Definition von Intelligenz
Linda Gottfredson
Edwin Boring
„Intelligenz ist eine sehr allgemeine geistige Kapazität, die – unter anderem – die Fähigkeit zum schlussfolgernden Denken, zum Planen, zur Problemlösung, zum abstrakten Denken, zum Verständnis komplexer Ideen, zum schnellen Lernen und zum Lernen aus Erfahrung umfasst. Es ist nicht reines Bücherwissen, keine enge akademische Spezialbegabung, keine Testbearbeitungsfähigkeit. Vielmehr reflektiert Intelligenz ein breiteres und tieferes Vermögen, unsere Umwelt zu verstehen, ‚zu kapieren‘, ‚Sinn in Dingen zu erkennen‘ oder ‚herauszubekommen‘, was zu tun ist.“
(Gottfredson, 1997, Intelligence, S.13; Übersetzung nach Rost, 2013, Handbuch Intelligenz)
in der Originalübersetzung wurde „test-taking skills“ mit „Testerfahrung“ übersetzt-
• Operationale Definition:
- Boring (1923): "Intelligenz ist das, was Intelligenztests messen"
Intelligenzmessung: Historische Entwicklung
1/4: Francis Galton (1822-1911)
Intelligenz: inter-individuelle Unterschiede in kognitiven Fähigkeiten
- Vorgehen: Sinnesprüfungen (z.B. Hörschwellenbestimmung), Reaktionszeiten, einfache Gedächtnisleistungen
- James McKeen Cattell (1890): „mental tests“ (-> Standardisierung)
- Aber: Kritik an dieser Art der Erfassung von Intelligenz (u.a. Wissler, 1901):
-> Geringe Zusammenhänge der einzelnen Tests untereinander
-> Keine Zusammenhänge mit Studienerfolg
2/4: Alfred Binet (1857-1911)
kritisiert Spezifität und sensorische Ausrichtung der Verfahren von Galton u.a.
- Hauptargument: höheres Komplexitätsniveau der Messverfahren notwendig
- Auftrag der Schulbehörde: objektives Verfahren entwickeln
- Konstruktion altersspezifischer Aufgaben ("Staffeltest")
- Kriterium: Aufgabe wird von Mehrheit der Kinder einer gegebenen Altersgruppe (50-75%), aber i.A. nicht von jüngeren Kindern gelöst
• Binet & Simon (1905): Beispielaufgaben
- 6 Jahre: Kennt Morgen und Nachmittag; wiederholt Satz aus 16 Silben
- 7 Jahre: Wiederholt 5 Ziffern; kennt rechts und links
- 8 Jahre: Benennt vier Farben (rot, grün, blau, gelb)
- 9 Jahre: Kennt alle Wochentage; arrangiert 5 Blöcke nach Gewicht
- 10 Jahre: Konstruiert Satz nach 3 vorgegebenen Wörtern (Paris, Glück, Rinnstein)
- 11 Jahre: Findet Absurditäten in widersprüchlichen Feststellungen; definiert abstrakte Begriffe (Gerechtigkeit)
• Berechnung des Intelligenzalters (IA): Dasjenige Alter, das der Leistung eines Kinds beim Intelligenztest entspricht
-> Beispiel: Dieses siebenjährige Kind in dem Beispiel hätte ein Intelligenzalter von 8 Jahren
• Dann wird Intelligenzalter (IA) mit Lebensalter (LA) verglichen:
-> Das Kind in dem Beispiel hätte also eine überdurchschnittliche Intelligenz, da IA = 8 bei LA = 7
-> Quantifizierung: IA-LA = 8-7 = +1
• Probleme der Intelligenzmessung nach Binet
- Bildungsabhängigkeit der Aufgaben
- Vergleich IA und LA über mehrere Altersstufen hinweg problematisch
• Person A: LA = 10, IA = 8, IA-LA = - 2
• Person B: LA = 6, IA = 4, IA-LA = - 2
• Haben A und B den gleichen Intelligenzrückstand?
- Lösung: IA und LA ins Verhältnis setzen
3/4: William Stern (1912)
1871-1938
- IQ = 100 · IA / LA
• Person A: LA = 10, IA = 8, IA-LA = - 2, IQ = 100 · 8/10 = 80
• Person B: LA = 6, IA = 4, IA-LA = - 2, IQ = 100 · 4/6 = 67
-> Intelligenzalter > Lebensalter: IQ > 100
-> Intelligenzalter < Lebensalter: IQ < 100
- Problem: Wenn man davon ausgeht, dass der IQ über die Lebenspanne einigermaßen stabil ist, so müsste nach dieser Formel ein linearer Zusammenhang zwischen Alterszuwachs (LA) und Leistungszuwachs (IA) angenommen werden
- tatsächlich aber: negativ beschleunigte Beziehung und Plateau der Leistung mit etwa 17 Jahren, d.h. Prinzip nur bei Kindern/Jugendlichen sinnvoll, bei denen die Leistung mit zunehmendem Alter ansteigt
4/4: David Wechsler (1939)
1896-1981
- Normierung der Testwerte an der Bezugsgruppe
- z = (x – M) / SD (Abweichung der Leistung vom Mittelwert der Bezugsgruppe relativiert an Streuung; Wie viele Standardabweichungen liegt die jeweilige Person über bzw. unter dem Mittelwert der Vergleichsgruppe?)
- IQ = 100 + 15 · z (d.h., IQ ist ein linear transformierter z-Wert)
- Standardabweichung von 15 wurde gewählt, weil das in etwa der beobachteten Standardabweichung des Stern-IQ für Kinder entspricht
Die Intelligenz wird über die Position in der Referenzpopulation bestimmt (typischerweise: gleiches Alter und ggf. Geschlecht)
- Zentral ist daher die Repräsentativität der Normstichprobe
Intelligenzmessung heute
• Heutzutage basiert die Intelligenzmessung auf dem Ansatz von Wechsler:
IQ = 100 + 15 · z
- Jedem Testwert kann ein IQ-Wert zugeordnet werden
- Überdurchschnittlich: IQ > 115
- Hochbegabung bei IQ > 130 (+ 2 SD)
- Unterdurchschnittlich: IQ < 85
Intelligenzminderung bei IQ < 70 (- 2 SD)
Heutzutage basiert die Intelligenzmessung auf dem Ansatz von Wechsler:
IQ = 100 + 15 · z z = (x – M) / SD
Beispielaufgabe:
Herr K. hat 20 von 40 Aufgaben eines Intelligenztests korrekt gelöst. In der repräsentativen Vergleichsstichprobe werden durchschnittlich 24 der 40 Aufgaben richtig gelöst (SD = 4). Wie hoch ist der geschätzte IQ von Herrn K. in diesem Test?
• Intelligenztests, z.B.:
- Wechsler-Intelligenz Tests (WAIS-IV, WISC-V)
- Intelligenz-Struktur-Test (I-S-T 2000 R)
- Berliner Intelligenzstruktur-Test (BIS-Test)
• Durchführungsdauer typischerweise ca. 90 bis 120 Minuten
• Sehr hohe Reliabilität dieser Tests: rtt ≈ .95
• Durchführung und Auswertung solcher Tests Inhalt des Diagnostikmoduls
Beispiele für Aufgaben aus verschiedenen Intelligenztests
Matrizen
Induktion
Räumlilche Vorstellung
Verbale Analogieaufgaben
Wahrnehmungsgeschwindigkeit
- Empirisch finden sich zuverlässig positive Korrelationen zwischen diesen unterschiedlichen Aufgabenarten
g-Faktor der Intelligenz
Zweifaktoren-Theorie der Intelligenz
- allgemeiner Faktor g: liegt allen Leistungswerten gemeinsam zugrunde
- dazu noch: testspezifische Intelligenzfaktoren s
- Mittelwert aller Tests ergibt gute Schätzung für g
• Verschiedene Testaufgaben laden unterschiedlich hoch auf g
• Test mit besonders hoher g-Ladung: Raven Matrizen-Test (1938)
Verteilung der Intelligenz
• Tatsächliche Verteilung der Intelligenz:
- im unteren Bereich nicht normalverteilt
- zwischen den Geschlechtern leicht verschieden breit verteilt
Geschlechtsunterschiede in Intelligenz?
“The ways in which women and men differ in intelligence and specific cognitive abilities are among psychology’s most heated controversies. Massive amounts of data show that although there are some on average differences in specific cognitive abilities, there is considerable overlap in the male and female distributions. There are no sex differences in general intelligence – standardized IQ tests were written to show no differences, and separate assessments that were not written with this criterion show no differences in general intelligence. Average between-sex differences on specific cognitive abilities – notably reading and writing (female advantage) and some mathematical and visuospatial abilities (male advantage) – often show considerable cross-cultural variation in effect size. Additionally, there have been changes over time so that any conclusions about this controversial topic that we make today may need to be revised in the future.” Halpern, D. F & Wai, J. (2020). Sex Differences in Intelligence. In R. J. Sternberg (Ed.), The Cambridge Handbook of Intelligence (pp 317-345).
• Höhere Werte für Männer in räumlichen Fähigkeiten (vgl. Metaanalyse von Linn & Petersen, 1985)
- Geringe Effekte in räumlicher Visualisierung (d = 0.13)
- Große Effekte in mentaler Rotation (d = 0.73)
• Höhere Werte für Frauen in verbalen Fähigkeiten (vgl. Meta-Analyse von Hyde & Linn, 1988)
- Im Schnitt über alle verbalen Aufgabentypen hinweg geringe Effekte (d = 0.11)
- Höhere Effekte in Anagrammaufgaben (d = 0.22) und sprachlichem Ausdruck (d = 0.33)
Kulturabhängigkeit der Intelligenz-Messung
Intelligenzvergleiche zwischen unterschiedlichen Kulturen?
Intelligenz (von lateinisch intellegere „erkennen“, „einsehen“; „verstehen“; wörtlich „wählen zwischen …“ von lateinisch inter „zwischen“ und legere „lesen, wählen“) ist die kognitive bzw. geistige Leistungsfähigkeit speziell im Problemlösen.
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