Was bedeutet Geschlechtsdysphorie?
beschreibt die als belastend erlebte Nichtidentifikation mit dem eigenen Zuweisungsgeschlecht, verbunden mit dem Wunsch, die Rolle des anderen Geschlechts
teilweise oder vollständig anzunehmen.
Was ist das Geschlecht?
• Biologische Merkmale werden zur Unterscheidung von männlich und weiblich herangezogen
• Innere und äußere Genitalien, Geschlechtschromosomen, Sexualhormone
Was ist Gender?
• Psychosziales Geschlecht, Geschlechtsidentität, Geschlechtsrolle (Individuelle Identifikation einer Person, unabhängig des Zuweisungsgeschlechtes)
• Ursprünglich zur Benennung bei Personen mit uneindeutigen körperlichen Geschlechtsmerkmalen (z.B. bei Intersexualität)
• Die Identität einer Person kann im Widerspruch zu ihren Geschlechtsmerkmalen stehen
Intersexualität
-Geschlechtsdifferenzierende Merkmale des Körpers wie äußere Geschlechtsorgane, Chromosomen oder Hormone entsprechen nicht eindeutig demselben Geschlecht
Zuweisungsgeschlecht
− Nach der Geburt bestimmtes Geschlecht (männlich/weiblich) aufgrund der primären Geschlechtsmerkmale
Transgender
− Vorübergehende oder dauerhafte Identifikation mit einem Gender, das nicht dem Zuweisungsgeschlecht entspricht
Transsexuell
Anstreben oder Vollziehen einer Geschlechtsangleichung
Geschlechtsidentität
Individuelle Identifikation einer Person als männlich, weiblich oder eine andere Kategorie
Cis Gender: Übereinstimmung von Geschlechtsidentität mit Zuweisungsgeschlecht
Nichtbinäre Geschlechtsidentität
− Sammelbezeichnung von Geschlechtsidentitäten, die sich nicht eindeutig als männlich oder weiblich identifizieren
− genderfluid: flexible Geschlechtsidentität
− bigender: Identifikation mit männlichem und weiblichem Geschlecht
− pangender: Identifikation mit allen Geschlechtern ohne Festlegung
− agender: Identifikation mit keinem Geschlecht, bzw. Ablehnung einer Geschlechtsidentität
Klassifikation nach ICD-10, ICD-11 und DSM-5
Diagnosekriterien nach ICD-10
Transsexualismus (F64.0)
A Die Betroffenen haben den Wunsch, als Angehörige des anderen Geschlechts zu leben und als solche akzeptiert zu werden, in der Regel verbunden mit dem Wunsch, den eigenen
Körper durch chirurgische und hormonelle Behandlungen dem bevorzugten Geschlecht soweit als möglich anzugleichen.
B Die transsexuelle Identität besteht andauernd seit mindestens zwei Jahren.
C Der Transsexualismus ist nicht Symptom einer anderen psychischen Erkrankung, wie z.B. einer Schizophrenie und geht nicht mit einer Chromosomenaberration einher.
Transvestitismus unter Beibehaltung beider
Geschlechterrollen (F64.1)
A Tragen der Kleidung des anderen Geschlechts (cross-dressing), um sich vorübergehend dem anderen Geschlecht zugehörig zu fühlen.
B Fehlen einer sexuellen Motivation für das Tragen der Kleidung des anderen Geschlechtes.
C Kein Wunsch nach Geschlechtsumwandlung.
Störung der Geschlechtsidentität des Kindesalters (F64.2) Mädchen
Diagnosekriterien bei Mädchen
A Andauerndes intensives Leiden daran, ein Mädchen zu sein, und unerklärter Wunsch, ein Junge zu sein (nicht begründet mit kulturellen Vorteilen für Jungen).
Oder das Mädchen besteht darauf, bereits ein Junge zu sein.
B Entweder 1 oder 2:
1. Anhaltende deutliche Aversion gegen üblicherweise weibliche Kleidung und Bestehen
auf typisch männliche Kleidung, z.B. männlicher Unterwäsche und anderer Accessoires
2. Anhaltende Ablehnung weiblicher anatomischer Strukturen, die sich in mindestens
einem der folgenden Merkmale äußert:
a) Behauptung, einen Penis zu besitzen, oder dass ein Penis wachsen wird
b) Ablehnung, im Sitzen zu urinieren
c) Versicherung, keine Brüste bekommen oder nicht menstruieren zu wollen
C Das Mädchen hat bis jetzt nicht die Pubertät erreicht.
D Die Störung muss mindestens sechs Monate vorliegen.
Störung der Geschlechtsidentität des Kindesalters (F64.2)
Diagnosekriterien bei Jungen
A Anhaltendes intensives Leiden darunter, ein Junge zu sein sowie intensiver Wunsch oder –
seltener – Behauptung, bereits ein Mädchen zu sein.
1. Beschäftigung mit typisch weiblichen Aktivitäten, z.B. Tragen weiblicher Kleidungsstücke
oder Nachahmung der weiblichen Erscheinung und Ablehnung von typisch männlichem
Spielzeug, Spielen und Aktivitäten
2. Anhaltende Ablehnung männlicher anatomischer Strukturen, die sich durch
mindestens eine der folgenden wiederholten Behauptungen äußert:
a) Dass er zu einer Frau heranwachsen wird (nicht nur in eine weibliche Rolle)
b) Dass sein Penis und seine Hoden ekelhaft sind oder verschwinden werden
c) Dass es besser wäre, keinen Penis oder Hoden zu haben
C Der Junge hat bis jetzt nicht die Pubertät erreicht.
Dignose im DSM-5, was ist sehr bedeutsam in der Diagnosestellung?
Diskrepanz zwischen Zuweisungsgeschlecht und Gender muss ein klinisch bedeutsames Leiden aufseiten der betroffenen Person auslösen
Geschlechtsdysphorie bei Kindern
A Eine seit mindestens 6 Monaten bestehende ausgeprägte Diskrepanz zwischen Gender
und Zuweisungsgeschlecht
Mindestens sechs der folgenden (von denen eines Kriterium A1 sein muss):
1. Ausgeprägtes Verlangen oder Insistieren, dem anderen Geschlecht (oder einem alternativen
Gender, das sich vom Zuweisungsgeschlecht unterscheidet) anzugehören
2. Bei Kindern mit männlichem Zuweisungsgeschlecht: ausgeprägte Vorliebe, sich weiblich zu kleiden
und zu schminken; bei Kindern mit weiblichem Zuweisungsgeschlecht: ausgeprägte Vorliebe für
ausschließlich typisch maskuline Kleidung und großer Widerstand, typisch feminine Kleidung zu
tragen
3. Ausgeprägte Vorliebe dafür, in Rollen- und Fantasiespielen gegengeschlechtliche Rollen
einzunehmen
4. Ausgeprägte Vorliebe für Spielzeug, Spiele oder Aktivitäten, mit denen sich Kinder des anderen
Geschlechts typischerweise beschäftigen
5. Ausgeprägte Vorliebe für Spielgefährten des anderen Geschlechts
6. Bei Kindern mit männlichem Zuweisungsgeschlecht: ausgeprägte Ablehnung typisch jungenhafter
Spiele, Spielzeug und Aktivitäten und ausgeprägte Vermeidung von Raufen und Balgen; bei Kindern
mit weiblichem Zuweisungsgeschlecht: ausgeprägte Ablehnung typisch mädchenhafter Spiele,
Spielzeug und Freizeitaktivitäten
7. Ausgeprägte Ablehnung der eigenen primären Geschlechtsmerkmale
8. Ausgeprägtes Verlangen nach den primären und/oder sekundären Geschlechtsmerkmalen im
Einklang mit dem erlebten Gender
B Klinisch bedeutsames Leiden oder Beeinträchtigungen in sozialen, schulischen oder anderen
wichtigen Funktionsbereichen
Geschlechtsdysphorie bei Jugendlichen u.Erwachsenen
Mindestens zwei der folgenden Kriterien erfüllt:
1. Ausgeprägte Diskrepanz zwischen Gender und den primären und/oder sekundären
Geschlechtsmerkmalen
2. Verlangen, primäre und/oder sekundäre Geschlechtsmerkmale loszuwerden (J: zu
verhindern)
3. Verlangen nach den primären und/oder sekundären Geschlechtsmerkmalen des anderen
Geschlechts
4. Ausgeprägtes Verlangen oder Insistieren, dem anderen Geschlecht* anzugehören
5. Ausgeprägtes Verlangen danach, wie das andere Geschlecht* behandelt zu werden
6. Ausgeprägte Überzeugung, die typischen Gefühle und Reaktionsweisen des anderen
Geschlechts* aufzuweisen
Differenzialdiagnostik bei Geschlechtsdysphorie
• Geschlechtsrollen-Nichtkonformität
• Transvestitische Störung
• Körperdysmorphe Störung
• Schizophrenie und andere psychotische Störungen
Neuerung im ICD-11
Diagnose Geschlechtsdysphorie im Kapitel „Conditions related to sexual health“ und nicht im Kapitel Verhaltensstörungen
• Entpathologisierung der Transidentität
• Dennoch: keine Streichung der Geschlechtsdysphorie als Diagnose, um Kostenübernahme bei geschlechtsangleichenden Maßnahmen rechtfertigen zu können
Komorbiditäten bei Geschlechtsdysphorie
• Bei Kindern, die sich in der Klinik vorstellen:
• Erhöhtes Maß an emotionalen und Verhaltensprobleme (nehmen im Laufe der Kindheit zu)
• Störung des Sozialverhaltens
• Störung der Impulskontrolle
• Autismus-Spektrum-Störung
• Sowohl bei Kindern, aber auch bei Jugendlichen oder Erwachsenen:
- Angststörungen
-Depressive Störungen
-Sozialer Rückzug
-Essstörungen
Mögliche Folgen der Geschlechtsdysphorie bei Kindern
• Einschränkung der täglichen Aktivitäten durch vermehrte Gedanken an gegen-geschlechtliche Wünsche
• Erfolglose Versuche, Beziehung zu Gleichaltrigen mit dem gleichen Zuweisungs-geschlecht aufzubauen: Isolation von Peergroups und resultierender Leidensdruck
• Schulabsentismus aus Angst vor Mobbing und dem Druck, sich dem Zuweisungs-geschlecht entsprechend zu kleiden
Mögliche Folgen der Geschlechtsdysphorie
Bei Jugendlichen und Erwachsenen
• Einschränkung der täglichen Aktivitäten durch vermehrte Gedanken an gegen-
geschlechtliche Wünsche
• Beeinträchtigte Leistungsfähigkeit in Schule oder Arbeit
• Schwierigkeiten in (sexuellen) Beziehungen
• Negatives Selbstbild durch Stigmatisierung, Diskriminierung und Opfererfahrungen
• Erhöhte Wahrscheinlichkeit für Komorbiditäten, Schulabbruch, Arbeitslosigkeit
Unterscheidung zweier Verlaufstypen
▪ Geschlechtsdysphorie mit frühem Beginn
− Beginn in der Kindheit, setzt sich bis ins Jugend- und Erwachsenenalter fort
− Remission im Jugendalter möglich
▪ Geschlechtsdysphorie mit spätem Beginn
− Beginn mit ersten Veränderungen in der Pubertät oder später
− Erinnerungen an den Wunsch in der Kindheit, einem anderen Geschlecht anzugehören, möglich
(wurden aber nicht geäußert)
Deutschland: Aktuelle rechtliche Lage
Allgemeines Gleichbehandlungsgesetz (AGG)
• Ziel: „Benachteiligung aus Gründen […] des Geschlechts […] oder der sexuellen Identität zu
verhindern oder zu beseitigen“
„Transsexuellengesetz“ (1980)
• Gesetz über die Änderung von Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit
• Voraussetzungen für Änderung von Name oder Geschlecht
• Mind. 3 Jahre bestehender Drang nach Verwirklichung des erlebten Geschlechts
• Gutachten von 2 unabhängigen Sachverständigen erforderlich
• Wahrscheinlichkeit, dass sich das Zugehörigkeitsempfinden nicht erneut ändert, muss gegeben sein
Selbstbestimmungsgesetz
• Änderung des Geschlechtseintrags und der Vornamen soll für transgeschlechtliche sowie
nichtbinäre und intergeschlechtliche Personen einheitlich geregelt werden (vorher 2
Gesetze)
• Änderung von Geschlechtseintrag und Namen für Volljährige durch Erklärung möglich
• Minderjährige ab 14 Jahren können Erklärung selbst mit Zustimmung der Sorgeberechtigten
abgeben
• Für Minderjährige bis 14 Jahre sollen die Sorgeberechtigten die Änderungserklärung
gegenüber dem Standesamt abgeben.
• Nach Änderung Sperrfrist für 1 Jahr
Behandlung - Grundhaltungen
• Zwei unterschiedliche Positionen zu Geschlechtsdysphorie:
1. Frühzeitige Behandlung
- ab 12. Lj. Gabe von Luteinisierendes-Hormon-Releasing-Hormon(LHRH)-Analoga
- hemmen Pubertätsentwicklung
2. Späte Behandlung
• Behandlungsphasen nach den Standards of Care der World Professional Association for
Transgender Health:
1. Diagnostische Phase
2. Phase der Rollenauslebung im Alltag und hormonelle Behandlung
3. Optional: chirurgische Phase
Leitlinienempfehlungen
• Ziele der Behandlung:
Reduktion der Geschlechtsinkongruenz und des mit der
Geschlechtsinkongruenz einhergehenden Leidensdrucks, der Geschlechtsdysphorie
• Empfehlungen
• Diagnostik: umfassende Anamneseerhebung (psychosexuelle Entwicklung, Dauer derGeschlechtsinkongruenz, Sozialanamnese, biographische und medizinische Anamnese, psychischer Befund)
• Komorbiditäten:
• Psychotische Störungen zuerst behandeln, andere komorbide Störungen parallel behandeln
• Psychotherapie
• Einsatz zur Minderung der Geschlechtsdysphorie sinnvoll
• Sollte keine Voraussetzung für körpermodifizierende Behandlungen zur Unterstützung einer Transition sein
• Alltagserfahrungen
• Sinnvoll und empfehlenswert
• Stellen keine notwendige Voraussetzung für den Beginn körpermodifizierender Behandlungen
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