenüber ihrem Chef („Ich hab's auch satt bei Ihnen",
Z. 57; „Und ging keß mit
Drohungen vor", Z. 59).
Rechtsanwalt, z. B.:
Er vertritt den Typus des rücksichtslosen männlichen
Vorgesetzten, der auch
nicht davor zurückschreckt, seine Machtposition für
sexuelle Übergriffe
auszunutzen (vgl. Z. 24—29).
Doris findet sein Äußeres abstoßend („Pickelgesicht", Z.
7; „seine widerlichen
langen Knochenfinger", Z. 26; „miese Visage", Z. 59). Sie
beschreibt ihn als
selbstgefällig und einfältig, zu glauben, sie habe
Interesse an ihm (vgl. Z. 30—46).
Darüber hinaus entlarvt sie ihn als scheinheilig, indem
sie ihn auf seine Frau
anspricht (vgl. Z. 51—54), als er ihr vorhält, sie wolle ihn
finanziell ausnutzen
(„Also so eine bist du!" Z. 48)
Figurenkonstellation
Doris und ihr Chef:
Doris ist zu Beginn der Szene bereits überzeugt, dass es
früher oder später zum
offenen Konflikt zwischen ihr und ihrem Vorgesetzten
kommen wird (vgl. Z. 4—5).
Sie empfindet wenig Respekt ihrem Vorgesetzten
gegenüber, da sie von Anfang
an sein Aussehen und Verhalten abstoßend findet
Dabei ist sie sich seines höheren Bildungsgrades und
ihres niedrigeren sozialen
Ranges vollkommen bewusst (vgl. Z. 30—33).
Sie ist allerdings bereit, seine Schwächen zu ihrem
Vorteil auszunutzen und ihn
mit ihren körperlichen Reizen zu manipulieren (vgl. Z.
14—19).
Sein Verhalten zeigt das Selbstverständnis eines
männlichen Vorgesetzten, das
Abhängigkeitsverhältnis seiner weiblichen Angestellten
ausnutzen zu können
(„Kind, verstell dich doch nicht, ich weiß doch seit lange,
wie es mit dir steht und wie dein Blut nach mir drängt",
Z. 28—29).
Für Doris steht von Vornherein fest, dass sie ihn
abweisen wird, die Frage ist nur,
ob „sanft und anständig" (Z. 39) oder „gemein" (Z. 39).
Dies macht sie abhängig
davon, ob er ihren Wink versteht, dass sie ein neues
Kleid brauche (vgl. Z. 37—39).
Ihr Chef reagiert auf die Abweisung wütend und mit
Beschimpfungen („Also so
eine bist du!", Z. 48), lässt jedoch von ihr ab. Durch die
Kündigung spielt er
dennoch seine Macht als Vorgesetzter aus (vgl. Z. 56—
57).
Als Doris bewusst wird, dass die Stellung nicht mehr zu
retten ist, will sie
zumindest ihrer Frustration und Wut freien Lauf lassen
(„denn wo nun schon alles
verdorben war, wollte ich auch meinem Temperament
mal ganz freie Bahn
lassen", Z. 55-56).
Sprache
parataktischer, zum Teil elliptischer Satzbau („Und ging
keß mit Drohungen vor",
Z. 59) und Parenthesen („— sind alle fort—" , Z. 12; „—
ich denke: was bleibt dir
übrig!", Z. 13—14; n— so das übliche —", Z. 34)
Verwendung von Umgangssprache, überwiegend
negativ konnotiert („Akten mit
furchtbarem Quatsch", Z. 8—9; „kein Schwein wird
draus klug", Z. 10—11; „miese
Visage", Z. 59)
hyperbolischer Sprachqebrauch („weit und breit kein
Komma in den Briefen",
Z. 2—3; „dunkle Ahnungen", Z 5; „mein armer alter
Vater mit Rheumatismus
wartet", Z. 22; „wie Sie blau anlaufen vor Wut", Z. 50)
und Neologismen
(„Klappaugen-Marke", Z. 6; „Nasenflügelbeben", Z. 20)
Anaphern („Und mußte das Pickelgesicht darum
ablenken [...] Und will gerade
sinnlich hauchen Z. 20—21) und Wiederholunqen
(„Pickelgesicht", Z. 7,
Z. 12, Z. 20; „Blasewitz seine Backzähne"i Z. 11, Z. 18, Z.
31)
Verqleiche („und machte ein Nasenflügelbeben wie ein
belgisches
Riesenkaninchen", Z. 20—21; „daß er einen Mund
machte wie ein Kletterfisch",
Z. 32—33; „atmet wie eine Lokomotive kurz vor der
Abfahrt", Z. 25) und Metaphern („mit Dampft, Z. 2; „Da
blieb mir glatt der Verstand stehen.", Z. 42; „es ist mir
ein Naturereignis", Z. 49—50)
Ironie („will gerade sinnlich hauchen", Z. 21; „denn ein
Mann muß doch schließlich
was denken", Z. 47—48; „und wenn mich was furchtbar
aufgeregt hat, muß ich es
leider erzählen", Z. 63
Wirkung
Der in der Regel parataktische und elliptische Satzbau
und die Umgangssprache
deuten auf die Bildungsferne der Protagonistin hin und
unterstreichen Doris'
ablehnende Haltung gegenüber dem Chef.
Der hyperbolische Sprachgebrauch zeigt Doris'
emotionale Aufgewühltheit sowie
ihre Tendenz, Ereignisse zu dramatisieren.
Anaphem, Parenthesen und Wiederholungen
verstärken den Eindruck einer
einfachen, unreflektierten Darstellung mit Nähe zur
gesprochenen Sprache.
Die zumeist einfache Sprache wird jedoch durch
gelegentlich überraschend
poetische Metaphern oder amüsante und tiefsinnige
Vergleiche konterkariert.
Dies spiegelt Doris' innere Widersprüchlichkeit.
Neologismen und ausgefallene Vergleiche zeigen ihren
— teilweise
selbstironischen — Humor. Die ganze Situation erhält
dadurch eine komische
Note.
Die Ironie zeigt hier Doris' Distanz zu dem Geschehen,
weder Anstellung noch
Vorgesetzter bedeuten ihr etwas
Bedeutung für das
Gesamtverständnis
Es wird deutlich, dass Doris sich in ihrer Tätigkeit als
Schreibkraft langweilt und
darin keine Zukunft für sich sieht. Ihre Ambition, ein
„Glanz" (S. 45) zu werden,
verleiht ihr Selbstbewusstsein und lässt sie auch nach
negativen Erfahrungen
nach vorne schauen.
Die Hoffnung, die Doris immer noch in eine Beziehung
mit Hubert setzt, wird im
weiteren Verlauf durch die Enttäuschung, die er ihr
letztlich bereitet, scharf
kontrastiert.
Viele Verhaltensweisen von Doris, die sie an dieser
Stelle gegenüber ihrem
Vorgesetzten zeigt, werden später zu Grundmustern in
ihrem Umgang mit Männern (mit wenigen Ausnahmen wie Karl oder
Ernst).
Darüber hinaus wird deutlich, dass Doris — bei aller
Ausnutzung ihrer Reize und
ihrem Streben nach Materiellem — moralische Grenzen
besitzt, die sie davon
abhalten, z. B. später in Berlin ins Prostituiertenmilieu
abzurutschen.
Ebenso wird die Doppelmoral des Rechtsanwalts
herausgestellt, der sich als
verheirateter Mann an seine Angestellte heranmacht;
dieses Muster wiederholt
sich bei vielen der Männerfiguren im Roman.
Durch die Entlassung und die darauffolgende Anstellung
am Theater werden die
Ereignisse angestoßen, die Doris schließlich zur „Flucht"
(S. 64) nach Berlin
zwingen
Kritische Stellungnahme / Bewertung
die Handlungsweisen bzw. Einstellungen der Figuren
und die dargestellten
Beziehungs- und Konfliktstrukturen; beispielsweise die
Frage, inwieweit Doris
durch ihr Verhalten zur Eskalation des Konflikts beiträgt,
und die damit
verbundenen Rollen- und Geschlechterbilder,
beispielsweise in ihrer Ausprägung
in den 1930er Jahren im Vergleich zur heutigen Zeit
die Konzeption der Protagonistin und insbesondere
Doris' Ambition, ein „Glanz"
(S. 45) zu werden, durch die sie eine blasierte Haltung
gegenüber der Bürotätigkeit einzunehmen scheint, und
die Frage, inwieweit Doris' materialistische Einstellung
heutige Verhaltensweisen (Oberflächlichkeit, 8
Konsumorientierung) widerspiegelt
die erzähltechnischen Gestaltungsmittel sowie die
sprachliche Gestaltung im Kontext der „Neuen
Sachlichkeit" (ungeschönte Beschreibung der sozialen
Wirklichkeit); beispielsweise die Verwendung der
Umgangssprache/Ironie und ihre Wirkung auf die
Lesenden
den Handlungsraum Büro als streng hierarchisierten
Arbeitsplatz aus heutiger Sicht (beispielsweise flache
Hierarchien) und die Relevanz und die Aktualität der
Thematik (Ausnutzung von Abhängigkeitsverhältnissen,
Arbeitsplatz, sexuelle Übergriffe am MeToo-Bewegung)
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