Paarberatung in der Individualpsychologie – eine Definition
Adler hat keine systematische Darstellung von Paartherapie oder -beratung hinterlassen.
In seiner Zeit war der Begriff "Paar" nicht im Fokus, sondern die Familie galt als Leitbild für intimes Zusammenleben.
Gesellschaftliche Veränderungen haben zu verschiedenen Lebensformen und einer neuen Betrachtung von Familie geführt.
Der gemeinsame Kern dieser verschiedenen Lebensformen könnte als Paarbeziehung bezeichnet werden.
Die Freiheit in Beziehungen wurde durch den Verlust stabiler Strukturen erkauft, was zu Herausforderungen führte.
Paarberatung befasst sich mit den Widersprüchen zwischen Vorstellungen und Realität, Tradition und Neuorientierung.
In Anlehnung an Adlers Lehre können wichtige Aspekte für Paarberatung entwickelt werden.
In Paarbeziehungen treffen die Lebensstile zweier Menschen auf ganzheitliche Weise aufeinander.
Die bewussten Vorstellungen, Intentionen, Haltungen und Einstellungen treten in der Kommunikation zutage.
Es entsteht ein Prozess der Abgleichung, der verschiedene Richtungen nehmen kann und glückliche sowie belastende Erfahrungen einschließt.
Paarberatung begleitet diesen offenen Prozess, erforscht erworbenen Einstellungen und zeigt Ressourcen auf.
Die Beratung unterstützt Paare dabei, ihre Ressourcen zu nutzen und hilft bei der Modifikation der Kommunikation durch Einführung bestimmter Regeln.
Paarbeziehung als Lebensaufgabe unter anderen
Die Individualpsychologie betrachtet zwischenmenschliche Beziehungen als zentralen Aspekt.
Probleme in Paarbeziehungen werden als nicht gelungene Beziehungen betrachtet.
Adler betont die Liebes- und Ehefrage als eine der zentralen Lebensaufgaben.
Adler teilt Lebensaufgaben in Arbeit/Beruf, Freundschaft/Gemeinschaft, Liebe/Sexualität/Partnerschaft/Ehe auf.
Liebe und Sexualität dienen den grundlegenden Zielen eines Menschen und sind Teil des Lebensstils.
Adler lehnt die Vorstellung eines unabhängigen Sexualtriebs ab und betont die Verantwortung des Menschen.
Partnerschaft ist eine soziale Aufgabe, die auf Gemeinschaftsgefühl basiert.
Treue, Vertrauen, Offenheit und Verlässlichkeit sind Widerspiegelungen eines guten oder schlechten Gemeinschaftsgefühls.
Probleme in Liebe und Ehe erfordern Gleichheit und Gleichberechtigung.
Adler sieht die Ehe als Interesse am anderen, erfordert die Fähigkeit zur Empathie.
Ein Mensch ohne Freunde zeigt laut Adler mangelnde Vorbereitung auf das eheliche Leben.
Lebens- und Ehefragen können nur von sozial angepassten Menschen bewältigt werden.
Eine geglückte Partnerschaft basiert auf gegenseitiger Wertschätzung und bedingungsloser Annahme des anderen.
Partnerschaft und Ehe bedeuten, den anderen als Gleichen, Freund und Partner zu akzeptieren.
Eine harmonische Ehe der Eltern, eine aufgeschlossene Mutter und eine positive Einstellung zur eigenen Sexualität sind Bedingungen für eine gelungene Partnerschaft laut Adler.
Probleme der Lebensaufgabe Partnerschaft
In der heutigen Zeit gibt es ein weites Spektrum an Beziehungsformen durch persönliche Freiheit und fortschreitende Emanzipation.
Rudolf Dreikurs betont den Fortschritt der Menschheit durch die Weiterentwicklung der Demokratie und die Achtung für jeden Bürger.
Er sieht Vorurteile als schlimmsten Feind der sozialen Gleichberechtigung und fordert einen mutigen Kampf für soziale Verhältnisse.
Ein Mangel an Gemeinschaftsgefühl beeinflusst partnerschaftliche Beziehungen, wenn jeder nur auf die Befriedigung eigener Wünsche bedacht ist.
Dreikurs merkt an, dass Partner oft wegen ihrer Fehler gewählt werden, was zu Interferenzen in Lebensstilen führen kann.
Adler sieht Probleme in Ehe oder Partnerschaft auf der innerbeziehlichen Ebene.
Furcht vor dem Partner kann durch Furcht vor dem anderen Geschlecht oder unrealistische Liebesanforderungen entstehen.
Der Neurotische kann Ideale aufstellen, um die Realität zu entwerten und sich selbst zu überhöhen.
Die Flucht vor dem Partner, insbesondere vor Frauen, kann eine Bewältigungsstrategie für nervös disponierte Menschen sein.
Die Wahl eines kranken, alten oder verheirateten Partners kann eine Befriedigung eines Komplexes (Überlegenheit, Minderwertigkeit) darstellen.
Diese Probleme in der Partnerschaft können als Proteste gegen eine aktive Lösung der Lebensfrage im Sinne der Gemeinschaft verstanden werden.
Lebensstil-Interaktionsmuster
Die Ehe oder Zweierbeziehung ist die kleinste, intimste und zerbrechlichste Gruppenform.
Paarbeziehungen basieren auf bestimmten Mustern, die durch die Lebensstile der Partner geprägt werden.
Es entstehen erworbene Stellungnahmen zu Anforderungen wie Frau-/Mannsein, Anpassung/Nichtanpassung, Führen/Geführtwerden, etc.
Diese Muster werden als "Partnerschaftstechniken" bezeichnet und sind im Laufe der Sozialisation erworben.
In der modernen Psychologie gibt es verschiedene Konzepte für partnerschaftliches Wechselspiel, z.B., Kollusionskonzept, Dressatkonzept, Spielkonzept, Kommunikationskonzept.
In der Paarberatung werden Lebensstil-Interaktionsmuster offengelegt und für die Beteiligten transparent gemacht.
Das Ziel einer individualpsychologischen Paarberatung ist die Verbesserung des Gemeinschaftsgefühls für mehr Zufriedenheit in der Beziehung.
Adler betont die Technik des Einfühlens in den anderen, um unverstandene Absichten und geheime Wünsche zu erkennen.
Eheberatung besteht darin, Ratschläge zu geben und Vorschläge zu machen, um Paaren einen Ausweg aus Konfliktsituationen aufzuzeigen.
Neben äußeren Zielen (z.B., Klärung des Standes des Paares in der Gesellschaftsordnung) verfolgt die Paarberatung auch innere Ziele wie erhöhte Selbsterkenntnis und Verständnis für den Partner.
Häufige Beratungsanlässe umfassen Entwicklungsthemen, Übergangssituationen, Trennungs- und Bindungsängste, Verluste, außereheliche Beziehungen, Kränkungen, Kindererziehung, Adoptivkinder, Sexualität, Sinnkrisen.
Zur Durchführung einer Paarberatung
Problembeschreibung:
Beide Partner stellen ihre Sichtweise des Problems dar.
Der Berater hört aufmerksam zu und erfasst die subjektiven Perspektiven.
Interaktionsgeschehen des Paares:
Der Berater analysiert das Verhalten des Paares während der Sitzung.
Durch gezielte Fragen werden Initiativverhalten, Unterbrechungen, Kritik, Verteidigung usw. erkundet.
Lebensstilaspekte der Partner werden deutlich.
Problemlösungsversuche:
Der Berater erkundigt sich nach bisherigen Versuchen, das Problem zu lösen.
Frühere Beratungserfahrungen werden besprochen, um daraus zu lernen.
Beziehungsphase:
Die aktuelle Phase der Beziehung, z.B., "Krise der mittleren Jahre", wird identifiziert.
Vergangene Erfahrungen und gemeinsame Leistungen werden betrachtet.
Gemeinsame Aufgaben und Leistungen:
Die gemeinsamen Aufgaben und Erfolge des Paares werden besprochen.
Bewunderung:
Positive Aspekte der Beziehung, wie sportliche Aktivitäten und gemeinsame Interessen, werden hervorgehoben.
Entscheidung füreinander:
Die Gründe und gemeinsamen Interessen, die zu ihrer ursprünglichen Entscheidung füreinander geführt haben, werden erforscht.
Beratungsziel:
Die Paarberater formulieren gemeinsam mit dem Paar klare Ziele für die Beratung.
Ziel ist es oft, die Kommunikation zu verbessern, negative Muster zu durchbrechen und eine positive Veränderung herbeizuführen.
Gemeinsame Zielvereinbarungen:
Gemeinsame Vereinbarungen werden getroffen, um Einblicke in die Paardynamik zu gewinnen.
Strategien zur Vermeidung von Eskalationen und zur Verbesserung der Kommunikation werden entwickelt.
Die Beratung konzentriert sich darauf, die Ressourcen der Beziehung zu nutzen, die aktuelle Dynamik zu verstehen und konkrete Schritte zu unternehmen, um positive Veränderungen herbeizuführen.
Der weitere Beratungsverlauf
Lebensstilerarbeitung:
Durch Exploration frühkindlicher Erinnerungen und Lebenserfahrungen werden die Lebensstile der Partner herausgearbeitet.
Beide Partner nehmen an der Lebensstilerarbeitung des anderen teil, um sich neu zu erfahren, Verhaltensmuster zu erkennen und zu verstehen.
Gemeinsame Auswertung der Kindheitserinnerungen:
Partnerschaftliche Analyse von Kindheitserinnerungen, Geschwisterkonstellationen und der Struktur der Herkunftsfamilie.
Ziel ist es, den Anteil jedes Partners an der eigenen Entwicklung und der des anderen besser einzuschätzen und zu bewerten.
Betrachtung unreflektierter Glaubenssätze:
Analyse von unreflektierten Glaubenssätzen wie "Ich bin … / Das Leben ist … / Darum …".
Dies führt zu Aha-Erlebnissen und ermöglicht eine neue Perspektive auf alte Verhaltensmuster.
Erkennen der Funktion von alten Verhaltensmustern:
Alte Verhaltensmuster werden oft negativ bewertet, dienen jedoch der Aufrechterhaltung eigener Selbstbilder.
Im Kontext ihrer Entstehung erkennt man die Funktion der Bewertung und findet Hinweise auf kreative Ressourcen.
Entwurf eines neuen Handlungskonzepts:
Nach neuen Erkenntnissen folgt der Entwurf eines neuen Handlungskonzepts für das Paar.
Dieses Konzept muss in der Praxis erprobt und durch Reflexion gefestigt werden.
Anwendung in der Paarbeziehung:
Wiederholte Beziehungs- und Interaktionsmuster werden identifiziert und reflektiert.
Neue Erkenntnisse werden in die Praxis der Paarbeziehung integriert, um positive Veränderungen zu fördern.
Die Lebensstilerfassung bringt neue Perspektiven und Verständnis für sich selbst und den Partner. Sie dient als Grundlage für die Entwicklung neuer Handlungsansätze und fördert eine kreative Auseinandersetzung mit den Herausforderungen der Paarbeziehung.
Beraterinterventionen
Die Kommunikationsstruktur der individualpsychologischen Beratung ermöglicht
dem Berater, der Beraterin vielfältige Interventionen.
Haltungsbezogene Wirkmechanismen können sein:
• Beratungsperson begegnet dem Paar als Ganzem und beobachtet: Welche Bezie-
hungsgestalt zeigt sich?
• Beratungsperson darf keine Partei ergreifen, darf nicht drängen und überreden.
Sie sollte die Interpretation von Verhaltensweisen im positiven Sinn herausstellen
(Adlers Grundsatz: »Ich stimme immer mit dem Klienten überein«). Sie bietet für
beide gleiche Reifungschancen, fördert gegenseitige Wahrnehmung, Einfühlung
und Verständnis.
• Beratungsperson weigert sich, als Problemlöser aufzutreten,
• geht nicht auf Co-Therapieangebote eines Partners ein,
• versteht sich als Moderator und Begleiter.
Handlungsbezogene Interventionen sind:
• Motivation und Ziel klären,
• Anteil am gemeinsamen Konflikt herausarbeiten,
• Ressourcen aufzeigen,
• »Fehlverhalten« von beiden in einen Kontext setzen, der es verstehbar macht,
• auf korrespondierendes Verhalten hinweisen,
• Hinweise auf gewisse Fremdheit geben, die bleibt und konstruktiv sein kann,
• Minimalisierung persönlicher Verstrickungen durch
a) Einsatz strukturgebender Übungen,
b) Einbringen eigener Betroffenheit,
c) Hinweise zu Kommunikationsregeln.
Voraussetzungen beim Berater, bei der Beraterin
Um dem beraterischen Tun gerecht werden zu können, bedarf es einer Reihe von Vo-
raussetzungen: Die Beratungsperson nimmt
• die Geschlechtsgebundenheit ihrer beraterischen Interventionen wahr,
• sieht die Wertgebundenheit ihrer Interventionen und bringt sie in Zusammenhang
mit eigener Lebensgeschichte und familiärer Herkunft,
• kann Andersartigkeit akzeptieren,
• erkennt den gruppendynamischen Prozess der Dreier-/Viererbeziehung,
• kennt Funktionsprinzipien der Partnerschaft: Abgrenzungsprinzip, Gleichwertig-
keitsbalance, keine polarisierte Rollenverteilung.
• Die Beratungsperson ist mit den Kernthemen der Partnerschaft vertraut (vgl. Willi
1991, S. 368 ff.; Dechmann u. Schlumpf 2008, S. 241 ff.):
1. Anerkanntwerden in eigener Existenz, Gesehen-, Gehört-, Wahrgenommenwerden),
2. Ernährtwerden (Geben und Nehmen),
3. Nähe – Distanz (Respekt der Grenzen),
4. Dominanz (»Wer hat das Sagen?«),
5. Eifersucht,
6. Loyalität.
Der Berater, die Beraterin
• weiß, dass eine Paarbeziehung viele Parallelen zur frühkindlichen Eltern-Kind-Be-
ziehung und zu Geschwisterbeziehungen haben kann,
• kennt die unterschiedlichen Bindungsmodalitäten,
• weiß, dass eine Paarbeziehung ein Prozess und kein Zustand ist,
• weiß, dass Übergänge Phasen der Verunsicherung darstellen,
• kann »ewige« Konflikte von lösbaren Konflikten unterscheiden,
• kennt die Phasen der Paarbeziehung (vgl. Willi 1992, S. 32 ff.):
1. Phase der Verzauberung und Verliebtheit,
2. Ankommen im Alltag,
3. Phase der stabilen Paarbildung,
4. Aufbau – und Produktionsphase der Ehe,
5. Krise der mittleren Jahre,
6. Altersehe.
Folgende Abwehrmuster – als »apokalyptische Reiter« bekannt – sollte der Berater, die
Beraterin kennen (Gottmann u. Satir, nach: Dechmann u. Schlumpf 2008, S. 97–99):
1. Kritik (hoher Erregungspegel, »immer«, »nie«, recht haben, Analysen des Partners),
2. Verachtung (Verletzung und Beleidigung des Partners, Spott, Zynismus),
3. Gummimann – Gummifrau (Schuld leugnen, Rechtfertigungen, »Ja, aber«),
4. Abblocken bzw. Mauern (schweigen, versteinern, Beziehungsabbruch),
5. Machtdemonstration (am ausgestreckten Arm verhungern lassen),
6. Beschwichtigen (versuchen zu gefallen, Ja-Sager, ringen um Anerkennung),
7. Ablenken (unfassbar sein, sich verflüchtigen, Doppelbotschaften).Es gibt schwer lösbare Übertragungsphänomene aus der Tiefe der Psyche, die mit
schlimmen seelischen Schmerzen verbunden sind. Wenn diese in Paarkonflikten bei
bestimmten Reizthemen aufgewühlt werden, kann nicht mehr offen und direkt kom-
muniziert werden. Man wehrt komplex ab und verdreht, und die »Reiterstaffel« kann
aufziehen
Strukturgebende Übungen
Wir versuchen, auf der Grundlage von Adlers Gemeinschaftsgefühl, seiner ganzheit-
lichen Sicht des Menschen und seiner Haltung, die Beobachtungen der Gestalt, der
Mimik und Gestik, der Sprachgestalt im Kommunikationsprozess lebendig werden zu
lassen und dem Beratungsprozess mit unterschiedlichen Übungen Impulse zu geben:
in sich hineinhorchen, innere Spannungsgefühle wahrnehmen, zuordnen von Erre-
gungen zur eigenen Geschichte, ein positives Selbstbild gestalten.
Ehepaar als Beraterpaar
Aufhebung von "Zwei gegen einen": Jeder Partner hat eine männliche und weibliche Identifikationsmöglichkeit.
Schnellere Vertrauensbildung: Patientenpaare finden rascher Vertrauen zu einem Therapeutenehepaar.
Unterstützung durch gegenseitige Stützung: Beratende können sich gegenseitig stützen und Interventionen werden gemeinsam reflektiert.
Ermutigende Einflussnahme: Die neue Beziehungskonstellation kann ermutigenden Einfluss auf die Ratsuchenden haben.
Polarisation im therapeutischen Paar: Wie in jeder Beziehung können sich die Beratenden in unterschiedliche Positionen differenzieren, z.B., in einen "Guten" und einen "Bösen".
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