Welche Mythen gibt es zu Kindeswohlgefährdung?
• Kindesmisshandlung beinhaltet immer körperliche Gewalt
(-> Vernachlässigung, sexuelle, emotionale Misshandlung)
• Nur grausame Menschen misshandeln Kinder
(-> Drogenabhängigkeit, Inkompetenz, psychische Störungen)
• Kindesmisshandlung gibt es nur in „auffälligen“ Familien
(-> alle Kulturen und Sozialschichten)
• Misshandelnde sind meistens Fremde
(-> Eltern, Nachbarn, Trainer*innen, Lehrkräfte)
• Aus misshandelten Kindern werden zwangsläufig später wieder Täter*innen
(-> Viele Misshandelnde waren als Kinder selber betroffen, aber viele Betroffene misshandeln später nicht ihre Kinder)
Was steht im Grundgesetzbuch Artikel 6?
(1) Ehe und Familie stehen unter dem besonderen Schutze der staatlichen Ordnung.
(2) Pflege und Erziehung der Kinder sind das natürliche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen obliegende Pflicht. Über ihre Betätigung wacht die staatliche Gemeinschaft
(3) Gegen den Willen der Erziehungsberechtigten dürfen Kinder nur auf Grund eines Gesetzes von der Familie getrennt werden, wenn die Erziehungsberechtigten versagen oder wenn die Kinder aus anderen Gründen zu verwahrlosen drohen.
(4) Jede Mutter hat Anspruch auf den Schutz und die Fürsorge der Gemeinschaft.
Wie sieht die Sicht des Gesetzgebenden aus?
• Würde des Menschen (GG, Art. 1), Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung (GG, Art. 2) für Eltern und Kinder
• „In aller Regel [liegt] den Eltern das Wohl des Kindes mehr am Herzen als irgendeiner anderen Person oder Institution“ (BVerfG)
• Ziel der Persönlichkeitsentfaltung kann am ehesten innerhalb der harmonischen Gemeinschaft des Kindes mit den Eltern erreicht werden
Sog. Elternprimat
Dass Eltern nie optimal erziehen, wird in Kauf genommen.
-> Elternprimat dient Kindeswohl und endet, wo dieses gefährdet ist
Wann liegt eine Kindeswohlgefährdung vor?
Rechtsprechung Bundesgerichtshof (BGH): Kindeswohlgefährdung liegt vor, „wenn
eine gegenwärtige oder zumindest unmittelbar bevorstehende Gefahr für die Kindesentwicklung abzusehen ist,
die bei ihrer Fortdauer eine erhebliche Schädigung des körperlichen, geistigen oder seelischen Wohls des Kindes
mit ziemlicher Sicherheit voraussehen lässt.“
Ebenen: körperlich, geistig oder seelisch
Elterliches Handeln oder Unterlassen
Absichtlich (Missbrauch) oder unabsichtlich (Überforderung, Krankheit der Eltern)
Was steht im §8a des Sozialgesetzbuchs?
Werden dem Jugendamt gewichtige Anhaltspunkte für die Gefährdung des Wohl seines Kindes oder Jugendlichen bekannt, so hat es das Gefährdungsrisiko im Zusammenwirken mehrerer Fachkräfte einzuschätzen.
Soweit der wirksame Schutz dieses Kindes oder dieses Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird, hat das Jugendamt die Erziehungsberechtigten sowie das Kind oder den Jugendlichen in die Gefährdungseinschätzung einzubeziehen und, sofern dies nach fachlicher Einschätzung erforderlich ist, sich dabei einen unmittelbaren Eindruck von dem Kind und von seiner persönlichen Umgebung zu verschaffen.
Abweichend für Berufsgeheimnistragende
Hält das Jugendamt dasTätigwerden des Familiengerichts für erforderlich, so hat es das Gericht anzurufen; dies gilt auch, wenn die Erziehungsberechtigten nicht bereit oder in der Lage sind, bei der Abschätzung des Gefährdungsrisikos mitzuwirken. Besteht eine dringende Gefahr und kann die Entscheidung des Gerichts nicht abgewartet werden, so ist das Jugendamt verpflichtet, das Kind oder den Jugendlichen in Obhut zu nehmen.
Soweit zur Abwendung der Gefährdung dasTätig werden anderer Leistungsträger, der Einrichtungen der Gesundheitshilfe oder der Polizei notwendig ist, hat das Jugendamt auf die Inanspruchnahme durch die Erziehungsberechtigten hinzuwirken. Ist ein sofortiges Tätigwerden erforderlich und wirken die Personensorgeberechtigten oder die Erziehungsberechtigten nicht mit, so schaltet das Jugendamt die anderen zur Abwendung der Gefährdung zuständigen Stellen selbst ein
In Vereinbarungen mit den Trägern von Einrichtungen und Diensten,die Leistungen nach diesem Buch erbringen, ist sicherzustellen, dass
1. deren Fachkräfte bei Bekanntwerden gewichtiger Anhaltspunkte für die Gefährdung eines von ihnen betreuten Kindes oder Jugendlichen eine Gefährdungseinschätzung vornehmen,
2. bei der Gefährdungseinschätzung eine insoweit erfahrene Fachkraft beratend hinzugezogen wird sowie
3. die Erziehungsberechtigten sowie das Kind oder der Jugendliche in die Gefährdungseinschätzung einbezogen werden, soweit hierdurch der wirksame Schutz des Kindes oder Jugendlichen nicht in Frage gestellt wird.
In die Vereinbarung ist neben den Kriterien für die Qualifikation der beratend hinzuzuziehenden insoweit erfahrenen Fachkraft insbesondere die Verpflichtung aufzunehmen, dass die Fachkräfte der Träger bei den Erziehungsberechtigten auf die Inanspruchnahme von Hilfen hinwirken, wenn sie diese für erforderlich halten, und das Jugendamt informieren, falls die Gefährdung nicht anders abgewendet werden kann.
Wann sind nach BGB (bürgerlichem Gesetzbuch) gesetzliche Maßnahmen zu treffen?
Wird das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes oder sein Vermögen gefährdet und sind die Eltern nicht gewillt oder nicht in der Lage, die Gefahr abzuwenden, so hat das Familiengericht die Maßnahmen zu treffen, die zur Abwendung der Gefahr erforderlich sind
Welche gerichtliche Maßnahmen sind zu treffen bei Gefährdung des Kindeswohl?
Zu den gerichtlichen Maßnahmen nach Absatz 1 gehören insbesondere
1. Gebote, öffentliche Hilfen wie zum Beispiel Leistungen der Kinder- und
Jugendhilfe und der Gesundheitsfürsorge in Anspruch zu nehmen,
2. Gebote, für die Einhaltung der Schulpflicht zu sorgen,
3. Verbote, vorübergehend oder auf unbestimmte Zeit die Familienwohnung oder eine andere Wohnung zu nutzen,
4. Verbote, Verbindung zum Kind aufzunehmen oder ein Zusammentreffen mit dem Kind herbeizuführen,
5. die Ersetzung von Erklärungen des Inhabers der elterlichen Sorge,
6. die teilweise oder vollständige Entziehung der elterlichen Sorge.
Wie häufig wird Gewalt in der Erziehung angewendet?
Gewalt in der Erziehung
• 67% der Jugendlichen berichten, dass Eltern Regelverstöße im Gespräch klären
• 85% der Eltern befürworten Gespräche als Reaktion auf Regelverstöße
• 60% der Eltern: leichte körperliche Strafen (Klaps, leichte Ohrfeige)
• 14% der Eltern: schwere körperliche Strafen (Prügel, Schlagen mit Gegenstand)
Wie ist Kindesmisshandlung definiert?
Kindesmisshandlung ist eine nicht zufällige bewusste oder unbewusste gewaltsame psychische oder physische Schädigung, die in Familien oder Institutionen geschieht und die zu Verletzungen, Entwicklungshemmungen oder sogar zum Tod führt und die das Wohl und die Rechte des Kindes beeinträchtigt oder bedroht.“ (Bundesfamilienministerium)
Welche Faktoren beeinflussen die Folgen von Kindesmisshandlung?
• Schwere der Misshandlung
• Alter des Kindes
• Alter, in dem Misshandlung begonnen hat
• Dauer der Misshandlung
• Häufigkeit der Misshandlung (insbes. einmal vs. öfter)
• Kontext (z. B. Familie vs. Schule vs. Waldweg)
Welche Formen der Kindesmisshandlung gibt es?
• Vernachlässigung
• Körperliche Misshandlung
• Psychische Misshandlung
• Sexualisierte Misshandlung
-> Debatte: Missbrauch vs. Gewalt vs. Misshandlung
Wie wird Vernachlässigung definiert?
Andauernde oder wiederholte Unterlassung fürsorglichen Handelns von Sorgeberechtigten, das zur Sicherstellung der physischen und psychischen Versorgung des Kindes notwendig wäre. Diese Unterlassung kann bewusst oder unbewusst erfolgen.
Kind dauerhaft
unzureichend ernährt
unzureichend gekleidet
unzureichend medizinische versorgt
emotional depriviert
-> Gilt als häufigste Form der Kindesmisshandlung
Welche Möglichen Folgen hat die Vernachlässigung?
Ungepflegtes Erscheinungsbild (Zahnschäden etc.)
Unterernährt
Physische und psychische Entwicklungsstörungen
Mangelnde Teilhabe am gesellschaftlichen Leben
Verletzung und Tod
Welche möglichen Gründe gibt es zur Vernachlässigung?
Sorgeberechtigte
• Unzureichendes Wissen, Fähigkeiten und Einsichten
• Überforderung mit besonderen Herausforderungen
• Substanzabhängigkeit
• Psychische Störung
Wie wird körperliche Misshandlung definiert?
Alle Formen der körperlichen Gewaltanwendung
z.B. Prügel, Schläge mit Gegenständen, Treten, Kneifen, Verbrennen, Vergiften, Würgen, Ersticken, Schütteln
Welche möglichen Folgen haben körperliche Misshandlungen?
• Prellungen, Knochenbrüche, Hämatome etc.
• Beeinträchtigung der kognitiven Leistungsfähigkeit (Sprache, schulische Leistung)
• Mangel an Konzentration
• Verhaltensauffälligkeiten (Aggressionsbereitschaft)
• Störungen des Sozialverhaltens
• Störungen im Selbstbild und Selbstvertrauen
• Delinquenz
• Substanzabhängigkeiten
Wie sieht die Prävalenz zu körperlichen Mishandlung aus?
• 3621 von der polizeilichen Kriminalstatistik erfasste Fälle
• Ca. 40 von 10.000 Kindern unter 14 Jahren
• Hohe Dunkelziffer
• Opfer: 56% Jungen
• Täter: 56% Männer, überwiegend Verwandte
• 98% polizeiliche Aufklärungsquote
Wie wird psychische Misshandlung definiert?
Auch „seelische“ oder „emotionale“ Misshandlung
Umfasst ungeeignete und unzureichende, nicht dem Alter angemessene Handlungen und Beziehungsformen und -verhältnisse von Sorgeberechtigten zu Kindern in Form von Ablehnung, Überforderung, Herabsetzen, Demütigung, Ängstigen, Terrorisieren, Isolation, Ausbeutung und Verweigerung emotionaler Zuwendung und Unterstützung, auch massive Parentifizierung oder Überbehütung.
Auch physische und sexuelle Misshandlung und Vernachlässigung stellen psychische Misshandlung dar
Auch die Misshandlung des anderen Elternteils ist psychische Misshandlung des Kindes
Wie ist sexuelle Misshandlung definiert?
Sexuelle Handlungen vor oder an Kindern, die gegen den Willen des Kindes vorgenommen werden oder denen das Kind aufgrund seiner Unterlegenheit im körperlichen, psychischen, kognitiven oder sprachlichen Bereich nicht bewusst zustimmen kann. Der Täter oder die Täterin nutzt die eigene Überlegenheit oder seine/ihre Autoritätsposition aus, um eigene Bedürfnisse zu befriedigen.
Mit/ohne Körperkontakt
Mit/ohne Penetration
Mit/ohne physischer Gewalt
Consent von Kindern (möglich) vs. informed consent von Kindern (nicht möglich)
Warum Schweigen soviele über sexuellen Missbrauch?
Täter*innen drohen Kindern massiv, damit sie schweigen
Jüngere Kinder: Problemen beim Verbalisieren, mangelnde Glaubwürdigkeit
Ältere Kinder: Gefühle von Erniedrigung & Demütigung
Schuldgefühle Betroffener
Loyalitätskonflikte mit anderen Familienmitgliedern
Schweigen und „Übersehen“ in den Familien
Besonders schwierig: weibliche Täter und/oder männliche Opfer
Wie sieht die Prävalenz zu sexuellem Missbrauch aus?
• 12019 von der polizeilichen Kriminalstatistik erfasste Fälle
• Ca. konstant über die letzten 10 Jahre
• Opfer: 74% Mädchen
• Täter*innen: 86% Männer, ca. 1/3 minderjährig
• Täter*innen: ca. 22% Verwandte, 22% Bekannte, 12% flüchtige Bekannte, 38% Fremde
• 86% polizeiliche Aufklärungsquote
Was gibt es zu den Täterinnen von sexuellem Missbrauch zu sagen?
• 1,4% der Männer in Deutschland (gibt auch Frauen)
• Einschließlich 0,4% Missbrauch gegen Bezahlung
• 84% ohne Vorstrafe für Sexualdelikte
• Nur 66% sexuelle Fantasien mit Kindern
• Antisoziale Merkmale (Missachtung sozialer Normen, Rücksichtslosigkeit)
• Max. zwei Jahre in Beziehung zu einem Erwachsenen
• Wahrnehmung eines Risikos für erneute Kindesmisshandlung
• Eigene sexuelle Viktimisierung
• Nicht-biologische Familienmitglieder häufiger
• 20% Interesse an Therapie
-> Die meisten sind Lehrer, Betreuer, Pfarrer, Trainer
Welche Risikofaktoren gibt es für Kindesmisshandlungen?
Ökonomisch: Arbeitslosigkeit, Armut, Schwierigkeiten im Umgang mit Geld, Obdachlosigkeit
Soziale Situation: schwieriges Wohnumfeld, Isolation, wenig unterstützende Institutionen, schlechte Kooperation mit Schulen etc.
Familiäre Situation: emotionale Spannungen, Scheidung, Alleinerziehung, wenig Hilfe von/schlechte Beziehungen zu Großeltern, Verwandten, Freund*innen
Eltern: Deprivation/Gewalt in eigener Kindheit, Trauma, Behinderung, physische/psychische Krankheit, Sucht, sehr junges Alter, unerwünschte Schwangerschaft, Intelligenzminderung
Kinder: Frühgeburt, Krankheit, geistige/körperliche Behinderung, Schreikinder, (schwieriges Sozialverhalten), (Passivität)
Wann werden Förderungs, Hilfe und Schutz Maßnahmen ausgeübt?
wie sieht der Hilfeprozess aus?
Was tun bei Verdacht auf Kindeswohlgefährdung?
• Ruhe bewahren, nicht unüberlegt handeln
• Nicht ignorieren
• 4-Augen-Prinzip
• Schriftliche Dokumentation (Beobachtungen, Gründe für Handeln oder Nicht-Handeln)
• (Anonym) Rat von Expert*innen einholen (zunächst keine Namen nennen) -> z. B. Jugendamt
• Nicht alleine mit möglichen Täter*innen sprechen
• Kind nicht mit Fragen bedrängen (eigene Überlebensstrategien respektieren)
• Für Fachpersonal: Medizinische Kinderschutzhotline -> https://kinderschutzhotline.de
Was ist kein Faktor, der die Folgen von Kindesmisshandlungen beeinflusst?
Welche Aussage stimmt nicht?
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