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Soziale Ungleichheit

MG
by Maya G.

Soziale Ungleichheit


-Die Definition im Lexikon zur Soziologie, soziale Ungleichheit sei jede Art verschiedener Möglichkeiten der Teilhabe an Gesellschaft bzw. der Verfügung über gesellschaftlich relevante Ressourcen, erfasst diese Mehrdimensionalität und Relativität von Ungleichheit, denn was „gesellschaftlich relevant“ ist, muss durchaus nicht konstant bleiben, ebenso wenig die Formen der gesellschaftlichen Teilhabe.

-J. J. Rousseau liefert 1754 eine frühe und für seine Zeit durchaus revolutionäre Antwort auf die Frage: „Welches ist der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen?“ (so ein Aufsatztitel) aus dieser Sichtweise. Sie lautet (nicht ohne Dramatik):

„Der erste, welcher ein Stück Landes umzäunte, sich in den Sinn kommen ließ zu sagen: dieses ist mein, und einfältige Leute antraf, die es ihm glaubten, der war der wahre Stifter der bürgerlichen Gesellschaft. Wie viel Laster, wie viel Krieg, wie viel Mord, Elend und Gräuel hätte einer nicht verhüten können, der die Pfähle ausgerissen, den Graben verschüttet und den Mitmenschen zugerufen hätte: ‚Glaubt diesem Betrüger nicht; ihr seid verloren, wenn ihr vergesst, dass die Früchte euch allen, der Boden aber niemandem gehört’.“ (Rousseau 1981 (zuerst 1754): 93).

-Mit anderen Worten: Der Ursprung der Ungleichheit lag für Rousseau primär im Eigentum – ein Gedanke, den auch einige spätere Ansätze, insbesondere Klassenmodelle, aufgreifen


Ansätze zur sozialen Ungleichheit:

Bis Ende der siebziger Jahre




Klassen


Schichten

Andere Ansätze

Marx





Weber




Geiger





Funktionalistische Schichtungstheorie (z.B. Parsons)




Prestigemodelle (z.B. Warner, Scheuch)

Nivellierte Mittelstandsgesellschaft (Schelsky)


Dahrendorf



Neomarxismus





Ab etwa Anfang der achtziger Jahre





Klassen

Schichten

Lebensstile und milieus

Soziale lagen

Individualisierung

z.B. Wright, Goldthrope, Bourdieu

z.B. Geißler

z.B. Bourdieu, Schulze

z.B. Hradil, Schwenk

z.B. Beck


Karl Marx: Das klassische Klassenmodell


-Karl Marx (1818-1883) entwarf seine Klassentheorie in der Mitte des 19. Jahrhunderts. Zwar ist er nicht der „Erfinder“ des Klassenbegriffs oder seiner Verwendung im ökonomischen Bereich. Wohl aber ist sein Konzept – und insgesamt sein Gedanke, Gesellschaft als Klassengesellschaft zu begreifen – grundlegend und bis heute einflussreich geblieben. Marx begreift die gesamte historische Entwicklung als Geschichte von Klassenkämpfen:

-Die verschiedenen Stufen dieser Klassenkämpfe zeichnen sich durch je spezifische Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse aus. Besitzer von Produktionsmitteln herrschen dabei über Nichtbesitzende. Das zeigt erstens, dass nach dieser Vorstellung die Arbeit bzw. der Bereich der Produktion die Grundlage des menschlichen Daseins und Zusammenlebens darstellt und zweitens, dass Marx eindeutig das Privateigentum (an Produktionsmitteln) als Ursache sozialer Ungleichheit ansieht (ein Gedanke, der ähnlich bereits bei Rousseau zu finden war). Eine Klasse ist entsprechend bestimmt durch ihr Verhältnis zu den Produktionsmitteln. Auf dieser Basis lautet Marx’ Diagnose der bürgerlichen oder kapitalistischen Gesellschaft im 19. Jahrhundert:

„Die ... moderne bürgerliche Gesellschaft hat die Klassengegensätze nicht aufgehoben. Sie hat nur neue Klassen, neue Bedingungen der Unterdrückung, neue Gestaltungen des Kampfes an die Stelle der alten gesetzt. ... Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat.“


-Die Bourgeoisie zeichnet sich durch den Besitz von Produktionsmitteln aus. Die nicht besitzenden Arbeiter erarbeiten einen Mehrwert, über den ausschließlich die Produktionsmittelbesitzer verfügen können. So häufen sie, etwa durch die Ausbeutung der Arbeiter, Kapital an und gewinnen zunehmend Mittel zur Erlangung ökonomischer und damit gesellschaftlicher Macht. Die Bourgeoisie stellt also die herrschende Klasse dar.

-Das Proletariat, das keine Produktionsmittel besitzt, ist die Klasse der Arbeiter, die zur Sicherung ihres Lebensunterhaltes ihre Arbeitskraft als Ware verkaufen müssen: „Die Arbeiter, die sich stückweis verkaufen müssen, sind eine Ware wie jeder andere Handelsartikel“ (a.a.O.: 31). Sie erhalten nur einen geringen Lohn und sind nicht nur materiell von Verelendung bedroht, sondern werden auch sozial und politisch unterdrückt. Dadurch, dass Selbstbestimmung nicht möglich ist, werden sie zunehmend zu entfremdeten Individuen.

-Zwischenklassen lösen sich zugunsten der dichotomen Gegenüberstellung dieser zwei Klassen zunehmend auf, weil z.B. kleine Industrielle oder Kaufleute nicht genügend Kapital zur Verfügung haben, um dem Konkurrenzkampf standzuhalten und schließlich zum dadurch wachsenden Proletariat stoßen

-Es sei noch einmal betont, dass die Herrschaft der „herrschenden“ Klasse zwar auf ökonomischen Ursachen basiert, sich aber nicht allein auf den ökonomischen Bereich erstreckt, sondern auch auf Bereiche wie Politik, Kultur, Recht und Religion, den „Überbau“. Nach Marx prägt „das Sein das Bewusstsein“, die ökonomische Lage wirkt sich ursächlich auf die Lebensverhältnisse der Einzelnen und die gesellschaftlichen Verhältnisse aus. Unter anderem bedingt wirtschaftliche Macht politische Macht. Deshalb reicht es auch aus, Klassen nach dem Kriterium des Besitzes oder Nichtbesitzes von Produktionsmitteln einzuteilen. Nochmals in den Worten von Marx heißt es zur Klassenlage: „Insofern Millionen von Familien unter ökonomischen Existenzbedingungen leben, die ihre Lebensweise, ihre Interessen und ihre Bildung von denen der anderen Klassen trennen und ihnen feindlich gegenüberstellen, bilden sie eine Klasse.“ (Marx 1973). Und weiter: „Auf den verschiedenen Formen des Eigentums, auf den sozialen Existenzbedingungen erhebt sich ein ganzer Überbau verschiedener und eigentümlich gestalteter Empfindungen, Illusionen, Denkweisen und Lebensanschauungen.“

-Solange sich die Mitglieder einer Klasse allein objektiv in der gleichen Klassenlage befinden (das heißt Produktionsmittel besitzen oder nicht), bilden sie in der Terminologie von Marx eine Klasse an sich. Wenn mit der Klassenlage ein gemeinsames Klassenbewusstsein und daraus folgend solidarische Handlungsweisen verbunden sind, wird die Klasse zu einer auch subjektiv bestehenden Klasse für sich.

-Der objektive Interessengegensatz, der mit den gegensätzlichen Klassenlagen verbunden ist (die Bourgeoisie will die bestehenden Verhältnisse bewahren, das Proletariat will sie überwinden), führt im Laufe der Entwicklung zu einem verschärften Klassenkonflikt, weil die schrumpfende Bourgeoisie immer reicher wird und das wachsende Proletariat immer mehr verelendet. Der Klassenkonflikt ist also keine kurzfristige Übergangserscheinung im Entwicklungsprozess der Industriegesellschaft. Die Klassengegensätze laufen dann – als immanente Tendenz der kapitalistischen Produktionsweise – auf die Revolution des Proletariats hinaus

-Die Prinzipien des Klassenbegriffs nach der Klassentheorie von Marx, die für spätere Klassenmodelle einflussreich waren, sollen nun noch einmal zusammengefasst werden:

  • Sein Klassenbegriff hat eine ökonomische Basis. Der Besitz oder Nichtbesitz von Produktionsmitteln ist entscheidend für die Klassenzugehörigkeit und damit für die soziale Lage in einem umfassenden Sinne sowie für Machtverhältnisse in der Gesellschaft. Soziale Ungleichheit lässt sich so mittels des Klassenbegriffs erklären.

  • Klassen stehen sich antagonistisch gegenüber: Aufgrund gegensätzlicher Interessen besteht ein Klassenkonflikt, wobei sich das Hauptaugenmerk auf zwei relevante Klassen richtet, die sich im Klassenkampf dichotom gegenüberstehen. Allgemein kommt der Betrachtung der Beziehungen zwischen den Klassen in der Klassentheorie damit große Bedeutung zu.

  • Unter bestimmten Bedingungen zeichnen sich die Mitglieder einer Klasse auch durch ein gemeinsames (Klassen-) Bewusstsein aus, das solidarisches Handeln ermöglicht. Klassen sind damit keinesfalls nur sozialstatistische Kategorien, sondern „Akteure im gesellschaftlichen Kräftespiel“.

  • Die Analyse der Dynamik des Klassenkonflikts kann sozialen Wandel erklären.


-Kritik: Zunächst ist eine Beschäftigung mit seinem Klassenbegriff schon aus dem Grunde nicht einfach, weil Marx keine eindeutige formale Definition des Begriffs liefert (z.B. bricht ein Kapitel über „die Klassen“ bereits nach wenigen Zeilen ab; Marx 1974 und weil seine Klassentheorie laut Dahrendorf „das problematische Bindeglied zwischen soziologischer Analyse und philosophischer Spekulation [bildet]“ (Dahrendorf). Inhaltlich stellen Kritiker in Frage, ob ökonomische Bestimmungsgründe allein die Phänomene der Lebenslage sowie der Machtverhältnisse in der Gesellschaft und in gesellschaftlichen Teilbereichen erklären. Sie bezweifeln weiterhin, dass die Berücksichtigung von zwei Hauptklassen ausreiche, um eine sinnvolle Sozialstrukturanalyse durchzuführen. Ein Kritikpunkt lautet ferner, dass Marx zwar die kapitalistische Gesellschaft des 19. Jahrhunderts in ihrer Struktur erkläre, dass sich aber die weitere Entwicklung nicht mehr mit dem Marxschen Modell vereinbaren lasse: Unter anderem begründen die Kritiker dies mit der Existenz „neuer“ Mittelklassen, die sich z.B. mit der Ausweitung des Dienstleistungssektors und damit der Gruppe der Angestellten herausgebildet haben. Der Hinweis auf soziale Mobilität und auf die allgemeine Wohlstandszunahme zeigt, dass die Verelendung breiter Massen nicht stattgefunden hat —> Einwand: Konzentration auf zwei Klassen, durch die Marx das dominante Schichtungsprinzip abbildet, aber nicht den Anspruch erhebt, eine vollständige Zustandsbeschreibung mit weiteren Trennungslinien und inneren Konflikten zu liefern. Dies ist auch deshalb der Fall, weil Marx einen Schwerpunkt auf die dynamische Analyse von Gesellschaftsentwicklungen legt.

Max Weber: Klassen und Stände


-Auf das Konzept von Max Weber (1864-1920) stützen sich später Vertreter einer „gemäßigten“ Klassentheorie (Kreckel 1990), aber auch Vertreter von Schicht- und Lebensstilansätzen. Es ist also für die weitere Konzeptionierung sozialer Ungleichheit stark anschlussfähig. Ein zentraler Unterschied zu Marx besteht darin, dass Weber ein differenziertes, mehrdimensionales Modell vorlegt, das heißt er betont nicht allein den ökonomischen Aspekt und gibt auch die Beschränkung auf zwei relevante Klassen – Bourgeoisie und Proletariat – auf. Weber spricht nicht allein von „Klassen“, sondern zieht zur Charakterisierung der Sozialstruktur, der Machtverteilung in einer Gesellschaft, zusätzlich „Stände“ und „Parteien“ heran. Zudem teilt er Klassen auf: Er unterscheidet verschiedene Besitz-, Erwerbs- und soziale Klassen.


Klassen

-Weber spricht dann von Klassen, wenn

„1. einer Mehrzahl von Menschen eine spezifische ursächliche Komponente ihrer Lebenschancen gemeinsam ist, soweit

2. diese Komponente lediglich durch ökonomische Güterbesitz- und Erwerbsinteressen und zwar

3. unter den Bedingungen des (Güter- oder Arbeits-) Markts dargestellt wird (‚Klassenlage’)“ (1980 (zuerst 1922): 531).

Eine Klasse ist also gekennzeichnet durch die Art der Verfügung über Besitz und des Erwerbs von Gütern sowie die Chancen, die sie dadurch auf dem Markt hat.

Klassenlage heißt dann „die typische Chance

1. der Güterversorgung, 2. der äußeren Lebensstellung, 3. des inneren Lebensschicksals ..., welche aus Art und Maß der Verfügungsgewalt (oder des Fehlens solcher) über Güter und Leistungsqualifikationen und aus der gegebenen Art ihrer Verwertbarkeit über die Erzielung von Einkommen oder Einkünften innerhalb einer gegebenen Wirtschaftsordnung folgt“ Und weiter heißt es: „‚Klassenlage’ ist in diesem Sinn letztlich: ‚Marktlage’.

Besitzklassen

Weitere Differenzierungen ergeben sich nun dadurch, dass Weber Klassen unterteilt in Besitz-, Erwerbs- und soziale Klassen. Bei Besitzklassen bestimmen primär Besitzunterschiede die Klassenlage. „Positiv privilegierte Besitzklassen“ sind z.B. Besitzer von Arbeitsanlagen und Apparaten, Bergwerken etc., negativ privilegierte z.B. Verschuldete und Arme. Dazwischen gibt es „Mittelstandsklassen“.

Erwerbsklassen

Diese Durchbrechung der Dichotomie ist auch bei den Erwerbsklassen zu finden, in denen primär „die Chancen der Marktverwertung von Gütern oder Leistungen“ die Klassenlage bestimmen . Als entgegengesetzte Beispiele führt Weber hier Unternehmer (z.B. Händler) bzw. Arbeiter an.


Soziale Klassen

Soziale Klassen, so lautet die Definition, „soll die Gesamtheit derjenigen Klassenlagen heißen, zwischen denen ein Wechsel a) persönlich, b) in der Generationenfolge leicht möglich ist und typisch stattzufinden pflegt.“ Soziale Klassen bündeln also die Klassenlagen, innerhalb derer man wechseln kann, über die hinaus Mobilität jedoch typischerweise weniger stattfindet. Für seine Zeit führt Weber vier soziale Klassen an: die Arbeiterschaft, das Kleinbürgertum, die besitzlose Intelligenz und Fachgeschultheit sowie die Klassen der Besitzenden und durch Bildung Privilegierten (a.a.O.: 179). Soziale Klassen weisen zum einen auf das Phänomen der sozialen Mobilität hin, zum anderen bündelt dieser Begriff in gewisser Weise die unübersichtliche Vielfalt der unterschiedlichen Besitz-und Erwerbsklassen. Im Unterschied zu Marx führt die Zugehörigkeit zu einer Klasse (bzw. zu einer sozialen Klasse) im Zuge sozialen Wandels nicht notwendig zu einem Klassenbewusstsein oder gemeinsamem Handeln

-Bedingungen, die Klassenhandeln begünstigen, sind z.B. eine massenhaft ähnliche Klassenlage, räumliche Nähe, Führung auf einleuchtende Ziele und ein Handeln gegen einen unmittelbaren Interessengegner, z.B. einen konkreten Unternehmer im Gegensatz zu Aktionären


Stände

-Weber definiert „ständische Lage“ als „jede typische Komponente des Lebensschicksals von Menschen, welche durch eine spezifische, positive oder negative, soziale Einschätzung der ‚Ehre’ bedingt ist, die sich an irgendeine gemeinsame Eigenschaft vieler knüpft

-Der Stand basiert also auf Ehre, auf sozialem Prestige und drückt sich primär in einer bestimmten Lebensführung aus. Dazu gehören unter anderem die Personenkreise, mit denen man Umgang pflegt (was auch zur „Schließung“ gegenüber anderen Gruppen führt) oder die Befolgung spezifischer Werte. Durch das Element der Lebensführung berücksichtigt Weber eine subjektive Komponente für die Erklärung der Sozialstruktur. Stände sind in der Regel Gemeinschaften, allerdings amorphe Gemeinschaften, das heißt die Mitglieder müssen sich nicht persönlich kennen . Stände können beispielsweise Berufsstände (Offiziere, Ärzte etc.), Geburtsstände (aufgrund der Abstammung, z.B. der Adel) oder politische Stände sein

Verhältnis von Klasse und Stand

-Kann man so einerseits von zwei getrennten Prinzipien, dem Markt- und dem ständischen Prinzip, sprechen, die jeweils für sich die Struktur sozialer Ungleichheit beeinflussen und quer zueinander liegen können, so sind andererseits Verknüpfungen keinesfalls ausgeschlossen: „Ständische Lage kann auf Klassenlage ... ruhen. Aber sie ist nicht durch sie allein bestimmt: Geldbesitz und Unternehmerlage sind nicht schon an sich ständische Qualifikationen, – obwohl sie dazu führen können.“. Verknüpfungen zwischen Klasse und Stand sind insgesamt weder unmöglich noch zwangsläufig. Offiziere, Beamte und Studenten können z.B. dem gleichen Stand angehören, ohne sich in der gleichen Klassenlage zu befinden. Oft ist jedoch eine bestimmte ständische Lebensführung doch ökonomisch mit bedingt, weil sie sich zumindest unter anderem im Konsum ausdrückt.


Parteien

-Eine weitere Differenzierung trifft Weber mit dem Begriff der „Partei“. Parteien sind „primär in der Sphäre der ‚Macht’ zu Hause. Ihr Handeln ist auf soziale ‚Macht’, und das heißt: Einfluss auf ein Gemeinschaftshandeln gleichviel welchen Inhalts ausgerichtet: es kann Parteien prinzipiell in einem geselligen ‚Klub’ ebensogut geben wie in einem ‚Staat’. Das ‚parteimäßige’ Gemeinschaftshandeln enthält, im Gegensatz zu dem von ‚Klassen’ und ‚Ständen’, bei denen dies nicht notwendig der Fall ist, stets eine Vergesellschaftung.“ Man kann sagen, dass mit „Partei“ eine institutionalisierte Interessengruppe gemeint ist. Hradil stellt „Partei“ gleichrangig neben „Klasse“ und „Stand“, weil sie nach der ökonomischen und sozialen nun die politische Dimension sozialer Ungleichheit vertrete (1987: 62f.). Kreckel und Giddens machen aber darauf aufmerksam, dass Macht nicht als dritte Dimension oder drittes Prinzip sozialer Ungleichheit zu sehen sei. Macht sei eher Oberbegriff, weil sowohl Klassen als auch Stände und Parteien Phänomene der Machtverteilung sind


Das Schichtmodell Theodor Geigers


-Geiger grenzt sich ausführlich gegen Marx ab, am Rande gegen Weber und setzt bisherigen Klassenbegriffen und -modellen (auch anderer Autoren, z.B. W. Sombart oder G. Schmoller) ein eigenes Schichtmodell entgegen, das S. Hradil als „nicht-marxistisches Klassenmodell“ einordnet (1999: 118). Was versteht Geiger unter einer Schicht? „Jede Schicht besteht aus vielen Personen (Familien), die irgendein erkennbares Merkmal gemein haben und als Träger dieses Merkmals einen gewissen Status in der Gesellschaft und im Verhältnis zu anderen Schichten einnehmen. Der Begriff des Status umfasst Lebensstandard, Chancen und Risiken, Glücksmöglichkeiten, aber auch Privilegien und Diskriminationen, Rang und öffentliches Ansehen.“

-Eine Schicht beschreibt damit eine bestimmte soziale Lage und dient bei Geiger als Oberbegriff, der die Sozialstruktur einer Gesellschaft kennzeichnet. Andere Begriffe, z.B. Kaste, Stand oder Klasse, sind nur Beispiele für historische Sonderfälle einer Schichtung. Auch die Klasse ist also eine spezielle Form der Schichtung, und zwar eine Form, bei der die Produktionsverhältnisse das „dominante Schichtungsprinzip“ darstellen

-Ad a) Geiger nimmt eine Unterscheidung auf, die differenziert zwischen „objektiven“ und „subjektiven“ Schichtbegriffen.

-„Objektive“ Begriffe richten sich ausschließlich auf äußere Merkmale der sozialen Lage, z.B. das Einkommen. Geiger kritisiert eine solche Vorgehensweise als sozialstatistische Klassifikation, die kaum eine soziologische Aussagekraft hat, weil man recht beliebig Personengruppen nach Kriterien gruppieren kann.

-Die „subjektive“ Ausrichtung konzentriert sich auf eine bestimmte gemeinsame Haltung oder Denkweise, eine psychische Verfassung der Mitglieder, die nicht an Merkmale der sozialen Lage gebunden wird.

-„Gemischte“ Begriffe schließlich stellen einen Zusammenhang zwischen Lage und Haltung her, doch in einer aus Geigers Sicht ebenfalls unbefriedigenden Weise, weil zu den Schichten nur solche Personen einer gemeinsamen sozialen Lage gehören würden, die sich auch solidarisch fühlen und so verhalten. Wie sieht Geigers Lösung demgegenüber aus? „Indem man Lagen und Haltungen zuerst getrennt erfasst, dann aber die Verteilung der Lagen und die der Haltungen miteinander vergleicht, wird man gewisse Haltungen als typisch für gewisse Lagen erkennen. Man hat dann die Haltung in einer Schicht lokalisiert.

-Die Haltung oder – in Geigers Terminologie – die „Mentalität“ ordnet er einer Schicht also quasi im Nachhinein zu. Solch eine Zuordnung ist nicht deterministisch, sondern sagt eher aus, dass viele, aber nicht alle Schichtmitglieder eine bestimmte Mentalität haben (es wäre zu diskutieren, ob es immer eine „vorherrschende“ Mentalität in einer Schicht gibt).

-Dieses Konzept von Schichten und ihren Mentalitäten hat Geiger in einer Studie umgesetzt, in der er Daten der Volkszählung von 1925 analysiert: „Die soziale Schichtung des deutschen Volkes“ von 1932. Dort stellt er ein Fünf-Schichten-Modell auf, zu dem folgende Schichten gehören:

1) Kapitalisten (0,9% der Berufszugehörigen)

2) mittlere und kleinere Unternehmer („alter Mittelstand“, 17,8%)

3) Lohn- und Gehaltsbezieher höherer Qualifikation („neuer Mittelstand“, 17,9%)

4) Tagewerker für eigene Rechnung („Proletaroide“, 12,7%) sowie

5) Lohn- und Gehaltsbezieher minderer Qualifikation („Proletariat“, 50,7%

-Dominantes Schichtungsprinzip:

Geiger stellt sich den Begriff der Schichtung zunächst so allgemein vor, dass man unterschiedliche Schichten nach unterschiedlichen Merkmalen bilden kann. So würde sich eine andere Schichtung nach dem Einkommen als nach dem Beruf oder nach der Religionszugehörigkeit ergeben. Diese Schichtstrukturen „überkreuzen, durchdringen und überdecken einander“. Es sind jedoch nicht alle Schichtmerkmale gleichermaßen in einer Gesellschaft wichtig. In einer Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt ist vielmehr eine Schichtung dominant, andere sind subsidiär. In einer ständischen Gesellschaft ist dann etwa die Schichtung nach der Berufsart dominant. Mit Hilfe dieser Trennung von dominanter und subsidiärer Schichtung gelingt es auch, das Schichtmodell zu einem dynamischen zu machen, das heißt Prozesse zu analysieren, denn eine dominante Schichtung muss im Zeitverlauf nicht gleichbleiben, sondern kann in den Hintergrund treten, während andere an Bedeutung gewinnen


-Kritik: Stellt Geigers Ansatz die Lösung der Sozialstrukturanalyse dar? Obwohl er für einige spätere Modelle einflussreich war, gibt es auch an seinem Modell Kritikpunkte. Unter anderem stellt sich die Frage, wie man denn die bedeutsamsten Unterscheidungsmerkmale, die dominante Schichtung unter allen anderen Schichtungen einer Gesellschaft erkennen kann. Bei Geiger hört es sich so an, als ob sich, falls der Forscher nur genügend unvoreingenommen sei, die dominante Schichtung fast naturwüchsig herausschäle, z.B. möchte er zunächst alle Erscheinungen gesellschaftlicher Schichtung beschreiben, „wie sie sind“ (1955: 199).8 Seiner Meinung nach drängen sich gewisse Unterschiede der Lage als schicksalsbestimmend auf (1955: 195) – und dies sagt er, obwohl er andererseits zwei Schwierigkeiten selbst benennt: „Je näher der Betrachter insbesondere seiner eigenen Zeit kommt, desto schwerer fällt ihm die Unterscheidung zwischen typischen Perioden und den Übergangszuständen zwischen ihnen … ein anderer Umstand aber dürfte weit wichtiger sein. Die neuzeitlichen Gesellschaften sind tatsächlich in höherem Grade labil, sind hektischeren Veränderungen unterworfen als die Gesellschaften der Vorzeit“


Die funktionalistische Schichtungstheorie (nach Parsons)


-Die funktionalistische Sicht der sozialen Schichtung nimmt eine ganz andere Perspektive auf soziale Ungleichheit ein. Sie wurde in den Grundlagen in den USA von T. Parsons (1902-1979) entwickelt

-Diese Perspektive fragt nicht, wie man möglicherweise Ungerechtigkeit oder Unterdrückung beseitigen könnte, sondern sie denkt darüber nach, wofür soziale Schichtung wohl nützlich sein könnte, ob sie für ein geordnetes gesellschaftliches Zusammenleben einen – vielleicht sogar notwendigen – Beitrag leistet. In der deutschen Diskussion um soziale Ungleichheit nach dem Zweiten Weltkrieg war insbesondere ab Anfang der sechziger Jahre der Strukturfunktionalismus einflussreich, aber auch die Auseinandersetzung mit der Klassentheorie verschwand nicht ganz, so dass die funktionalistische Schichtungstheorie schnell auch Kritik hervorrief (z.B. Mayntz 1961). Ein Kritikpunkt bestand gerade darin, dass Elemente wie Macht und soziale Konflikte in der Theorie vernachlässigt würden

-T. Parsons versteht in seiner strukturfunktionalistischen Theorie Gesellschaft als ein System mit verschiedenen Subsystemen, die für die Gesellschaft bestimmte Funktionen erfüllen, um die soziale Ordnung aufrechtzuerhalten. Beispielsweise ist, wenn man gesellschaftliche Institutionen betrachtet, die Politik unter anderem dafür zuständig, gemeinsame Handlungsorientierungen, z.B. in Form von Gesetzen, zu formulieren und zwischen verschiedenen Interessengruppen zu vermitteln (vgl. als einführende Sekundärliteratur zu Parsons z.B. Münch 2007). Im Zusammenhang mit sozialer Schichtung fragt Parsons entsprechend, inwiefern sie dazu beiträgt, dass gesellschaftliches Zusammenleben funktioniert.

-Soziale Schichtung bedeutet für Parsons „die differentielle Rangordnung …, nach der die Individuen in einem gegebenen sozialen System eingestuft werden und die es bedingt, dass sie in bestimmten, sozial bedeutsamen Zusammenhängen als einander über- und untergeordnet behandelt werden“

-Stabile soziale Systeme brauchen Normen, die diese Beziehungen der Über- und Unterordnung regeln, und die soziale Schichtung stellt ein solches Regelsystem, eine solche Ordnung dar, trägt damit zur Systemstabilität bei. An diese Aussage schließen sich zwei Fragen an. Erstens: Warum sollten sich die Menschen in eine solche Ordnung einfügen (anstatt sich, wie in den Vorstellungen von Marx, zusammenzuschließen und gegen Höhergestellte aufzubegehren)? Und zweitens: Nach welchen Merkmalen erfolgt eine Bewertung als über- oder untergeordnet?

-Zum ersten Punkt: Hierzu lautet Parsons’ These, grob gesagt, dass sich die Motive und Bewertungsmaßstäbe Einzelner einerseits und gesellschaftliche Normen andererseits im Wesentlichen entsprechen: „Wenn das Individuum also den institutionellen Normen nicht entspricht, so handelt es damit seinem eigenen Interesse entgegen.“ (Parsons 1940: 185). Diese Übereinstimmung kommt dadurch zustande, dass man bestimmte moralische Muster bereits in der Kindheit verinnerlicht, außerdem gibt es Sanktionen durch die soziale Umwelt, die das Handeln kontrollieren (was andeutet, dass keine vollkommenen Harmonievorstellungen angebracht sind über die Verknüpfung zwischen Individuum und „Gesellschaft“). Ein wichtiges Handlungsmotiv besteht darin, die Anerkennung anderer zu erlangen, was durch die Befolgung sozialer Normen gelingen kann. Schichtung ist daher auch ein wichtiges Mittel zur Handlungsorientierung: „Die soziale Schichtung bildet also einen der Zentralpunkte für die Strukturierung des Handelns in sozialen Systemen“

-An welchen Merkmalen können sich die Individuen nun orientieren, um sich und andere in einer Schichtungsskala einzuordnen? Parsons nennt sechs Grundelemente:

  • Die Mitgliedschaft in einer Verwandtschaftsgruppe (das heißt eine Position, die man durch die Herkunftsfamilie innehat oder durch Heirat erlangt).

  • Persönliche Eigenschaften (z.B. das Geschlecht oder das Alter) Leistungen (im Unterschied zu den Eigenschaften) Ergebnisse von Handlungen, z.B. beruflicher Erfolg,

  • Eigentum (wobei z.B. Reichtum selten ein primäres Statuskriterium darstellt, sondern eher ein Symbol für den Leistungserfolg ist)

  • Autorität (das institutionell anerkannte Recht auf Einfluss, z.B. als Inhaber eines Richteramtes oder als Eltern)

  • Macht (im Unterschied zur Autorität handelt es sich hier um nicht institutionell anerkannten Einfluss). „Der Status eines jeden Individuums im Schichtungssystem einer Gesellschaft kann als Resultate der gemeinsamen Wertungen betrachtet werden, nach denen ihm sein Status in diesen sechs Punkten zuerkannt wird“

-Jemand ist also z.B. ledig, männlich und Krankenpfleger mit einem bestimmten Einkommen etc. und wird entsprechend eingeordnet. Welche Merkmale besonders gewichtet werden, wie sie im Einzelnen bewertet werden, ist je nach Gesellschaft und Zeitpunkt verschieden

-Über die offensichtliche zeitliche Gebundenheit des konkreten Beispiels hinaus will Parsons durch die sechs Bewertungskriterien ein analytisches Instrument entwerfen, mit dem man die Schichtung verschiedener Gesellschaften zu unterschiedlichen Zeitpunkten beschreiben kann. Diese Sichtweise betrachtet er als eine Weiterentwicklung von Marx’ Ansatz, dem er zwar eine wichtige Rolle in der soziologischen Theorieentwicklung zugesteht, der aber „die Tendenz [hatte], die sozioökonomische Struktur der kapitalistischen Wirtschaft als eine einzige, unteilbare Einheit zu behandeln, statt analytisch zwischen einer Reihe verschiedener Variablen zu unterscheiden“


-Zusammenfassend: Der funktionalistische Schichtungsansatz geht davon aus, dass die soziale Schichtung dazu beiträgt, dass Gesellschaft „funktioniert“, dass eine stabile soziale Ordnung möglich ist. Je mehr eine Position solche Leistungen erbringt, desto höher ist sie in der Rangordnung angesiedelt. Wenngleich konkrete Schichtungen je nach Gesellschaft variieren können, stehen doch bestimmte Elemente fest, die die Einordnung in die Schichtungsskala bedingen (s. die sechs Punkte bei Parsons) bzw. die den Rang einer Position beeinflussen (Davis/Moore). Einen im Versuch positiv zu würdigenden, im Ergebnis jedoch fraglichen Ansatz zur Verbindung von funktionalistischer Schichtungstheorie und konfliktorientierter Klassentheorie hat Lenski vorgelegt.

Funktionalistische Schichtungstheorie (nach Davis/Moore)


-Auch K. Davis und W. E. Moore stellen in ihrer Arbeit von 1945 deutlich heraus, dass aus ihrer Sicht die Schichtung jeder Gesellschaft eine funktionale Notwendigkeit darstellt. Schichtung ist also grundsätzlich aus gesellschaftlichem Blickwinkel etwas Positives, nicht etwas, das man überwinden müsste. Da sich die Argumente auf das allgemeine System der Positionen in einer Gesellschaft richten und nicht auf die einzelnen Individuen, sagen sie in keiner Weise, wie die Autoren selbst betonen, etwas darüber aus, ob die Lebenslage eines Einzelnen beispielsweise gerecht oder beklagenswert ist und wie er seine Chancen gegebenenfalls verbessern kann. Nach einer Unterscheidung von R.K. Merton könnte man sagen: Trotz manifester Unzufriedenheit mit bestehenden Ungleichheiten gibt es eine latente Funktionalität sozialer Schichtung. Analytisch trennt diese theoretische Perspektive dadurch zwischen Motiven und objektiven Folgen sozialen Handelns. Mit den Worten von Davis/Moore ist soziale Ungleichheit:

ein unbewusst entwickeltes Werkzeug, mit dessen Hilfe die Gesellschaft sicherstellt, dass die wichtigsten Positionen von den fähigsten Personen gewissenhaft ausgefüllt werden“

-Eine Gesellschaft muss bestimmte Positionen besetzen, als wichtige Hauptfunktion nennen die Autoren beispielsweise die Aufgaben von Staat und Regierung, die Normen durchsetzen, Entscheidungen treffen, insgesamt planen und lenken sollen, oder die Integrationsfunktion, der z.B. die Religion dient. Geeignete Personen müssen nun dazu motiviert werden, diese Positionen zu besetzen und die Aufgaben zu erfüllen, daher sind die Positionen mit entsprechenden Belohnungen verknüpft (z.B. Einkommen oder Ansehen).

-Wann hat nun eine Position welchen Rang inne? Die zwei Determinanten, die Davis und Moore nennen, sind erstens die Bedeutung oder die Funktion der Position für die Gesellschaft und zweitens die erforderliche Begabung und/oder Ausbildung, die zur angemessenen Ausübung der Position notwendig ist

-Die Bedeutung der Position ist dabei eine notwendige, aber nicht allein hinreichende Bedingung. Beispielsweise ist es ganz sicherlich eine notwendige gesellschaftliche Aufgabe, den Hausmüll regelmäßig zur Entsorgung abzutransportieren, aber die Posten bei der Müllabfuhr rangieren im Belohnungssystem nicht gerade besonders weit oben. Die Autoren erklären dies so: Die Gesellschaft „muss diese Positionen lediglich mit so starken Anreizen ausstatten, dass eine angemessene Besetzung gewährleistet ist … wenn eine Position ohne Schwierigkeiten besetzt werden kann, braucht sie trotz ihrer Bedeutung nicht hoch belohnt zu werden.“.

-Weil die meisten wichtigen Positionen spezielle Fähigkeiten erfordern, sieht der Normalfall so aus, dass geeignete Personen dafür knapp sind, weil nicht jeder die gleichen Begabungen hat und Ausbildungen Zeit, Geld und Mühe erfordern. Um die entsprechend Begabten z.B. für eine technische Expertenposition zu „locken“ und für eine langwierige Ausbildung zu interessieren, sind mit solchen Positionen dann relativ hohe Belohnungen verbunden.

-Auch Davis und Moore beanspruchen, auf diese Weise ein allgemeines Modell aufzustellen, das nicht nur für eine bestimmte Gesellschaft zu einem bestimmten Zeitpunkt gilt. Die beiden Determinanten für den Rang einer Position halten sie für universal, aber einer Position kann in verschiedenen Gesellschaften (etwa mit unterschiedlichem Spezialisierungsgrad) unterschiedliche Bedeutung zukommen. So könnte z.B. die Integrationskraft der Religion im Vergleich zweier Gesellschaften unterschiedlich wichtig sein.

-Kritik: R. Mayntz führt an, dass das Modell stillschweigend von Voraussetzungen ausgeht, die die Autoren (sie bezieht sich vorwiegend auf Davis bzw. Davis/Moore) nicht explizit genug machen und deren Gültigkeit anzuzweifeln ist. Diese Voraussetzungen lauten, „dass erstens Talent angeboren und knapp ist, dass zweitens niemand ohne Aussicht auf besondere Belohnung nach schwierigeren Aufgaben strebt, und dass drittens soziale Positionen im freien Wettbewerb errungen werden“ (1961: 13). Wenn dagegen beispielsweise Führungsqualitäten im politischen Bereich gar nicht so knapp wären oder diejenigen mit entsprechenden Fähigkeiten solche Aufgaben auch ohne besondere Belohnungen gern, etwa aus sachlichem Interesse oder sozialem Pflichtgefühl übernähmen, wäre das Modell von Davis und Moore weit weniger plausibel

-Auf den ersten Blick scheint es nicht unlogisch, unter der Voraussetzung von weitgehender Chancengleichheit vielleicht auch gerecht, wenn bedeutsamere Leistungen höher belohnt werden (teilweise hat sich diese Vorstellung eines Leistungsprinzips ja bis heute erhalten). Bei genauerem Nachdenken tauchen dann aber doch einige Fragen auf, die die Bewertung von Positionen betreffen: Nach welchem Maßstab beurteilt man, ob eine Position funktional bedeutsam ist?

Funktionalistische Schichtungstheorie (nach Lenski)


-In einer Veröffentlichung von 1966 (im amerikanischen Original) versucht Gerhard Lenski, von „konservativen“ und „radikalen“ Ungleichheitstheorien ausgehend, man könnte in der hier verwendeten Terminologie sagen: von funktionalistischer Schichtungstheorie und Klassentheorie ausgehend, einen Schritt in Richtung einer Synthese zu unternehmen. Dies tut er dadurch, dass er zunächst Schichtung umdefiniert als „den Verteilungsprozess in menschlichen Gesellschaften, den Prozess, durch den knappe Werte verteilt werden“ (Lenski 1977: 12).

-Im nächsten Schritt stellt er dann zwei Prinzipien dieses Verteilungsprozesses zur Klärung der Ursachen sozialer Ungleichheit heraus: Bedürfnis und Macht.

-Diese Prinzipien konkretisiert er in zwei Verteilungsgesetzen.

  • Das erste lautet: Die Menschen teilen das Produkt ihrer Arbeit insoweit, als es zur Sicherung ihres Überlebens und der kontinuierlichen Produktivität jener notwendig ist, deren Handlungen für sie selbst notwendig oder nützlich sind. Dieses Gesetz beruht auf der Annahme, dass Menschen in erster Linie aus Eigeninteresse handeln, dieses aber meist nur durch Kooperation realisieren können. Die Verteilung der Güter auf dieser Stufe verursacht, so Lenskis Annahme, keine bedeutsamen Verteilungskonflikte, denn an einer weiteren Kooperation zur Überlebenssicherung ist jeder interessiert. Das ändert sich mit der Produktion eines Mehrwerts, also von Gütern, die nicht unmittelbar zum Überleben dienen. Dadurch, dass erstrebenswerte Güter immer knapp sind, kommt es zu Konflikten.

  • Das zweite Verteilungsgesetz sagt entsprechend aus: „Macht [bestimmt] weitgehend darüber, wie der Surplus einer Gesellschaft verteilt wird“ (a.a.O.: 71). Macht ist in der Folge auch ein bedeutsamer Einflussfaktor, die „Schlüsselvariable“, für Privilegien (der Besitz oder die Kontrolle eines Teils des Surplus) und für Prestige. Die Bedeutung des Verteilungsprinzips durch Macht wächst indes mit dem technologischen Fortschritt einer Gesellschaft

-Lenskis Schwerpunkt liegt auf diesen dynamischen Aspekten von Ungleichheit, doch macht er auch Aussagen über die Struktur von Verteilungssystemen. Mitglieder einer Klasse befinden sich im Hinblick auf Macht (und auch im Hinblick auf Privilegien und Prestige) in einer ähnlichen Position, sie haben ähnliche Interessen, die jedoch nicht zu einem gemeinsamen Bewusstsein führen müssen.

-Das Verteilungssystem einer Gesellschaft insgesamt besteht aus mehreren Klassensystemen mit unterschiedlicher Gewichtung, denen jeweils ein bestimmtes Klassenkriterium zugrunde liegt, z.B. aus einem politischen Klassensystem und nachrangig aus einem Besitz-, Berufs- und ethnischen Klassensystem. Jedes Klassensystem teilt sich in verschiedene Klassen auf.

-Kritik: Kritische Stimmen haben sich jedoch eher auf Lenskis Schwerpunkt, den Syntheseversuch, gerichtet. Beispielsweise bezweifelt Wiehn, dass es eine Gesellschaft ohne Mehrwert geben könne. Viele Gesichtspunkte bleiben unklar, z.B. wie teilen die Menschen in einer Gesellschaft ohne Mehrwert (Gleichverteilung?), oder wo kommt mit dem Mehrwert die Macht her?

Helmut Schelsky: Die nivellierte Mittelstandsgesellschaft


-In den fünfziger Jahren entstand eine These, die sowohl den Klassen- und Schichtbegriff ablehnte als auch überhaupt Modelle der vertikalen Strukturierung zur Charakterisierung der Sozialstruktur. Laut dieser These war die Gesellschaft nämlich auffällig „nivelliert“. Obwohl diese Perspektive bald ihre Kritiker fand, ist das Schlagwort von der nivellierten Mittelstandsgesellschaft eines, das nicht in seiner Geltung, wohl aber in seinem Bekanntheitsgrad bis heute erhalten geblieben ist

-in einem Aufsatz von 1953 stellt Schelsky seine Auffassung in einigen Thesen vor:

  • In den letzten zwei Generationen hat es umfangreiche Auf- und Abstiegsprozesse gegeben, insbesondere Aufstiege von Industriearbeitern und zum Teil von Verwaltungsangestellten in den „neuen Mittelstand“ und andererseits Abstiege des ehemaligen Besitz- und Bildungsbürgertums (z.B. durch Vertreibungen). Diese Mobilität führte „zu einem relativen Abbau der Klassengegensätze, einer Entdifferenzierung der alten, noch ständisch geprägten Berufsgruppen und damit zu einer sozialen Nivellierung in einer verhältnismäßig einheitlichen Gesellschaftsschicht, die ebenso wenig proletarisch wie bürgerlich ist, d.h. durch den Verlust der Klassenspannung und sozialen Hierarchie gekennzeichnet wird.“ (1953: 332). Staatliche Regulierungen wie die Sozial- und Steuerpolitik unterstützen diese Nivellierung.

  • Der Nivellierung folgt weitgehend eine Vereinheitlichung der sozialen und kulturellen Verhaltensformen, die Schelsky als „kleinbürgerlich-mittelständisch“ bezeichnet.

  • Soziale Mobilität ist damit kein Umschichtungsvorgang mehr, sondern vorrangig eine Entschichtung. Schelsky ist nicht so naiv anzunehmen, dass alle Unterschiede eingeebnet wären: „Selbstverständlich bleibt eine Analyse der sozialen Schichtung auch in der nivellierten Mittelstandsgesellschaft nach den alten Kriterien möglich, da deren Kennzeichen ja nicht ganz verwischt sind.“ (1953: 333). Allerdings glaubt er nicht, dass man aus solchen Gruppierungen einheitliche Interessen und Bedürfnisse ableiten könne. Schon gar nicht stehen sich zwei große feindliche Klassen gegenüber, wie es als Betrachtungsweise der frühindustriellen Gesellschaft im 19. Jahrhundert noch angemessener war. Eher schon gibt es im Produktionssystem Konflikte der Arbeiter mit einem anonymen bürokratischen System oder zwischen organisierten Interessenvertretungen

  • Das Bewusstsein der Menschen hält dagegen noch oft an der Rangfolge der Prestigeschichtung fest, wie sie der früheren Klassengesellschaft entsprach, oder betont sie sogar besonders. Die Ursache sieht Schelsky in Sicherheits- und Geltungsbedürfnissen, die eine in hohem Maße mobile Gesellschaft nicht befriedigen kann. Auch Organisationen wie Gewerkschaften oder Unternehmerverbände erhalten die Ideologie eines Klassenkonflikts zu ihrer Legitimierung teilweise aufrecht.

  • In der nivellierten Gesellschaft sind den Aufstiegsbedürfnissen definitionsgemäß relativ enge Grenzen gesetzt, weil die „soziale Leiter“ insgesamt kürzer geworden ist. Soziale Unsicherheiten bleiben so bestehen, auch können daraus soziale Spannungen erwachsen. Die Nivellierung bedeutet also nicht ein harmonisches Zusammenleben.

  • Das so genannte „Mittelstandsproblem“ einer unklaren Klassenzuordnung mittlerer Schichten (insbesondere Angestellter) stellt sich kaum mehr, weil es in der nivellierten Gesellschaft zu einer Problematik der Gesamtgesellschaft geworden ist.

  • Obwohl Schelskys These fast einhellig abgelehnt wurde, diente sie oft als willkommene Folie, um sich abzugrenzen. Beispielsweise kann Dahrendorf die Behauptung der Angleichung wirtschaftlicher Positionen (welcher Maßstab liegt hier zugrunde?) nicht nachvollziehen, auch große Mobilität hält er für fraglich, wenn allenfalls jedes zehnte Arbeiterkind Aufstiegschancen habe. Ebenso halten Bolte et al. (1967) die Nivellierungstendenzen für „zweifellos überbetont“ . Zudem bleibt wie beim funktionalistischen Schichtungsansatz die Frage nach Konflikten unterbelichtet, Dahrendorf spricht die Gefahr der Zementierung von Herrschaftsverhältnissen durch eine solche Sichtweise an (1965: 148). Sein eigenes Modell (s.u.) hält Konflikte dagegen für zentral


Ralf Dahrendorf: Ausbau der Konflikt-Perspektive


-Wenn R. Dahrendorf in den sechziger Jahren nach dem Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen sucht, findet er natürlich bereits mehrere Antworten auf diese Frage: das Privateigentum, die Arbeitsteilung und die funktionale Notwendigkeit der Schichtung. Dahrendorf selbst bietet eine andere Lösung an: „Der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen liegt also in der Existenz von mit Sanktionen versehenen Normen des Verhaltens in allen menschlichen Gesellschaften“

-Was bedeutet das genauer? Dahrendorf geht davon aus, dass jedes gesellschaftliche Zusammenleben mit der Regelung des Verhaltens durch verfestigte Erwartungen (Normen) verbunden ist, die durch Sanktionen verbindlich werden. Daraus folgt für ihn, „dass es stets mindestens jene Ungleichheit des Ranges geben muss, die sich aus der Notwendigkeit der Sanktionierung von normgemäßem und nicht-normgemäßem Verhalten ergibt“

-Er betont, dass er damit keine zufällige individuelle Ungleichheit je nach persönlichen Fähigkeiten und dem Willen zur Normerfüllung meint, sondern eine Ungleichheit sozialer Positionen. Normenkonformität wird belohnt, die Fähigkeit dazu hängt von der Position ab. Hradil nennt als Beispiel, dass – angenommen, Verhaltensautonomie und Grad der „Geistigkeit“ einer Arbeit seien zentrale Bewertungsmaßstäbe – ein Landarbeiter auch dann, wenn er seine Arbeit gut verrichtet, nicht hoch in der gesellschaftlichen Wertung stehen wird, weil diese Arbeit zu unselbständig und zu ungeistig ist. Mit den Worten Dahrendorfs: „Derjenige [wird] die günstigste Stellung in einer Gesellschaft erringen, dem es kraft sozialer Position am besten gelingt, sich den herrschenden Normen anzupassen – und umgekehrt … [sind] die geltenden oder herrschenden Werte einer Gesellschaft an ihrer Oberschicht ablesbar“


-Der letzte Teil des Zitats weist darauf hin, dass in dem zentralen Begriffs-Dreigespann Norm – Sanktion – Herrschaft die Herrschaft den Strukturen sozialer Schichtung logisch vorausgeht. Die Herrschenden setzen die geltenden Normen fest, die durch entsprechende Sanktionen durchgesetzt werden. Schichtung bildet daher mindestens prinzipiell die Herrschaftsstruktur ab.

-Im Zusammenhang mit der Herrschaftsstruktur spricht Dahrendorf zwar wie Marx von herrschenden und beherrschten Klassen, die im Konflikt zueinanderstehen. In Abgrenzung zu Marx argumentiert er aber, dass der Klassenkonflikt in der Industrie an Intensität und Schärfe verloren habe, unter anderem durch die Institutionalisierung der Interessengegensätze. Zudem stellt er fest, dass „der industrielle Klassenkonflikt in entwickelten Industriegesellschaften zunehmend nicht mehr die gesamte Gesellschaft [beherrscht], sondern … auf den Bereich der Industrie beschränkt [bleibt]“

-Vielfältige Herrschaftsverbände haben also den einen ausschlaggebenden Herrschaftsverband, der sich bei Marx aus dem Besitz an Produktionsmitteln ergab, abgelöst. Trotz dieser Modifikation von Marx grenzt sich Dahrendorf selbst aber dadurch, dass die Konfliktperspektive allgemein für ihn wichtig ist, von einer funktionalistischen „Integrationstheorie“ der Sozialstruktur (1957: 159, 218) ab.

—>Aus der Sicht dieser Konfliktperspektive ist soziale Ungleichheit dann beispielsweise auch der „Stachel, der soziale Strukturen in Bewegung hält“ (1966b: 379).

-Bei diesen sozialen Konflikten geht es um die Verteidigung oder Vergrößerung von Lebenschancen. Darunter versteht Dahrendorf eine Funktion aus Optionen und Ligaturen. Das heißt, dass die Lebenschancen nicht allein aus einer spezifischen Kombination aus Angeboten und Anrechten (z.B. beruflichen Möglichkeiten) bestehen, sondern auf der anderen Seite auch aus kulturellen Bindungen (etwa in der Familie oder in der Gemeinde), die dem Einzelnen Orientierung bieten. Etwas unklar bleibt allerdings, wie sich durch den sozialen Konflikt ein Wandel von herrschenden Gruppen und Normen vollzieht. Wie kommen neue Gruppen in eine herrschende Position, wenn die Konformität mit geltenden Normen belohnt wird?

-Dahrendorfs Schichtmodell:

Dazu lehnt er sich an die Studie Geigers von 1932 an, die er für „lebendiger“ (1965: 104) hält als einige zeitgenössische Schichtungsmodelle:

-Die Eliten sind eine heterogene Gruppe führender Positionen (die Idee der vielfältigen Herrschaftsverbände findet sich hier wieder). Die Dienstklasse bilden Beamte und Verwaltungsangestellte aller Ränge, die im „Dienst“ der Herrschenden stehen und für die individuelle Konkurrenz prägender ist als kollektive Solidaritäten. Der Mittelstand besteht aus Selbständigen, die aufgrund ihrer defensiven Haltung keine prägende Schicht (mehr) sein können. Letzteres gilt auch für die Arbeiterelite (z.B. Meister). Im „falschen“ Mittelstand findet man ausführende Berufe im Dienstleistungsbereich, z.B. Kellner oder Chauffeure, deren Angehörige sich von ihrem Selbstbewusstsein her jedoch eher zur Mittelschicht zählen. Die Arbeiter sind in sich vielfach gegliedert (z.B. nach Branche oder Qualifikation), haben aber eine eigene Mentalität, was für die Unterschicht (z.B. Dauererwerbslose, Kriminelle) nicht gilt

Schichtmodelle in Verbindung mit Prestige und Status



-In den fünfziger und sechziger Jahren wurde das Ungleichheitsgefüge häufig durch Prestigemodelle charakterisiert. Unter „Prestige“ ist laut Lexikon zur Soziologie die „Bezeichnung für die Wertschätzung, die eine Person oder eine Gruppe (z.B. eine Berufsgruppe) bzw. die Inhaber eines sozialen Status genießen“ zu verstehen (Klima 2007: 506).Prestige ist damit dem Status recht nahe, der die Stellung eines Positionsinhabers ausdrückt. Der Status z.B. einer Berufsposition wie der des Polizisten kann beispielsweise auf Prestige (also auf der Wertschätzung) beruhen, aber z.B. auch auf der Qualifikation oder dem Einkommen.

Prestige

-Das Prestige ist das soziale Ansehen, das man nicht verwechseln darf mit einem Ansehen aufgrund persönlicher Merkmale. Das Prestige des Polizisten ist also unabhängig davon, ob ein einzelner, mir bekannter Polizist besonders fleißig, fähig usw. ist oder nicht. Ein weiteres begriffliches Problem ist die Einordnung von „Prestige“ als objektives oder subjektives Ungleichheitsmerkmal. Einerseits kann man Prestige als objektive Ressource ansehen, die ebenso wie z.B. das Einkommen in der Gesellschaft ungleich verteilt ist. Andererseits ist Prestige immer das Ergebnis einer subjektiven Wertung, ist nicht nach einem festen Maßstab zählbar wie z.B. das monatliche Einkommen in Euro. Für Wegener sind beide Aspekte des Begriffs „Prestige“ untrennbar verknüpft: „Sein Spezifikum ist, dass es sowohl subjektive Meinungsbildung als auch Abbild einer sozialen Strukturkomponente ist“

Status

-Auf die Nähe zwischen dem Status und dem Prestige wurde bereits hingewiesen. Das Lexikon zur Soziologie definiert „Status“ als „mehr oder minder hohe Position in der Schichtungshierarchie … hinsichtlich eines beliebigen hierarchiebildenden Schichtkriteriums“ (Laatz 2007: 632). Der Autor fügt jedoch hinzu, dass der Begriff überwiegend auf Hierarchien sozialer Wertschätzung angewandt werde (anhand eines Kriteriums, z.B. Besitz, Beruf oder Macht; ebd.).

-Hradil ergänzt, der Bezug auf die Stellung im Prestigegefüge sei vor allem für die – in diesem Kapitel behandelte – ältere Schichtungsforschung charakteristisch, die neuere Literatur sehe Status als bessere oder schlechtere Stellung im Oben oder Unten verschiedener Dimensionen sozialer Ungleichheit an. Dies ist indes nicht immer ganz unproblematisch, etwa bei vieldimensionalen Aspekten wie „Arbeitsbedingungen“ oder Beziehungsungleichheiten, z.B. anhand von „Sozialintegration“. Hinzu kommt, wie später noch zu zeigen sein wird, das Problem einer zunehmenden Statusinkonsistenz, dass also beispielsweise jemand mit einem hohen Einkommen eine niedrige Bildung hat, dass allgemein sein Status nach verschiedenen Ungleichheitsmerkmalen keine ähnlichen Ausprägungen aufweist

-Auch unabhängig von dieser Entwicklung variieren Statuskriterien je nach Gesellschaft und innerhalb einer Gesellschaft nach Milieu, Zeitpunkt etc. So kann in einem Milieu der Besitz eines besonders schnellen und teuren Autos als Statussymbol fungieren, was Mitglieder eines anderen Milieus vielleicht höchstens milde belächeln. Die Variation von Statuskriterien im Zeitverlauf hat wiederum etwas damit zu tun, dass sich Statussymbole, die die soziale Umwelt als solche wahrnehmen und anerkennen muss, wandeln. Wenn sich viele Menschen einen Mittelklassewagen leisten können oder das Abitur machen, verliert das Statussymbol durch diese „Inflation“ an Exklusivität, an Wert

-Für einige dieser Studien dienten US-amerikanische Forschungen als Vorbild, z.B. von W.L. Warner et al., die in den dreißiger und vierziger Jahren vor allem Gemeinden – als eine Art Mikrokosmos der Gesellschaft – auf ihre Ungleichheitsstrukturen untersuchten. Warner verwendet den Begriff „class“ recht offen im Sinne von Schichten, die sich durch bewertende Einstufungen konstituieren: „By social class is meant two or more orders of people who are believed to be, and are accordingly ranked by the members of the community, in socially superior and inferior positions“ (1963: 36).

-Prestige ist damit das zentrale Kriterium. An die Schicht sind weitere Merkmale gebunden, z.B. Heiratskreise oder allgemein Vor- und Nachteile für die Mitglieder. Nach der Verwendung von zunächst aufwändigeren Erhebungsmethoden arbeiteten Warner et al. mit einem Index zur Feststellung von Prestige, der die Merkmale Beruf, Art des Einkommens, Haustyp und Wohngegend enthielt. Im Ergebnis fand Warner drei übereinanderliegende Schichten, die jeweils zweigeteilt sind. Die Mehrheit der Bevölkerung ist dabei in der unteren Mitte/dem oberen Unten angesiedelt (in der Gemeinde „Yankee City“ z.B. zusammen über 60%; Warner 1963: 43). Herzog betont, dass Warner auf diese Weise „reale“ Schichten voneinander abgrenzen will, mit denen entsprechende Verhaltensmuster und ein Bewusstsein sozialer Unterschiede einhergehen


Kritik:

-Zentrale Kritikpunkte richten sich auf a) die Unschärfe des Begriffs „Prestige“, b) den Erklärungswert des Prestigeaufbaus für gesellschaftliche Ungleichheitsstrukturen. Ad a): Der Begriff „Prestige“ bleibt über die Alltagsbedeutung der Wertschätzung hinaus oft unklar, so dass nicht immer deutlich wird, was die Forscher messen. Es wurde bereits erwähnt, dass Prestige ein subjektives oder ein objektives Ungleichheitsmerkmal sein kann. Oft ist beides verknüpft, wenn Ansätze davon ausgehen, dass subjektive Bewertungen einen Reflex auf objektive soziale Ungleichheiten darstellen, wenn also etwa die Bewertung des Polizistenberufes auch etwas über die Qualifikation oder die Einflusschancen aussagt.

-Etwas vage bleibt oft auch die Abgrenzung zum Status als eher „objektiver“ Dimension und insgesamt, wie die Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge von Prestige, Statusmerkmalen, Lebenslagen und Lebensführung aussehen

-Die Begriffsunschärfe kommt auch zum Ausdruck, wenn kritische Stimmen vorbringen, dass Prestigemodelle die eigenständige Bedeutung „objektiver“ Merkmale jenseits ihrer Bewertung zu wenig berücksichtigen (unter anderem als Reaktion darauf, dass sich in den sechziger Jahren erste wirtschaftliche Rezessionen ankündigten und damit der Glaube an Chancengleichheit und das dazu „passende“, relativ konfliktfreie Bild des Prestigeaufbaus hinterfragt wurden). Als „objektive“ Kriterien wurden dann aber oft genau die gleichen Merkmale gemessen wie in den vorigen Modellen, also z.B. die Bildung oder das Einkommen.

-Gibt es eine Verbindung vom Prestigeaufbau (z.B. der Berufe) zu „realen“ Schichten mit spezifischen Verhaltensmustern und Einstellungen, vielleicht auch einem Wir-Gefühl? Die Abgrenzung von (dazu oft nur vertikalen) Unterteilungen empfinden Kritiker häufig als künstliche und willkürliche Unterscheidung, die mit realen Abgrenzungen nichts zu tun hat

-Hier spielt auch das Unbehagen am methodischen Vorgehen eine Rolle: Wenn z.B. Berufe bewertet werden sollen, trifft der Forscher eine möglicherweise verzerrende Auswahl an Berufen, die er als bekannt und eindeutig bewertbar voraussetzt. Bei einer Indexbildung ist möglicherweise die Vergabe von Punkten und Gewichtungen zur Ermittlung einer Gesamtzahl recht beliebig. Ist es zudem vergleichbar, wenn etwa hohes Einkommen und niedrige Bildung die gleiche Gesamtzahl ergeben wie umgekehrt hohe Bildung und niedriges Einkommen? Es ist also bereits schwierig, die Prestigeabstufung selbst zu ermitteln

-Weiterhin stellen Statusinkonsistenzen nicht mehr nur eine Ausnahme dar, sondern kommen häufiger vor. Eine bestimmte Bildung geht also z.B. nicht unbedingt mit einem bestimmten Einkommen oder Wohntyp einher. Damit ist das allgemeine Sozialprestige weniger eindeutig am Beruf ablesbar als zuvor

Prestigemodelle nach Moore/Kleining, Scheuch und Bolte


-Beispiele für Prestigemodelle:

H. Moore / G. Kleining (1960): Gesellschaftsschichten nach sozialer Selbsteinstufung

E.K. Scheuch (unter Mitarbeit von H. Daheim) (1961): Prestigeschichten durch Indexbildung

K.M. Bolte et al. (1967): Das „Zwiebel“-Modell


Moore/Kleining:

-In dem Ansatz von Moore und Kleining ist – wie in vielen Untersuchungen – der Beruf für die Schichteinstufung zentral, und zwar wählten sie als methodisches Verfahren die soziale Selbsteinstufung (SSE). Die Befragten erhielten eine Liste mit neun Gruppen zu je vier Berufen als Beispiel und sollten sich selbst in die Gruppe einordnen, die dem eigenen Beruf am nächsten kam. Die Forscher schlossen dann von dieser Eingruppierung auf die soziale Schicht (die Zuordnungen hatten sie zuvor durch eine Reihe von Tests und durch Anlehnung an die Untersuchungen von Warner et al. entwickelt)

-Das Ergebnis lautet, dass es eine breite Mitte gibt: Die untere Mittelschicht und die obere Unterschicht machen insgesamt 58% der Bevölkerung aus, die übrigen verteilen sich gleichermaßen darunter und darüber. Sowohl die untere Mittelschicht als auch die obere Unterschicht untergliedern die Autoren nochmals in einen industriellen und einen nichtindustriellen Teil. Die Charakterisierung der einzelnen Schichten umfasst nicht allein die Angabe zugehöriger Berufe, sondern auch weitere Charakteristika (die die Forscher durch offene Befragungen ermittelten). So gehören etwa zur mittleren Mittelschicht „mittlere“ Angestellte wie Bürovorsteher, Fachschullehrer oder Inhaber mittelgroßer Geschäfte. Typisch ist beispielsweise ihre „bürgerliche“ Einstellung, sie sehen sich als über dem Durchschnitt der Bevölkerung platziert und sind gewissenhafte Spezialisten, die die bestehende Ordnung stützen. Insgesamt fanden Moore und Kleining eine recht große Übereinstimmung mit den Ergebnissen Warners, was sie so erklären, dass es sich in beiden Fällen um die Untersuchung einer typisch industriellen Gesellschaft handele


Scheuch:

-Eine andere Methode zur Messung von Prestige ist die Verwendung von Indizes (wie z.B. auch bei Warner et al.). Dabei sucht man nach Kriterien, nach Indikatoren, die in gebündelter Form das Prestige anzeigen. Wiederum ist der Beruf bzw. ist die Berufsgruppe (z.B. anhand der Internationalen Standardklassifikation der Berufe ISCO) ein zentrales Kriterium. Teilweise berücksichtigt man jedoch auch mehrere Kriterien. Dabei ordnet der Forscher z.B. je nach Einkommenshöhe, Nationalität usw. Punktwerte zu und addiert diese mit entsprechender Gewichtung zu einem Gesamtwert, der das Prestige anzeigt. Wie man die Punktwerte und Gewichtungen vergibt, ergibt sich aus Bewertungen, die man z.B. zuvor durch Befragungen erhoben hat

-Seine Einteilung ähnelt, wenngleich methodisch auf einem etwas anderen Weg erhoben, den Ergebnissen von Moore und Kleining. Auch im Modell von Scheuch konzentrieren sich die meisten Menschen in der unteren Mittelschicht bzw. oberen Unterschicht.


Bolte:

-Wenn man sich die beiden Tabellen zur Verteilung der Schichten anschaut, kann man sich durchaus das Bild einer Zwiebel mit schmalen Bereichen oben und unten sowie einer breiten „unteren Mitte“ vorstellen.

-Der Begriff der Schichten war hier für Gruppierungen vorbehalten, die sich hinsichtlich ihres Ranges als eigenständige Gruppe empfanden (anderen gegenüber also als höher oder tiefer stehend), sich entsprechend verhielten und daher klar abgegrenzt werden konnten. Solche Abgrenzungen verlaufen bei sozialen „Ballungen“ fließend und sind bei einem Kontinuum gar nicht bestimmbar

-Dadurch, dass das Zwiebelmodell eine zusammenfassende Sichtweise aus den Resultaten mehrerer Untersuchungen ist, verschwimmt der Unterschied, ob es sich hier um einen Statusaufbau oder – wie es in späteren Auflagen des Buches unpräziser und nichts ausschließend heißt – einen „Prestigestatusaufbau

-Prestige geht in die Betrachtung des Status jedenfalls ein. Statusgruppen bilden allein noch nicht „reale“ Schichten, sondern diese werden im von Bolte benutzten Wortsinn verwendet. Daraus ergibt sich, dass die „Zwiebel“ nicht in vertikal übereinanderliegende Bereiche gegliedert ist, sondern es entstehen Überlappungen

-Bolte et al. gehen davon aus, dass der Beruf in bestimmten Grenzen das Einkommen, den Lebensstil, den Umgang mit anderen etc. prägt. Es gibt aber keine eindeutige Verknüpfung des Berufsstatus mit anderen Statuslagen. Entsprechend gilt: „In unserer Gesellschaft gibt es vielfältige Statusdifferenzierungen, aber der Statusaufbau der Gesellschaft ist nicht in klar abgegrenzte Schichten unterteilt. Am stärksten sind Schichtungstendenzen oben und vor allem ganz unten im Statusaufbau. Zwischen diesen … gibt es einen weitgehend fließenden Übergang vom Höher zum Tiefer, in dem viele Gesellschaftsmitglieder nicht einmal einen präzise bestimmbaren gesellschaftlichen Status haben … Insgesamt ist die

Mitte … eine Art Sammelbecken der differenziertesten Bevölkerungsgruppen, die nicht nur über- und untereinander, sondern auch nebeneinander erscheinen“

-Diese Nicht-Bestimmbarkeit von Status deutet zum einen auf das Problem des Ansatzes hin, wie mit (zunehmenden) Statusinkonsistenzen umzugehen ist, wenn jemand also z.B. eine niedrige Bildung, aber ein mittleres Einkommen und ein hohes Ansehen als ehrenamtlicher Vereinsvorsitzender hat. Die Unschärfe des Bildes zeigt aber auch, dass sich bereits in den sechziger Jahren die Diskussion andeutete, die etwa ab dem Ende der siebziger Jahre intensiver geführt wurde und in der man eine (rein) vertikale Gliederung der Gesellschaft in Schichten als nicht mehr angemessen ablehnte.

Neomarxistische Ansätze in den siebziger Jahren


-In den siebziger Jahren gab es als eine Nebenströmung des „Mainstreams“ der Schichtungsforschung ein Aufleben neomarxistischer Ansätze, die konträr zu Schichtansätzen die Sozialstruktur durch Klassenmodelle besser erfasst und erklärt sahen. Diese Strömung ergab sich aus der Kritik an bestehenden gesellschaftlichen Verhältnissen ab den späten sechziger Jahren, ). Dieser allgemeinen Kritik entsprach eine Kritik an Schichtmodellen, die die nach wie vor bestehenden großen sozialen Gegensätze zwischen den Klassen vernachlässigen würden.

-Im Unterschied zu bisherigen theoretischen Positionierungen ordnen sich Vertreter dieser Ansätze meist eindeutig einer (linken) politischen Richtung zu.

-. In dieser Gegenüberstellung wird deutlich, worin Leisewitz die Unterschiede und damit – aus seiner Sicht – die Vorteile der Klassenanalyse auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts sieht: Nur die Klassentheorie kann die Ursachen von Über- und Unterordnungen erklären, und zwar aus den grundlegenden Verhältnissen in der bürgerlichen Gesellschaft: aus der Stellung in der Wirtschaft und dem Eigentum an Produktionsmitteln. Es gibt nicht nur unterschiedliche, sondern auch gegensätzliche Klasseninteressen, was notwendigerweise zu Konflikten führt.

-Klassenmodelle liefern nicht allein eine beschreibende Momentaufnahme, sondern sehen dynamisch den Klassenkampf als zentrale Triebkraft der gesellschaftlichen Entwicklung. Dazu ist es allerdings notwendig, politische Unterstützung zu leisten, so müsse man die Tatsache, dass die Bundesrepublik eine Klassengesellschaft sei, in der die Arbeiter und Angestellten ihre Interessen nur gegen die Unternehmer und ihren Staat durchsetzen könnten, unter den Arbeitern und Angestellten erst verbreiten

-Zwei prominente Beispiele für neomarxistische Untersuchungen aus dieser Zeit sind die Analysen des Instituts für Marxistische Studien und Forschungen (IMSF 1974, Leisewitz 1977) und des Projekts Klassenanalyse (PKA)

-Das IMSF zählt, wie bereits Marx, Produktionsmittelbesitzer oder z.B. Manager zur Bourgeoisie. Es unterteilt die mittleren Klassen in selbständige Mittelschichten (ihre Produktionsmittel sind so gering, dass sie auch ihre eigene Arbeitskraft einsetzen müssen und keine Kapitalakkumulation in großem Stil betreiben können), die lohnabhängigen Mittelschichten (Leitungs- und Aufsichtspersonal, der Verkauf ihrer Arbeitskraft hat weniger entfalteten Warencharakter als bei den Arbeitern) sowie die selbständige und lohnabhängige Intelligenz (z.B. Ärzte, Künstler, Spezialisten mit Hochschulabschluss).

-Leisewitz spricht ausdrücklich von Mittelschichten, weil es sich um Gruppierungen handele, die zwar in sozialen Beziehungen eine Rolle spielen können, beispielsweise als Bündnispartner für die beiden Klassen, die jedoch kaum selbst Initiative ergreifen oder eine eigenständige politische Position einnehmen, damit keinen Klassencharakter haben . Zur Arbeiterklasse gehören schließlich Lohnabhängige, bei denen der Warencharakter der Arbeitskraft weitgehend entfaltet ist, die also nicht z.B. Spezialisten oder in einer leitenden Funktion sind, oder Arbeitslose

-Das Projekt Klassenanalyse (PKA) geht in erster Linie von „ökonomischen Formbestimmungen“ aus und definiert die Bourgeoisie ähnlich wie das IMSF als Produktionsmittelbesitzer (mit einem Mindestumfang an Produktionsmitteln, konkret bedeutet das, mindestens vier Beschäftigte zu haben). Die Kapitalisten setzen sich zusammen aus aktiven, fungierenden Kapitalisten und Kapitaleigentümern. In der Mitte gibt es Kleinunternehmer mit nur geringem Profit (ähnlich der selbständigen Mittelschicht beim IMSF) und die lohnabhängige Mittelklasse, zu der nach dieser Klassifizierung Arbeitnehmer gehören, deren Arbeitgeber nicht gewinnorientiert tätig ist (z.B. der Staat oder Wohlfahrtsverbände). Die Lohnabhängigen dieser Klasse verkaufen zwar auch ihre Arbeitskraft, jedoch nicht an einen Kapitalisten im obigen Sinne.

-Zur Arbeiterklasse gehören neben den Arbeitslosen Arbeiter mit gewinnorientierten Arbeitgebern, die sich aufteilen in kommerzielle Lohnarbeiter (die mit bereits produzierten Waren umgehen, also im „Zirkulationsprozess des Kapitals arbeiten“, PKA 1973: 263) und produktive Arbeiter, die direkt im Produktionsprozess tätig sind. Innerhalb der Arbeiter gibt es nochmals eine hierarchische Schichtung nach ihrer Qualifikation

-Das PKA schätzt die Arbeiterklasse der siebziger Jahre etwas kleiner ein als das IMSF, und zwar zugunsten der Mittelklasse, während die Bourgeoisie bei beiden Ansätzen etwa 2 bis 3% ausmacht. Der hohe Anteil der Arbeiterklasse setzt sich fort, wenn man die Fortschreibung der Kategorien des PKA durch Erbslöh et al. für 1985 betrachtet, allerdings expandiert auch die lohnabhängige Mittelklasse (Erbslöh et al. 1990: 78f.). Alle neomarxistischen Klassenmodelle gehen also (wie Marx über ein Jahrhundert zuvor) von einer großen Arbeiterklasse und einer nur sehr kleinen Bourgeoisie aus. Graphisch vorgestellt sind die Modelle damit weit entfernt von dem Zwiebelmodell der Schichtungsforschung, eher handelt es sich um eine Pyramide

-Kritik: Spätestens, wenn man Mittelklassen im Modell hinzufügt und die Klassen in sich auch noch weiter differenziert, gibt es ein Problem, das auch Schichtkonzepte haben: Wo sind Grenzlinien zu ziehen? Die Klassenansätze wollen einerseits die theoretisch getroffene Vorannahmen aufrechterhalten, dass die Produktionsverhältnisse der zentrale Faktor für die Klassenbildung sind, andererseits wollen sie durch Differenzierungen die Lebensnähe ihres Modells demonstrieren.

-Die Beispiele zeigen, dass die Lösungen dafür, wer in welche Klasse gehört, durchaus recht unterschiedlich sein können. Lohnabhängige mit höheren Qualifikationen können etwa laut PKA durchaus noch zur Arbeiterklasse zählen, während das IMSF sie zur Mittelschicht zählen würde. Im Modell des PKA befinden sich durch die sehr weite Definition der Arbeiterklasse ungelernte Arbeiter und hochqualifizierte Angestellte in der Privatwirtschaft in der gleichen Klasse, während ein im öffentlichen Dienst Angestellter mit der gleichen Qualifikation zur Mittelklasse gehört. Ab wann die Arbeitskraft einen „weitgehend entfalteten“ Warencharakter hat – dies ist eine Kategorie, nach der das IMSF einteilt –, ist kaum klar allgemein festzulegen

—> In den siebziger Jahren gab es keine Lösung in der Kontroverse um Klassen und Schichten. Die Suche nach einer Lösung innerhalb dieser theoretischen Richtungen wurde dann ab den achtziger Jahren davon abgelöst, beide zu kritisieren und nach anderen Modellen zu suchen, die das Ungleichheitsgefüge in einer mittlerweile erheblich veränderten Gesellschaft angemessen abbilden konnten.

Charakteristika von Klassen- und Schichtmodellen


-Die Diskussion um Ungleichheitsmodelle in den fünfziger bis siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts umfasst verschiedene Ansätze. Schelsky lehnt in den fünfziger Jahren eine klare Schichtung zugunsten einer nivellierten Mittelstandsgesellschaft ganz ab. Dahrendorf geht davon aus, dass die Schichtstruktur von den Normen abhängt, die die Herrschenden mit Hilfe von Sanktionen durchsetzen. Dabei gibt es nicht nur eine Klasse von Herrschenden, sondern vielfältige Herrschaftsverbände. In seinem „Haus-Modell“ konkretisiert er die soziale Schichtung in Deutschland Mitte der sechziger Jahre. Prestigemodelle betonen, dass Schichtstrukturen durch das soziale Ansehen, durch die Wertschätzung von Positionen erkennbar seien. Insbesondere die Wertschätzung des Berufes, Bildung und Einkommen spielen dabei eine zentrale Rolle.

-In den siebziger Jahren stellen neomarxistische Ansätze eine Nebenströmung neben der Schichtungsforschung dar, die wiederum stärker auf Herrschafts- und Unterdrückungsverhältnisse aufmerksam machen will.

-Von den einzelnen Varianten und Entwicklungstendenzen abstrahierend, sind zusammenfassend folgende Merkmale für Klassenmodelle kennzeichnend:

  • Ökonomische Aspekte stehen im Vordergrund. Insbesondere die Stellung im Produktionsprozess und der Besitz oder der Nicht-Besitz von Produktionsmitteln sind für die Klassenlage der Individuen verantwortlich, so dass sich als Hauptklassen das Proletariat und die Bourgeoisie ergeben. Zwischenklassen können aber zusätzlich Berücksichtigung finden (z.B. bei Webers Verständnis von „Klasse“ oder bei den neomarxistischen Modellen).

  • Die Zugehörigkeit zu einer Klasse hat Auswirkungen auf alle Lebensbereiche, auf innere Haltungen der Individuen und ihr Handeln. Spezifische Klasseninteressen können unter Umständen zu einem gemeinsamen Klassenbewusstsein führen.

  • Einen weiteren Schwerpunkt bilden die Relationen zwischen den Klassen, deren Interessen die Forscher als gegensätzlich ansehen: Die Modelle betonen den Klassenkonflikt, allerdings nicht überall in gleich scharfer Form (z.B. hebt Dahrendorf hervor, dass der Klassenkonflikt durch eine Institutionalisierung an Intensität verloren habe). Teilweise ergreifen die Autoren dabei die Partei der unterdrückten Arbeiterklasse

  • Die Betrachtung dieser Relationen bringt es mit sich, dass das theoretische Interesse nicht nur auf eine Momentaufnahme gerichtet ist, sondern auf Prozesse. Damit sind weniger individuelle Mobilitätsprozesse gemeint (im Klassenmodell hat z.B. das Proletariat wenig Aufstiegschancen), sondern längerfristig der Klassenkonflikt als der Motor der gesellschaftlichen Entwicklung.

  • Klassenmodelle wollen in erster Linie anhand des theoretischen Modells die Ursachen der sozialen Ungleichheit und den sozialen Wandel analysieren. Weniger geht es um eine möglichst genaue Beschreibung der Lebensbedingungen.

Demgegenüber lassen sich Schichtmodelle im engeren Sinne auf entsprechend allgemeiner Ebene quasi spiegelbildlich so kennzeichnen:

  • Die Beschreibung ungleicher Lebensbedingungen, damit ungleicher Lebenschancen, steht im Vordergrund. Auch Vertreter von Schichtmodellen gehen davon aus, dass die Zugehörigkeit zu einer – in sich relativ homogenen – Schicht Einfluss auf Einstellungen und Verhalten hat (z.B. auf Heiratskreise); eine Schicht stellt jedoch nicht automatisch eine Interessengruppe dar. Die Schichten müssen sich nicht antagonistisch gegenüber stehen.

  • Die Kriterien zur Zuordnung in eine bestimmte Schicht sind häufig, theoretisch aber nicht notwendigerweise, sozioökonomisch orientiert, gegebenenfalls mit bestimmten soziokulturellen Ergänzungen: Häufig zentral sind die äußeren Merkmale Beruf (bzw. Berufsprestige), Bildung und Einkommen (bei eindimensionalen Modellen ist meist die Stellung im Beruf das ausschlaggebende Kriterium; z.B. Hartfiel 1978: 99). Die Bedeutung der einzelnen Kriterien für die Schichtzugehörigkeit kann je nach Gesellschaft und betrachtetem Zeitraum variieren.

  • Nach den ausgewählten Kriterien ergibt sich eine vorwiegend vertikale Abstufung von mindestens drei Schichten. Es handelt sich also um einen hierarchischen Aufbau mit Untergliederungen, nicht etwa um die Vorstellung eines Kontinuums. Wie die Ansätze die genaue Abgrenzung von Schichten vornehmen, ist nicht theoretisch vorbestimmt, und an den Übergängen können die an sich klar voneinander getrennten Schichten unscharf sein.

  • Eine Prozessbetrachtung meint in der Schichtungsforschung eher die Auswirkungen individueller Mobilität, die als durchaus möglich angesehen wird (indem z.B. der Einzelne mehr leistet und so beruflich aufsteigt).

  • Aufgrund der Mobilitätschancen geht es nicht in erster Linie darum, Ungleichheiten möglichst zu beseitigen, sondern die Ansätze sehen soziale Ungleichheit mindestens teilweise als notwendig für die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Ordnung an (so der funktionalistische Schichtungsansatz)


-Im Vergleich dieser Charakteristika könnte ein Klassentheoretiker gegen Schichtungsansätze – vielleicht etwas überspitzt formuliert – argumentieren, diese seien zu statisch und zu wenig theoretisch angelegt. Sie seien lediglich beschreibend mit willkürlichen Abgrenzungen, ohne die Ursachen der Ungleichheit und den sozialen Wandel angemessen zu berücksichtigen. Außerdem beachteten Schichtmodelle die sich aus den bedeutsamen sozialen Ungleichheiten ergebenden Konfliktpotentiale und Herrschaftsverhältnisse zu wenig, seien mehr auf Harmonie und Integration hin orientiert.

-Umgekehrt könnte ein Schichtungsforscher Klassenmodelle ablehnen mit dem Hinweis, diese seien zu undifferenziert, weil sie mit dem Hauptkriterium des Eigentums an Produktionsmitteln zu wenige Merkmale berücksichtigten. Auch Mobilitätsprozesse würden vernachlässigt. Könnte die Analyse gerade noch für gesellschaftliche Verhältnisse im 19. Jahrhundert stimmig sein, so sei sie doch für die Gesellschaft im 20. Jahrhundert schlicht realitätsfern, sowohl hinsichtlich der Konstruktion und Abgrenzung der Klassen als auch hinsichtlich der Annahme eines unvereinbaren Interessengegensatze

Kritik an alten Klassen- und Schichtmodellen


-Verschiedene Autoren kritisieren die traditionelle Ungleichheitsforschung als unzureichend, weil sie eben diese Differenzierung und Pluralisierung von Lebensweisen nicht erfasse (als Beispiele Bolte 1990, Hradil 1999: 358f.). Pluralisierung schließt – so z.B. Hradil (1992) – ein, dass ähnliche objektive Lebensbedingungen (z.B. der gleiche Beruf) häufig mit sehr verschiedenen Lebensstilen und auch unterschiedlichen subjektiven Zuordnungen zu bestimmten Milieus verbunden sind, wobei die Vielfalt von Gruppierungen mit je typischen Lebensweisen und Werthaltungen erheblich zugenommen hat. So könnte ein dreißigjähriger Schlossergeselle einen Teil seiner Freizeit im Schrebergarten verbringen, während sein gleichaltriger Kollege gerne Punkkonzerte besucht. Eine einfache Zuordnung von einigen wenigen „objektiven“ Merkmalen – wie z.B. dem formalen Bildungsabschluss – zu einer bestimmten Schicht oder Gruppierung oder zu subjektiven Zugehörigkeiten und Verhaltensweisen trifft hiernach den Kern der Sozialstruktur heute nicht mehr

-Durch die genannten sozialen Prozesse ergeben sich zudem „neue“ Ungleichheiten bzw. eine neue Aufmerksamkeit für bestimmte Aspekte sozialer Ungleichheit in der öffentlichen und wissenschaftlichen Diskussion. Viele Aspekte lassen sich nicht (mehr) auf die bislang üblichen Dimensionen wie Bildung oder den Beruf zurückführen. Dazu zählen z.B. Freizeit, soziale Sicherheit (z.B. Arbeitsplatzsicherheit) oder Wohnen. Allgemeiner gesagt treten die Lebensverhältnisse als Dimensionen neben Ressourcen (wie z.B. das Erwerbseinkommen). So kann man die Perspektive beispielsweise auch auf Nichterwerbstätige oder auf die Ungleichverteilung (wohlfahrts-)staatlicher Leistungen und Einrichtungen erweitern.

-Ein häufiges Stichwort im Zusammenhang mit der Erweiterung von Ungleichheitsdimensionen sind „horizontale“ Ungleichheiten. Hierbei handelt es sich um Merkmale, die für sich genommen keine Rangfolge implizieren, z.B. die Ausprägungen von Nationalität, Geschlecht, Region oder Kohorte (im Gegensatz zu vertikalen Merkmalen wie z.B. mehr oder weniger Einkommen, höhere oder niedrigere Bildung etc.). Diese Ungleichheiten sind nicht neu, die Merkmale erhalten aber in neueren Modellen sozialer Ungleichheit eine eigenständige Bedeutung. Auch sie lassen sich nicht umstandslos auf wenige andere Merkmale (z.B. die Bildung) zurückführen. Die Nationalität oder das Geschlecht beispielsweise könnten die beruflichen Aufstiegschancen auch bei sonst gleicher Qualifikation positiv oder negativ beeinflussen. Mit horizontalen Ungleichheiten ist auf der Ebene des Ungleichheitsgefüges aber damit zusammenhängend auch gemeint, dass sich mehrere Gruppen auf der gleichen vertikalen Stufe ausdifferenzieren können

-Mit der Berücksichtigung zahlreicher Ungleichheitsmerkmale ist die Annahme verbunden, dass Statusinkonsistenzen häufiger werden, die traditionelle Modelle kaum in ihr Konzept integrieren können. Ging man früher eher davon aus, dass der Status einer Person in den verschiedenen Lebensbereichen gleich oder ähnlich sei (sodass z.B. eine Person mit einer bestimmten Bildung auch ein bestimmtes Einkommen hat, sich in einer entsprechenden Wohnsituation befindet etc.), so sind heute häufiger Inkonsistenzen festzustellen, nicht allein aufgrund der Existenz neuer Dimensionen, sondern auch aufgrund ihrer vielfältigen Kombinationen. In besonderem Ausmaß sind Personen in mittleren Statuszonen von Statusinkonsistenzen betroffen, z.B. ein mittlerer Beamter mit einer hohen sozialen Sicherheit, aber relativ geringem Einkommen

-Statusinkonsistenz:

Die Kritik lautet also: Herkömmliche Modelle konzentrieren sich zu stark auf wenige, meist ökonomische Ursachen und Dimensionen sozialer Ungleichheit (zentral z.B. auf den Beruf) und berücksichtigen damit vorwiegend vertikale Abstufungen von Gruppen Erwerbstätiger (die Einordnung anderer Personen nehmen sie oft nur abgeleitet vor, über den „Haushaltsvorstand“ oder einen früheren Beruf). Von zusätzlichen Merkmalen nehmen diese Modelle – fälschlicherweise – an, dass sie typischerweise mit den Klassen oder Schichten einhergehen. Zu solchen Merkmalen zählen weitere Lebensbedingungen wie Umweltbedingungen oder die ethnische Zugehörigkeit, aber auch Denk- und Handlungsmuster.

-Abstraktionsniveau: Weitere Kritikpunkte an Klassen- und Schichtmodellen, die mit der dargestellten Vernachlässigung von Differenzierung und ihren Konsequenzen zusammenhängen, lauten: Die Modelle sind zu abstrakt. Als künstliche Konstruktion mit künstlichen Abgrenzungen besitzen sie keine Entsprechung in der Erfahrungswelt oder im Bewusstsein der Individuen. Diese ordnen sich und andere im Alltag nicht nach den Schemata dieser Modelle ein

-Mit Bolte ließe sich ergänzen, dass das Fehlen eines dominanten und sichtbaren Kriteriums sozialer Ungleichheit (z.B. eindeutige Statussymbole) eine Einordnung in die Großgruppe einer Schicht zusätzlich erschwert (Bolte 1990: 40f.). Die Modelle (insbesondere der Schichtbegriff) sind zudem zu statisch. Den Wandel der Sozialstruktur und Bewegungen der Individuen innerhalb der Sozialstruktur erfassen sie nur unzureichend. Aufgrund dieser Argumente fehlt den herkömmlichen Konzepten nach Meinung der Kritiker somit der notwendige theoretische Erklärungswert. Diese Mängel führten unter anderem in der wissenschaftlichen Diskussion dazu, „Schichtung“ oft durch „Ungleichheit“ als neutraleren Oberbegriff für den zentralen Forschungsgegenstand zu ersetzen. Als Zusammenfassung soll zur Beurteilung der bisherigen Modelle folgendes Zitat dienen: „Vielleicht stellt die mit der Berufshierarchie verknüpfte Schichtungsstruktur nach wie vor den ‚harten Kern’ des Gefüges sozialer Ungleichheit in fortgeschrittenen Industriegesellschaften dar. Insgesamt kann es aber kaum mehr als Schichtungsgefüge beschrieben werden. Dazu spielen außerökonomische Ursachen, außerberufliche Determinanten, ‚neue’ Dimensionen, komplexe Soziallagen und nichtdeterminierte Milieu- und Lebensstilbindungen eine zu wichtige Rolle

Neuere Schichtansätze: Geißlers Schichtmodell


-Als Vertreter dieser Position ist insbesondere Rainer Geißler zu nennen. Er bestreitet keineswegs gesellschaftliche Veränderungen, die die Modifizierung und Erweiterung bisheriger Schichtmodelle notwendig machen. Er ist aber andererseits der Ansicht, dass viele neuere Ansätze zur Erforschung sozialer Ungleichheit (die in den folgenden Kapiteln näher dargestellt werden) über das Ziel hinausgeschossen seien und nun die durchaus fortbestehende und für die Lebenschancen relevante soziale Schichtung vernachlässigen würden, somit auch die sozialkritische Haltung einer solchen Theorieperspektive verloren gehe. Sein Haupteinwand gegen Modelle, die er als Mainstream der Sozialstrukturanalyse seit den achtziger Jahren ansieht, lautet zusammengefasst: „Mit der unkritischen Fokussierung auf die dynamische Vielfalt der Lagen, Milieus und Lebensstile wird der kritische Blick für weiterhin bestehende vertikale Ungleichheitsstrukturen getrübt. Es besteht die Tendenz, dass vertikale Strukturen wegdifferenziert, wegpluralisiert, wegindividualisiert und wegdynamisiert werden.“

-Er selbst vertritt demgegenüber die Position, dass „nicht die Auflösung der Klassen und Schichten ein Ergebnis des Modernisierungsprozesses [ist], sondern die Herausbildung einer dynamischeren und pluraleren Schichtstruktur“ (a.a.O.: 332). Schicht versteht er im Sinne Geigers als Oberbegriff, der konkreter „Gruppierungen mit ähnlicher Soziallage und damit verknüpften typischen Subkulturen und Lebenschancen“ meint

-In fünf Thesen nennt er weitere Kennzeichen einer modernen Klassen- und Schichtstruktur:

  • 1) Vertikale Strukturen sind nur eine Dimension in einem multidimensionalen Gefüge, in dem auch z.B. Geschlecht oder Ethnie eine Rolle spielen.

  • 2) Die vertikale Dimension ist in diesem Gefüge weiterhin dominant. Die Bildung und der Beruf beeinflussen in hohem Maße die Lebenschancen – definiert als Chancen auf die Verwirklichung von Lebenszielen, die in einer Gesellschaft im Allgemeinen als erstrebenswert angesehen werden (während z.B. die Lebensstilforschung das Alter als weiteren wichtigen Einflussfaktor hervorhebt, vgl. Kap. 5.1). Beispielsweise gibt es immer noch große schichtspezifische Unterschiede im schulischen Bildungsbereich, die die Reformen in den sechziger Jahren nicht beseitigt haben (weitere Beispiele zum Einfluss sozialer Schichtung auf verschiedene Lebensbereiche in Geißler

  • 3) Schichten sind nicht durch klare Grenzen getrennt. Mit bestimmten Bildungs-Berufs-Kombinationen sind typisch, aber nicht notwendigerweise, Ressourcen, Haltungen und Lebenschancen verknüpft.

  • 4) Die moderne Schichtstruktur ist eher latent und einer Alltagsbeobachtung oft entzogen. Jenseits dieser „lebensweltlichen Oberfläche“ (Geißler 1996: 333) oder von Moden in der sozialwissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion bestehen sie in der „Tiefenstruktur“ einer Gesellschaft jedoch weiter fort.

  • 5) Ein Kern von stark schichtspezifisch geprägten Segmenten der Sozialstruktur ist – wie in einem Modell konzentrischer Kreise – umgeben von Zonen mittlerer oder nur sehr schwach schichtspezifischer Segmente. Damit beeinflusst die Schichtzugehörigkeit bestimmte Handlungsweisen stärker als andere: Etwa ist die Teilnahme an Bundestagswahlen relativ schichtneutral, während aktive Parteiarbeit in hohem Maße durch die Schicht geprägt ist. Solche Modifizierungen stellen den schichtspezifischen Kern jedoch nicht in Frage

-Geißler beruft sich bei der Erarbeitung eines konkreten Modells der sozialen Schichtung neben Geiger auf Dahrendorf (der seinerseits auf Geiger zurückgreift und dessen Konzept ebenfalls den Begriff der Lebenschancen beinhaltet) und möchte dessen Haus-Modell modernisieren. Eine wichtige Rolle bei der Schichteinteilung spielt der Beruf, der laut Geißler nach wie vor mit verschiedenen anderen Merkmalen einhergeht: Er „[bündelt] verschiedene Faktoren wie Funktion in der wirtschaftlich-gesellschaftlichen Arbeitsteilung, Qualifikation, Einkommen, Prestige und Einfluss“ (2002: 118).16 Weiter zieht er Mentalitäten, Subkulturen, Lebenschancen und Ethnie heran (ohne dies genauer auszuführen)


Kritik:

-Kritisch ist gegen Geißler einzuwenden, dass er andere Ansätze zur sozialen Ungleichheit (abgesehen von einigen Ausnahmen) relativ pauschal abwertet. Wie sich in den folgenden Kapiteln zeigen wird, geht es bei anderen neueren Ansätzen durchaus nicht allein darum, sich an der bunten Vielfalt sozialer Erscheinungsformen zu erfreuen, sondern ebenfalls darum, differenzierte Zusammenhänge zur Sozialstruktur festzustellen

-Den Entwurf seines eigenen, modernisierten Haus-Modells macht Geißler ferner nicht sehr transparent: Wie hat er die konstituierenden Merkmale miteinander verknüpft? Wie sind im Ergebnis Schichtzugehörigkeit und Mentalitäten miteinander verbunden, und ist tatsächlich noch davon auszugehen, dass mit dem Beruf viele andere Merkmale einhergehen? Der früheren Schichtungsforschung war unter anderem ja gerade vorgeworfen worden, zunehmende Inkonsistenzen nicht erfassen zu können.



Neuere Klassenmodelle: Wrights Klassenmodell


-So wie Schichtmodelle heben auch Klassenansätze hervor, dass man bisherige Strukturierungen sozialer Ungleichheit bei allen Veränderungen und trotz berechtigter Kritikpunkte an den älteren Ansätzen nicht leichtfertig aufgeben sollte. Dies beruht unter anderem auf der Ansicht, dass bestehende vertikale Ungleichheitsaspekte und Herrschaftsverhältnisse in anderen Modellen schnell unterbelichtet sein könnten (so stellt etwa Hadler (2003) fest, dass die Bevölkerung in dreißig von ihm untersuchten Ländern nach wie vor vertikale Konflikte wahrnehme). Die Autoren versuchen in ihrer Argumentation daher, den weiterhin bestehenden Erklärungsbeitrag gerade von Klassenmodellen zu verdeutlichen

-Wright: Erik Olin Wright legte Ende der siebziger Jahre ein Klassenmodell vor, das er in der Mitte der achtziger Jahre zu einer neuen Version überarbeitete (Wright 1985a, 1985b, 1989). Wie schon die neomarxistischen Ansätze der siebziger Jahre geht er nicht nur von Bourgeoisie und Proletariat, sondern auch von der Existenz von Mittelklassen aus. In dem „alten“ Modell fügt er den beiden Hauptklassen eine dritte hinzu, das Kleinbürgertum, und identifiziert zudem widersprüchliche Zwischenklassen (z.B. Manager oder „semi-autonome“ Arbeitnehmer). Die Notwendigkeit für eine neue Variante seines Modells sah er unter anderem deshalb gegeben, weil das bisherige Modell den Aspekt der Ausbeutung noch zu wenig berücksichtigte, zudem gab es theoretische und empirische Probleme beim Umgang mit den bisherigen Zwischenklassen

-In der neueren Variante (1985a), die unter anderem auf spieltheoretische Anregungen (von J. Roemer) zurückgreift, beruhen die Klassenverhältnisse auf der Ausbeutung anhand von drei Ressourcen dazu: Produktionsmittelbesitz, daneben aber auch Organisationsmacht und Qualifikation. Ausbeuter verfügen über diese Mittel, Ausgebeutete nicht, dazwischen gibt es Klassen, die entweder eine geringe Menge dieser Ressourcen besitzen („alte“ Mittelklasse) oder zwar von einer Dimension viel, von anderen aber nichts

-Das folgende Schaubild zeigt die zwölf Klassen, die sich nach diesem Konstruktionsprinzip ergeben. Damit legt Wright ein in recht hohem Maße differenziertes Klassenmodell vor, in dem die Asymmetrie zwischen Arbeit und Kapital jedoch weiter einen zentralen Stellenwert einnimmt . Dabei haben die Mittelklassen durchaus einen Einfluss auf den Klassenkonflikt:

„It is no longer axiomatic that the proletariat is the unique, or perhaps even universally the central, rival to the capitalist class for class power in capitalist society“


Kritik:

-Zwar möchte er Klasse und Geschlecht weder als einheitliche, noch als vollkommen getrennte Ungleichheitsstrukturen ansehen, und er unternimmt mit der Kategorie von „mittelbaren Klassenbeziehungen“ (durch Beziehungen zu Familienmitgliedern oder dem Staat) einen Vorstoß, beide zu verbinden (Wright 1998). Doch vernachlässigt sein Modell tendenziell nicht nur das Geschlecht, sondern auch andere – außerwirtschaftliche – Aspekte sozialer Ungleichheit.

- Auch weitere Aspekte, die für die Klassenanalyse traditionell bedeutsam sind, sind bei Wright weniger zentral. Zwar gibt es beispielsweise einen Hinweis auf verschiedene Kombinationen von relevanten Ausbeutungsressourcen je nach Gesellschaftstyp. Jedoch kritisiert z.B. Hradil, dass Wright insgesamt weniger Prozessen nachgehe, z.B. Prozessen der Bildung von Klassenbewusstsein oder von politischen Konflikten. Dies führt Hradil zu der Kritik, dass Wright mit seiner Ausdifferenzierung eher in die Breite als in die Tiefe gegangen sei.

-Erbslöh et al. (1990) sowie Koch (1994) führen zudem ein theoretisches Problem an: Die Dimensionen der Qualifikation und Organisationsmacht können zu mehr oder weniger Ausbeutung durch das Kapital führen, dass sie jedoch ein Ausbeutungsverhältnis zwischen den Arbeitnehmern begründen sollen, erscheint ihnen weniger plausibel



Goldthorpes nicht-marxistisches Klassenmodell


-Wie oben angedeutet, ist John H. Goldthorpes Beitrag als nicht-marxistisches Klassenmodell einzustufen, das unter anderem auch in Deutschland bei der Allgemeinen Bevölkerungsumfrage der Sozialwissenschaften (ALLBUS) empirisch eingesetzt wurde. Hradil sieht es sogar als das derzeit international am meisten verwendete Schema an (1999: 363). Diese empirische Umsetzung entspricht Goldthorpes Vorstellung von der Klassenanalyse als Forschungsprogramm . Das Modell fußt zentral auf dem Beruf, der die Arbeitssituation und die Marktlage reflektieren soll und damit Macht- und Marktorientierung (Marx und Weber) verbindet. Goldthorpe entwickelte, ebenso wie Wright, mehrere Varianten des Modells. Nach der theoretischen Leitidee sind verschiedene Merkmale für die Klassen konstitutiv wie Einkommensquelle und -höhe, die Arbeitsplatzsicherheit oder Beförderungschancen, faktisch erfolgt die Einteilung nach beruflicher Stellung und der internationalen Standardklassifikation von Berufen ISCO (Zerger 2000: 53).

-Charakteristisch sind für das Modell insbesondere die „Dienstklassen (die es z.B. auch im Modell von Dahrendorf gab). Für eine Zuordnung sind weniger die Arbeitsinhalte wichtig (dass man eine Dienstleistung erbringt), sondern das Dienstverhältnis, das eine relative Autonomie in dem Sinne meint, dass die Arbeit nur begrenzt einer Kontrolle unterliegt (und unterliegen kann). Dies gilt für die obere Dienstklasse noch ausgeprägter als für die untere Dienstklasse. Wenn man Klassenpositionen insgesamt als Positionen versteht, die durch Beschäftigungsverhältnisse definiert werden, so ist im „Dienstleistungsverhältnis“ sowohl die Überwachung der Arbeit schwierig als auch die Spezifität des Humankapitals (Qualifikation, Wissen) hoch, während es beim „Arbeitsvertrag“, z.B. von Arbeitern, umgekehrt ist. In der Realität kommen natürlich auch Mischformen vor, z.B. verfügen Routineangestellte über eher geringe spezifische Qualifikationen, doch ist die Kontrolle ihrer Tätigkeit vergleichsweise schwierig

-Die Klassen nach Goldthorpe (nach den Mitautoren eines Aufsatzes, Erikson und Portocarero, auch EGP-Klassenschema genannt) lauten in der häufiger benutzten Sieben-Klassen-Variante:

1) (Obere und untere) Dienstklasse

2) Nicht-manuelle Berufe mit Routinetätigkeiten (damit gehören also nicht alle Dienstleistenden zur „Dienstklasse“)

3) Kleinbürgertum

4) Landwirte

5) Facharbeiter

6) An-/Ungelernte

7) Landarbeiter

-Mobilität (die für Goldthorpe insgesamt ein wichtiges Thema darstellt) in und aus der Dienstklasse ist am ehesten als Auf- bzw. Abstieg interpretierbar, weitere Bewegungen zwischen den Klassen sind uneindeutiger, so dass nicht ganz deutlich wird, inwieweit das Modell als hierarchisch zu verstehen ist. Mit der Konzentration auf Berufsgruppen, so ein weiterer Kritikpunkt, erscheint die Grenzziehung zwischen Klassen ein wenig willkürlich. Ein Kritikpunkt an anderen Klassenmodellen gilt zudem auch hier: Die Konzentration auf die Wirtschaft und damit die Vernachlässigung anderer Ungleichheitsbereiche und nicht-erwerbstätiger Personen.

-Zerger äußert anhand einer eigenen empirischen Überprüfung von Goldthorpes Modell Zweifel an dessen Leistungsfähigkeit, weil es nur bedingt klassenspezifische Einkommenslagen erkläre. Darüber hinaus sei die Klassenlage nur für bestimmte Einstellungen und selbst dann nicht für alle Klassen gleichermaßen einflussreich. Auch das Wahlverhalten sei eher von anderen Faktoren wie z.B. der Kohorte als von der Klassenlage abhängig

Müllers Kritik an der Entstrukturierungsthese


-Müller lehnt sich an den Klassenbegriff Max Webers an, so dass neben dem Besitz z.B. die Qualifikation einen wichtigen Faktor darstellt. Müller nimmt Differenzierungen verschiedener Klassenlagen vor, unter anderem unterscheidet er die abhängig Erwerbstätigen in Personen mit manuellen und nicht-manuellen Tätigkeiten und weiterhin nach der Qualifikation

-Auch in späteren Veröffentlichungen wendet er sich gegen eine Überbetonung von Tendenzen der Entstrukturierung, insbesondere gegen die Individualisierungsthese . Keinesfalls möchte er weitreichende Entwicklungen seit der Nachkriegszeit verleugnen, doch ist er der Meinung, dass man die Analyse der durch gesellschaftliche Bedingungen fortgesetzt produzierten sozialen Ungleichheit und ihrer Folgen nicht vernachlässigen dürfe (1996: 14). Auch heutzutage ist danach das Spannungsverhältnis zwischen Kapital und Arbeit einer der zentralen gesellschaftlichen Konflikte, der durch das Eingreifen des (Wohlfahrts-)Staates und durch Differenzierungen im Bereich der lohnabhängigen Arbeit neue Formen angenommen hat (a.a.O.: 16). Unter anderem sind verschiedene Konfliktarenen entstanden (so auch Kreckel, s.u.). Für Analysen der Sozialstruktur unter diesen Bedingungen sieht W. Müller – und das ohne eine „Wiederbelebung“ von Marx – den Klassenbegriff als am besten geeignet an. Dieser scheint ihm flexibler zu sein als der seines Erachtens einseitiger rein auf Hierarchien gerichtete Schichtbegriff

-. Sein Verständnis von Klasse schließt nicht ein, dass es sich um einen kollektiven Akteur handelt. Auch bestimmt nicht das Sein umstandslos das Bewusstsein. Müller möchte jedoch nicht als Folge den Klassenbegriff für die Mikroebene des Handelns und der Deutungen vollkommen abschreiben. Hinsichtlich der Kriterien für die Klassenlage sollen multivariate Modelle zeigen, welche Ungleichheitsdimensionen theoretisch und empirisch das überzeugendste Erklärungspotential haben

-Auf der Basis dieses modernisierten Klassenkonzeptes beschäftigt sich Müller mit verschiedenen Feldern sozialer Ungleichheit, z.B. mit der Erklärungskraft der Klassenzugehörigkeit für das Wahlverhalten (1997, 1998a) und mit sozialen Ungleichheiten im Bereich der Bildung. Wie erwähnt, stellt er für das Wahlverhalten eine fortbestehende Strukturierung durch die Klassenzugehörigkeit fest

Kreckels Zentrum-Peripherie-Modell


-Reinhard Kreckel hat in einer Veröffentlichung zur „politischen Soziologie der sozialen Ungleichheit“ (1992) ein Modell zur Erfassung sozialer Ungleichheiten in modernen westlichen Gesellschaften vorgestellt, das neben anderen Einseitigkeiten herkömmlicher Modelle insbesondere die Konzentration auf die vertikale Ebene vermeiden soll. Dieses Modell zeigt eine gewisse Nähe zum Klassenansatz, daher wird es an dieser Stelle dargestellt, doch benutzt es an zentraler Stelle auch eigene Begrifflichkeiten. Laut Kreckel gibt es durchaus weiterhin einen Konflikt um Ressourcen (um distributive Ressourcen: Reichtum und Wissen/Zeugnisse sowie um relationale Ressourcen: hierarchische Organisation bzw. Rang und Zugehörigkeit;

-Daher müsste man eher die Stabilität von Gesellschaften erklären als in ihr stattfindende Konflikte. Ansätze zu dieser Erklärung liefert Kreckel, indem er zum einen auf einen Konsensaspekt (durch die Akzeptanz einer Prestigeordnung) und zum anderen auf den Zwangsaspekt (durch die Rechtsordnung, das Gewaltmonopol des Staates) verweist)

-Kreckels Alternative zur begrifflichen Erfassung sozialer Ungleichheit hat den Anspruch, diese asymmetrischen Verhältnisse zu berücksichtigen, aber gleichzeitig über eine einseitig vertikale Perspektive hinaus zu gelangen. Dazu wählt er die Metapher von „Zentrum“ und „Peripherie“. Diese Begriffe gibt es z.B. bereits in Forschungen zur so genannten „Dritten Welt“, sie verweist auf Asymmetrien und zugleich auf eine Vielfalt von Interdependenzen. Periphere Lagen sind dabei „strukturell verankerte Bedingungskonstellationen, aus denen sich für die Betroffenen Benachteiligungen hinsichtlich ihrer Zugangsmöglichkeiten zu … Gütern und hinsichtlich ihres Spielraums für autonomes Handeln ergeben“ (a.a.O.: 43).

-Sie zeichnen sich durch geringere Organisations- und damit Konfliktfähigkeit aus als zentralere Lagen. Mehrere Konfliktlinien sind in solch einem Modell denkbar, Zentrum-Peripherie-Kräftefelder können sich z.B. überlappen (in der Regel ergeben sich keine klaren Polarisierungen, beispielsweise gibt es auch Semiperipherien). Das Schichtmodell mit einer einheitlichen Hierarchisierung ist nach dieser Vorstellung dann nur als ein Sonderfall zu betrachten.

-Anschaulich wird das Modell in einem Bild konzentrischer Kreise. Für die Bundesrepublik Deutschland lässt es sich so konkretisieren: Der Arbeitsmarkt ist nach wie vor „die zentrale Drehscheibe sozialer Ungleichheit“ (. Im Zentrum des Kräftefeldes steht – und damit geht Kreckel über eine rein ökonomische Betrachtung hinaus – das korporatistische Dreieck von Arbeit, Kapital und Staat. In den weiteren Kreisen befinden sich – in ihrer organisierten Interessenvertretung abnehmend – Verbände, neue soziale Bewegungen (z.B. die Umweltbewegung) und schließlich die sozial strukturierte Bevölkerung. Parteien sind Vermittlungsinstanzen, die quer zu den Kreisen liegen können

-Innerhalb der primären Asymmetrie von Kapital und Arbeit haben die Arbeitgeber deutliche strategische Vorteile (durch ihre Ressourcenausstattung, Organisationsfähigkeit, homogenere Interessenlage), eine Analyse muss jedoch auch weitere Gegensätze berücksichtigen, etwa zwischen Arbeit und Nicht-Arbeit (z.B. Empfänger von Transferleistungen ohne organisatorische Interessenvertretung). Kreckel führt weiter sekundäre Asymmetrien innerhalb der von Arbeit und Kapital an, die z.B. durch Segmentation und Schließungsstrategien auf dem Arbeitsmarkt entstehen. Illegale Einwanderer haben danach z.B. eine viel schlechtere arbeitsmarktstrategische Lage als Erwerbspersonen mit Leitungs- und Managementfunktionen. Diese Ausführungen deuten die mehrdimensionalen Asymmetrien an, die man noch ergänzen müsste durch askriptive Merkmale, z.B. das Geschlecht

-Kritik: Kritische Punkte, die andere Autoren gegen Kreckel äußern, lauten beispielsweise, sein Ansatz sei zu deskriptiv . Hradil dagegen glaubt, dass Kreckel mehr als beabsichtigt der herkömmlichen Klassentheorie verpflichtet sei, weil er kulturelle Bestimmungsgründe sozialer Ungleichheit und Ursachen im Bereich des Staates im engeren Sinne letztlich vernachlässige. Als Vorteil betont Hradil jedoch die Berücksichtigung von Organisationen (1999: 136). Insgesamt wird Kreckels Konzept an verschiedenen Stellen erwähnt als eigenständige Position zur sozialen Ungleichheit mit einer gewissen Nähe zu Klassenmodellen.


—> Neuere Klassenmodelle heben die weiterhin bestehenden vertikalen Aspekte sozialer Ungleichheit hervor, berücksichtigen aber auch Differenzierungen und wollen durch verschiedene Konzeptualisierungen von Mittelklassen ihre Modelle empirisch anschlussfähig machen. R. Kreckel fügt durch das Zentrum-Peripherie-Modell zudem eine neue Begrifflichkeit hinzu.


Lebensstile


-M. Weber benutzt den Begriff der Lebensführung (englisch dann als „style of life“ übersetzt) als charakteristisches Merkmal eines Standes. Im Gegensatz zur ökonomisch geprägten Klasse basiert der Stand bei Weber auf dem sozialen Prestige, auf Ehre. Ein Stand hat eine spezifische Lebensführung, z.B. typische Formen des Konsums, bestimmte Werte usw. So ist etwa das Prinzip, Zeit und Geld nicht müßig zu vergeuden und sich keinem unbefangenen Kunst- und Lebensgenuss hinzugeben, ein charakteristisches Lebensstil-Merkmal der asketisch-protestantischen Ethik (Weber 1980: 719 (zuerst 1922)). Die gemeinsame Lebensführung von Mitgliedern eines Standes ist damit gerade keine allein „moderne“ Erscheinung, sondern hat zumindest feudalistische Ursprünge. Ein wichtiges Merkmal auch neuerer Lebensstilansätze ist bereits bei Weber enthalten: Durch die Lebensführung versichert man sich der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, deren Anspruch auf soziale Anerkennung man so auch nach außen demonstriert.

-G. Simmel betont, dass der Einzelne im Zuge der Modernisierung (im Sinne der Durchsetzung des Geldverkehrs, zunehmender Arbeitsteilung, Industrialisierung etc.) durch seinen Lebensstil versucht, Identität zu finden. Die Modernisierungsprozesse bringen Wahlmöglichkeiten mit sich, doch unter anderem dadurch, dass sich die Lebenswelt nicht mehr einheitlich darstellt, gibt es auch eine Identitätsgefährdung (Simmel spricht auch von einem Übergewicht der objektiven gegenüber der subjektiven Kultur, s. z.B. 1977 . Die zunehmenden Wahlmöglichkeiten haben also nicht allein positive Seiten für das Individuum

„Was den modernen Menschen so stark zum Stil treibt, ist die Entlastung und Verhüllung des Persönlichen, die das Wesen des Stiles ist. Der Subjektivismus und die Individualität hat sich bis zum Umbrechen zugespitzt, und in den stilisierten Formgebungen, von denen des Benehmens bis zur Wohnungseinrichtung, liegt eine Milderung und Abtönung dieser akuten Personalität zu einem Allgemeinen und seinem Gesetz“

-Heutige soziologische Lebensstilansätze folgen jedoch oft weniger in systematischer Form diesen Traditionen – wenngleich Autoren häufig die Klassiker erwähnen –, sondern entwickelten sich eher aus Lebensstilansätzen, die in der Marktforschung Anwendung fanden. Das Ziel von Lebensstil- oder „Lifestyle“-Analysen besteht dort beispielsweise darin, Produkte und Produktwerbung auf einzelne Käufertypen abstimmen zu können. In der „Outfit“- Studie (Spiegel-Dokumentation 1994) etwa ist eine „geltungsbedürftige Frau“ eine Person, für die aktuelle modische Trends wichtig sind, die ruhig etwas extravagant sein können, um auf sich aufmerksam zu machen

-Diese Klärung, was ein Lebensstil ist und wovon er abhängt, ist dabei für ungleichheitstheoretische Zwecke in einer anderen Form vorzunehmen als etwa in der Marktforschung. Es reicht nicht aus, Beschreibungen darüber zu liefern, welche Merkmale häufig gemeinsam auftreten

-Das Wörterbuch der Soziologie spricht sehr allgemein von „Ausdrucksformen der alltäglichen Daseinsgestaltung“ in ganzheitlich-umfassender Weise, H.- P. Müller von raum-zeitlich strukturierten Mustern der Lebensführung, die von materiellen und kulturellen Ressourcen, der Familien- und Haushaltsform und Werthaltungen abhängen. Als wichtige Dimensionen von Lebensstilen nennt er verschiedene Verhaltensformen, und zwar expressives Verhalten (z.B. Freizeitaktivitäten und Konsummuster), interaktives Verhalten (wie Geselligkeit oder das Heiratsverhalten), evaluatives Verhalten (Werte, Wahlverhalten usw.) und schließlich kognitives Verhalten (z.B. subjektive Zugehörigkeiten).

-Allerdings ist dabei zu berücksichtigen, dass die Stilisierungsneigung, das heißt etwa seinen Geschmack und die Art der Lebensführung nach außen zu demonstrieren, in verschiedenen sozialen Gruppen unterschiedlich ist. Das Verhalten, vor allem im Konsum-, Freizeit und sozialen Bereich, nennt auch Hradil (1992: 28) als kleinsten gemeinsamen Nenner von Lebensstilkonzepten. Später drückt er allgemeiner aus: „Der Lebensstilbegriff … konzentriert sich auf die Prinzipien, Ziele und Routinen, nach denen die Einzelnen ihr Leben relativ beständig ausrichten“

-Bedeutsam ist nun zusätzlich für die Lebensstilanalyse, dass der aus spezifischen Haltungen und Verhaltensweisen bestehende Lebensstil bestimmte Funktionen erfüllt, die teilweise schon bei den kurz skizzierten Ansätzen der soziologischen Klassiker erwähnt wurden. Er sichert Verhaltensroutine, allgemein eine Handlungsorientierung im Alltag, ständige Grundsatzentscheidungen über Verhaltensweisen sind nicht notwendig. Dadurch, dass man einen Lebensstil mehr oder weniger demonstrativ zum Ausdruck bringt, kann der Lebensstil Zugehörigkeiten zu sozialen Gruppen und andererseits die Abgrenzung von anderen Gruppen durch diese Distinktion betonen. Durch diese Kennzeichen fördert der Lebensstil neben der sozialen ebenfalls die persönliche Identität

-Lebensstile sind in ihrer Bestimmung weniger einseitig auf „objektive“ Merkmale (z.B. ein bestimmtes Einkommen) festgelegt, sondern setzen einen Schwerpunkt bei kulturellen und symbolischen Faktoren, auf das Verhalten einer Person, also etwa, was jemand in seiner Freizeit mit wem tut. Die Erweiterung besteht damit in der im weiteren Sinne kulturellen Komponente und auch darin, dass man nicht unhinterfragt von bestimmten objektiven Merkmalen auf das Verhalten und die Einstellungen einer Person schließt, sondern fragt, wie jemand mit bestimmten Ressourcen und Restriktionen umgeht.

- Beispielsweise ist eine Zuordnung durch den Besitz von Statussymbolen nicht mehr so einfach möglich, sie zeigen viel weniger eindeutig als noch vor einigen Jahrzehnten die soziale Stellung einer Person an. Die gestiegenen Wahlfreiheiten finden also systematisch Berücksichtigung (allerdings in unterschiedlichem Ausmaß, wie die Debatte um Strukturierungs- versus Entstrukturierungsansätze zeigt, s.u.). So beachten Lebensstilansätze die subjektive Seite stärker. Gleichzeitig nehmen sie eine ganzheitlichere Sicht ein als es etwa der Fall in Ansätzen war, die sich vorrangig auf Merkmale Berufstätiger konzentrierten. Dadurch beanspruchen Lebensstilkonzepte, ein lebensnahes Modell zu entwerfen, das die Makroebene der Struktur mit der Mikroebene der Handlungen verknüpft.

Lebensstile als Modell sozialer Ungleichheit


-Wenn es darum geht, verschiedene Lebensstile zu einem Modell des Ungleichheitsgefüges zusammenzufassen, ist dieses dem Anspruch nach differenzierter als Klassen- und Schichtmodelle, weil es vielfältige Einflussfaktoren berücksichtigt, die dazu führen, dass Lebensstile nicht nur vertikal strukturiert sind, sondern auch nebeneinanderliegen können. Beispielsweise könnten Menschen mit der gleichen Qualifikation (einem vertikalen Merkmal), aber unterschiedlichem Alter (einem „horizontalen“ Ungleichheitsmerkmal) unterschiedliche Lebensstile haben, die jedoch nicht mit unterschiedlich großen Lebenschancen verbunden sind. Zudem müssen sich Lebensstilgruppen nicht feindlich gegenüberstehen, Relationen zwischen ihnen können jedoch zum Thema werden, indem man die distinktive Funktion der Lebensstile hervorhebt.

-Entstrukturierungsmodelle: Aus dieser Perspektive sind Lebensstile ein grundlegend alternatives Konzept sozialer Ungleichheit, in dem nicht mehr durch Ressourcen oder allgemein: strukturelle Kriterien definierte soziale Gruppen bedeutsam sind, sondern solche, die durch Lebensstiltypen konstituiert sind. Lebensstile werden dann selbst zum Einflussfaktor, zum erklärenden Merkmal, etwa für Handlungsorientierungen oder für die empfundene Lebensqualität. Damit stellen sie einen eigenständigen Modus sozialer Differenzierung dar, der im soziokulturellen Bereich angesiedelt ist. Eine relative Loslösung von strukturellen Merkmalen betonen solche Modelle also zugunsten der tendenziell nach ihren Präferenzen handelnden Individuen. Zu dieser Richtung zählt Konietzka beispielsweise die Ansätze von Karl H. Hörning et al. und von H. Lüdtke

-Hörning et al. sehen bei einer ähnlichen Dichotomisierung von Ansätzen (in Struktur- vs. Kulturansätze) Lüdtke dagegen als Vertreter des Strukturansatzes an (Hörning et al. 1996). Dies deutet darauf hin, dass insgesamt eher von graduellen Unterschieden auszugehen ist, bei denen Extrempositionen kaum besetzt sind. Von einer völligen Entstrukturierung des Verhältnisses zwischen sozialer Lage und Bewusstsein dürfte kaum jemand ausgehen. Bereits generell ist die Lebensstilanalyse ein Mittelweg zwischen relativ stark hierarchisch strukturierter sozialer Ungleichheit und einer bunten Vielfalt an Ungleichheitsformen, die auf vergleichsweise großen Wahlmöglichkeiten der Einzelnen beruhen. Innerhalb der Lebensstilanalyse sind dann wiederum Ansätze erkennbar, die von der Tendenz her ein wenig in die eine oder die andere Richtung ausschlagen.

-Aus dieser Perspektive könnte man Hörning et al. tendenziell dann in die Richtung der Entstrukturierung einordnen, wenn sie schreiben: „Es geht darum, den Lebensstil als eine eigenständige Kategorie in seinem theoretischen Gehalt voranzutreiben. In Absetzung von bisherigen Lebensstilen [das heißt Lebensstilkonzepten, N.B.] gehen wir von der Autonomie der Lebensstile aus … der Lebensstil ist nicht als abhängige Variable struktureller Bedingungen zu verstehen. Diese finden vielmehr erst im Lebensstil ihre je unterschiedlichen Ausformulierungen.“. Die Lebensstile selbst strukturieren hiernach, nicht andere Merkmale.

Lebensstile nach W.Georg


-W. Georg möchte die Lebensstile nicht zur Ablösung, sondern ausdrücklich zur Ergänzung der Sozialstrukturanalyse durch Klassen- und Schichtenmodelle nutzen. Und zwar ordnet er die Thematik ungleicher Ressourcen weiterhin der Klassen- und Schichtungsforschung zu, während sich die Lebensstilanalyse mit den symbolischen Ausdrucksformen der Ungleichheit und im weiteren Schritt ihren Auswirkungen, das heißt Prozessen sozialer Schließung bzw. der Sozialintegration, beschäftigt

-Im Einklang mit der obigen Begriffsbestimmung definiert Georg Lebensstile als „relativ stabile, ganzheitliche und routinisierte Muster der Organisation von expressiv-ästhetischen Wahlprozessen“ (1998: 92). Grundvoraussetzung für diese Wahlprozesse ist das Vorhandensein von Wahloptionen und Gestaltungsspielräumen der Akteure, die sich im Laufe der letzten Jahrzehnte erheblich vergrößert haben. Im Vordergrund der Bestimmung der Lebensstile stehen bei ihm „expressiv-ästhetische“ Aspekte, die auf die Betonung von Geschmack und Verhalten als Dimensionen für einen Lebensstil hindeuten.

-Bei ihm macht also die „wahrnehmbare, klassifizierbare und prestigeträchtige Stilisierungspraxis“ (a.a.O.: 93) im Alltag einen Lebensstil aus, mit der die Menschen auch eine „gewisse repräsentative Außenwirkung“ erzielen möchten (a.a.O.: 98). Zu dieser Praxis gehören konkret z.B. die Freizeitaktivitäten, der Musikgeschmack, die Wohnungseinrichtung, die Kleidung, der Kulturkonsum, Lesegewohnheiten, Mitgliedschaften und das Interaktionsverhalten

-Von den Dimensionen, die einen Lebensstil ausmachen, sollte man klar die Einflussfaktoren unterscheiden, die zu einem bestimmten Lebensstil führen. Diese Einflussfaktoren bestimmt Georg auf zwei Ebenen: die soziale Lage und die mentale Ebene.

  • Die soziale Lage umfasst sowohl vertikal verteilte Handlungsressourcen (z.B. Einkommen, Bildung, soziale Netzwerke) als auch horizontal differenzierte Lebensbedingungen wie Alter, Kohortenzugehörigkeit oder Region.

  • Die mentale Ebene schließt gemeinsame Wertorientierungen, Einstellungen und Lebensziele ein. Diese Ebene richtet sich insbesondere auf identitätsstiftende bzw. distinktive Funktionen von Lebensstilen über symbolische Zugehörigkeiten und Abgrenzungen.

  • Georg unterstellt nicht vorab einen Zusammenhang zwischen sozialer Lage und mentaler Ebene einerseits und Lebensstilen andererseits, sondern dieser ist empirisch zu prüfen. Dabei soll sich auch herausstellen, welche Merkmale der sozialen Lage gegebenenfalls besonders bedeutsam für die Ausbildung von Lebensstilen sind

-Er analysiert Daten einer Werbeagentur in Zusammenarbeit mit dem SINUS-Institut von 1990 und ermittelt anhand einer Clusteranalyse sieben Lebensstile:

Typ 1: Hedonistisch-expressiver Lebensstil (10,2%)

Typ 2: Familienzentrierter Lebensstil (19,2%)

Typ 3: Kulturbezogen-asketischer Lebensstil (11,3%)

Typ 4: Konservativ-passiver Lebensstil (14,9%)

Typ 5: „Prestigebezogene Selbstdarstellung“ (11,1%) Typ 6: Zurückhaltend-konventioneller Lebensstil (16,1%)

Typ 7: „Selbstdarstellung, Genuss und Avantgardismus“ (11,6%)

-Die Merkmale der sozialen Lage, die die Lebensstile insgesamt am stärksten beeinflussten, waren Alter (wobei Georg einen Kohorteneffekt vermutet, das heißt er nimmt generationstypische Lebensstile an, weniger einen Alterseffekt), die Lebenszyklusvariable „mit Partner zusammenlebend oder verheiratet (beides mit Kind)“, Bildungsniveau und Geschlecht noch vor dem Einkommen und dem beruflichen Status. Damit unterscheidet sich das Modell deutlich von Schichtmodellen, die dem beruflichen Status eine besondere Bedeutung beimessen. Regressionsmodelle mit verschiedenen Mentalitätsskalen zeigen, dass auch die mentale Ebene eine eigenständige Prädiktionskraft für Lebensstile besitzt. Als einzelner Mentalitätsskala kommt der „traditionellen Wertorientierung“ die größte Bedeutung für den Lebensstil zu

Lebensstile nach A.Spellerberg


-A. Spellerberg bezeichnet Lebensstile als „individuelle Organisation und expressive Gestaltung des Alltags“ (1995: 230), stimmt also mit anderen Definitionen überein und betont dabei die expressive Komponente. Die Dimensionen leitet sie aus dem Konzept von H.-P. Müller ab, indem sie interaktive (z.B. das Freizeitverhalten), expressive (z.B. Musik- und Einrichtungsgeschmack oder Lesegewohnheiten) und evaluative Dimensionen (z.B. Lebensziele) unterscheidet. Eine Variante zu dem Konzept von Georg besteht übrigens darin, dass bei Spellerberg Werte zu den Merkmalen gehören, die einen Lebensstil ausmachen, während Georg die mentale Ebene zu den Einflussfaktoren zählt. Das Konzept soll hier nicht im Detail dargestellt werden, spezifisch für den Ansatz ist unter anderem, dass er auf der Datenbasis des Wohlfahrtssurveys (1993) ost- und westdeutsche Lebensstile vergleicht und Zusammenhänge zur Lebensqualität herstellt

-Die Lebensstilgruppen teilt Spellerberg nach dem Aktionsradius (häuslicher Umkreis vs. außerhäuslich) und nach kulturellen Vorlieben (ähnlich den alltagsästhetischen Schemata bei G. Schulze) ein und findet für Ost- und Westdeutschland jeweils neun Lebensstilgruppen heraus, die sich in einigen Punkten durchaus auffällig unterscheiden, z.B. gibt es einen „erlebnisorientierten Häuslichen“ nur in Ostdeutschland; die Vorliebe für Hochkultur differenziert sich im Westen Deutschlands in drei Stile, während sich hierzu im Osten nur ein Typus findet etc.

-Hinsichtlich der wichtigsten Einflussfaktoren gibt es Übereinstimmungen mit anderen Untersuchungen: Das (als Kohorteneffekt gedeutete) „Alter, Bildung und Geschlecht weisen die stärksten Zusammenhänge zum Lebensstil auf

-Insgesamt zeigt sich eine Tendenz zur Angleichung von Lebensstilen in Ost- und Westdeutschland: Unterhaltung, Geselligkeit und Genussorientierung haben jeweils an Bedeutung gewonnen; traditionelle Lebensstile sind in Ostdeutschland weniger verbreitet als noch 1993; im Westen hat der Anteil hochkulturell Interessierter leicht abgenommen (Schneider/Spellerberg 1999: 119). Die Einflussfaktoren sind ähnlich geblieben: Im Westen weisen Alter, Bildung, Einkommen und Geschlecht (in dieser Reihenfolge) die größte Bedeutung für die Lebensstilzuordnung auf, im Osten sind es ähnlich Alter, Geschlecht, Bildung und Kinder im Haushalt

-Für einen Zusammenhang mit der Lebensqualität dienen die Lebensstile als unabhängige Variable, sind in dem Fall also selbst ein möglicher erklärender Faktor. Zunächst lässt sich dazu als aufschlussreich feststellen, dass man mit Hilfe von Lebensstilen Gruppen ermitteln kann, die sich nach ihren Bewertungsmaßstäben für Lebensqualität unterscheiden. Weitergehende Aussagen sind weniger eindeutig: „Es hat sich gezeigt, dass Lebensstile im Westen eine hohe Erklärungskraft für das Wohlbefinden haben, während in Ostdeutschland häufiger die materielle Situation im Vordergrund steht.“ (Spellerberg 1996: 221). Immer, wenn Lebensstile als erklärendes Merkmal dienen, muss man insgesamt darauf achten, dass man Zirkelschlüsse vermeidet. Wenn der Forschende z.B. Stile durch Werte konstituiert und gleichzeitig (allerdings andere) Werte durch Lebensstile erklären möchte, sollte er sich einer gewissen Gratwanderung bewusst sein. Dies gilt auch für die Erklärung von Wohnverhalten durch Lebensstile (Spellerberg/Schneider 1999), wozu die Autorinnen feststellen, dass sich das Lebensstilkonzept und die Klassifikation nach Lebensphasen als Erklärungsfaktor tragfähiger zeigten als ein Schichtindex


Methoden in Lebensstilforschung


-Als Erhebungsinstrument dient häufig die Befragung (bzw. die Sekundäranalyse früherer Befragungen), stellenweise kombiniert mit Beobachtungen

-. Hinsichtlich der Methoden zur Auswertung erhobener Daten verwenden sowohl Georg als auch Spellerberg in ihrer Untersuchung die Clusteranalyse zur Bestimmung von Lebensstilgruppen. Es handelt sich hier um ein multivariates Verfahren (das heißt man betrachtet mehr als zwei Merkmale gleichzeitig). Angenommen, man hat bei 1.000 Personen die Häufigkeit von 20 Freizeitbeschäftigungen erhoben: Nun geht es nicht um die Verschiedenartigkeit von 1.000 Varianten, sondern man versucht, ähnliche Kombinationen zu „Klumpen“, zu Clustern, zusammenzufassen. Statistische Maßzahlen geben hierbei Regeln vor, wann Fälle als ähnlich zu betrachten sind (durch Ähnlichkeits- oder Distanzmaße) und auch dafür, wie viele Cluster sinnvollerweise gebildet werden sollen. Im nächsten Schritt kann man die Cluster, z.B. auf der Grundlage von Freizeitbeschäftigungen, auf mögliche Einflussfaktoren prüfen. Sind z.B. in einem Cluster mit auffallend vielen außerhäuslichen Freizeitbeschäftigungen mehr Männer oder mehr Frauen oder Menschen einer bestimmten Altersgruppe vertreten?

-. Ein anderes multivariates Verfahren in der Lebensstilforschung ist unter anderem durch die Untersuchungen P. Bourdieus bekannt: die Korrespondenzanalyse. Charakteristisch ist die graphische Darstellung als Koordinatensystem, auf diese Weise lassen sich in einem Schritt abhängige Merkmale (z.B. Freizeitbeschäftigungen) mit möglichen Einflussfaktoren verknüpfen, nicht erst im Nachhinein, wie bei der Clusteranalyse.

-Als grobe Faustregeln für eine Interpretation können unter anderem gelten: Räumlich nah beieinanderliegende Merkmale symbolisieren zwar tatsächliche Ähnlichkeiten und Zusammenhänge (entsprechend ist es bei den Distanzen), aber dadurch, dass es sich um ein Vektormodell handelt, sind keine einfachen Distanzaussagen möglich. Wenn beispielsweise eine der Achsen das Geschlecht abbildet, wird niemand „männlicher“ oder „weiblicher“ mit einer Eintragung höher oder niedriger auf der Achse. Eher ist es so, dass die Freizeitbeschäftigungen und die Einflussfaktoren jeweils eine Eintragung im Koordinatensystem erhalten; räumliche Nähe weist dann auf einen Zusammenhang hin

—>Je weiter dabei die Eintragungen vom Nullpunkt des Achsenkreuzes entfernt sind, desto mehr Aussagekraft kommt dem Einflussfaktor zu


- Eine weitere multivariate Methode, die die Lebensstilforschung benutzt, ist die Faktorenanalyse

-Die „Konjunktur“ zahlreicher Lebensstiluntersuchungen hat nach den 1990er Jahren nachgelassen. Dies steht im Kontext eines verschiedentlich konstatierten generellen Umschwungs der Ungleichheitsforschung angesichts von Prozessen wie zunehmender Arbeitslosigkeit, Deregulierung von Erwerbsarbeit, Krise des Sozialstaats etc. hin zu wieder stärkerer Betonung vertikal strukturierter sozialer Ungleichheit bzw. angesichts der Erkenntnis, dass Schwarz-Weiß-Bild von strukturiert („früher“) vs. pluralisiert („heute“) der Realität zu keinem Zeitpunkt angemessen war. Dennoch bedeutet dies nicht, dass Lebensstile keinen Stellenwert mehr als Ungleichheitsansatz hätten. Es gibt zum einen weiterhin empirische Untersuchungen zu und Spezifizierungen von Lebensstilen wie auch von Milieus

-Als ein Beispiel kann die Studie von P. Stein (2006) genannt werden, die den Einfluss der sozialen Position, der sozialen Herkunft und der sozialen Mobilität auf Lebensstile, insbesondere auf kulturelle Orientierungen, analysiert. In einer anderen Untersuchung überprüft Otte (2004) mit Hilfe einer dem eigenen Anspruch nach theoriegeleiteten, auf einer Synthese früherer Modelle beruhenden Typologie mit den Dimensionen Ausstattungsniveau und Modernität bzw. biographischer Perspektive die Erklärungskraft von Lebensstilen, z.B. für Partizipation in städtischen Szenen und Urlaubszielwahlen. Die statistische Erklärungskraft der Typen ist zwar mäßig und zeigt sich am ehesten in multivariaten Modellen; für einige Anwendungsbereiche, z.B. die Wohngebietswahl, sieht Otte auch nach wie vor eine Strukturierung durch „klassische“ Sozialstrukturmerkmale.

Milieus


-Im Zuge der Einsicht, dass äußere Einflüsse (und nicht etwa z.B. allein Vererbung) das menschliche Dasein prägen, wurden bereits bei Comte, Durkheim und später z.B. bei Lepsius Überlegungen zum Milieu angestellt. Als Entwicklungstrends des Begriffs bis in die dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts stellt Hradil neben einem allgemeinen Aufschwung des Begriffs die zunehmende Betonung sozialer gegenüber natürlichen Umweltfaktoren und die Öffnung für subjektive Aspekte fest (das heißt für die Frage, welche Faktoren subjektiv bedeutsam sind). Aufgrund der Bevorzugung von Schichtmodellen mit deren Betonung objektiver Aspekte in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg gewannen Milieukonzepte dann aber erst wieder in den achtziger Jahren an Bedeutung, unter anderem durch die Untersuchungen des SINUS-Instituts

-Das Lexikon zur Soziologie definiert „Milieu“ als Gesamtheit der äußeren, natürlichen (z.B. Klima) und der sozialen Umwelt (z.B. Gesetze) des Einzelnen bzw. einer Gruppierung, die auf die Entwicklung, Entfaltungsmöglichkeit und die Modalität sozialen Handelns Einfluss nimmt (Rammstedt 2007: 432). Hradil bestimmt den Begriff so: Milieus sind „Gruppen Gleichgesinnter, die gemeinsame Werthaltungen und Mentalitäten aufweisen und auch die Art gemeinsam haben, ihre Beziehungen zu Menschen einzurichten und ihre Umwelt in ähnlicher Weise zu sehen und zu gestalten

-Kleinere Milieus, z.B. Stadtviertelmilieus, sind zudem häufig durch ein Wir-Gefühl verbunden (ebd.). Im weiteren Sinne sind Milieus aber durchaus größere gesellschaftliche Gruppen, die Angehörigen müssen sich nicht unbedingt gegenseitig kennen oder räumlich nah (z.B. im „Rotlichtmilieu“) zusammenleben. Unterschiedliche Werte zu haben kann z.B. heißen, dass materielle Sicherheit Angehörigen eines „alternativen“ Milieus weniger wichtig ist als einem Beamten, oder Erfolg für Aufstiegsorientierte ein bedeutenderes Ziel ist als für „Hedonisten“

-Milieus sind keinesfalls unabhängig von sozioökonomischen und soziodemographischen Bedingungen. Aber die Milieuangehörigen „filtern“ die „objektiven“ Bedingungen in milieuspezifischer Weise. Je nach Ansatz ist die Verknüpfung mit den „objektiven“ Merkmalen der sozialen Lage sogar recht eng, z.B. gibt es bei den SINUS-Milieus (s.u.) innerhalb von sozialen Schichten jeweils mehrere Milieus nebeneinander, die sich durch ihre Werte bzw. Grundorientierungen unterscheiden. Grenzen zwischen den einzelnen Milieus verlaufen dabei mit fließenden Übergängen. Schichten werden also nach diesem Ansatz differenziert oder ergänzt durch das Modell von Milieus, die nicht (allein) hierarchisch angeordnet sind.


Vergleich mit Lebensstilen:

Lebensstil- und Milieumodelle dienen als Alternative zu Klassen- und Schichtkonzepten der traditionellen Art. Sie unterstellen keine einfache Kausalbeziehung von Handlungsbedingungen zu ihrer Wahrnehmung und Nutzung sowie zu Werten und Verhaltensweisen. Vielmehr kommen dem Handeln und den Entscheidungen sowie der Lebensweise der Akteure selbst relativ große Bedeutung zu. Die Modelle können mehrere Dimensionen integrieren und dadurch Realitätsnähe anstreben. Jedoch gibt es keine vollständige Loslösung von „objektiven“ Lebensbedingungen

-Die Modelle ordnen den Lebensstilen und Milieus bestimmte Personengruppen zu oder fassen sie zu Typen zusammen. Milieus können sich teilweise sogar durch bestimmte Lebensstile konstituieren , es besteht also auch eine Ergänzungsmöglichkeit beider Konzepte. Bei dieser engen Verknüpfung beider Begriffe ist eine Abgrenzung nicht ganz einfach. Tendenziell lässt sich aber festhalten: Verhalten ist ein wichtiges Moment für Lebensstilkonzepte; dabei stehen die Aspekte der (zumindest teilweise bestehenden) Wahlfreiheit und der Expression im Vordergrund. Diese Wahlfreiheiten (und auch die Expressivität) unterstellt der Milieubegriff nur in begrenzterer Form, dort geht es stärker um milieuspezifische Wahrnehmungen und Nutzungen gegebener Bedingungen. Milieu ist also in einigen Begriffsbestimmungen etwas näher an den „objektiven“ Gegebenheiten orientiert als Lebensstile, etwas mehr Meso- als Mikroebene (dennoch erhebt auch die Lebensstilforschung den Anspruch, gerade Makro- und Mikroebenen zu verbinden)

-Hradil unterscheidet zwischen „tiefsitzenden“ Werthaltungen als kennzeichnend für Milieus und demgegenüber typischen Verhaltens- und Meinungsroutinen von Lebensstilen (1999: 42). Eine klare Abgrenzung bedeutet dies allerdings nicht, wenn etwa Mentalitäten ihrerseits wiederum Verhaltensweisen prägen

-Otte sieht Lebensstile als den „expressiven Kern“ von Milieus an, zu denen zusätzlich die Zuordnung von Kontextbedingungen (z.B. die soziale Lage oder Netzwerke) gehört. Allerdings bleiben auch Lebensstilanalysen meist nicht auf einer individuellen Ebene stehen, sondern verknüpfen Lebensstile mit sozialstrukturellen Trägergruppen.

-Es lässt sich festhalten, dass die Rolle von Werten in den einzelnen Konzepten unterschiedlich ist: Bei Lebensstilmodellen sind sie manchmal konstituierendes Merkmal, manchmal ein Einflussfaktor; bei einigen Milieumodellen sind sie eine zentrale Dimension, aber bei dem unten beschriebenen Ansatz von Schulze ist die „Lebensphilosophie“ nur ein Merkmal unter mehreren. Die Kennzeichen von Milieumodellen erschließen sich noch deutlicher, wenn im Folgenden einige konkrete Ansätze vorgestellt werden.

Die SINUS-Milieus


-Der Ausgangspunkt einer Studie von U. Becker und H. Nowak (1985) im Auftrag des SINUS-Institutes bestand darin, Lebenswelten über subjektive Lebenslagen und -stile zu erfassen. Dementsprechend definieren sie soziale Milieus: „Soziale Milieus fassen ... Menschen zusammen, die sich in Lebensauffassung und Lebensweise ähneln, die also subkulturelle Einheiten in der Gesellschaft bilden.“ Die Untersuchung dieser Lebensweisen ist eng an die Interessen der Marktforschung geknüpft, anhand der Milieus (und entsprechend typischer Konsumstile ihrer Angehörigen) sollen Produzenten von Konsumgütern ihre Zielgruppen erkennen und die Werbung darauf abstimmen können

-Die Untersuchung dieser Lebensweisen ist eng an die Interessen der Marktforschung geknüpft, anhand der Milieus (und entsprechend typischer Konsumstile ihrer Angehörigen) sollen Produzenten von Konsumgütern ihre Zielgruppen erkennen und die Werbung darauf abstimmen können. Nach qualitativen Interviews Ende der siebziger Jahre gab es 1982 die erste quantitative Überprüfung. Es ergaben sich laut Becker/Nowak acht Milieus in einem Koordinatensystem, dessen waagrechte Achse nach traditionellen bis postmateriellen Wertorientierungen geordnet war und dessen senkrechte Achse eine Schichteinteilung darstellte. Das Modell wurde seither in repräsentativen Erhebungen auf Veränderungen der Milieugrößen untersucht, teilweise wurden die Milieus neu zugeschnitten und/oder umbenannt. Nach einer spezifischen Systematik für Ostdeutschland 1991 gab es ab 2000 ein gesamtdeutsches Milieumodell.


-Das Modell wird auch auf andere Zielgruppen als die Bevölkerung Deutschlands angewandt, z.B. auf Migrant/innen in Deutschland oder auf die Bevölkerung anderer Länder. Die Achsen des Modells bilden weiterhin horizontal die Grundorientierungen (2017 lauten die Ausprägungen „Tradition“, „Modernisierung/Individualisierung“ und „Neuorientierung“) und vertikal soziale Lagen auf der Basis von Bildung, Beruf und Einkommen. Die Anpassung der Milieukonstruktion erfolgt fortlaufend (z.B. dominierten noch 2007 die „Konsum-Materialisten“ die modernisierte Orientierung in der unteren Mittelschicht bzw. Unterschicht, 2010 findet man hier das Milieu der „Prekären“).

-Am Beispiel der „Expeditiven“ soll angedeutet werden, welche (schlagwortartigen) Merkmale sich hinter einer Milieubezeichnung verbergen: Sie sind die nonkonformistische, kreative Avantgarde, mental, kulturell und geografisch mobil sowie online und offline vernetzt (das Modell geht somit davon aus, dass sich die Wertorientierungen auch in typischem Verhalten ausdrücken).

-Nach einem ähnlichen Schema identifiziert das Institut auch länderübergreifende, so genannte „Meta-Milieus“. Dem liegt die Annahme zugrunde, dass Menschen verschiedener Länder, aber vergleichbarer Milieus oft mehr miteinander verbindet als mit ihren Landsleuten, die anderen Milieus zugehören. Zu solchen gemeinsamen Grundorientierungen gehören in Westeuropa laut Sinus traditionelle, etablierte, intellektuelle, moderne Mainstream-, konsum-materialistische, sensationsorientierte und „modern performing“-Milieus. Die sowohl vertikal als auch horizontal in der Mitte angesiedelte „modern mainstream“-Orientierung beispielsweise zeichnet sich durch den Wunsch nach einem angenehmen und harmonischen Leben sowie durch das Streben nach materieller und sozialer Sicherheit aus

-Kritik: Kritisch wendet G. Schulze zu den Sinus-Milieus ein, dass subjektive Dimensionen (über Werthaltungen) nur eindimensional erfasst würden und die Aufnahme von Kategorien der Schichtungsforschung verwundere, nachdem doch gerade der Zweifel an empirisch auffindbaren Schichten die Forschenden geleitet hätte (1990: 421). H.-P. Müller führt an, dass die Determinanten z.B. der Milieubildung und des Milieuwechsels ausgeblendet bleiben und dass das Modell zwar individuellen Wertewandel, aber nicht ausreichend den Zusammenhang zum sozialstrukturellen und institutionellen Wandel berücksichtige

Milieus nach Vester et. al


-Vester et al. (1993, 2001) untersuchen aus einer enger soziologischen Perspektive ausdrücklich „soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel“. Sie bezeichnen Milieus, auch mit Verweis auf Bourdieu, als Gruppen mit ähnlichem Habitus und ähnlicher Alltagskultur (2001: 24) und stellen fest: „Die sozialen Milieus … haben sich seit der Entstehung der Bundesrepublik erheblich verändert. Als fest gefügte politische Großgruppen, die sich als kämpfende Lager scharf gegeneinander abgrenzen, bestehen sie nicht mehr. Als lebensweltliche Traditionslinien, die sich nach dem Stil und den Prinzipien ihrer alltäglichen Lebensführung unterscheiden, wirken sie fort … Gleichwohl sind diese großen Traditionslinien heute immer noch durch erhebliche Kulturschranken und gegenseitige Vorurteile voneinander getrennt.“

-Die Veränderungen der Milieus kennzeichnen die Autoren so, dass die historischen Traditionslinien der Milieus fortbestehen, sich aber differenziert und modernisiert haben. Sie haben sich, wie Familienstammbäume, in neue Zweige mit stärkeren „postmateriellen“ oder „individualisierten“ Einzelzügen aufgefächert . Dabei bildet die vertikale Achse wiederum Herrschaft ab, das Mehr oder Weniger von sozialen Chancen, Wohlstand, Macht und Einfluss. Horizontal machen die Autoren Unterschiede an den Einstellungen zur Autorität fest, von autoritärer bis zu avantgardistischer Grundeinstellung. Auch dieses Milieumodell geht also von unterschiedlichen Werteinstellungen auf der horizontalen Ebene aus.

-Die Veränderungen der letzten 25 Jahre, das war bereits zwischen 1982 und 1995 zu erkennen (Vester et al. 2001: 48/49) und zeigt sich im Modell von 2003 wieder, bewegen das Ungleichheitsgefüge dabei nicht in seinen Grundprinzipien, sondern demonstrieren langsame Veränderungen meist innerhalb der größeren Trennlinien

-So waren beispielsweise das bildungsbürgerliche und das gehobene Dienstleistungsmilieu 1995 noch zusammengefasst zum „liberal-intellektuellen Milieu“, das zu der Zeit circa 10% ausmachte. Ein Novum der Milieudarstellung 2003 gegenüber 1995 besteht zudem in der Hervorhebung von „Trennlinien“ der Distinktion und der Respektabilität. Wenn Vester – ohne die horizontale Differenzierung von Milieus aufzugeben – eine verstärkte vertikale Dreiteilung der Gesellschaft feststellt, in der unterprivilegierte Verliergruppen zunehmend von den „respektablen“ Standards sozialer Teilhabe ausgeschlossen würden , so verknüpft er den mehrdimensionalen Milieuansatz mit einer wiedergekehrten Aufmerksamkeit für prekäre soziale Lagen und Ausgrenzung

-Milieumodelle weisen in diesem Kontext unter anderem darauf hin, dass die Akteure sich nicht passiv äußeren Verhältnissen anpassen, sondern ihre bisherigen Lebensweisen und Haltungen mit veränderten Bedingungen immer wieder – auf milieuspezifische Weise – neu abstimmen. So erläutert Vester, dass zumindest ein Teil der unterprivilegierten, besonders von Arbeitslosigkeit betroffenen Milieus trotz der schwierigen äußeren Bedingungen nicht resigniert, sondern z.B. informelle Gelegenheitsarbeiten annimmt und auf die damit einhergehenden Unsicherheiten teilweise besser vorbereitet ist als Menschen in den „mittleren“ Milieus, für die Beständigkeit und Zuverlässigkeit wichtige Werte darstellen

Erlebnisgesellschaft nach Schulze


-Gerhard Schulze leistete insbesondere mit seiner Veröffentlichung „Die Erlebnisgesellschaft“ von 1992 einen populär gewordenen Beitrag zum Thema. Die Individuen in der Erlebnisgesellschaft, die er für Deutschland ab den achtziger Jahren konstatiert, sind erlebnisorientiert im Sinne einer unmittelbaren Form der Suche nach Glück (sie wollen es möglichst sofort), das Projekt des „Schönen Lebens“ tritt als ein Massenphänomen auf, und der Erlebniswert von Gütern gewinnt gegenüber dem Gebrauchswert an Bedeutung (z.B. möchte man vielleicht lieber einen schicken Geländewagen fahren statt „irgendein“ gegebenenfalls sparsameres Auto). Das erlebnisorientierte (synonym: innenorientierte) Handeln hat also das Ziel, schöne Erlebnisse für sich selbst herbeizuführen. Was Menschen jeweils als schön empfinden, ist dabei milieuabhängig, jedoch gibt es letztlich keine Festlegungen für ein „schönes“ Erlebnis: Unsicherheiten, welche Entscheidung man treffen soll, und Enttäuschungen (eine besuchte Veranstaltung war z.B. nicht das erhoffte „Event“) bleiben typische Begleiterscheinungen der Erlebnisorientierung.

-Nicht jede Handlung muss zudem innenorientiert sein, sondern diese Haltung ist graduell zu verstehen. Beispielsweise zieht man seine Kleidung gegebenenfalls nicht nur an, um sich schön zu fühlen, sondern auch – das wäre außenorientiert –, um einen guten Eindruck zu erzielen. Als Tendenz gilt aber in der Erlebnisgesellschaft: „Handelt man erlebnisrational, wird man andere Entscheidungen treffen, als wenn es etwa darum geht, das Überleben sicherzustellen, kollektiven Zielen zu dienen oder göttlichen Geboten zu folgen“

-Alltagsästhetische Schemata:

Dies deutet an: Auch für die Erlebnisgesellschaft gilt als Vorbedingung, dass die Gesellschaft eine relative Wohlstandsgesellschaft ist, die den Individuen vergleichsweise große Wahloptionen eröffnet. Das erlebnisorientierte Handeln formt sich nun nach Schulze im persönlichen Stil zu einem stabilen, situationsübergreifenden Muster. Der persönliche Stil ist ein deutliches Zeichen bei der Konstitution sozialer Milieus, was zeigt, dass Lebensstil- und Milieukonzepte eng miteinander verbunden sein können, in diesem Fall sogar innerhalb eines Ansatzes. Nach Schulzes Terminologie lassen sich Stiltypen durch alltagsästhetische Schemata zum Ausdruck bringen. Diese sind zum einen durch bestimmte Zeichen charakterisiert (wie gehabt: z.B. Kleidung, Möbel, besuchte Veranstaltungen, bevorzugte Fernsehsendungen), zum anderen durch bestimmte Bedeutungsebenen, die Schulze durch Genuss, Distinktion und Lebensphilosophie näher bestimmt. Es gibt nach Schulze drei hauptsächliche alltagsästhetische Schemata, und zwar das Hochkultur-, das Trivial- und das Spannungsschema

-Mit einem Wort lässt sich das Hochkulturschema als „schöngeistig“ charakterisieren, schließt dabei aber eine gewisse Selbstironie ein. Auf der Genussebene ist die Kontemplation kennzeichnend. Dazu gehört auch eine Zurücknahme des Körpers, z.B. sind laute Heiterkeitsausbrüche verpönt. Auf der Distinktionsebene wählt Schulze die Kennzeichnung „anti-barbarisch“, kulturelle Feindbilder sind insbesondere der Bier trinkende Viel-Fernseher oder der Bildzeitungsleser

-Das Trivialschema wird häufig abfällig beurteilt, die Inkarnation dieser Vorstellung bildet der Gartenzwerg. Das hervorstechende Merkmal auf der Ebene des Genusses ist hier die Gemütlichkeit. Erlebnisse sollen nicht anstrengen, man ist eher auf der Suche nach dem Gewohnten. Hinsichtlich der Distinktion gab es lange eher eine Abgrenzung anderer von dem Trivialschema als eine eigene distinktive Position, die sich aber mittlerweile entwickelt hat, und zwar ist sie anti-exzentrisch. Die Lebensphilosophie des Schemas lautet Harmonie als Kultur der schönen Illusion (wie sie etwa Happy Ends in Erzählungen repräsentieren)

-Das Spannungsschema schließlich ist das historisch jüngste Schema, für das Unruhe, Abwechslung und Bewegung typisch sind. Dies drückt sich auch auf der Genussebene als Suche nach Action, nach immer Neuem aus, der Körper wird dabei expressiv eingesetzt, z.B. in der Disco oder beim Sport. Die Distinktionsweise ist anti-konventionell, Feindbilder sind z.B. biedere Familienväter oder „Sonntagsfahrer“. Die Lebensphilosophie ist hier schließlich eine des Narzissmus: Im Hochkulturschema wird das Ich an den Ansprüchen gemessen, im Trivialschema an der Ordnung, im Spannungsschema jedoch ist das Ich nur mit sich selbst konfrontiert. Der Maßstab ist hier die subjektiv erfolgreiche Unterhaltung oder Selbstverwirklichung.

-Es gibt nun keine einseitige Zuordnung zu nur einem Schema, die Affinität zu einem Schema allein macht noch kein Milieu aus, sondern die Position eines Individuums bestimmt sich durch Nähe bzw. Distanz zu allen Schemata. Fünf typische Kombinationen (eine gleichzeitige Nähe von Trivial- und Spannungsschema ist eher untypisch) bilden schließlich die sozialen Milieus. Diese definiert Schulze als „Personengruppen, die sich durch gruppenspezifische Existenzformen und erhöhte Binnenkommunikation voneinander abheben

—>Dabei meint Binnenkommunikation innerhalb einer sozialen Großgruppe natürlich nicht, dass jeder jeden kennt, sondern dass Angehörige desselben Milieus mit größerer Wahrscheinlichkeit aufeinandertreffen, z.B. im Freundeskreis oder in Vereinen

-Wer zu welchem Milieu gehört, ist jedoch nicht zufällig, sondern insbesondere durch zwei Dimensionen festgelegt, die für Interaktionspartner vergleichsweise leicht erkennbar sind: Alter und Bildung, wobei das Alter dichotom unterteilt ist in jünger und älter als etwa 40 Jahre (Schulze legt sich nicht fest, ob es sich um einen Alters- oder Kohorteneffekt handelt). Bildung ist in niedrigere und höhere, bei den älteren Milieus zudem in mittlere Bildung gegliedert, so dass die fünf Milieus vergleichsweise klar zuzuordnen sind (ohne dass es einen Determinismus gibt). Eine hierarchische Struktur durch das Bildungsniveau wird dabei gebrochen durch die Altersdimension, was Schulze mit „gespaltener Vertikalität“ bezeichnet: „Eindeutig überlagert eine moderne, fast ausschließlich erlebnisorientierte Altersschichtung die traditionelle Bildungs- und Berufsschichtung, deren soziale Interpretation als hierarchische Ungleichheit dadurch immer mehr verdrängt wird … Der Vertikalisierungseffekt der Bildung wird durch den Horizontalisierungseffekt des Lebensalters konterkariert“

-Der Gesamtzusammenhang von sozialer Lage und Milieus sieht wie folgt aus: „Jedes Milieu enthält eine Mehrzahl von sozialen Lagen; bestimmte soziale Lagen treten in mehreren Milieus auf; gleichzeitig ist aber auch eine deutliche milieuübergreifende Abstufung zu erkennen – nicht nur für Sozialwissenschaftler, sondern auch für die Menschen im Alltag“


Kritik:

-Ein Kritikpunkt, den manche Autoren an Schulzes Modell (und gelegentlich an Lebensstilanalysen allgemein) äußern, lautet, dass es nur in Phasen relativ großen Wohlstands gültig sei (im Deutschland der achtziger Jahre also gerade noch zutreffend gewesen sein mag), bei zunehmender Knappheit jedoch an Geltungskraft verliere. Beispielsweise schreibt Neckel: „Gerhard Schulze indes entwirft eine Kultursoziologie über Leute, die Geld ausgeben, aber keines verdienen müssen

-Eine empirische Bestätigung der Erlebnisgesellschaft wiederum liefert Lechner (2003). Nach seinen Befunden ist eine alltagsästhetisch dominierte Milieustruktur Mitte der neunziger Jahre auch in Ostdeutschland (konkret in Chemnitz) festzustellen

Alltägliche Lebensführung


-An dieser Stelle soll noch ein weiteres Konzept dargestellt werden, das durch den Anspruch einer ganzheitlichen Betrachtung auch ungleichheitstheoretische Fragen behandelt und das konzeptionell in der Nähe von Milieu- und Lebensstiluntersuchungen (allerdings mit einem etwas anderen Schwerpunkt) liegt: Der Ansatz der „Alltäglichen Lebensführung“. Ab Mitte der achtziger Jahre haben verschiedene Forscher, ausgehend vom Sonderforschungsbereich „Entwicklungsperspektiven von Arbeit“ der Universität München, das Konzept der „alltäglichen Lebensführung“ entwickelt

-Die Ausgangsüberlegung besteht darin, dass im Zuge des gesellschaftlichen Strukturwandels die Beziehung zwischen Arbeit und „Leben“ komplizierter wird, dass zunehmende Entscheidungsmöglichkeiten auch Aushandlungsprozesse mit sich bringen, dass jeder in seinem Alltag viele Dinge und Rollen „unter einen Hut“ bekommen muss. Die Akteure sind den Strukturbedingungen nicht ausgesetzt, sondern konstruieren ihre Lebensführung (der Begriff orientiert sich grob an Webers Überlegungen) auch selbst.

-Unter Lebensführung verstehen die Forscher dabei, „was Personen immer wieder tagaus tagein in ihren verschiedenen Lebensbereichen (Beruf, Haushalt, Familie, Freundeskreis, Vereine u.a.m.) tun.“ (Rerrich/Voß 2000: 150). Das Konzept betont das Gesamtarrangement der Handlungspraxis im Alltag der Akteure (wenngleich auch ihre subjektiven Deutungen nicht unerheblich sind) und richtet sich dabei zum einen auf deren aktive Konstruktionsleistung zwischen äußeren Bedingungen und eigenen Präferenzen, zum anderen aber auch auf die Entwicklung einer gewissen Eigenlogik der Lebensführung gegenüber den Akteuren

-Eine häufig erwähnte Basis der Analyse ist eine „subjektorientierte“ Perspektive (vgl. Voß/Pongratz 1997), doch beansprucht das Konzept auch, eine Verbindung zwischen Mikro- und Makroperspektive herzustellen, weil es Vergesellschaftungen, den Rahmen sozialer Bedingungen andererseits nicht unterschlägt. Bolte sieht Lebensführung als „zentrales Kupplungssystem“ zwischen Individuum und Gesellschaft

-Das hier charakterisierte Konzept der Alltäglichen Lebensführung haben Forscher in verschiedenen empirischen Untersuchungen angewandt. Sie kamen dabei zu Typisierungen alltäglicher Lebensführung spezifischer Untersuchungsgruppen, die daher nicht unbedingt vergleichbar sind. Bolte (2000) arbeitet übergreifende Typen mit den Dimensionen Außengeleitetheit vs. Eigeninitiative, gleichförmig vs. variabel sowie kurzfristig vs. dauerhaft heraus. Es ergeben sich verschiedene Varianten „außen geleitet konstanter“ Lebensführung, „mitbestimmter“ Lebensführung und „selbst bestimmter“ Lebensführung, außerdem die „resignative“ und die „chaotische“ Lebensführung. Die Form der Lebensführung sagt dabei noch nichts über die subjektive Zufriedenheit aus

-Das allgemeine Konzept der „alltäglichen Lebensführung“ stellt also eine Verbindung zwischen individuellem Handeln und gesellschaftlichen Strukturen her, ein Anspruch, den vergleichbar auch die Milieu- und Lebensstilanalysen formulieren. Die Mikro-Makro-Verknüpfung der „alltäglichen Lebensführung“ ist dabei nicht per se auf soziale Ungleichheit gerichtet. Dieser Zusammenhang ist jedoch herstellbar. Rerrich/Voß (2000) zeigen etwa an zwei Fallbeispielen, dass die betrachteten Männer gleichen Alters aus der Perspektive von Dimensionen „klassischer“ Ungleichheitsforschung unterschiedlich einzuordnen sind.

—>Der eine, angelernter Arbeiter im Schichtsystem mit bäuerlicher Herkunft, hat es schlechter getroffen als der andere, Sohn eines Landarztes und qualifizierter Journalist. Auf den zweiten Blick, wenn man auch die Lebensführung berücksichtigt, wird das Bild mindestens ambivalenter. Der vermeintliche „Underdog“ präsentiert sich zufrieden, er hat ein Eigenheim, seine Frau verrichtet die Hausarbeit, einen großen Teil seiner arbeitsfreien Zeit widmet er seinen Hobbys. Der freiberufliche Journalist hingegen ist ständig auf der Suche nach neuen Aufträgen, das Preisniveau ist in der Großstadt zudem recht hoch, er empfindet seine Lebenssituation wesentlich prekärer. Die Autoren kommen zu dem Schluss, dass die alltägliche Lebensführung die soziale Lage relativieren kann, unter anderem durch die aktive Aneignung der äußeren Bedingungen.

In der alltäglichen Lebensführung laufen die verschiedenen ungleichheitsrelevanten Faktoren aus dem sozialen Lebensumfeld von Personen zusammen, woraus nicht direkt daraus ableitbare, sondern relativ kontingente Interferenzaspekte für soziale Benachteiligungen oder Privilegierungen der Betroffenen entstehen

-Jürgens (2002) stellt eine andere Lesart der Befunde vor. Wenn man die Lebensbedingungen differenzierter sieht als Rerrich und Voß in ihrem ersten Schritt der Fallanalyse, haben die beiden Personen unterschiedliche Positionen im sozialen Raum (gemäß Bourdieus Konzept) bzw. sind einem anderen Milieu (mit Verweis auf Vester et al.) zuzuordnen. Bereits auf der – differenziert betrachteten – „objektiven“ Ebene würden die Unterschiede der beiden Männer also deutlich werden, nicht erst die alltägliche Lebensführung macht den Unterschied aus. Damit ist das Konzept der „alltäglichen Lebensführung“ aus Jürgens’ Sicht für die Ungleichheitsforschung jedoch nicht obsolet geworden.

—>Die Lebensführung kann durchaus eine Ressource oder eine Restriktion darstellen, z.B. kann sich der Journalist leichter an veränderte Rahmenbedingungen anpassen (er hat eine „offenere“ Lebensführung). Milieu- oder Lebensstilstudien erfassen zudem weniger die alltäglichen Koordinations- und Synchronisationsleistungen der Individuen. Ein weiteres Potential der „alltäglichen Lebensführung“ liegt in der Untersuchung verschränkter Lebensführung, z.B. in Paarbeziehungen (Ansätze dazu in Jürgens 2001) oder auch im Erwerbsleben. Daher können die Forschungsrichtungen gegenseitig füreinander anregend sein:

-Mit der dichten Beschreibung typischer alltäglicher Lebensführungen kann das Konzept einen wichtigen Bestandteil für weitere Untersuchungen liefern, den andere Ansätze in dieser Form bislang nicht berücksichtigten (die „sozialen Lagen“ etwa streben eher komplexe Beschreibungen auf der „anderen“, der objektiven Seite, an, Lebensstile und Milieus sind zwar ebenfalls ganzheitlich orientiert, doch fehlen ihnen die erwähnten Elemente, insbesondere legen sie weniger Gewicht auf das Gesamtarrangement der Lebensführung im Alltag). Eine Aggregation der Ergebnisse des Konzepts „Alltägliche Lebensführung“ zu einem Modell sozialer Ungleichheit bzw. eine systematische Verknüpfung z.B. mit Milieumodellen gibt es jedoch bislang nich

Kritische Fragen und Zusammenfassung zu Lebensstil- und Milieuansätzen


-Ein Vorwurf lautet, die Lebensstilforschung gehe zu beschreibend vor ohne genügend Theorieanbindung. Dies ändere sich auch nicht durch einen pauschalen Verweis auf soziologische Klassiker oder die Individualisierungsthese Becks (Bourdieu kann man diesen Vorwurf am wenigsten machen, in diesem Fall tritt eher die Kritik auf den Plan, dass er den Einfluss ökonomischer Aspekte auf den Lebensstil letztlich als zu groß ansetze, vgl. das folgende Kapitel). Garhammer formuliert den Einwand so: „Kaum eine der Arbeiten … stellt … die Frage, die doch erst mal zu klären wäre: Was bedeutet es für die moderne Gesellschaft, wenn das Leben zu einer Stilfrage wird?“

-Der Empiriker kann dann fast beliebig viele unterschiedliche Lebensstile feststellen. Zwar wird immer wieder auf grundsätzliche Überschneidungen der empirischen Ergebnisse hingewiesen, z.B. von Schulze – unter anderem zu den Sinus-Milieus (1992: 393) – oder in der Zusammenstellung von Typenvergleichen bei Hartmann (1999: Kap. 5). Es bleibt aber letztlich offen, ob eher die Brille der Forscher schärfer, differenzierter geworden ist, oder ob sich tatsächlich mehr Gruppen ausdifferenziert haben, die für die Handlungsorientierungen und das soziale Zusammenleben von Bedeutung sind. Einige Autoren weisen darauf hin, dass die Erklärungskraft von Lebensstilen möglicherweise je nach Anwendungsbereich variiert

-Solga et al. kritisieren einen theoretischen Mangel auch bei Milieukonzepten. Es sei unklar, ob Milieus überhaupt Determinanten, Ursachen oder Dimensionen sozialer Ungleichheit seien

-Wenn man die Vielfalt von Lebensstilgruppen betont, die teilweise nebeneinander liegen und die sich oft eher indifferent als antagonistisch gegenüberstehen, geht damit zudem die Gefahr einher, dass Herrschaftsstrukturen unterbelichtet bleiben (ein möglicher blinder Fleck, den bereits die Klassentheorie gegen die Schichtungsforschung vorgebracht hatte). Meyer befürchtet einen Verlust des kritischen Impetus und entsprechend eine legitimatorische Rückendeckung für die bestehende Ungleichheitsordnung. Allerdings könnte man dagegen argumentieren, dass man bei einer Berücksichtigung der integrativen bzw. distinktiven Funktion von Lebensstilen zumindest potentiell durchaus kritisch Verhältnisse zwischen den Lebensstilgruppen an zentraler Stelle diskutieren könnte

-Auch zwei weitere Kritikpunkte weisen Befürworter der Lebensstilanalyse als eher einseitige Sichtweise zurück: Erstens spricht gegen die Kritik an einer zu großen Vielfalt von Ansätzen mit unterschiedlichem Gegenstand, Operationalisierungen und herausgefundenen, allenfalls bedingt vergleichbaren Lebensstilen der immer wieder zu lesende Hinweis auf einen grundsätzlichen Konsens darüber, was ein Lebensstil ist (s.o. zur Begriffsklärung), welche es gibt (Parallelen sind trotz der unterschiedlichen Benennungen und Klassifikationen festzustellen) und wovon sie abhängen (und zwar in nennenswertem Ausmaß vom Alter, der Bildung und dem Geschlecht)

-Der zweite Aspekt besteht in der möglicherweise zu starken Betonung von individuellen Wahlfreiheiten und einer Präferenzensteuerung, die sich kaum nach strukturellen Kriterien richte. Die Diskussion um Strukturierungs- vs. Entstrukturierungsmodelle innerhalb der Lebensstilanalyse, bei der Entstrukturierungsmodelle seltener sind und teilweise von anderen zusätzlich radikalisiert werden, zeigt, dass „Entstrukturierung“ keine Position der Lebensstilanalyse allgemein ist, und dies noch weniger in den letzten Jahren. Auch Hradil relativiert dieses Argument recht heftig: „Lebensstile [bestehen] keineswegs unabhängig von äußeren Bestimmungsgründen

-Der weggefallene oder ohnehin fehlende Anspruch, Lebensstile als etwas gänzlich Neues, eine vertikale Gesellschaftsstruktur ablösendes Modell postulieren zu müssen, kann für Aussagen mittlerer theoretischer Reichweite allerdings durchaus konstruktiv sein, sofern die Konstatierungen nicht dabei stehen bleiben, bereits das Phänomen eines Mischungsverhältnisses von Struktureinflüssen und Optionen als entscheidenden Erkenntnisgewinn anzusehen.

-Die Postulierung einer „Lebensstilgesellschaft“ als Gegenwartsdiagnose (Richter 2005) dürfte, zumal als Aussage jüngeren Datums, dagegen eher eine Minderheitenposition im ungleichheitstheoretischen Kontext darstellen. In Zusammenhang mit Lebensstilen, sofern diese als Erklärungsmerkmal dienen sollen, ist jedenfalls ein Hinweis notwendig: Immer, wenn Forscher Lebensstile selbst als erklärenden Faktor einsetzen, müssen sie darauf achten, Zirkelschlüsse zu vermeiden. So ist es nicht ganz unproblematisch, etwa Konsumverhalten aus Lebensstilen zu erklären, die unter anderem durch ähnliche Merkmale konstituiert sind

-Eine weitere Frage an die Lebensstilforschung richtet sich schließlich auf die Entstehung und die Entwicklungsbedingungen von Lebensstilen. Unter welchen Umständen und in welche Richtung können sich Lebensstile verändern? Ohne diesen Aspekt hätte man lediglich ein statisches Modell entworfen. Auch bedürfte es einer Begründung, wenn gerade ein Modell, das insgesamt von vergleichsweise großen Wahlmöglichkeiten der Individuen ausgeht, Kontinuität von Lebensstilen unterstellen würde. Verschiedentlich streifen Forscher diesen Punkt, indem sie z.B. auf die Rolle des Alters oder der Lebensphase als Einflussfaktor für den Lebensstil hinweisen. Vester et al. (2001) stellen zudem Milieus im Zeitvergleich vor (und untersuchen damit unter anderem Kohorteneffekte). Doch gibt es insgesamt eher ansatzweise als systematisch Überlegungen dazu zu erklären, wann gegebenenfalls einzelne Menschen ihren Lebensstil in eine bestimmte Richtung ändern


-Zusammenfassend lässt sich festhalten: Verschiedene Milieu- und Lebensstilkonzepte suchen einen Mittelweg zwischen einer Strukturiertheit nach dem nicht mehr adäquaten Muster traditioneller Klassen und Schichten auf der einen Seite und einer vollkommen entstrukturierten Vielfalt individuellen Wahlhandelns auf der anderen Seite. Objektive Bedingungen und subjektive Wahrnehmungs- und Handlungsweisen sind verknüpft, aber auf komplexe Art und Weise. In der Konzeptionalisierung dieses Mittelweges bzw. dieser Ergänzung bisheriger Ungleichheitsmodelle ist der gemeinsame Nenner von sonst im Detail recht unterschiedlichen Modellen zu sehen. Neben dem Vorteil, viele Aspekte in dem Modell berücksichtigen und damit das Ungleichheitsgefüge einer modernen Gesellschaft angemessen erfassen zu können, sind die Ansätze jedoch auch der Kritik ausgesetzt: Sie könnten z.B. Gefahr laufen, einen theoretischen, erklärenden Anspruch aufzugeben, bestehende vertikale Ungleichheiten bzw. sogar zunehmende Restriktionen nicht genügend zu beachten oder Entwicklungen und Beziehungen sozialer Gruppen zu vernachlässigen

Sozialer Raum nach Bourdieu


-Pierre Bourdieu entwirft ein Modell des sozialen Raums, dessen erste Ebene er als Raum objektiver sozialer Positionen konstruiert. Bedeutsam ist hier vor allem die Ausweitung des Kapitalbegriffs. An zentraler Stelle berücksichtigt Bourdieu nicht allein ökonomisches, sondern auch kulturelles und soziales Kapital (Bourdieu 1983).

-Eine soziale Position ist dann abhängig vom Kapitalvolumen, der Kapitalstruktur und schließlich einem zeitlichen Faktor, der sozialen Laufbahn. Diese Gedanken sollen nun etwas genauer erläutert werden. Kapital in dem weit gefassten Verständnis ist zentral für die Stellung im sozialen Raum: „Die zu einem bestimmten Zeitpunkt gegebene Verteilungsstruktur verschiedener Arten und Unterarten von Kapital entspricht der immanenten Struktur der gesellschaftlichen Welt, d.h. der Gesamtheit der ihr innewohnenden Zwänge, durch die das dauerhafte Funktionieren der gesellschaftlichen Wirklichkeit bestimmt und über die Erfolgschancen der Praxis entschieden wird.“ (Bourdieu 1983: 183).

-Das Kapital setzt sich im Einzelnen aus folgenden Arten zusammen: Das ökonomische Kapital bezeichnet das Kapital, das im engeren Sinne bislang als solches verstanden wurde, also etwa Eigentum und Vermögen.

-Es ist relativ direkt in Geld konvertierbar. Das kulturelle Kapital nimmt drei Formen an:

  • a) Das inkorporierte Kulturkapital meint Bildung, Wissen (allerdings nicht allein in der Schule erworbenes Wissen, auch z.B. die Erziehung in der Familie spielt eine Rolle). Der Erwerb erfordert (Lern-) Zeit, man kann es nicht kurzfristig kaufen oder verschenken. Die Umstände der ersten Aneignung dieses Kapitals prägen die Person in hohem Maße, z.B. ihre Sprechweise.

  • b) Objektiviertes Kulturkapital hat die Form von kulturellen Gütern, die man besitzt, z.B. Bücher, Gemälde, Instrumente. Sie sind leichter auf andere übertragbar, gewinnen aber nur dann als Aktivposten an Bedeutung, wenn der Handelnde es sich aneignet und strategisch einsetzt (er braucht z.B. inkorporiertes Kapital, um ein Gemälde auch als hochwertig erkennen zu können).

  • c) Institutionalisiertes Kulturkapital bezeichnet (schulische) Titel. Der Inhaber hat ein Zeugnis kultureller Kompetenz mit einem relativ dauerhaften und rechtlich garantierten Wert, der Titel ist also institutionell anerkannt und sichert eine gewisse Übertragbarkeit in ökonomisches Kapital, die sich im Zeitverlauf allerdings ändern kann. Ein Abiturient kann heutzutage beispielsweise weniger sicher aufgrund seines Abschlusses davon ausgehen, eine gut bezahlte Arbeitsstelle zu finden, als dies noch vor einigen Jahrzehnten der Fall war

-Mit sozialem Kapital meint Bourdieu Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen (z.B. Absolventen einer exklusiven Schule), man hat ein Netzwerk von Beziehungen. Jemand kennt die entscheidenden Leute und kann an bestimmten Fäden ziehen, um seine Ziele zu erreichen, er ist in einem weiten Wortsinn „kreditwürdig“. Dieses Kapital ist erheblich von der familiären Herkunft abhängig, es bedarf aber auch einer dauerhaften Beziehungsarbeit, um dieses Kapital aufrechtzuerhalten.

-Am Beispiel des sozialen Kapitals zeigt sich besonders, dass ökonomisches Kapital nicht ohne „Transformationsarbeit“ (Bourdieu 1983: 195) in andere Kapitalarten übertragbar ist (und auch umgekehrt). Beim Aufbau des sozialen Kapitals handelt es sich um „eine scheinbar kostenlose Verausgabung von Zeit, Aufmerksamkeit, Sorge und Mühe“ (a.a.O.: 196), die gerade nicht ausdrücklich dadurch gekennzeichnet sein darf, dass nur finanzielle Interessen die Beziehung herstellen. Nichtsdestoweniger stehen die Kapitalarten in einem engen Zusammenhang. Das ökonomische Kapital in einer Familie beeinflusst z.B., wie viel Zeit und Geld Eltern in die Ausbildung ihrer Kinder investieren können

-Bourdieu nennt zudem noch eine weitere Kapitalart, die eine andere Ebene betont als die bisherigen Arten: das symbolische Kapital bezeichnet das Prestige oder Renommee einer Person, es ist die „wahrgenommene und als legitim anerkannte Form der drei vorgenannten Kapitalien“ . Hierzu gehören z.B. das institutionalisierte kulturelle Kapital (Titel) oder generell das soziale Kapital. Dadurch, dass das symbolische Kapital soziale Anerkennung widerspiegelt, hat es eine wichtige Funktion bei der alltäglichen Legitimation gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse

-Um die Position einer Person im sozialen Raum zu bestimmen, genügt es nun nicht, das Volumen, also die quantitative Menge des Kapitals insgesamt in den drei genannten Formen zu bestimmen. Eine Klasse ist laut Bourdieu nicht durch ein Merkmal, eine Summe oder eine Kette von Merkmalen definiert, sondern „durch die Struktur der Beziehungen zwischen allen relevanten Merkmalen“ (Bourdieu 1997 (zuerst 1979): 182).

-Bedeutsam ist neben dem Kapitalvolumen als zweiter Faktor die Kapitalstruktur, das heißt das Verhältnis der Kapitalarten (insbesondere von ökonomischem und kulturellem Kapital). Überwiegt also etwa das kulturelle Kapital das ökonomische Kapital einer Person oder umgekehrt? Der erfolgreiche Profifußballer mit niedrigem Bildungsabschluss würde nach diesem zweiten Kriterium anders eingeordnet als die promovierte Historikerin, die in Teilzeitanstellung in einem Museum Ausstellungen organisiert

-Ein dritter Faktor kommt schließlich hinzu, bei der sozialen Laufbahn wird die Kombination der Kapitalarten im Zeitverlauf betrachtet. Handelt es sich z.B. bei einer Person um einen „Aufsteiger“ oder einen „Absteiger“ (unter anderem gibt es das „absteigende Kleinbürgertum“, s.u.) oder sind in einer Gruppierung heterogene Lebensverläufe typisch?

-Eder (1989) versucht, Bourdieus Modell (s. Diagramm 1997 (zuerst 1979): 212f.) auf deutsche Verhältnisse zu übertragen und trägt folgende Berufsgruppen in vier Felder ein, die sich (anhand einer Korrespondenzanalyse) ergeben, wenn das Kapitalvolumen die senkrechte Achse und die Kapitalstruktur die waagrechte Achse eines Koordinatensystems bilden.


Bourdieus Klassenmodell


-Laut Bourdieu ergaben sich in der französischen Gesellschaft der sechziger Jahre anhand von Korrespondenzanalysen drei Hauptklassen (das Modell an sich beansprucht jedoch Gültigkeit für Klassengesellschaften allgemein):

  • a) Die herrschende Klasse lässt sich in zwei Gruppen unterteilen, diejenigen, die über besonders hohes ökonomisches Kapital verfügen (z.B. Unternehmer aus der Handelsbranche) und solche mit hohem kulturellen Kapital (z.B. Künstler oder Hochschullehrer); dazwischen (der Anteil von ökonomischem und kulturellem Kapital ist ausgeglichener) finden sich freiberuflich Tätige

  • b) Die Mittelklasse ist dreigeteilt in: das absteigende Kleinbürgertum, z.B. Handwerker und kleine Händler: Sie sind durch objektive Merkmale sowie durch ihre Verhaltensweisen und Meinungen an eine überholte Vergangenheit gebunden; teilweise stammen sie selbst von kleinen Handwerkern und Händlern ab und sind mangels ökonomischen und vor allem kulturellen Kapitals dazu verurteilt, in einer gefährdeten Branche, z.B. dem kleinen Lebensmittelhandel, zu bleiben das exekutive Kleinbürgertum (ausführende berufliche Tätigkeiten, z.B. Büroangestellte, Volksschullehrer)

    und das neue Kleinbürgertum (Berufe in Branchen mit starkem Wachstum, unter anderem Verkaufs- und Vertreterberufe, Berater, Kulturverbreitung, z.B. Werbeagenten, Eheberater, Journalisten; heterogene Laufbahnen sind charakteristisch; a.a.O.

  • c) Die Volksklasse oder die Beherrschten, in der Arbeiter eingeordnet sind, im untersten Bereich etwa angelernte Arbeiter, Hilfsarbeiter und Landarbeiter


-Diese Darstellung soll jedoch nicht den Eindruck einer statischen Perspektive vermitteln. Die Menschen im sozialen Raum sind „ausgehend von ihrer Stellung in ihm, in einen fortwährenden Kampf untereinander verwickelt – um die Veränderung dieses Raums. Der gesellschaftliche Raum ist – wie der geographische – im höchsten Maße determinierend; wenn ich sozial aufsteigen möchte, habe ich eine enorme Steigung vor mir, die ich nur mit äußerstem Kraftaufwand erklettern kann; einmal oben, wird mir die Plackerei auch anzusehen sein, und angesichts meiner Verkrampftheit wird es dann heißen: ‚Der ist doch nicht wirklich distinguiert!’ … Dieser Raum ist also von einer penetranten Realität und wir kämpfen unablässig gegen ihn an … allerdings ist dieser Raum veränderbar.“


Raum der Lebensstile nach Bourdieu


-Bourdieu verknüpft also sein Klassenmodell eng mit Lebensstilen, die Klassenzugehörigkeit drückt sich am ehesten in den verschiedenen Lebensstilen, also in einer typischen Handlungspraxis aus. Erst durch die Verbindung von den sozialen Positionen als Strukturebene mit der Praxisebene der Lebensstile ergibt sich dabei ein vollständiges Bild des sozialen Raums.

-Der Zusammenhang zwischen sozialer Position und Lebensstil ist aber weder deterministisch noch mechanisch. Wenn man beispielsweise feststellt, dass Menschen in Mittel- und Oberschichten mehr Reis essen als Menschen in Unterschichten, dann heißt das nicht, dass wirklich jede(r) Oberschichtsangehörige Reis vorzieht, sondern dass es typischerweise so ist. Zudem handelt es sich nicht nur um einzelne Praktiken wie „Reis essen“ (als Beispiel für Ernährungsgewohnheiten), sondern um Handlungsweise die oft subtiler sind und die man sich im Zuge der Sozialisation angeeignet hat, die dafür auch deutlicher die soziale Position, in den oberen Klassen die Abgrenzung nach „unten“ zum Ausdruck bringen.

-Dazu gehört etwa die Selbstgewissheit der oberen Klassen, die Spielregeln des Umgangs miteinander zu kennen, eine lässige Distanz zu Kultur und Bildung, die die Mittelklassen nicht haben (diese nehmen etwa Bildung viel ernster). Das Beispiel deutet an, inwiefern der Zusammenhang zwischen sozialer Position und Lebensstil nicht mechanisch ist: Der Raum der sozialen Positionen und der Raum der Lebensstile sind durch den Habitus miteinander verknüpft, das Modell erhebt damit auch einen erklärenden Anspruch

-Was ist mit dem Habitusbegriff gemeint? Der Habitus ist keinesfalls nur eine Gewohnheit, sondern eine allgemeine Grundhaltung gegenüber der Welt und meint bestimmte kollektive Wahrnehmungs-, Denk- und Handlungsschemata, die den Einzelnen nur zu einem kleinen Teil bewusst sind. In Bourdieus Worten: „Der Habitus ist Erzeugungsprinzip objektiv klassifizierbarer Formen von Praxis und Klassifikationssystem … dieser Formen. In der Beziehung dieser beiden den Habitus definierenden Leistungen: der Hervorbringung klassifizierbarer Praxisformen und Werke zum einen, der Unterscheidung und Bewertung der Formen und Produkte (Geschmack) zum anderen, konstituiert sich die repräsentierte soziale Welt, mit anderen Worten der Raum der Lebensstile

-„Wer den Habitus einer Person kennt, der spürt oder weiß intuitiv, welches Verhalten dieser Person verwehrt ist. Mit anderen Worten: Der Habitus ist ein System von Grenzen … Deshalb sind für ihn [jemanden mit einem kleinbürgerlichen Habitus, N.B.] bestimmte Dinge einfach undenkbar, unmöglich; es gibt Sachen, die ihn aufbringen oder schockieren. Aber innerhalb dieser seiner Grenzen ist er durchaus erfinderisch, sind seine Reaktionen keineswegs immer schon im Voraus bekannt“

-Der „legitime Geschmack“ der oberen Klassen zeichnet sich durch Sinn für Distinktion und teilweise durch Vorliebe für Luxusartikel aus. Die Gruppe innerhalb der herrschenden Klasse mit einem hohen Anteil an ökonomischem Kapital (z.B. Unternehmer) zeigt z.B. eine Vorliebe für Boulevardtheater und Varieté, Boutiquen, Luxuswagen, Aufenthalte in Drei-Sterne-Hotels in Badeorten etc. Diejenigen mit höherem kulturellem Kapital (z.B. Lehrer) dagegen bevorzugen im Theater klassische oder avantgardistische Stücke, außerdem Museen, klassische Musik, Flohmärkte und Wandern. Die vergleichsweise geringeren ökonomischen Mittel lassen bei ihnen einen „asketischen Ästhetizitismus“ entstehen.

—>Den Bourgeois kennzeichnet insgesamt eine „Ungezwungenheit aus Vertrautheit“ im Umgang mit Kultur und Bildung, die bereits in der familiären Erziehung entstanden ist (a.a.O.: 121). Charakteristisch für den mittleren oder „prätentiösen Geschmack“ ist der Versuch, den oberen Klassen nachzueifern, unter anderem durch Bildungsbeflissenheit. Die Selbstsicherheit der oberen Klassen fehlt den Kleinbürgern dabei jedoch. Während nur die herrschende Klasse „ihre Lebensform zu einer Kunstform erheben“ kann, ist „der Eintritt des Kleinbürgers in dieses Spiel der Distinktion und Unterscheidung demgegenüber nicht zuletzt durch die Furcht gekennzeichnet, anhand von Kleidung oder Mobiliar … sichere Hinweise auf den eigenen Geschmack zu liefern und sich so deren Klassifizierung auszusetzen“

-Der (etwas gezwungene) Bildungseifer zeigt sich unter anderem in der Anhäufung von Zeugnissen „bedingungsloser kultureller Beflissenheit“ (a.a.O.: 503), wozu z.B. der Besuch „lehrreicher“ Aufführungen gehört. Bourdieu spricht sogar von „Ergebenheit“ gegenüber der Kultur (a.a.O.: 503). Kleinbürger sind typische Abnehmer von Massenkultur, die vergleichsweise leicht zugänglich ist, aber auch die äußeren Anzeichen der legitimen Kultur aufweist. Die einzelnen Varianten des kleinbürgerlichen Geschmacks (Bourdieu differenziert ein absteigendes, exekutives und neues Kleinbürgertum, s.o.) können hier nicht ausführlich beschrieben werden, als Beispiele seien nur genannt: Das absteigende Kleinbürgertum bevorzugt eine ordentliche und pflegeleichte Wohnungseinrichtung, in der Musik „die deklassierten Stücke der bürgerlichen Kultur“ (a.a.O.: 541), z.B. „An der schönen blauen Donau“. Das exekutive Kleinbürgertum kennzeichnet der Bildungseifer in besonderem Maße

-Der populäre oder „Notwendigkeitsgeschmack“ der unteren Klassen schließlich orientiert sich am Praktischen. Dabei ist immer zu berücksichtigen, dass es Bourdieu nicht etwa darum geht, eine angeborene Unfähigkeit z.B. zu einer ästhetischen Wahrnehmung festzustellen, sondern die distinktiven Strategien der höheren Klassen zu betonen, die die Macht haben, ihren Geschmack als den legitimen zu definieren und gegen einen allgemeinen Zugang zu verteidigen. Schaffen es bereits die Kleinbürger bei allem Eifer nicht, die lässige Selbstsicherheit der herrschenden Klasse zu erreichen, fehlt es der Volksklasse noch stärker an materiellem und kulturellem Kapital. Sie passt sich an den Mangel an. Beispielsweise geben Arbeiter häufiger als alle anderen Klassen an, dass sie eine pflegeleichte Wohnungseinrichtung und preiswerte Kleidung (die nicht ausgefallen, dafür haltbar sein soll) bevorzugen

Bourdieus Klassenmodell im Vergleich zu Marx und Weber


-Das verfügbare Kapital spielt für die Klassenzugehörigkeit eine große Rolle (so auch in anderen Klassenmodellen), dabei ist das ökonomische Kapital von Bedeutung, darüber hinaus jedoch auch andere Kapitalarten: das kulturelle und das soziale Kapital. Eine Erweiterung erfährt die Konstitution von Klassen auch dadurch, dass die soziale Position nicht allein ein Resultat aus der Summe der Kapitalien ist (das wäre einem Schichtmodell ähnlich), sondern auch ihre Struktur und soziale Laufbahnen sind relevant. Empirisch lassen sich nach diesen Prinzipien drei nochmals in sich differenzierte Klassen identifizieren.

-Der soziale Raum umfasst nicht allein die sozialen Positionen, sondern auch – vermittelt durch den Habitus – Lebensstile. Das Konzept integriert auf diese Weise kulturelle Momente der Lebensführung (bei Weber bereits angedeutet durch den „Stand“), ohne dass Bourdieu die ungleichen Lebenschancen aus dem Auge verliert. Eder spricht in diesem Zusammenhang von der „kulturtheoretischen Wendung“ der Klassenanalyse (1989: 15). Verschiedentlich weisen Autoren darauf hin, dass Bourdieu damit implizit auch die Konzepte von Geiger oder Veblen weiterführt. Klassen und Lebensstile sind in einem Ansatz eng verknüpft

-Von den sozialen Positionen kann man aufgrund eines klassenspezifischen Habitus einen Zusammenhang zu den Lebensstilen, also zu Handlungspraktiken herstellen. Auch bei Bourdieu hat somit die Klassenzugehörigkeit Auswirkungen auf andere Lebensbereiche. Der Zusammenhang ist allerdings nicht deterministisch zu verstehen. Ferner ergibt sich dadurch, dass der Habitus keineswegs vollständig bewusst ist, aus der Klassenlage nicht automatisch ein Klassenbewusstsein oder gar ein revolutionäres Potential (Eder spricht von einem „kollektiven Klassenunbewusstsein“, 1989: 17). Bourdieu bezeichnet es explizit als Fehler (etwa von Marx), „Klassen auf dem Papier“ als reale Klassen zu behandeln, also von einer objektiven Homogenität der Bedingungen auf eine vereinigte Gruppe zu schließen (1992b: 141).

- Den Relationen zwischen den Klassen trägt Bourdieu Rechnung, indem er beispielsweise Distinktionsstrategien der herrschenden Klasse oder die Aufstiegsbestrebungen der Kleinbürger herausarbeitet. Es handelt sich dabei weniger um einen offenen Kampf, eine größere Rolle spielen subtile Strategien, z.B. der Machterhaltung. Zu einem ökonomischen Klassenkonflikt tritt somit verstärkt ein symbolischer um Werte und legitime Standards.

-Wie in anderen Klassenmodellen ist es auch für Bourdieu wichtig, Ursachen und Prozesse sozialer Ungleichheit zu analysieren.

Kritik an Bourdieus Klassenmodell


-Ist das Modell auf andere Gesellschaften als Frankreich zu anderen Zeitpunkten als für die sechziger/siebziger Jahre übertragbar? Blasius und Winkler (1989) finden beispielsweise in einer Überprüfung für Deutschland Bestätigungen („grobe Unterschiede“ zwischen den Klassen), aber auch Ergebnisse, die Fragen aufwerfen. So äußern sie methodische Kritik am Vorgehen bei der Korrespondenzanalyse, bezweifeln Unterschiede einzelner Gruppen innerhalb der Klassen und machen nicht berufstätige Gruppen, z.B. von Hausfrauen, aus, die Bourdieu nicht berücksichtigt habe.

-Ist das Modell nicht letztlich doch, trotz des Verbindungsgliedes des Habitus, deterministisch angelegt, wobei insbesondere die ökonomischen Faktoren als prägend gelten? Hradil z.B. schreibt: „Für Pierre Bourdieu sind es die homogenen Lebensbedingungen einer sozialen Klasse, welche wiederum zu ‚homogenen Konditionierungen und Anpassungsprozessen’ führen und so die Handlungsdisposition ‚Habitus’ hervorbringen. Bourdieu verfolgt somit, trotz seiner unkonventionellen Wortwahl, die ganz konventionellen deterministischen Vorstellungen, die in der Klassentheorie schon immer ... vorherrschen“. Honneth kritisiert ebenfalls den „utilitaristischen Rahmen“ (1984: 162) Bourdieus als zu eng: „Die ökonomischen Zentralbegriffe ... zwingen ihn, alle Formen sozialer Auseinandersetzungen nach dem Typus von Verteilungskämpfen zu begreifen, obwohl doch der Kampf um die soziale Geltung von Moralmodellen ganz offensichtlich einer anderen Logik gehorcht.“ . A. Weiß stellt in Frage, warum heterogene soziale Ungleichheiten in einer einheitlichen Struktur des sozialen Raums münden sollten.

-Berücksichtigt das Modell sozialen Wandel in ausreichendem Maße? Einerseits gibt es ja beispielsweise den Aspekt der sozialen Laufbahnen. Andererseits schließt das Konzept zwar nicht aus, dass sich der Habitus wandeln kann (insbesondere in differenzierten, modernen Gesellschaften), doch schließt er auch Momente der Stabilität und Trägheit ein, ein Habitus ändert sich gerade nicht von heute auf morgen grundlegend. Wie kann das Modell dann den Wandel genau erklären?

- H.-P. Müller weist auf einige Unklarheiten des Modells und weitere Kritikpunkte hin, z.B. sei der Zusammenhang zwischen Klassen und Berufsgruppen recht locker ohne nähere Begründungen (ist z.B. der Habitus klassen-, klassenfraktions- oder berufsgruppenspezifisch?). Bourdieu nennt die Bedeutung der Familie, ohne in der Konsequenz Sozialisationsprozesse genauer zu untersuchen. Weil zumindest „Die feinen Unterschiede“ wenig auf qualitativem Material beruhen, erfährt man in dieser Untersuchung wenig über die Gebrauchsweisen der Kultur. Funktionieren kulturelles und soziales Kapital nach der Logik des ökonomischen Kapitals oder gibt es nicht doch größere Wesensunterschiede?

Soziale Lagen/Lagemodelle (nach Hradil)


-Das Konzept sozialer Lagen hat das Ziel, alternativ zu Klassen und Schichten ein Modell zu entwickeln, das mehr Dimensionen der sozialen Ungleichheit erfasst und das damit für alle (erwachsenen) Gesellschaftsmitglieder alle relevanten Merkmale berücksichtigen kann. Es soll auf diese Weise die Berufszentriertheit, die z.B. auch erweiterten Schichtmodellen noch als verengte Sichtweise vorgeworfen wird, überwinden. Hradil definiert „soziale Lagen“ allgemein wie folgt: Es sind „typische Kontexte von Handlungsbedingungen, die vergleichsweise gute oder schlechte Chancen zur Befriedigung allgemein anerkannter Bedürfnisse gewähren“ (1987: 153). Charakteristische Merkmale eines Lagemodells sind:


-Es ist mehrdimensional. Als Oberdimensionen schließt es neben ökonomischen Ungleichheiten z.B. auch wohlfahrtsstaatlich erzeugte (z.B. soziale Absicherung, Arbeits- und Freizeitbedingungen) und soziale Ungleichheiten (z.B. soziale Beziehungen, Privilegien/Diskriminierungen) mit ein. Hradil erläutert: „So mag beispielsweise die Lebenslage eines Menschen durch geringe Einkünfte, viel Freizeit, eine billige, gesundheitlich und ökologisch gut gelegene Wohnung, hohe Integration in die Gemeinde, schlechte Arbeitsbedingungen im Schichtdienst und geringe Qualifikation gekennzeichnet sein.“ (1999: 40). Statusinkonsistenzen können Forscher auf diese Weise berücksichtigen.

- Die Dimensionen sind nicht additiv miteinander verbunden. Hradil unterscheidet zwischen primären oder dominierenden Ressourcen (wenn jemand z.B. sehr viel oder sehr wenig Geld zur Verfügung hat, ist dies ein wichtiger Hinweis auf die Dominanz dieses Merkmals) und weniger wichtigen Dimensionen für jeweils bestimmte Lagen. In einer Lage könnte also das Geld primäre Ressource sein, in einer anderen dagegen die formale Bildung (die „dominante“ Ressource erinnert an T. Geigers dominantes Schichtungsprinzip, das anstatt für eine Epoche nun jeweils für eine soziale Lage angewandt wird). Der Ansatz will Kontexteffekte und Kompensationsmöglichkeiten von Dimensionen untereinander durch diese nicht additive Verknüpfung der Dimensionen berücksichtigen. Schwenk hält es in einer empirischen Umsetzung für schwierig, Gewichtungen einzelner Merkmale im Vorhinein festzulegen. Er will daher die Dimensionen vorläufig gleichgewichtig behandeln, eine spätere Untersuchung von Lage-Konstellationen kann dann gegebenenfalls die Dominanz bestimmter Lebensbedingungen herausstellen. Das Ziel, charakteristische Lage-Profile mit lebensweltlicher Nähe zu entwickeln, behält er bei.

-Lagen bilden in erster Linie die „objektiven“ Lebensbedingungen ab. Wie die Menschen die ungleichen Lebensbedingungen wahrnehmen und in einer konkreten Handlungspraxis mit ihnen umgehen, müsste ein weiterer Untersuchungsschritt klären (Hradil schlägt beispielsweise vor, die Lagen mit Milieus zu verknüpfen, welche als Filter oder Verstärker der ungleichen Lebensbedingungen wirken können; 1987: Kap. 4.3). Während etwa die Lebensstilforschung einen Schwerpunkt auf die Handlungspraxis legt und oft auf dieser Basis gebildete Typen auf mögliche Einflussfaktoren prüft, setzen die sozialen Lagen auf der „anderen“ Seite an. Eine sorgfältige Beschreibung der komplexen Lebenslage ist danach für weitere Forschungen nützlicher als ein Arbeiten mit einzelnen Merkmalen (z.B. Bildungsabschluss) oder sozialen Schichten.

-Aus der Konstruktion der Lagen ergibt sich, dass diese nicht notwendig hierarchisch übereinander angeordnet sein müssen. Zwar geben die Vertreter die Vorstellung eines Strukturmodells nicht auf, es lassen sich etwa eindeutig vorteilhafte bzw. nachteilige Lebensbedingungen identifizieren. Von einer strikt vertikalen Anordnung gehen sie jedoch nicht aus.


-Obwohl Hradil den Begriff der sozialen Lage nicht „erfunden“ hat, hat er ihn innerhalb neuerer Konzepte zur sozialen Ungleichheit vor allem durch seine Veröffentlichung von 1987: „Sozialstrukturanalyse in einer fortgeschrittenen Gesellschaft. Von Klassen und Schichten zu Lagen und Milieus“ bekannt gemacht. Der Gedanke der Mehrdimensionalität (hier insbesondere auf der Strukturebene) ist dabei charakteristisch, aber ebenfalls nicht neu, wenn man sich die vorigen Kapitel in Erinnerung ruft (z.B. Weber, Geiger, Lenski; bei den neueren Ansätzen z.B. Bourdieu). Bereits die früheren Autoren standen vor der Schwierigkeit, die vielfältigen Dimensionen in ein (noch übersichtliches) Strukturmodell sozialer Ungleichheit umzusetzen. Hradil konkretisiert seine Überlegungen in einem Modell sozialer Lagen mit primären und sekundären Dimensionen. Die Lagebezeichnungen rücken dabei die Stellung im oder zum Erwerbsleben weiterhin in den Vordergrund


-Den Begriff der sozialen Lagen verwenden außerdem etwa auch Habich/Noll (2008). Sie verstehen soziale Lagen in einem weiteren Sinne als Schichten oder Klassen, insofern sie „weitere Ungleichheitsdimensionen [umfassen], darunter auch so genannte neue soziale Ungleichheiten, die alte Ungleichheiten überlagern, verstärken oder abschwächen können. Daher werden neben objektiven Merkmalen der Benachteiligung zum Teil auch subjektive Merkmale betrachtet“ (Habich/Noll 2008: 173). Unter anderem wird nach dem Erwerbsstatus (inklusive einiger nicht erwerbstätiger Gruppen, z.B. Rentner), dem Geschlecht, der Region (Ost-/Westdeutschland) und dem Alter differenziert


—>Kennzeichnend für mehrdimensionale Ungleichheitsmodelle wie dem der sozialen Lagen oder der Intersektionalität ist zusammenfassend, dass sie durch die Berücksichtigung vielfältiger Ungleichheitsmerkmale eine differenzierte Beschreibung von („objektiven“) Lebensbedingungen anstreben und somit einen Vorteil auch gegenüber neueren Schichtmodellen beanspruchen, die nach wie vor auf die Berufstätigkeit und vorrangig auf die vertikale Ebene sozialer Ungleichheit konzentriert seien

Kritik an Lagemodellen


-Kritisch lassen sich, ohne auf die Details der Modelle einzugehen, an dieser Stelle zwei Punkte anführen:

-Zum einen verweist z.B. H.-P. Müller darauf, dass Hradils Modell sozialer Lagen für eine einfühlsame Deskription von empirischen Lebensverhältnissen gut geeignet sein möge, jedoch keinen Erklärungsbeitrag leiste, also z.B. nichts darüber aussage, wie Lagen mit Milieus verknüpft sind. Geißler formuliert noch schärfer, dass die Milieus frei über den Lagen schwebten und Hradil den Zusammenhang zwischen Struktur- und Handlungsebene nicht herstelle. Hradil sieht dagegen den deskriptiven Anspruch nicht einseitig als Nachteil. Um die Vielfalt der Bestimmungsgründe sozialer Ungleichheit zu erfassen, komme den beschreibenden Modellen „logische und zeitliche“ Priorität zu. Ebenso ist Noll der Ansicht, dass verallgemeinernde Aussagen über die gegenwärtige Struktur sozialer Ungleichheit nicht angemessen sind, sondern dass detaillierte komparative Studien unter der Berücksichtigung mehrerer Staaten benötigt werden

-Als einen zweiten kritischen Punkt gegen (Hradils) Lagemodell sieht Müller, dass sich gerade die nichts ausschließende Komplexität empirisch schwer umsetzen lasse. Schwenks Arbeit ist ein Versuch, dieses mögliche Manko zu widerlegen, doch zeigt sich an seiner Umsetzung des Konzepts, dass er empirisch einige Eingrenzungen machen musste. Beispielsweise konnte er keine primären Ressourcen oder andere systematische Gewichtungen festlegen. Auch muss man eine Auswahl konstituierender Merkmale treffen (z.B. berücksichtigt Schwenk – dies übrigens im Unterschied zu Geißlers Schichtmodell – die Nationalität nicht als Merkmal). Der Unterschied, den Hradil zwischen Lagemodellen macht, die die unmittelbar erfahrbaren Lebensbedingungen eines Menschen erfassen und solchen (z.B. vom WZB), die Bestimmungsgründe von Lebensbedingungen festlegten, von denen man nur mittelbar auf die Lebensbedingungen schließen

-Lebensstil- und Milieumodelle betonen beispielsweise oft den prägenden Einfluss von Alter und Geschlecht. In Schwenks Lagemodell gehen Wohn(umwelt)-Bedingungen ein, in das Lagemodell von Habich/Noll mögliche Ost-West-Unterschiede, und R. Geißler unterscheidet in seinem Schichtmodell in- und ausländische Gruppen. Weitere Ungleichheitsfaktoren sind etwa der mit dem Geldwohlstand konkurrierende Zeitwohlstand, die „längst tot geglaubte Dimension“ des Unterschieds zwischen städtischen und peripheren ländlichen Gebieten oder auch die Berücksichtigung der subjektiven Wahrnehmung sozialer Ungleichheiten


Prekäre Lagen und Exklusion


-Prekarisierung: Eine vorläufige Zuspitzung, die auch die öffentliche Diskussion über Ungleichheit in den Massenmedien erreichte, ist in Begriffen wie Prekariat (als Wortkombination von prekär und Proletariat) bzw. Prekarität oder „Prekarisierung“, Exklusion, Ausgrenzung von „Überflüssigen“, „Ausgeschlossenen“ oder auch einer „neuen Unterschicht“ zu sehen.

-Gemeinsam ist diesen Begrifflichkeiten, dass sie den Blick auf – teilweise extrem – benachteiligte soziale Lagen richten, wobei soziale Lage hier in einem weiten Sinne gemeint ist, nicht als spezifisches, im vorigen Abschnitt erläutertes Modell. Diese Perspektive auf Benachteiligungen wirkt jedoch auch auf allgemeine Vorstellungen von sozialer Ungleichheit in einer Gesellschaft zurück. Bedingungsfaktoren dieser Veränderungen im Diskurs sind unter anderem – dies kann hier nur in Stichworten angedeutet werden – in der gestiegenen Arbeitslosigkeit zu sehen, damit im Zusammenhang in Prozessen der Flexibilisierung und Deregulierung von Erwerbsarbeit, was sich z.B. auf die Arbeitszeit, die Arbeitsplatzsicherheit, atypische Beschäftigungsverhältnisse wie Leiharbeit etc. richtet.

-„Prekär“ bezog und bezieht sich zu einem Teil insbesondere auf die Prekarität von Arbeitsverhältnissen in diesem Sinne. Schließlich ist die Krise des Wohlfahrtsstaats, der sozialen Sicherungssysteme, zu nennen.


-Exklusion: Bei der Verwendung von Begriffen wie Ausgrenzung und Exklusion richtet sich der Blick nicht auf Benachteiligungen im Allgemeinen, sondern die Begriffe deuten darauf hin, dass eine Grenze überschritten worden ist, hinter der es den Benachteiligten nicht allein deutlich schlechter geht als einem – wie auch immer bestimmten – Durchschnitt der Bevölkerung, sondern hinter der sie nicht mehr eindeutig zur Gesellschaft hinzugehören, in dem Sinne, dass sie ausgeschlossen sind von vielen Konsummöglichkeiten und von gesellschaftlicher Teilhabe. Umgekehrt werden sie für ein Funktionieren des gesellschaftlichen Ganzen scheinbar auch nicht zwingend benötigt, wenn z.B. ihre Arbeitskraft auf dem Arbeitsmarkt dauerhaft keine Nachfrage findet.

-Exklusion zielt in der Armutsforschung außerdem oft darauf ab, kumulierende Benachteiligungen zu erfassen, wenn z.B. der Verlust der Arbeitsstelle dazu führt, dass man weniger konsumieren kann, in eine kleinere Wohnung umziehen muss, sein Auto verkauft und schließlich weniger soziale Kontakte hat, was wiederum eine schlechte Ausgangsbedingung dafür darstellt, eine neue Arbeitsstelle zu finden. Schließlich bildet Exklusion im Begriffspaar Inklusion – Exklusion innerhalb der Differenzierungstheorie eine Möglichkeit, die vorrangige Perspektive einer funktionalen Differenzierung von Gesellschaft in verschiedene Teilsysteme mit Aspekten der (vertikalen) sozialen Ungleichheit zu verknüpfen

-Exklusion bedeutet differenzierungstheoretisch im engeren Sinne zunächst, dass Personen aus der Blickrichtung von Teilsystemen nur in einer ganz bestimmten Weise wahrgenommen, inkludiert, werden, nämlich hinsichtlich ihres binären Codes. Dies bedeutet für das Gesundheitssystem etwa, dass jemand nur danach beurteilt wird, ob er krank oder gesund ist. Seine Bildungsqualifikation oder ob er zugleich in einen Rechtsstreit verwickelt oder Wähler ist, spielt hier keine Rolle. Richtet sich das Teilsystem allerdings in seiner spezifischen Ausrichtung nicht an alle Gesellschaftsmitglieder, so ist dies begründungspflichtig, daher wurden in modernen Gesellschaften solche prinzipiellen Exklusionen reduziert

-Diese Sicht von Exklusion als noch nicht inkludiert im historischen Verlauf ist zu unterscheiden von Ausgrenzungen dort, wo Zugangsrechte prinzipiell gewährt waren, z.B. beim dauerhaften Verlust des Arbeitsplatzes


-Der soziale Wandel, auf den die ungleichheitstheoretische Diskussion reagiert, muss nicht zu einem vorrangigen Blick auf allein vertikale Abgrenzungen oder – zur Verdeutlichung etwas überspitzt – zur reumütigen Rückkehr zu „alten“ Schichten- und Klassenmodellen führen, sondern Ungleichheitsmodelle können mehrdimensional sein, ohne damit die Beliebigkeit sozialer Lagen zu postulieren. Die Anforderungen an mehrdimensionale Modelle, verschiedene Ungleichheitsmerkmale zu gewichten, das Verhältnis vertikaler und horizontaler Dimensionen zu bestimmen und eine Aussage über die Relationen zwischen den Lagen zu treffen, bleiben allerdings auch hierbei bestehen.

-Die Sicht auf Ungleichheit nimmt mit einer Perspektive auf Prekarisierung und Verunsicherung stärker zeitliche Aspekte in den Blick, als es ein Ungleichheitsmodell tut, das seinen Schwerpunkt auf Ungleichheitsverteilungen zu einem bestimmten Zeitpunkt setzt. Dies schließt Lebensverläufe ebenso ein wie (möglicherweise fehlende) Zukunftsperspektiven und subjektive Aufstiegschancen/Abstiegsängste mit ihren Auswirkungen auch auf die „objektive“ Ebene von Mobilitätsprozessen.

-Begriffe wie Verunsicherung in der Gesellschaftsmitte können damit Chancen bieten, nicht nur eine sachliche, sondern auch eine zeitliche Aspekte betreffende Erweiterung der Ungleichheitsdebatte anzuregen, sofern sie sich auf das Ungleichheitsgefüge als Ganzes beziehen und damit einen auch ungleichheitstheoretischen Anspruch haben.


-Prekäre Lagen und Exklusion richten sich auf auffällige Benachteiligungen in der Gesellschaft, die jedoch auch in die Mitte der Gesellschaft verweisen, sowohl hinsichtlich der zugrundeliegenden Ausgrenzungsprozesse als auch im Sinne der Betroffenheit durch Verunsicherung und Abstiegsangst. Damit trifft diese Perspektive auch Aussagen über die Vorstellung von sozialer Ungleichheit in einer Gesellschaft insgesamt und bietet Potential für die Betonung zeitlicher Aspekte. Ein in sich geschlossenes Modell sozialer Ungleichheit auf dieser Basis, gegebenenfalls in Verbindung mit z.B. Klassen- oder Milieuansätzen, liegt allerdings bislang nicht vor.



Exklusion nach Castel und Prekartät nach Vogel


-Exklusion als Ausgrenzung aus zentralen gesellschaftlichen Zusammenhängen ist also Thema der allgemeinen Ungleichheits- und der Armutsforschung ebenso wie der Diskussion über Schnittstellen zwischen Ungleichheits- und Differenzierungstheorie. Ein Problem besteht darin, dass der Exklusionsbegriff an Schärfe verlieren kann, wenn er sehr heterogen verwendet wird, andererseits in Teilen nur eine dichotome Unterteilung von „drin“ und „draußen“ kennt. R. Castel etwa macht auf die „Fallstricke des Exklusionsbegriffs“, der sich – in Frankreich bereits seit Beginn der 1990er Jahre – zum Allzweckwort entwickelt habe, aufmerksam (2000a). Er sieht die Gefahren

  • dass Exklusion zu unspezifisch und undifferenziert verwendet wird, wenn sie vorrangig „einen Mangel bezeichnet, ohne zu sagen, worin er besteht und woher er kommt“

  • dass die Sicht auf den Zustand des Ausgeschlossenseins bzw. auf die Ausgeschlossenen den Blick auf Prozesse, die zu Exklusion führen, versperrt. Angesichts dessen, dass Exklusion heutzutage meist eine Degradierung, einen Abstieg gegenüber einer früheren sozialen Position bedeute und feste Grenzziehungen z.B. zwischen Prekarisierung und Exklusion unmöglich seien, sei es umso bedeutsamer, Exklusion als „Auswirkung von Prozessen [zu] sehen, die die gesamte Gesellschaft durchqueren und ihren Ursprung im Zentrum und nicht an der Peripherie des sozialen Lebens haben. Zum Beispiel in der Entscheidung von Unternehmen, die Karte der Flexibilität ganz auszuspielen, oder in der Entscheidung des Finanzkapitals, anderswo zu investieren“ .

  • dass schließlich daraus eine sozialpolitisch einseitige Konzentration auf Ausgeschlossene erwachsen könnte. Anstelle eines solchen Fokus auf vermeintliche Randgruppen und damit einer eher technischen Problembehandlung müssten grundsätzlichere Maßnahmen ergriffen werden, um bei den gesellschaftlichen Ursachen von Ausgrenzungsprozessen statt allein bei den Symptomen anzusetzen (a.a.O.). M. Kronauer schließt an, dass der Kampf gegen Exklusion – überdies ein erklärtes Ziel der Europäischen Union – als Wiedereingliederung Ausgegrenzter verstanden auch deshalb zu kurz greife, weil die Verantwortung für Erfolg oder Misserfolg zunehmend auf die Betroffenen verschoben werde, wenn beispielsweise sozialstaatliche Leistungen verstärkt an Vorleistungen gebunden würden

-Gegen die unter Umständen wenig komplexe Unterscheidung, exkludiert oder nicht exkludiert zu sein, setzen einige Autoren, wiederum in Anschluss an Castel, ein Modell dreier Zonen sozialer Kohäsion:

  • Es handelt sich dabei um die Zone der Integration – hier sind gefestigte Arbeitsverhältnisse und stabile soziale Beziehungen charakteristisch –,

  • die Zone der Verwundbarkeit mit Arbeitsplatzunsicherheit und wenig tragfähigen sozialen Netzen in einer insgesamt von Unkalkulierbarkeit geprägten Situation

  • und schließlich die Zone der Abkoppelung oder Entkoppelung, in der sowohl die Beteiligung an Erwerbsarbeit als auch soziale Beziehungen in hohem Maße problematisch sind und es zu sozialer Isolation kommen kann.

-Solch eine Zoneneinteilung, die hier nicht im Einzelnen diskutiert werden kann, vermittelt eine andere Vorstellung von einer Mittelkategorie als solche, in der die „Mitte“ eine Normalität in dem Sinne darstellt, dass hier eine materiell abgesicherte Lebensführung möglich ist – wie es etwa die Vorstellung von Mittelschichten tut. Sondern hier ist bereits die Mittelkategorie systematisch mit prekären Lebenslagen verbunden, was ja auch wiederum anknüpft an den oben angesprochenen Gedanken, dass Exklusionsprozesse im Zentrum der Gesellschaft und ihren Institutionen ihren Ursprung haben. Brisanz erhält diese Aussage vor allem durch die These, dass sich die Zone der Verwundbarkeit, etwa durch den Rückgang unbefristeter Arbeitsverhältnisse, durch hohe Arbeitslosigkeit etc., ausweite


-Prekarität nach Vogel: Hier schließt nun auch der Begriff der Prekarität oder Prekarisierung an. Prekäre Arbeitsbedingungen und weiter gefasst prekäre Lebensverhältnisse stehen dabei im Blickpunkt. Prekär als unsicher oder heikel deutet darauf hin, dass es um Menschen in Lebensverhältnissen geht, die – noch – etwas zu verlieren haben, die also zumindest aktuell nicht am unteren Ende des Ungleichheitsgefüges stehen, deren soziale Position jedoch gefährdet ist. Die Begrifflichkeit des „prekären Wohlstandes“ ist sogar in sozialstatistische Kategorien eingegangen, bezeichnet etwa im Datenreport des Statistischen Bundesamtes die Spanne von 50-75% des durchschnittlichen Haushaltsnettoeinkommens (während unterhalb der 50%-Grenze relative Armut besteht). B. Vogel weist darauf hin, dass prekärer Wohlstand – zusammen mit sozialer Verwundbarkeit – auf „uneindeutige und spannungsreiche soziale Lagen zielt … Denen, die in dieser Zone der Gesellschaft leben, darf in ihrem sozialen und beruflichen Alltag nichts ‚dazwischenkommen’ – nicht der Verlust des Arbeitsplatzes, keine chronische Krankheit, keine Ehescheidung oder andere familiäre Probleme … die eigene Lebens- und Haushaltsführung [gleicht] einem fragilen Kartenhaus, das nur geringer Erschütterungen bedarf, um in sich zusammenzustürzen


-Zugleich „[setzt] die Prekarität des Wohlstands Wohlstand voraus, und das Gefühl der Verwundbarkeit kennen nur diejenigen, denen soziale Sicherheit und Stabilität nicht fremd ist“


Individualisierung-Entstrukturierung sozialer Ungleichheit


-Die Individualisierungsthese (insbesondere von U. Beck) ist eine Position zur sozialen Ungleichheit, die weder die Begriffe Klasse oder Schicht für gewandelte gesellschaftliche Verhältnisse modifiziert noch andere Begriffe wie z.B. Milieu verwendet, um auf diese Art ungleichheitsrelevante Gruppen zu identifizieren. Sie behauptet vielmehr, so der provokante Titel eines Aufsatzes Becks von 1983, dass wir uns „jenseits von Klasse und Stand“ befinden, womit gemeint ist, dass überhaupt keine gesellschaftlichen Großgruppen mehr existieren, die nicht nur rein statistische Zusammenfassungen, z.B. ähnlicher Einkommensgruppen, darstellen. „Objektive“ Bedingungen und „subjektive“ Lebensweise fallen danach recht stark auseinander. Einige Autoren sehen Beck daher als prominentesten Vertreter von Richtungen, die man als Entstrukturierungsansätze oder Auflösungsthesen bezeichnen könnte

-R. Geißler beispielsweise, der selbst für die Beibehaltung des Schichtbegriffs plädiert, deutet und kritisiert die Individualisierungsthese als Übersteigerung von Pluralisierung, wenn Beck „nicht nur eine Pluralisierung, sondern sogar eine Individualisierung der Lebensbedingungen zu erkennen“ meine. Auch H.-P. Müller spricht von „radikalen Strategien“, die das Paradigma strukturierter sozialer Ungleichheit in eine „Phänomenologie“ sozialer Ungleichheit überführen wollen, oder von der Vorstellung eines „Patchworks“ sozialer Unterschiede. Er führt Beck als ein Beispiel für solche Strategien an, die angesichts Pluralisierung und Individualisierung eher eine Beschreibung der Vielfalt sozialer Ungleichheit liefern.

—>Sie versuchen laut Müller, „die verschiedenen Formen und Fragmente sozialer Unterschiede detailliert empirisch zu ermitteln und die Ergebnisse in Einzelbeobachtungen zusammenzufassen, ohne noch den Anspruch eines einheitlichen theoretischen Bezugsrahmens zu erheben. Gerade die Unmöglichkeit, Formen und Wirkungsweisen verschiedener Ungleichheitsfaktoren in einen allgemeinen Rahmen zu integrieren, wird als Ausdruck der Komplexität der Gesellschaft und der Pluralität ungleichheitsbedeutsamer Differenzierungen angesehen.

-Die Individualisierungsthese ist nicht allein eine Position zu Ungleichheitsverhältnissen, sondern zugleich eine Gegenwartsdiagnose für westliche Gesellschaften seit etwa den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts (Individualisierungsschübe gibt es auch in anderen Zeiträumen, zur Individualisierung bei soziologischen Klassikern und anderen Autoren . Die These bündelt gesellschaftliche Entwicklungen in einem charakteristischen Begriff, eben in der Individualisierung, locker verbunden mit weiteren Schlagworten, der „Risikogesellschaft“ bzw. der „Weltrisikogesellschaft“ sowie der „Reflexiven Moderne“


-Nollmann und Strasser verstehen Individualisierung ohnehin vor allem als Deutungsmuster (welches den Einzelnen als Entscheidungszentrum seines Lebens ansieht), das man nicht ohne weiteres auf die Sozialstruktur, etwa auf Entstandardisierung oder auch Desintegration, „hochrechnen“ könne. Folglich widersprechen aus dieser Perspektive Phänomene, die z.B. eher die Restriktionen des Handelns anzeigen, der Individualisierungsthese nicht. Insgesamt kann man für die gesellschaftliche Ebene sagen, dass Individualisierung nicht eine vollkommene Entstrukturierung oder die Aufhebung der sozialen Ungleichheit bedeutet


-Individualisierung ist ein Prozess, der laut U. Beck in modernen Gesellschaften (zumindest in westlichen Gesellschaften) seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts festzustellen ist. Es handelt sich um einen gesellschaftlichen Prozess, in dem die Individuen aus traditionellen Bindungen (z.B. Klasse und Schicht) freigesetzt werden, was neue Freiheiten, aber auch Unsicherheiten mit sich bringt. Neue Formen der Wiedereinbindungen sind nicht mehr in erster Linie durch Großgruppen wie die Klasse vermittelt, die Einbindung (und damit die Grenze der Wahlfreiheiten) erfolgt unter anderem über Institutionen wie den Arbeitsmarkt. Das bedeutet nicht, dass der Einzelne keine Bindungen mehr hat, sie sind nun aber anderer Art, insbesondere in einer längerfristigen Perspektive.

- Auch bestehen bestimmte Ungleichheiten, z.B. zwischen Einkommensgruppen, durchaus fort oder können sich sogar verschärfen. Ein Ungleichheitsgefüge aus stabilen gesellschaftlichen Großgruppen, deren Mitglieder eine identitätsstiftende Bindung zur Gruppe haben oder die sich aufgrund ihrer Zugehörigkeit ähnlich verhalten, gibt es nach dieser Auffassung jedoch nicht mehr. Dann werden die „in allen möglichen ‚Soziotopen’ sich entwickelnden habituellen Eigen- und Besonderheiten, die speziellen Praktiken und Riten, die identitätsstiftenden Emblematiken und Symboliken, die Relevanzsysteme und Wissensbestände, die Deutungsschemata und Distinktionsmarkierungen … zu zentralen Gegenständen einer individualisierungstheoretisch orientierten Diagnose des Wandels der modernen Gegenwartsgesellschaft“

Dimensionen von Individualisierung (nach Beck)


-Beck stellt sich die Frage, welche gesellschaftlichen Entwicklungen sich vor allem seit den sechziger Jahren und insbesondere in Deutschland vollzogen haben, verallgemeinert seine Gedanken aber auch generell auf moderne Gesellschaften. Er stellt fest, dass es einen Individualisierungsschub gegeben hat, der durch drei Dimensionen gekennzeichnet ist:

-1) Freisetzung aus traditionellen Bindungen

z.B. aus Ständen oder sozialen Klassen, aber auch traditionellen Geschlechtsrollen. Durch die Freisetzung gibt es mehr Mobilität und Wahlfreiheiten als vorher. Ein Beispiel ist, dass man seinen Beruf unabhängiger davon wählen kann, welchen Beruf die Eltern haben, Arbeiterkinder müssen nicht unbedingt wieder Arbeiter werden. Auch kann man in höherem Maße selbst entscheiden, ob man z.B. heiratet oder nicht und Kinder hat oder nicht. Man wird etwa als vierzigjährige unverheiratete Frau ohne Kinder nicht mehr gesellschaftlich diskriminiert, man sagt nicht, die Frau habe keinen Mann „abbekommen“. Allgemein sind Handlungsorientierungen, die dadurch entstehen, dass man in eine bestimmte Familie und soziale Lage hineingeboren wurde oder ein bestimmtes Geschlecht hat, geringer geworden. Diese Freiheit hat aber nicht nur positive Seiten, was die zweite Dimension ausdrückt:

2) Entzauberung:

Dadurch, dass es keine festen Handlungsorientierungen mehr gibt, muss man selbst entscheiden, ohne sicher zu wissen, was die richtige Wahl ist. Die Freiheit bringt also auch Unsicherheiten und Risiken mit sich. Heute kann man sich z.B. eher wieder von einem Partner trennen, aber diese Freiheit bringt auch das Risiko mit sich, dass man von seinem Partner verlassen wird und sein Leben dann neu ohne ihn organisieren muss. Eine Frau könnte sich z.B. weniger denn je darauf verlassen, durch eine Heirat lebenslang ökonomisch abgesichert zu sein. Auch bei der beruflichen Wahl ist man auf sich gestellt, es ist unsicher, ob man später eine gute Arbeitsstelle bekommen wird etc. Welchen Beruf der Vater hatte, ist heute kaum noch ein zuverlässiges Kriterium, um eine Wahl zu treffen. In Becks Worten:

„Die handlungsleitenden ‚Meso-Sicherheiten’ sozialer Milieus schmelzen weg, und die Individuen müssen auch innerhalb weiter bestehender Einkommenshierarchien und innerhalb weiter existierender Familien ihre Biographie durch aufbrechende Entscheidungszwänge und Entscheidungsrisiken hindurch selbst planen, organisieren, zusammenhalten, in einem kontinuierlichen Versuch-und-Irrtum-Verfahren“.

Die Risiken werden außerdem verstärkt den einzelnen Individuen zugeschrieben: Wenn jemand z.B. arbeitslos wird, liegt es nahe, dass er sich Mühe geben muss und dass er vielleicht früher eine falsche Berufsentscheidung getroffen hat. Selbst wenn man weiß, dass es strukturelle Ursachen der wirtschaftlichen Entwicklung gibt, führen sie nicht mehr z.B. zur Solidarisierung einer Klasse von Arbeitslosen, es sind individualisierte Arbeitslose. Individualisierung kann somit auch als gesellschaftlicher Zurechnungsmodus verstanden werden, der die Selbstverantwortung und Selbststeuerung akzentuiert (so auch Wohlrab-Sahr 1997). Insgesamt bedeutet Individualisierung also mehr Freiheit, aber auch mehr Unsicherheit für das Individuum.


3) Reintegration in die Gesellschaft:

Die Freiheit des Individuums ist nach der Individualisierungsthese nicht unendlich. Es gibt eine neue Art der Wiedereinbindung, nur nicht mehr z.B. durch Klassen vermittelt. Individuum und Gesellschaft stehen sich unmittelbarer gegenüber. Nicht nur gibt es jetzt einen Zwang, sich zu entscheiden (z.B. ob und welchen Beruf jemand ergreift), sondern die Entscheidungen sind begrenzt, vor allem durch Institutionen, also z.B. den Arbeitsmarkt, rechtliche und sozialstaatliche Regelungen usw. Z.B. gibt es die Schulpflicht, wenn man Ärztin werden will, muss man dafür eine bestimmte Ausbildung an der Universität durchlaufen, der Arbeitsmarkt bietet bestimmten Personen (je nach Qualifikation, Branche, räumlicher Mobilität, Wunsch nach Teilzeit etc.) weniger Chancen als anderen etc. Institutionelle Anerkennung von Pluralität (z.B. im Familienrecht) und die Adressierung von (politischen und sozialen) Grundrechten sowie Reformen (z.B. Arbeitsmarktreformen) an das Individuum anstatt an ein Kollektiv sind Bestandteile der von Beck des Öfteren hervorgehobenen „institutionellen Individualisierung“ (z.B. Beck 2008: 303). Neben der Integration durch Institutionen spielt zudem der Modus der Selbstintegration, das heißt das Eingehen freiwilliger Bindungen, eine Rolle

-Beck spricht im Zusammenhang mit Freisetzung und Reintegration auch von Doppelgesichtern der Individualisierung. Die Freiheit ist nur die eine Seite, Restriktionen in neuer Form sind die andere Seite. Ein Beispiel: Frauen sind heute oft qualifizierter als früher und möchten gern einer entsprechenden Erwerbsarbeit nachgehen, aber andererseits lässt der Arbeitsmarkt dies nicht immer zu. Dabei entsteht – wie geschildert – der Eindruck, die Entscheidungen des Individuums hätten zu seiner Situation geführt. Spätestens auf den zweiten Blick sieht man aber die Institutionenabhängigkeit daran, dass es bei zehn Millionen Menschen nicht zehn Millionen ganz unterschiedliche Lebensverläufe gibt.

-Soweit zum Begriff der Individualisierung nach Beck: Eine Freisetzung aus bestimmten sozialen Bindungen wird dabei also begleitet durch Risiken, Unsicherheiten und zudem neue Einbindungen. In diesem Prozess ändert sich das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft. Das Verhältnis wird direkter, es ist nicht mehr in erster Linie vermittelt durch soziale Instanzen wie die soziale Schicht oder Klasse.

-Individualisierung hat zum einen Folgen für das Individuum, es darf und muss wählen und Entscheidungen treffen, dabei muss es auch Handlungsweisen mit anderen abstimmen und auf Risiken gefasst sein. In längerfristiger Perspektive ergibt sich durch diese Wahlfreiheiten der einzelnen eine „Bastelbiographie“, die mehr Varianten aufweist als frühere „Normalbiographien“. Jede bastelt sich seinen Lebenslauf aus den (nicht unendlichen) Möglichkeiten zusammen. Auf der Makroebene bestehen Folgen in der erwähnten Standardisierung und Pluralisierung (z.B. von Formen des Zusammenlebens: verheiratet oder nicht, Kinder oder nicht oder aus einer früheren Beziehung, Alleinerziehende, homosexuelle Paare etc.)

Ursachen von Individualisierung


-Welche Ursachen hatte dieser Individualisierungsprozess? Eine wichtige Ursache ist der wirtschaftliche Aufschwung in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Menschen konnten sich mehr Dinge leisten. Beck nennt dies den „Fahrstuhleffekt“: Nicht die ökonomischen Unterschiede sind verschwunden, sondern die Reicheren sind noch ein bisschen reicher geworden, die Menschen in schlechteren ökonomischen Lagen haben ebenfalls hinzugewonnen. Die meisten haben also ein wenig mehr Geld, die Unterschiede zwischen ihnen sind aber ungefähr gleichgeblieben, alle (jedenfalls viele) sind mit dem Fahrstuhl eine Etage höher gefahren. Gestiegenes Einkommen wird bei diesem Effekt noch dadurch begleitet, dass man bei insgesamt gestiegener Lebenserwartung eine geringere Arbeitszeit (auch Lebensarbeitszeit) hat.

-Inwiefern bewirkte dieser ökonomische Aufschwung Individualisierung? Zwar sind Unterschiede zwischen arm und reich relativ gleichgeblieben, aber dadurch, dass sich auch die Ärmeren, etwa die Arbeiter, mehr leisten können, z.B. ein Auto, Reisen, eine hübsche Wohnung, sind die Ungleichheiten subjektiv weniger wichtig geworden, der potentielle Konflikt zwischen verschiedenen Gruppen sozialer Lage ist weniger wichtig, die individuelle Bindung an eine Klasse verliert an Bedeutung. Für diesen Bedeutungsverlust ist außerdem der Einflussfaktor „Mobilität“ relevant: Durch verstärkte räumliche und soziale Mobilität verbringt man nicht mehr sein ganzes Leben in dem gleichen sozialen Umfeld (man zieht z.B. in eine andere Stadt und/oder wechselt die Arbeitsstelle), auch in diesem Sinne verlieren also traditionelle Bindungen an ihrer unbedingten Bedeutung

-Ein zweiter Grund neben dem wirtschaftlichen Aufschwung ist die wohlfahrtsstaatliche Absicherung, z.B. wird das Studieren durch Bafög möglicherweise erleichtert. Eine Frau, die mit einem Kind ihren Mann verlassen will, muss dadurch vielleicht ökonomische Einbußen hinnehmen, wenn der Mann bisher Haupternährer war und sie auch in Zukunft wegen des Kindes keine Vollzeitstelle annehmen könnte. Sie fällt aber nicht ins finanzielle Nichts, es gibt Unterhaltsregelungen und im Notfall die Sozialhilfe. Solche Umstände können Entscheidungen (z.B. den Partner zu verlassen) erleichtern.

-Ein dritter Grund ist schließlich die Bildungsexpansion in den sechziger Jahren, von der vor allem die Frauen profitiert haben. Mit mehr Ausbildung stehen ihnen mehr Entscheidungsfreiheiten offen, auch ihre Werte verändern sich zum Teil (z.B. weg von traditionellen Idealen oder der Hinnahme von Ungleichheiten). Hinzu kommen gerade für die Situation von Frauen weitere Faktoren, z.B. mehr technische Hilfen bei der Hausarbeit oder eine erleichterte Familienplanung durch die Antibabypille. Ein Ergebnis dieser Entwicklungen und vor allem der Bildungsexpansion ist, dass Frauen und Männer stärker als Paar aushandeln müssen, wer geht wie viel arbeiten, wer macht die Hausarbeit und passt auf die Kinder auf etc. Die Arbeitsteilung ist nicht mehr selbstverständlich, auch wenn sie häufig noch in etwa geschlechtsspezifisch abläuft

-Auf individueller Ebene heißt Individualisierung beispielsweise nicht unbegrenzte Freiheit oder Autonomie, Selbstverwirklichung oder Emanzipation. Er bedeutet aber auch nicht Einsamkeit (nachdem Beck die Existenz von Großgruppen wie der Klasse oder die bestimmende Bedeutung der Familie für alle Lebensentscheidungen verneint, könnte man auf die Idee kommen, das Individuum sei nun einsam). Individualisierung meint „nicht Atomisierung, nicht Vereinzelung, nicht Vereinsamung, nicht das Ende jeder Art von Gesellschaft ... nicht Netzwerklosigkeit“


Soziale Ungleichheit nach Beck und Kritik an Individualisierungsthese


-Zu Becks Perspektive auf Ungleichheit lässt sich nun nochmals auf der Basis dieser Erläuterungen sagen: Nicht Klassen- und Schichtmodelle in neuer Form, nicht Modelle mit anderen Begriffen, sondern die Verneinung von Großgruppen überhaupt scheint angemessen. Da die Ungleichheitsrelationen ähnlich bleiben, wie beim Fahrstuhleffekt erklärt, handelt es sich nicht um eine Entstrukturierung der Gesellschaft, nicht um eine Auflösung von Ungleichheiten und damit auch nicht um eine Neuauflage von Schelskys „nivellierter Mittelstandsgesellschaft“, aber man kann laut Beck die Sozialstruktur mit Großgruppen nicht mehr angemessen beschreiben:

„Wir leben trotz fortbestehender und neu entstehender Ungleichheiten heute in der Bundesrepublik bereits in Verhältnissen jenseits der Klassengesellschaft … Auf der einen Seite sind die Relationen sozialer Ungleichheit in der Nachkriegsentwicklung der Bundesrepublik weitgehend konstant geblieben. Auf der anderen Seite haben sich die Lebensbedingungen der Bevölkerung radikal verändert [durch den Fahrstuhleffekt, N.B.] … In der Konsequenz werden subkulturelle Klassenidentitäten und -bindungen ausgedünnt oder aufgelöst. Gleichzeitig wird ein Prozess der Individualisierung und Diversifizierung von Lebenslagen und Lebensstilen in Gang gesetzt, der das Hierarchiemodell sozialer Klassen und Schichten unterläuft und in seinem Wirklichkeitsgehalt in Frage stellt“

-„Individualisierung ist allerdings kein bloß subjektiver Sachverhalt, demgegenüber eine objektive ‚Sozialstruktur’ der ‚Klassen’ und ‚Schichten’ fortbesteht, die für das Denken der Individuen verschlossen ist. Individualisierung ‚verflüssigt’ die ‚Sozialstruktur’ der modernen Gesellschaft“ (2001: 3).

—>Diese Position steht im Gegensatz z.B. zu der These Geißlers, dass die moderne Schichtstruktur durchaus weiterhin besteht, jedoch in weiten Teilen latent und der Alltagsbeobachtung schwerer zugänglich ist. Beck nimmt hier allerdings nur die Position dazu ein, was es nicht mehr gibt (nämlich z.B. Klassen), bestreitet dabei auch Ungleichheit nicht. Beck legt jedoch mit der Individualisierungstheorie kein eigenes Modell dafür vor, wie man Ungleichheit in der Gesellschaft dann heute noch erfassen kann. Er spricht davon, dass es zeitlich begrenzte Zusammenschlüsse geben kann, es gibt also noch Bindungen und Interessengruppen, z.B. bei Bürgerinitiativen. Dies ist aber nur ein spezielles Beispiel. Es sagt nichts darüber aus, wie die Ungleichheitsstruktur einer Gesellschaft insgesamt soziologisch zu erfassen wäre

-Individualisierung wird mit anderen Konzepten der Ungleichheitsforschung teilweise verknüpft. So beruft sich insbesondere die Lebensstilforschung der 1980er und 1990er Jahre oft auf die Individualisierung. In Einleitungen etwa ist dort häufig zu lesen, Individualisierung und Pluralisierung hätten dazu geführt, dass Klassen- und Schichtmodelle an Erklärungskraft verloren und sich dafür differenzierte Lebensstiltypen oder Milieus herausgebildet hätten, die über- und nebeneinanderliegen, sich zum Teil auch überlappen.

-Trotz der vielfältigen Kritik an Becks Ausführungen stellen die meisten Autoren einige Grundzüge des beschriebenen Prozesses kaum in Frage. Einige Autoren bezweifeln jedoch den oft selbstverständlich hergestellten Zusammenhang von Individualisierung als Ursache einerseits und Pluralisierung und Ausbildung von Lebensstilen als Folge andererseits. Huinink und Wagner beispielsweise sind der Ansicht, dass „Individualisierung weder eine notwendige, noch eine hinreichende Voraussetzung für Pluralisierung von Lebensformen ist“ (1998: 92). Nicht nur werde die Homogenität von Lebensformen in stratifikatorisch differenzierten Gesellschaften oft überschätzt und die homogenisierende Wirkung von Reintegrationsmechanismen nach einem Abbau traditionaler Selbstverständlichkeiten gleichzeitig unterschätzt. Es käme hinzu, dass (insbesondere in Teilgruppen der Bevölkerung) auch bei normativ schwachen Vorgaben homogenes Verhalten entstehen kann, wenn es sich als erfolgreich im Rahmen der Lebenslage dieser Teilgruppe erwiesen hat

-Konietzka bezweifelt die Verknüpfbarkeit von Individualisierung (soweit belegbar) und der Ausbildung von Lebensstilen. Becks Argumentation richte sich eher auf die Rahmenbedingungen des Handelns, auf die Lebenslage, als auf das Handeln selbst, wie dies bei Lebensstilen der Fall sei. Zudem könne man sich entweder dafür entscheiden, Lebensstile oder stattdessen Individualisierung als neue Vergesellschaftungsform anzusehen. Beides gleichzeitig schließe sich aus, weil Individualisierung das Individuum als „Reproduktionseinheit des Sozialen“ ansehe und damit jede gruppenspezifische Sicht ablehne. Schließlich sieht Konietzka einen Widerspruch zwischen den neuen Kontrollstrukturen, der Institutionenabhängigkeit und Standardisierung bei Beck einerseits und andererseits den Lebensstilen, die trotz bestimmter Strukturbindungen die Präferenzen der Individuen (man müsste hinzufügen: teilweise) stärker betonen

-Eine solche Position ist jedoch auch dann, wenn man Individualisierung nicht als vollständige Entstrukturierung versteht, aus theoretischer und empirischer Sicht umstritten. Individualisierung als vollständige Entstrukturierung wird insgesamt nicht nur von kritischen Stimmen abgelehnt, sondern ist gar nicht zwingend eine Aussage der Individualisierungsthese selbst


Verzeitlichung sozialer Ungleichheit (nach P.A. Berger)


-Eine ähnliche Betonung instabiler Strukturen wie bei Beck und zumindest von Tendenzen der Entstrukturierung findet man bei Peter A. Berger. Insbesondere macht er auf die Bedeutung einer verzeitlichten oder dynamisierten Perspektive sozialer Ungleichheit aufmerksam, darauf also, dass Personen ihren Status im Lebenslauf zunehmend häufiger wechseln. Zu dieser Bewegung in Strukturen tritt noch die Bewegung von sozialen Strukturen (in geraffter Form z.B. Strukturen Ostdeutschlands nach der Vereinigung). Diese Perspektive bedeutet auch bei Berger nicht die Annahme einer vollkommenen Entstrukturierung oder die Auflösung sozialer Ungleichheiten überhaupt. An verschiedenen Stellen seiner Veröffentlichungen finden sich Hinweise darauf, z.B. heißt es: Die „inter- und intragenerationellen Auflockerungstendenzen im westdeutschen Mobilitätsregime sind freilich nicht gleichbedeutend mit einer Außerkraftsetzung hergebrachter Mechanismen der Statusvererbung oder gar einem ‚Ende’ der Reproduktion sozialer Ungleichheiten

-Dennoch sieht er es als Mangel der bisherigen Sozialstrukturanalyse, die Verzeitlichung von Ungleichheiten und die Dauer des Verbleibs in einer bestimmten Lage zu wenig zu beachten. Selbst bei mehreren betrachteten Zeitpunkten neige sie dazu, Stabilität zu überschätzen und Fluktuationen zu unterschätzen. Die Armutsforschung kann beispielsweise zeigen, dass eine relative Konstanz von Armutsanteilen zu zwei Zeitpunkten mit erheblichen Zu- und Abgangsbewegungen innerhalb dieses Zeitraums verbunden sein kann. Berger kommt zu dem Schluss, dass es zwar einerseits in bestimmten Hinsichten durchaus ausgeprägte „meritokratische“ Züge der gegenwärtigen „Erwerbsgesellschaft“ gebe, dass es aber andererseits „wachsende Instabilitäten und Unsicherheiten“ gibt, „die die strukturprägende und legitimierende Kraft der meritokratischen Triade aushöhlen“ – und dies nicht nur am unteren Ende der Statushierarchie. Diese Instabilitäten, allgemein die Dauer des Verbleibs in sozialen Lagen (in einem weiten Wortsinn) müsste die Ungleichheitsforschung konsequent als Element der objektiven Lebensbedingungen berücksichtigen

-Zunehmende Instabilitäten und Diskontinuitäten sieht Berger nicht einseitig als Gefahr für die soziale Integration an. Kurze Verbleibdauern in einem Status können zwar zu einer Schwächung der Integration führen, möglich ist aber auch eine flexiblere Haltung gegenüber vormals fremden Normen und Lebensstilen als Basis für eine andere Form der Integration als zuvor. So ist nicht a priori entscheidbar, ob sich eher eine Statusunsicherheit oder Erfahrungsvielfalt ergibt. Diese Ambivalenz entspricht auf einer kollektiven Ebene dem Doppelgesicht von Individualisierung für die Einzelnen, die als Chance, aber auch als Risiko zum Ausdruck kommen kann (Berger 1996). Eine empirische Prüfung von Häufigkeitsverteilungen zwischen den beiden Polen nimmt er allerdings nicht vor. Berger versucht jedoch, hinsichtlich von Erwerbsverläufen eine Bündelung von Befunden zu sozialstrukturellen Bewegungen vorzunehmen, indem er „Bewegungstypen“ ausmacht: Aufsteiger, Stetige, Unstetige und Absteiger. Diese verbindet er in einem nächsten Schritt mit Formen der alltäglichen Lebensführung

-Berger ist sich dabei allerdings bewusst, dass man bei der Berücksichtigung weiterer Faktoren (als nur von Erwerbsverläufen) und weiteren Untersuchungszeitpunkten Stabilitätsquoten fast beliebig „klein rechnen“ kann. Das Schema ist somit eher als ein heuristischer Schritt zu werten, um die Forderung nach einer dynamischen Sicht nicht im luftleeren Raum enden zu lassen


-Mit dem Hinweis auf die zentrale Rolle von Personen und ihren Statusverläufen setzt Berger sich von mehr die Makroebene betonenden Ansätzen wie Klassenmodellen ab. Andererseits nimmt er mit der konsequenten Berücksichtigung von Ungleichheitsdynamiken (und zwar nicht nur in, sondern auch von Strukturen) eine zentrale Forderung der Klassenansätze auf, die diese von Schichtmodellen und teilweise auch anderen neueren Ansätzen sozialer Ungleichheit unterscheiden. Die Konsequenz, mit der Berger auf die Instabilität von (andererseits nicht vollkommen negierten) Ungleichheitsstrukturen hinweist, bringt seinen Ansatz in die Nähe der Argumente von Becks Individualisierungsthese


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Maya G.

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