Vorüberlegungen zum Strafrecht (I)
Strafrechtliche Sanktionen im heutigen Sinne =
Staatliche Reaktionen
auf rechtswidrige und schuldhafte Verstöße
gegen Strafgesetze
Folgen:
Nicht jede gewalttätige Reaktion (Fehde, Rache,...) ist Strafrecht
Strafrecht setzt Recht voraus: materielles Strafrecht und Strafverfahrensrecht
Strafrecht setzt eine übergeordnete Obrigkeit voraus
Was ist eine Strafe/strafrechtliche Sanktion? => gegen eine Norm oder Regel verstoßen und dies ist die Konsequenz daraus; es muss ein Verstoß gegen das Strafgesetz sein
Rache ist keine Strafe im rechtlichen Sinne, weil es keine staatliche Sanktion ist
Man kann nur von einer Strafe sprechen, wenn man einen Staat hat, welcher Recht setzt
Strafzwecktheorie
(Anhand AB zum Thema Strafrechtsgeschichte)
„Selbst wenn sich die bürgerliche Gesellschaft mit allen Gliedern in Einstimmung auflöste (z. B. das eine Insel bewohnende Volk beschlösse, auseinanderzugehen und sich in aller Welt zu zerstreuen), müsste der letzte im Gefängnis befindliche Mörder vorher hingerichtet werden, damit Jedermann das widerfahre, was seine Taten wert sind, und die Blutschuld nicht auf dem Volke hafte, das auf die Bestrafung nicht gedrungen hat: weil es als Teilnehmer an dieser öffentlichen Verletzung der Gerechtigkeit betrachtet werden kann."
(Immanuel Kant, Metaphysik der Sitten, 1797)
Frage: Kant treibt hier eine bestimmte Idee des Sinns und Zwecks von Strafe auf die Spitze. Welche Idee ist das? Welchen Zweck könnte (und sollte?) eine staatliche Strafe noch verfolgen?
Gegenbild:
„Nam, ut Plato ait, nemo prudens punit, quia peccatum est, sed ne peccetur" (Denn, wie schon Plato sagt, straft kein Vernünftiger, weil gefehlt worden ist, sondern damit nicht gefehlt werde)
(Seneca)
Warum strafen wir eigentlich? -> Strafzwecktheorie
Kant treibt eine Idee davon heraus
Kant: Sinn und Zweck von Strafe ist der Schuldausgleich
Es sei egal, ob die Strafe weitere Zwecke hätte
Strafrecht dient der Verhinderung von künftigen/weiteren Strafen
Vorüberlegungen Strafzwecktheorie
Absolute Straftheorien: Strafe hat keinen besonderen Zweck - außer Schuldausgleich, Vergeltung, Sühne
Relative Straftheorien: Strafe hat einen darüber hinausgehenden Zweck = Straftatverhinderung
Einwirken auf Tater (Spezialprävention")
a) Individuelle Abschreckung für Zukunft - negative Spezialprävention
b) Besserung, Resozialisierung - positive Spezialprävention
Einwirken auf Gesellschaft („Generalprävention")
a) Abschreckung anderer - negative Generalprävention
b) Bestätigung des Rechtsbewusstseins; Überflüssigkeit von Rache - positive Generalprävention
Überwiegende Auffassung: Vereinigungstheorie
Germanische Ursprünge
Einbindung in Stamm, Sippe und Familie
Interne Streitschlichtungen:
Durch Oberhäupter
Kapitalstrafen und Ausstoß aus Sippe (Acht oder „Friedloslegung"), aus der Gesellschaft ausgeschlossen
Externe Streitregulierung: ohne gemeinsame Obrigkeit
Fehde oder Rache
Ritualisierte Formen (Zweikampf, Gottesurteil)
Sühneverträge (damals: angemessene Reaktion)
a) Ursprünglich rein freiwillige Vereinbarungen zwischen Opfer(sippe) und Täter(sippe)
b) Zunehmend: Idee des Sühnezwangs
Durchsetzung durch beginnende Obrigkeit und Kirche
Etablierung von Bußkatalogen
Beginnende Strukturen
Wandel des Verfahrens
Vom Akkusationsverfahren (Anklage durch Opfer)
Zum Inquisitionsverfahren (staatliche Ermittlung und Anklage), Vorteil: rationalisieren des Verfahrens
Städtisches Strafrecht ab dem 11. Jahrhundert
Wichtige Gesetzeswerke:
Constitutio Criminalis Bambergensis (1507)
Constitutio Criminalis Carolina (1532, durch Kaiser Karl V.)
Erste Ideen von Strafzwecken:
Abschreckung
Unschädlichmachung des Täters
Idee der Bestrafung individueller Schuld (statt „böser Folge")
Entwicklung von Strafverfahrensrecht - z.B. Regeln für Folter
Einbruch und Konsoldierung
Hexenverfolgung und kirchliche Inquisition im Absolutismus (16.-18. Jahrhundert)
Neue Ideen mit der beginnenden Aufklärung:
Aufklärung und Vernunftrecht beenden die Hexenverfolgung
Präventionsideen des Naturrechts (Schutz der Allgemeinheit)
Gegenideen:
a) Kant: Strafe ausschließlich als Sühne
b) Hegel: Strafe als „Negation der Negation" des Rechts
Moderne Ideen durch Paul Johann Anselm von Feuerbach (1775-1833)
a) Betonung des nulla poena-Satzes + der sozialen und psychologischen Tatgründe
b) Autor des bayerischen StGB von 1813 - großer Einfluss auf weitere Strafgesetze
Zunehmende Verbesserung, Verfahrensregelung
Doch dann Hexenverfolgung
Hauptzeit: frühe Neuzeit
Eine dunkle Zeit für das Strafrecht
Rechtsvereinheitlichung
Materielles Strafrecht:
Code pénal (1791), Strafrechtscodex
Strafgesetze im ALR (1794)
Preußisches Strafgesetzbuch (1851)
Reichsstrafgesetzbuch (1871)
Entwicklung eines stark formalisierten Strafverfahrens - Reichsstrafprozessordnung (1877)
Parallel:
Entwicklung moderner Gefängnisse
Erste Ansätze einer Kriminologie (Franz von Liszt) und Kriminalanthropologie (Cesare Lombroso)
Strafrecht während der NS-Zeit
Nationalsozialisten schraubten an den Prinzipien herum
Weitere Faktoren:
Rassistische Strafgesetze
Praktisch unkontrollierte „Strafverfolgung" durch Gestapo und Staatsanwaltschaften - Schutzhaft und Konzentrationslager
Schauprozesse mit mehr oder weniger Versuchen des rechtsstaatlichen Anstrichs
Entwicklung nach 1945
Nach NS-Zeit:
Alliierte Vorgaben gegen NS-Recht
NS-Aufarbeitung durch Strafjustiz: die Nürnberger Prozesse
Reformen:
Entwürfe der Regierung und „Alternativ-Entwurf" (durch die Wissenschaft)
Reformen 1969-75:
a) Änderungen der Sanktionen: Abschaffung von Zuchthaus und Arbeitshaus
b) Einführung eines Allgemeinen Teils
c) Entkriminalisierung (Ehebruch, Kuppelei, Unzucht,...)
Neue Straftatbestände, neue Ermittlungsbefugnisse & erweiterte Sanktionen
Bekämpfung von organisierter Kriminalität und Terrorismus
Informationstechnische Ermittlungsmaßnahmen (großer Lauschangriff, Online-Durchsuchung, TK-Überwachung,...)
Aktuelle Diskussionen um Entkriminalisierung: Schwarzfahren, Cannabis
Europäisierung und Internationalisierung
Europäische Harmonisierung
Neue Institutionen (Europol, Eurojust, EUStA)
Datenaustausch zwischen Mitgliedstaaten
Gegenseitige Anerkennung - europäischer Haftbefehl
Parallele Entwicklungen im Europarat: z.B. Cybercrime-Convention
Aber: nach wie vor keine umfassende Zuständigkeit und Rechtsetzung der EU - weithin nationale Entscheidungen
Internationaler Strafgerichtshof (Den Haag, seit 1998)
Zuständig für Völkerstrafrecht (Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen, Verbrechen der Aggression)
123 Mitglieder, die Gerichtsbarkeit anerkannt haben (auch Deutschland) - nicht z.B. USA, Russland, China, Indien, Pakistan, Türkei, Äthiopien, Saudi-Arabien,...
Daneben: Internationale Strafgerichte für das ehemalige Jugoslawien, für Ruanda
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