Gene oder Umwelt?
· Ausgangsfrage: Bestimmung des relativen Anteils von Genom und Umwelt für die Erklärung von Persönlichkeitsunterschieden
· Grundidee: Varianz (V) einer Eigenschaft X lässt sich in 3 unabhängige Varianzanteile zerlegen:
1. einen genetischen Anteil (G)
2. einen Umweltanteil (U)
3. und einem Messfehleranteil (E = Error):
- V(X)=V(G)+V(U)+V(E)
-> Heritabilität (Erblichkeitsgrad): V(G)/V(X)
-> Umweltanteil: V(U)/V(X)
· Populationsabhängigkeit:
- Heritabilität liefert keine Erblichkeitsschätzung für eine individuelle Person, sondern den durchschnittlichen Erblichkeitsgrad in einer Population
- Die Heritabilität ist von der vorhandenen Variabilität der Genome und der Umwelten in der untersuchten Population abhängig
-> Die Erblichkeit einer Eigenschaft kann somit von Kultur zu Kultur und auch zwischen verschiedenen historischen Zeitpunkten der Entwicklung ein und derselben Kultur variieren
Methoden zur Varianzschätzung
Verschiedene Forschungsdesigns
Untersuchung von Zwillingen („Experiment der Natur“)
- Getrennt aufgewachsene eineiige Zwillinge (EZ) -> selten
- Vergleich gemeinsam aufgewachsener eineiiger Zwillinge (EZ) und zweieiiger Zwillinge (ZZ) -> häufiger
- wenn eineiige ähnlicher als zweieiige Zwillinge -> Indikator für Gene
Untersuchung von Adoptionskindern („Soziales Experiment“)
- Vergleich leibliche Kinder -> Indikator für Umwelt
1A: Getrennt aufgewachsene eineiige Zwillinge
Thomas J. Boucchard Jr. -> Minnesota-Twin-Study
· Jede Gemeinsamkeit von getrennt aufgewachsenen eineiigen Zwillingen muss genetisch bestimmt sein
- Korrelation zwischen den Persönlichkeitsmerkmalen getrennt aufgewachsener eineiiger Zwillinge ist eine direkte Schätzung der Heritabilität
-
- G: 100% identische Genetik
- E: error -> Messfehler
- U: unterschiedliche Umwelt
1.2. Ergebnisse der Minnesota-Twin-Studie
1.3. Methodische Probleme der Minnesota-Twin-Studie:
· Sehr spezielle Stichprobe
· Sehr kleine Stichproben (48 Zwillingspaare)
· Überschätzung des Erblichkeitsanteils aufgrund
- Ähnlichkeit der Umwelten in den beiden Familien
- Gemeinsame intrauterine Entwicklung
- Gemeinsam in der Kindheit verbrachte Zeit
1.4. Fazit der Minnesota-Twin-Studie
· Sowohl Gene als auch Umwelt haben bedeutenden Einfluss auf die Persönlichkeit
· Die Heritabilität wird aber möglicherweise aufgrund der genannten methodischen Einwände etwas überschätzt
- Notwendigkeit, diese Werte mit anderen Designs zu replizieren
1B: Vergleich EZ und ZZ
Design:
· Vergleich zusammen aufgewachsener eineiiger Zwillinge (EZ) und zweieiiger Zwillinge (ZZ)
· Größere Ähnlichkeit EZ beruht nur auf ihrer größeren genetischen Ähnlichkeit: EZ haben einen „genetischen Verwandtschaftsgrad“ von 100%, ZZ von 50% (wie Geschwister)
Prinzip der Erblichkeitsschätzung
-> Ergebnisse finden sich parallel in Selbst- und Fremdbericht, und auch für Verhaltensbeobachtung in standardisierten Situationen (Borkenau et al., 2001, JPSP)
2. Adoptionsmethode
· Vergleich der Korrelation zwischen Adoptivgeschwistern (0% gemeinsame Gene) und leiblichen Geschwistern (50% gemeinsame Gene)
- verdoppelte Korrelationsdifferenz als Schätzer für die Heritabilität
- z.B. IQ: Korrelation Geschwister r=.50, Adoptivkinder r=.25 => genetischer Anteil an IQ-Varianz = 2 x 25% = 50%
2.1. Probleme von Adoptionsstudien
- Sehr spezielle Stichproben aufgrund der hohen Anforderungen, die an Adoptionen gestellt werden
- Im Vergleich zu Zwillingsstudien (EZ vs. ZZ) deutlich weniger Studien und geringere Stichprobengrößen
- Selektive Platzierung der adoptierten Kinder
Analyse der Erblichkeit über verschiedene Designs
Erkenntnisse genetischer Anteil
1. substantieller genetischer Einfluss auf Persönlichkeit (IQ und Big Five). Genetische und Umwelteinflüsse sind in etwa gleich stark
2. genetische Varianz variiert nur mäßig zwischen verschiedenen Eigenschaften: relativ am höchsten für IQ und Extraversion, am geringsten für Gewissenhaftigkeit
3. genetischer Varianzanteil von 50% lässt eine erhebliche umweltbedingte Variation der Eigenschaftswerte zu
Geteilte versus nicht geteilte Umwelteinflüsse
· Geteilte (common = C) versus nicht-geteilte Umwelten (unique = U)
- Beispiele für nicht-geteilte Umwelteinflüsse: Spezifische Freunde, Schulklasse, Schulunterricht, Unfälle, Krankheiten, zufällige Erlebnisse
-> führen dazu, dass die Korrelation zwischen zusammen aufgewachsenen eineiigen Zwillingen kleiner ist als die Reliabilität (was macht zusammen aufgewachsene eineiige Zwillinge unähnlich?)
- Beispiele für geteilte Umwelteinflüsse: Soziale Schicht, Wohnumfeld, Erziehungsstil, Familienklima
-> zeigt sich z.B. in einer Korrelation zwischen Adoptivgeschwistern und leiblichen Geschwistern, die in einer Familie aufwachsen, ohne dass sie eine genetische Ähnlichkeit aufweisen (was macht Adoptivgeschwister mit leiblichem Geschwister ähnlich?)
Umwelteinflüsse
· relativer Einfluss geteilter und nicht-geteilter Umwelten
- von Geschwistern nicht geteilte Umwelteinflüsse sind bedeutender für ihre Persönlichkeitsentwicklung als die von ihnen geteilten Umwelteinflüsse (gilt für Big Five, gilt nicht für Intelligenz)
- Widerspricht einigen klassischen Sozialisationstheorien, die postulieren, dass:
persönlichkeitsprägende Umweltbedingungen „familientypisch“ seien
Erziehungsstil ‚die‘ zentrale Variable sei
Zusammenfassung Verhaltensgenetik
- Ausgangsfrage: Relativer Anteil von Genom und Umwelt bei der Persönlichkeitsentwicklung
- Schätzung des genetischen Varianzanteils
- Methoden: getrennt aufgewachsene EZ, EZ-ZZ, Adoptivkinder
- Logik des Vorgehens, Erkenntnisse, Kritikpunkte
- Umwelteinflüsse (geteilte, nicht-geteilte)
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