-Die Soziologie als Wissenschaft entsteht nicht im luftleeren Raum. Vielmehr ist sie selbst das Produkt jener „Großen Transformation“, in der jener Gesellschaftstyp sich allmählich herauskristallisieren sollte, den wir heute kurzerhand die Moderne nennen. Deshalb gilt die Soziologie, die sich akademisch erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts an den Universitäten durchzusetzen beginnt, nach wie vor als eine relativ junge Wissenschaft. Natürlich hat sie einen außeruniversitären Vorlauf und setzt als eigenständige Denkform in der ersten Hälfte des 19. Jahrunderts ein
-Erst mit der Generation von 1890-1920 sollte die Soziologie langsam Eingang finden in die Universität:
Wenngleich die Institutionalisierung der Soziologie als Fach an der Universität schleppend und diskontinuierlich voran geht, ist diese neue Wissenschaft doch von Anfang darauf gerichtet, die „Große Transformation“ zu studieren. „The social sciences“, so auch Anthony Giddens (1990) in seinem Buch The Consequences of Modernity, „play a basic role in the reflexivity of modernity.“
-Von Beginn an wird so der soziale Wandel durch die Soziologie als Begleitforschung beobachtet und – nolens, volens – tragen die Sozialwissenschaften ihrerseits zu dem Selbstverständnis moderner Gesellschaften bei, die sie als Gegenstand untersuchen. Gesellschaftstheorie, -analyse und -kritik, vor allem soziologische Zeitdiagnosen, sickern als Aufklärungs-, Orientierungs- und Sinngeber in die Kultur und den Sprachgebrauch der Gesellschaft ein und erlangen auf diese Weise Bedeutung. Das ist natürlich ein schleichender Prozess, sozial unauffällig – keiner merkt’s – und allmählich – also alles andere als spektakulär oder revolutionär.
-Nur weil dieser Einfluss der Sozialwissenschaften unterhalb der gesellschaftlichen Aufmerksamkeitsschwelle verbleibt, heißt das nicht, dass dieser Impakt folgenlos oder gar unbedeutend gewesen wäre. Im Gegenteil: Die Sozialwissenschaften drücken zum einen aus, was in der Gesellschaft vor sich geht. Sie prägen neue Begriffe und entwickeln neue Theoreme. Zum anderen drücken sie damit aber auch den Gesellschaften ihren Stempel auf und formen so ihr Selbstverständnis und damit das Gesellschaftsbild gleich mit. Die Soziologie ist ein Träger der Historizität, wie Alain Touraine (1978) in seinem Buch La voix et le regard das Phänomen nennt, dass moderne Gesellschaften große Anstrengungen unternehmen, sich selbst zu verstehen und ihren voraussichtlichen Gang in die Zukunft zu bestimmen. —> Die Soziologie ist der Spiegel der Gesellschaft
-Industriegesellschaft und Kapitalismus, Demokratie und Individualismus, Rationalisierung und Solidarität sind heute längst Alltagsbegriffe geworden, ja Allerweltsvokabeln, die jeder im Munde führt, ohne sich noch große Gedanken um deren Herkunft zu machen. Begriff und Sinngehalt stammen aber aus der Soziologie und sind dort im Kontext einer Gesellschaftstheorie, Gesellschafsanalyse und Gesellschaftskritik entwickelt worden
Der Begriff „modern“ ist keineswegs neu oder zeitgenössisch, sondern – paradoxerweise – alt. Erstmals 494 nach Christus nachgewiesen, taucht er unter verschiedenen Bedeutungsgehalten in Antike und Mittelalter auf, wobei die wichtigste die Distinktion „antiqui/moderni“ ausmacht
-es lassen sich aus soziologischer Sicht drei Bedeutungen systematisch unterscheiden:
1. modern im Sinne von gegenwärtig, momentan dominierend, gerade gültig – dies verweist auf Moderne als Epochenbegriff;
2. modern im Sinne von neu als Gegenbegriff zu alt – dies verweist auf die Moderne als Programm oder, wie Habermas sagt, als „Projekt“;
3. modern im Sinne von vorübergehend – dies geht auf Baudelaires Verwendungsweise zurück. In „Der Maler des modernen Lebens“ aus dem Jahre 1859/60 versucht Charles Baudelaire modern via „modernité“ zu fassen. „La modernité“, so definiert Baudelaire (1954: 892 f.; siehe auch Frisby 1989: 22), „c'est le transitoire, le fugitif, le contingent, la moitié de l'art, dont l'autre moitié est l'éternel et l'immuable.“ Damit liest Baudelaire in folgenreicher Weise zusammen, was bislang stets getrennt war: einerseits verweist modern auf Mode und deren schnellen Wechsel, nicht auf die gerichtete Teleologie der Moderne und deren einzelne Stufen und Etappen – das meint „das Vorübergehende, das Flüchtige und das Kontingente“ in der Kunst. Andererseits jedoch verschwindet das Traditions- und Ewigkeitsbedürfnis nicht einfach. Es heftet sich jetzt nur an den Träger des Flüchtigen, die Mode, und das Ewige wie das Unveränderliche blitzen momenthaft auf.
Es ist in erster Linie die „Große Transformation“ (Polanyi 1978) von der Tradition zur Moderne, die alle klassischen Soziologen umtreibt.
-Die Formel von der „Großen Transformation“ stammt von Karl Polanyi (1978), in dem er eindringlich die Bedingungen und Voraussetzungen, die Prozesse und Mechanismen, den Verlauf und die Konsequenzen der Entstehung kapitalistischer Wirtschafts- und Lebensverhältnisse in England beschreibt
-In der Soziologie hat sich diese Formel von der „Großen Transformation“ durchgesetzt, um den Wandel von einer agrarisch-ländlich, feudal-ständisch bestimmten Gesellschaft zu einer industriellstädtischen, klassenstrukturierten Gesellschaft zu charakterisieren. Wie sehr der konstruierte Gegensatz zwischen der Tradition und der Moderne durchschlägt, um die Wasserscheide zu markieren, zeigt schon die dichotome Begriffsbildung an: agrarisch-industriell, ländlich-städtisch, Stände versus Klassen, Gemeinschaft versus Gesellschaft
- In der Gründungsphase der Soziologie wird der Kern der Begrifflichkeiten bestimmt, der unser Selbstverständnis von Moderne einerseits und andere, deshalb als traditional geltende Formen von Gesellschaft andererseits bis auf den heutigen Tag informiert, Eine dimensionale Auffächerung der Gesellschaft nach den beiden Säulen von Traditionalität und Modernität ergibt dann folgende zwei Gesellschaftsbilder:
—>Die alte Sozialstruktur ist homogen und stabil, die moderne heterogen und mobil. Die soziale Kontrolle ist im ersten Fall direkt, im zweiten Fall indirekt. Das traditionale Werte- und Normensystem ist konsistent und einfach, das moderne dagegen inkonsistent und komplex
-Die Rekrutierung auf gesellschaftliche Positionen wird im ersten Falle durch die Tradition zugeschrieben, während sie im zweiten Fall durch Leistung erworben wird. Folglich fallen technische Innovationen gering aus, werden obendrein negativ sanktioniert und sorgen für eine geringe Arbeitsproduktivität. In modernen Gesellschaften dagegen fallen technische Innovationen zahlreich aus, sind erwünscht, also positiv sanktioniert und ermöglichen eine hohe Arbeitsproduktivität.
-Der dominante Wirtschaftssektor in traditionalen gesellschaftlichen Verhältnissen ist agrarisch, die Siedlungsform ländlich und die dominante Sozial- und Lebensform die personal vermittelte Gemeinschaft. Demgegenüber dominiert der industrielle Sektor in modernen gesellschaftlichen Verhältnissen, die dominante Siedlungsform ist städtisch und die vorherrschende Sozial- und Lebensform beruht auf der organisatorisch vermittelten Gesellschaft.
-Traditionale Herrschaftsverhältnisse werden vom Patrimonialismus auf der Basis der Heiligkeit von Traditionen („Es war schon immer so!”) regiert, sei es der pater familias in der Gemeinschaft des Haushaltes, sei es der Fürst an seinem Hof. Moderne Herrschaftsverhältnisse beruhen auf einer rationalen Bürokratie, die sich durch die Legalität ihrer Satzungen legitimiert.
-Die Aggregation der Interessen in einem traditionalen Sozialraum fällt niedrig und lokal aus; politisch formierte Stände verfügen über geringe und wenn, dann spontane Partizipation. In einem modernen Sozialraum sorgen ökonomisch formierte Klassen für eine hohe und zentralisierte Aggregation der Interessen wie für eine starke und institutionalisierte Form der politischen Partizipation.
-In traditionalen Gesellschaftskonfigurationen werden Konflikte unterdrückt oder eben gewaltsam ausgetragen wie auch die Kommunikation personal und direkt ausfällt. In modernen Gesellschaftskonfigurationen werden Konflikte formalisiert wie friedlich ausgetragen und die Kommunikation ist medial vermittelt.
-Es ist dieser bahnbrechende Prozess, der „Großen Transformation“ von der Tradition zur Moderne, der das Denken der soziologischen Klassik dominiert. Aber wie hat er sich vollzogen? Wenn man nicht historisch argumentiert, sondern soziologisch und damit strukturell, wird man auf drei Phänomene aufmerksam machen, um den revolutionären Charakter dieses Vorgangs systematisch zu verdeutlichen. Es sind drei struktur- und ereignisgeschichtliche Eckpfeiler der „Großen Transformation“ , drei bahnbrechende Revolutionen in drei verschiedenen Ländern, welche die Bezugsereignisse für die soziologische Klassik umreißen:
-1. In England ist es die ökonomische Revolution, wodurch die Industrialisierung und die Heraufkunft des Kapitalismus besiegelt wird. Der technologische Fortschritt (die Erfindung der Dampfmaschine), die Landreform und die Freisetzung von Arbeitskräften (vom arbeitslosen Landarbeiter zum beschäftigten Industriearbeiter oder Proletarier) mit der Folge der Entstehung eines Arbeitsmarktes, die Trennung von Kapital und Arbeit sowie die Trennung von Betrieb und Haushalt mit der Folge der Entstehung von Finanz- oder Kapitalmärkten, die Reorganisation der Arbeit (von der Manufaktur zur Fabrik), die
Rationalisierung des Rechtssystems mit der Vorstellung von Eigentumsrechten, Vertragsrechten und der Kalkulierbarkeit wirtschaftlichen Handelns in einem nationalstaatlich garantierten Rechtsverband („Rechtsstaat“) – alle diese Entwicklungen zusammen genommen machten den modernen Industriekapitalismus möglich. Das impliziert die Umstellung von agrarischer zu industrieller Produktionsweise, aber auch den Übergang von ländlicher zu städtischer Lebensweise.
2. In Frankreich ist entscheidend die politische Revolution und die Heraufkunft der Demokratie. Die Französische Revolution stimmt auch auf dem alten Kontinent Europa das Hohelied der Demokratie an, das in der neuen Welt von Amerika bereits so erfolgreich geprobt worden war. Aus Monarchien und Aristokratien werden in der Folge Republiken. Die Vorstellungen von „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ machen aus den Untertanen souveräne Bürger mit Menschen- und Bürgerrechten; Politik wird von einem arkanen Eliteunternehmen hinter verschlossenen Türen zur öffentlichen Angelegenheit aller Mitglieder der Gesellschaft; der Staat wird von einem königlichen oder fürstlichen Militär- und Polizeiinstrument zum vernünftigen institutionellen Rahmen der Demokratie. Trotz der egalitären Ideale von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit sind die souveränen Bürger freilich in Klassen, wenn auch nicht länger in Stände eingeteilt, die aber idealiter über gleiche „citizenship“-Rechte verfügen.
-3. In Deutschland, dem Land der Dichter und Denker, schließlich ist die kulturelle Revolution und die Heraufkunft des Individualismus von zentraler Bedeutung. In der Literatur wird meist nur von einer Doppelrevolution – der ökonomischen: Industrialisierung und Kapitalismus, der politischen: Demokratisierung – gesprochen, um den Weg zur Moderne zu erläutern. Aus soziologischer Sicht erscheint es indes notwendig, auch die geistigen Voraussetzungen dieser Doppelrevolution zu untersuchen, wie sie durch das Christentum und die Aufklärung, die Renaissance und die Reformation vorbereitet wurden. Talcott Parsons nennt sie Bildungsrevolution, um auf den engen Konnex von Wissenschaft, Bildung und Universität hinzuweisen. Ich ziehe den Begriff der kulturellen Revolution vor, um den Übergang vom Kollektivismus, wie er traditionale Gesellschaften auszeichnet, zum Individualismus, den wir in modernen Gesellschaften antreffen, zu bezeichnen. Zwar spielt die Wissenschaft eine entscheidende Rolle, vor allem für die Industrialisierung und ihre neuen Technologien. Neben dieser kognitiven Komponente von Kultur sollte man darüber nicht die moralisch-ethische Dimension und die expressiv-ästhetische Dimension vergessen. Das Selbstverständnis der Moderne speist sich aus einem spezifischen Verständnis von Moral und einem bestimmten Ideal des Menschen. Historisch und systematisch kommt die kulturelle Revolution in drei Dimensionen zum Ausdruck:
• erkenntnisphilosophisch im „Sapere Aude“, „Wage es zu denken“, dem Motto der Aufklärung. „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht am Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines
eigenen Verstandes zu bedienen! Das ist das Motto der Aufklärung.” (Kant 1783 bzw. 1983a: 53)
• moralphilosophisch im „Kategorischen Imperativ“, der Forderung also: „handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde.“ (Kant 1785 bzw. 1983b: 51) und
• handlungspraktisch in dem Motto: „Werde der du bist“. Was Kant philosophisch ausarbeitet, setzt Goethe (2006) erstmals in einem deutschen Bildungsroman literarisch um. „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ (1795/96) bringen sinnfällig das Selbstentfaltungsideal des modernen Individualismus zum Ausdruck, denn Wilhelm sucht über Reisen und Bildung Erfahrungen zu machen, um zu sich selbst zu finden und über diese Selbstfindung auch einen seinen Talenten und Begabungen angemessenen wie verantwortungsvollen Platz in der Gesellschaft einzunehmen. Wahrhaftig markiert Goethes „Wilhelm Meister“ literarisch sinnfällig den Beginn der modernen Odyssee individueller Selbstverwirklichung
Ökonomie
Politik
Kultur
Vorreiterland
England
Frankreich
Deutschland
Zeit
seit ca. 1750
1789
Jhd
Prozess
Industrialisierung
Demokratisierung
Individualisierung
Institutionelle Gestalt
Kapitalismus
Staat und Nation
moderne Ethik und Ästhetik
strukturelle Voraussetzungen und institutioneller Prozess
technologischer Fortschritt (Dampfmaschine) Landreform und Transformation von Landarbeitern in Proletarier Trennung von Betrieb und Haushalt
von Untertanen zum Bürger von der Monarchie zur Republik gleiches Wahlrecht und citizenship
vom Kollektivismus zum Individualismus Aufklärung: „sapere aude“ kategorischer Imperativ
Theoretiker
Adam Smith David Ricardo Karl Marx Max Weber
Alexis de Tocqueville Max Weber Émile Durkheim
Immanuel Kant Georg Wilhelm F. Hegel Johann Gottlieb Fichte Émile Durkheim Georg Simmel
-Eine Zeitdiagnose umschreibt stets den Versuch, die „Zeichen der Zeit“ zu verstehen. Wie macht man das? In aller Regel werden einige, meist besonders augenfällige Grundzüge einer Epoche, einer Gesellschaft, einer Kultur oder eines Charakters hervorgehoben, in ihren Zusammenhängen diskutiert und als vorherrschende Trends oder Tendenzen der betrachteten Einheit ausgewiesen
-die Zeitdiagnose auf den Versuch hinaus, ein Bündel von zusammenhängenden Eigenschaften zu beschreiben und mit der Behauptung zu verbinden, dass es die vorherrschenden Struktur- und Entwicklungslinien, die Trends und Tendenzen der jeweiligen Epoche, der Gesellschaft, der Kultur oder des Charakters ausmacht. Idealiter lässt sich dieses Bündel von Eigenschaften auf eine Formel oder ein Prinzip bringen, so dass wir abgekürzt häufig auch von „Wilhelminismus“, „Kapitalismus“, „Amerikanismus“ und „Narzissmus“ sprechen, ohne die Bezugseinheit – Epoche, Gesellschaft, Kultur und Charakter – überhaupt noch mit zu nennen.
-Zeitdiagnosen machen also den Versuch, die „Zeichen der Zeit“ auf den Begriff zu bringen. Dieser Begriff umschreibt in der Regel ein Struktur- und Entwicklungsprinzip, das nicht nur die in Frage stehende Wirklichkeit ausdrückt, sondern dieser Wirklichkeit auch seinen Stempel aufdrückt: Der Wilhelminismus überstrahlt die Epoche von 1890 bis 1918, der Kapitalismus strukturiert nicht nur die Wirtschaft, sondern die gesamte Gesellschaft – und das bis zum heutigen Tag. Der Amerikanismus dürfte längst global geworden sein. Der Narzissmus markiert wohl die typische Sozialisationserfahrung unseres gegenwärtigen Individualismus
-So verstanden, haben Zeitdiagnosen als die „Zeichen der Zeit“ in Struktur- und Entwicklungsbegriffe gefasst, gleich mehrere Funktionen. Man kann vier Funktionen unterscheiden: die konstitutive, kognitive, evaluative und expressive Funktion.
-Ihre konstitutive Funktion besteht darin, dass sie ganz elementar zur gesellschaftlichen Orientierung beitragen. Denn sie bieten insofern Orientierungswissen, als sie zur „denkenden Ordnung des Wirklichen“ (Weber 1973: 176) beitragen. Zeitdiagnosen sind begriffliche Klassifikationen zur Selbstbeschreibung von Gesellschaften. Wann lebst du – im wilhelminischen Zeitalter; wo lebst du – in einer kapitalistischen Gesellschaft; wie lebst du – in der amerikanischen Kultur; als was lebst du – als narzisstische Persönlichkeit. In diesem konstitutiven Sinne können Zeitdiagnosen dann zur fundamentalen Orientierung in der Gesellschaft beisteuern, wenn sie als anerkannte Begrifflichkeit die Klassifikation der gesellschaftlichen Erfahrungen anleiten und tatsächlich leisten
-das gelingt am ehesten durch ihre kognitive Funktion. Denn Zeitdiagnosen bringen gesellschaftliche Erfahrungen nicht nur auf den Begriff, im Sinne eines allgemeinen Struktur- und Entwicklungsprinzips. Das ist ja – wenn man so will – nur die Spitze des Eisberges. Vielmehr verbirgt sich dahinter nicht selten eine ausgearbeitete Theorie der Gesellschaft und detaillierte historisch-empirische Analyse, die der sinnhaften Interpretation und Deutung eines Phänomens erst ihr solides wissenschaftliches Fundament verleiht. Neudeutsch gewendet: Es sollte sich um eine evidenzbasierte Zeitdiagnose handeln.
-Ferner zeichnet Zeitdiagnosen eine expressive Funktion aus. Zeitdiagnosen bannen so den „Zeitgeist“ in ihre Begrifflichkeit. Die Diskussion um die Postmoderne ist ein gutes Beispiel. Obgleich moderne Errungenschaften wie kapitalistische Marktwirtschaft und politische Demokratie unzweideutig fortbestehen, scheinen die kulturellen Erfahrungen „postmodern“ zu werden: Die radikale Differenz, der Verlust der kollektiven Sinn verbürgenden Metaerzählung wie etwa die Hoffnung auf Vernunft und Fortschritt, der Pluralismus, die Vielfalt und der Eklektizismus der Stile in Kunst, Malerei und Architektur – alle diese Erscheinungen nähren das Gefühl, in der Postmoderne zu leben. Was für die Kultur, ihren Postmodernismus, indes angebracht sein mag, erweist sich als unangemessen für die übrigen gesellschaftlichen Lebensbereiche. Wer würde schon ernsthaft von der „postmodernen Wirtschaft“ oder der „postmodernen Politik“ sprechen wollen?
-Ihrer vierten evaluativen Funktion nach beurteilen Zeitdiagnosen Epochen, Gesellschaften, Kulturen oder Charaktere. Der Maßstab, der zugrunde gelegt wird, ist meist ein Ideal, von dem aus die jeweilige Epoche, Gesellschaft, Kultur oder der Charakter betrachtet wird. Die vorfindbare Wirklichkeit weicht häufig in trauriger Weise von dem idealen Maßstab ab, was den Zeitdiagnostiker leicht dazu verleitet, von einer Krise zu sprechen. Krise im ursprünglich griechischen Wortsinn meint „Wendepunkt“: Man kann so weitermachen wie bisher – dann wird man endgültig und irreversibel in die Katastrophe oder den Untergang getrieben; oder man kehrt um oder besser auf den Pfad der Tugend zurück, und wird so dem als Maßstab zugrunde gelegten Ideal wieder näherkommen. Auf jeden Fall drängt die Zeit zu einer Entscheidung. Es ist diese normative Dimension moralischer Kritik, die oft genug die stärkste Motivation zur „Zeitdiagnostik“ darstellt. Zeitdiagnosen sind also nicht nur ein Abbild der Gesellschaft, ein Gesellschaftsbild oder Image; das ist nur eine Seite. Die Kehrseite der Medaille, „Kritik und Krise“ (Koselleck 1973), verweist auf die Notwendigkeit der Kurskorrektur, ja der unbedingten Umkehr
konstitutiv
kognitiv
expressiv
evaluativ
Erfahrungsmodus
Orientierungswissen
explanatorisches Wissen
ästhetische Erfahrung
moralische Erfahrung
Code
natürlich/
unnatürlich
wahr/falsch
authentisch/inauthentisch
gut/schlecht
Ziel
ontologische Sicherheit
Intersubjektiv überprüfbare Erkenntnis
Erfassung des „Zeitgeistes“
Bestandsaufnahme der gesellschaftlichen Entwicklung
Mittel
„denkende Erfassung und Ordnung der Wirklichkeit“ (Weber)
wissenschaftliche Erklärung
emotional stimmige, intuitive und pointierte Einschätzung
Beurteilung der gesellschaftlichen Lage und Entwicklung
Substrat
Weltbild
wissenschaftliche Weltanschauung
Stimmung
Identität/Realität
Modus der alltagsweltlichen Selbstbeschreibung
Selbstgewissheit/Ungewissheit
Erfahrbarkeit/ Unerkennbarkeit
Behagen/Unbehagen
Fortschritt/Rückschritt
-Drei Probleme sind es, die das Geschäft der Zeitdiagnostik ungemein erschweren und zu einem zwar notwendigen, aber höchst riskanten Unternehmen machen: 1. Das Problem der Adäquanz; 2. Das Problem des Zeitgeistes und der Ideologie; 3. Das Problem des Normativen.
-Das Problem der Adäquanz stellt sich regelmäßig dort ein, wo ein Gegenstand durch einen Begriff charakterisiert werden soll. Ist der Begriff angemessen, um den Gegenstand voll und ganz zu erfassen? Im Falle von Zeitdiagnosen geht es schließlich darum, mit einem Begriff eine Epoche, eine Gesellschaft, eine Kultur oder einen Charakter zu bezeichnen. Es ist aber eine Sache, die Relevanz dieser Struktur- und Entwicklungsprinzipien zu behaupten, eine andere Sache ist es, ihre Dominanz zu unterstellen. Wer wollte die Geschichtsmächtigkeit des Kapitalismus ernsthaft leugnen? Aber sind deshalb alle Lebensverhältnisse und -äußerungen durchgängig „kapitalistisch“ geprägt? Wenn man das behauptet, überzieht man leicht die heuristische Fruchtbarkeit der Zeitdiagnose und überdehnt die gewählte Grundbegrifflichkeit. Das logische Gegenstück zu Überdehnung und Überstrapazierung der Begrifflichkeit ist die begriffliche Unterbestimmung. In beiden Fällen bleibt das Adäquanzproblem ungelöst
-Eine zweite Schwierigkeit tut sich mit dem Problem des modischen Zeitgeistes und der Ideologie auf. Im ersten Fall erfolgt eine Diagnose, ohne dass eine umfassende und sorgfältige Analyse vorangegangen wäre. Wir alle können ein Lied von dieser Schnellschussdiagnostik singen. Medien, Werbung, die Konsumindustrie und die kommerzielle Sozialforschung gehen da eine unheilvolle Allianz ein; eine rasch hingeworfene empirische Studie kommerzieller Sozialforschung findet Eingang in Marketingstrategien, die „sensationellen“ Ergebnisse werden unverzüglich von den Medien aufgegriffen und die Konsumindustrie reagiert rasch mit den entsprechenden Produkten. Auf diese Weise wird aus einer fragwürdigen empirischen Studie flugs ein unumstößlicher, „wahrer“ Trend, der in dem Maße, wie von gesellschaftlicher Seite darauf reagiert wird, sich tatsächlich empirisch bewahrheitet.
—>Das Problem der Zeitgeistmoden und der Ideologie repräsentieren spiegelbildliche Probleme: dort werden das Manko theoretischer Begriffsbildung und unzureichende empirische Analysen zu weitreichenden Deutungen missbraucht, die unter Umständen ihren eigenen Trend hervorbringen. Hier ufert die Theoriebildung aus, um mit der Realität mitzuhalten, darüber kommt die historisch-empirische Analyse häufig zu kurz; es wird aber an der weitreichenden traditionellen Deutung festgehalten, obwohl die gesellschaftlichen Entwicklungen immer weniger Anhaltspunkte für den revolutionären Zusammenbruch des Kapitalismus und die Heraufkunft des Sozialismus geben
-Eine letzte Schwierigkeit betrifft das Problem des Normativen. Da Zeitdiagnosen nicht nur eine radikale Kritik enthalten, sondern in eins damit häufig genug auch eine normative Alternative, besteht die Gefahr, dass die Grenze zwischen Soziologie und Sozialphilosophie verwischt wird. Die Soziologie als rationale, positive und empirische Wirklichkeitswissenschaft, so heißt es, hat nur „Wirklichkeitsurteile“ abzugeben, also theoretisch angeleitete, historisch-empirisch informierte Deutungen der Gesellschaft. Demgegenüber hat sie sich in Fragen von „Werturteilen“, also moralischen Empfehlungen über die wünschenswerte Entwicklung der Gesellschaft, strengste Zurückhaltung aufzuerlegen. Da Versuche der Zeitdiagnose stets Gefahr laufen, in das sozialphilosophische Fahrwasser moralischer Kritik zu geraten, sollte eine an diesem Wissenschaftsideal orientierte Soziologie auf die Anfertigung von Zeitdiagnosen am besten gleich
-Wie auch immer man sich in dieser Grundfrage positionieren mag: Zeitdiagnostik ist und bleibt Soziologie mit beschränkter Haftung. Auch eine noch so vollkommene wissenschaftliche Durchdringung der sozialen Wirklichkeit lässt das Risiko der Deutung bestehen. Deutung heißt stets, das analytisch und empirisch gewonnene Wissen zu synthetisieren und die Erkenntnisse interpretativ zu verdichten. In dieser interpretativen Verdichtung, der Arbeit der Zuspitzung, liegt ein untilgbarer Rest von Spekulation, ja von Metaphysik, die eine noch so gründliche Durchforschung der Welt nicht zu beseitigen vermag. Sicher, die „Metaphysizität“ der Zeitdiagnose kann durch Verwissenschaftlichung gebändigt werden, wie die Rede von der Evidenzbasierung anzeigt.
-Evidenzbasierung meint dann eine empirisch gesättigte Zeitdiagnose. Aber nur die alte positivistische Auffassung, dass die Soziologie der „Spiegel der Gesellschaft“ sei, so wie die Naturwissenschaften der „Spiegel der Natur“ (Rorty 1987), wird glauben machen wollen, dass ihre Zeitdiagnose ein Abbild der Gesellschaft vermitteln könne. Denn die Gesellschaft gibt es nicht; Gesellschaften sind komplexe Gebilde, weshalb ein Abbild gar nicht möglich ist. Nicht ein Gesellschaftsbild, sondern Gesellschaftsbilder sind es, welche die Soziologie je nach gewählter Perspektive zu entwickeln vermag. Und die gelingen, wie bei Fotografien auch, mal besser, mal schlechter
-Gelingt es dennoch einmal, die verschiedenen Blickwinkel zu synthetisieren und die Zeichen der Zeit als Momentaufnahme sub specie aeternitatis zu verstehen, bleibt die Zeitpunkt-, Stimmungs- und Vermittlungsabhängigkeit bestehen. Ein Blick in das soziologische Familienalbum der alten Bundesrepublik ist da instruktiv.
—>Kommt eine Zeitdiagnose zu früh, bleibt sie weitgehend unbeachtet. In der ersten Hälfte der achtziger Jahre diskutierte die Soziologie die Krise der Arbeitsgesellschaft, in den neunziger Jahren und noch bis ins 21. Jahrhundert war sie da. Umgekehrt, erscheint sie zu spät auf der Bildfläche, landet sie auf dem Müllhaufen der Geschichte. Als die Erlebnisgesellschaft (Schulze 1992) und die Multioptionsgesellschaft (Gross 1994) als Endmoräne der Überflussgesellschaft (Galbraith 1959) Anfang der neunziger Jahre aus der Taufe gehoben wurden, ließ die Rückkehr der Knappheit dieses Szenario als unangemessen, ja fast zynisch erscheinen. Pünktlich, just in time – das ist die beste Gewähr, dass die zeitdiagnostische Stimme die kollektive Stimmung trifft und breite öffentliche Anerkennung erntet. Nur wer den gesellschaftlichen Gemütszustand und die kollektive Seelenlage richtig einschätzt, hat Erfolg
Adäquanz
Modischer Zeitgeist und Ideologie
Die Normative
Fokus
Begriff/Begriffenes
theoretische Begriffsbildung und historischempirische Analyse
Gütekriterium
Angemessenheit der Begriffsbildung
Solidität von theoretischer und empirischer Analyse
intersubjektiv nachprüfbares Verhältnis von Soziologie und Sozialphilosophie
Probleme
Kluft zwischen Begriff und Begriffenem
1) unwissenschaftliche Schnellschussdiagnostik – begriffliche Unterbestimmung
2) ideologische Begriffsakrobatik – begriffliche Überdehnung
Beziehung zwischen Wirklichkeits- und Werturteilen in der Soziolog
Frage
Relevanz vs. Dominanz von Struktur- und Entwicklungsprozessen
Erfahrbarkeit
Angemessenheit vs. Aktualität der SZD
Manipulierbarkeit der sozialen Wirklichkeit
Bestandsaufnahme vs. Kritik durch SZD
Evaluabierkeit
Karl Marx wird als Philosoph der Revolution, Nationalökonom des Kapitalismus, Soziologe des Klassenkampfes und Prophet des Sozialismus charakterisiert.
Sein Werk umfasst die Auseinandersetzung mit dem Kapitalismus, der Klassenherrschaft und dem Sozialismus, was ihn zu einer herausragenden Figur des 19. Jahrhunderts macht.
Marx wird als exzellenter Zeitdiagnostiker betrachtet, der eine radikale Kritik der bestehenden Gesellschaft formuliert und eine gesellschaftliche Umwälzung voraussagt.
Die Theorien von Marx haben einen bedeutenden Einfluss auf die Soziologie als kritische Gesellschaftstheorie.
Marx' Werk wird als Wasserscheide in der Soziologie betrachtet, da eine Soziologie als kritische Gesellschaftstheorie ohne Marx schwer vorstellbar ist.
Trotz des Zusammenbruchs der marxistisch-leninistischen Systeme behält Marx' Gesellschaftstheorie weiterhin ihre theoretische Bedeutung.
In der Sekundärliteratur wird zwischen frühem und spätem Marx unterschieden, wobei der frühe Marx als Philosoph und der späte Marx als Ökonom betrachtet wird.
Der frühe Marx analysierte die menschliche Praxis im Kontext von Hegels Dialektik und Feuerbachs Materialismus, während der späte Marx sich der Politischen Ökonomie zuwandte.
Marx' Zeitdiagnose konzentriert sich auf den Kapitalismus als Warengesellschaft, die auf Ausbeutung und Entfremdung basiert, während er den Sozialismus als wahre Gesellschaft der demokratischen Kooperation und Selbstentfaltung des Menschen prognostiziert.
Die Spannung zwischen soziologischer und philosophischer Zeitdiagnose sowie zwischen kognitiver und evaluativer Funktion von Zeitdiagnosen macht Marx' Werk heute problematisch.
Marx' Theorie gerät in das Fahrwasser spekulativer Geschichtsphilosophie und messianischer Fortschrittsmetaphysik.
Marx' Plädoyer für einen wissenschaftlichen Sozialismus steht im Kontrast zu seiner Rolle als radikaler Revolutionär.
Es wird eine Kontinuitätsthese vorgeschlagen, die den Zusammenhang zwischen frühem und spätem Marx betont und das Kommunistische Manifest von 1848 als Wendepunkt markiert.
Das Manifest der kommunistischen Partei betont den Klassenkampf als zentrales Problem.
Es beschreibt den Kampf zwischen Unterdrückern und Unterdrückten sowie die Polarisierung in zwei gegnerische Blöcke.
Die Bourgeoisie und das Proletariat werden als die aktuellen antagonistischen Klassen betrachtet.
Die Bourgeoisie hat durch die Zerstörung alter Verhältnisse, technologischen Fortschritt und Schaffung einer weltweiten Zivilisation eine neue Ära eingeleitet.
Die Bourgeoisie produziert ihre eigenen Totengräber, das Proletariat, durch Ausbeutung und Unterdrückung.
Marx und Engels stützen ihre revolutionäre Prognose hauptsächlich auf die Entwicklung des Proletariats.
Das Proletariat wird als revolutionäre Klasse angesehen aufgrund zunehmender Ausbeutung, Wachstum, politischer Organisation und des Klassenkampfes.
Die proletarische Revolution wird als letzte Revolution angesehen, die die Klassengesellschaft abschaffen und eine humane, brüderliche Gesellschaft schaffen wird.
-Das Problem, das im Mittelpunkt des Manifests der kommunistischen Partei steht, ist der Klassenkampf: „Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaften ist die Geschichte von Klassenkämpfen. Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell, kurz: Unterdrücker und Unterdrückte standen in stetem Gegensatz zueinander, führten einen ununterbrochenen, bald versteckten, bald offenen Kampf, einen Kampf, der jedesmal mit einer revolutionären Umgestaltung der ganzen Gesellschaft endete oder mit dem gemeinsamen Untergang der kämpfenden Klassen.“ (MEW 4: 462)
—-> Gesellschaft und gesellschaftliches Leben beruht auf Kampf, dem Kampf zwischen verfeindeten Gruppen, kurz: Klassenkampf.
-Stets handelt es sich, und das sind die beiden Charakteristika des Klassenkampfes, um den Antagonismus zwischen Unterdrückern und Unterdrückten einerseits, der Polarisierung in zwei oppositionelle Blöcke andererseits. Mit anderen Worten: Es geht immer um repressive Herrschaft und soziale Dichotomie.
-Die beiden verfeindeten Blöcke der Gegenwart sind „Bourgeois und Proletarier“, wie der erste Abschnitt des Manifests überschrieben ist. Warum geraten Bourgeoisie und Proletariat an- bzw. gegeneinander? Durch die Entstehung von Manufaktur und Fabrik, Großindustrie und Weltmarkt, „einer Reihe von Umwälzungen in der Produktion und Verkehrsweise“ (MEW 4: 464) also entstehen in idealtypischer Reinheit diese beiden großen antagonistischen Klassen als Unterdrücker und Unterdrückte
-Das prometheische Werk der Bourgeoisie, die Schaffung einer „Welt nach ihrem eigenen Bilde“, beruht auf drei bahnbrechenden Leistungen:
Erstens, die Zerstörung aller alten feudal-ständischen Verhältnisse: „Alles Ständische und Stehende verdampft, alles Heilige wird entweiht, und dies Menschen sind endlich gezwungen, ihre Lebensstellung, ihre gegenseitigen Beziehungen mit nüchternen Augen anzusehen.“ Diese Enttraditionalisierung und Versachlichung aller sozialen Beziehungen ist in Marx' und Engels' Augen ein wichtiger gesellschaftlicher Fortschritt, tritt doch an die Stelle ständischer Ideologien und Illusionen, bürgerliche Nüchternheit und zweckbezogene Interessen.
Zweitens, die Revolutionierung der Technik und die Anhäufung materiellen Reichtums. „Die Bourgeoisie kann nicht existieren“, so Marx und Engels, „ohne die Produktionsinstrumente, also die Produktionsverhältnisse, also sämtliche gesellschaftlichen Verhältnisse fortwährend zu revolutionieren. [...] Die fortwährende Umwälzung der Produktion, die ununterbrochene Erschütterung aller gesellschaftlichen Zustände, die ewige Unsicherheit und Bewegung zeichnet die Bourgeoisieperiode vor allen anderen aus
—>„Die Bourgeoisie hat in ihrer kaum hundertjährigen Klassenherrschaft massenhaftere und kolossalere Produktionskräfte geschaffen als alle vergangenen Generationen zusammen.“ (MEW 4: 467) Sie hat demnach in unübertroffenem Maße zum technischen und ökonomischen Fortschritt beigetragen
Schließlich hat sie drittens – und das legt das Bild des entfesselten Prometheus (Landes 1973), der Umgestaltung der Welt nach ihrem eigenen Bilde nahe – eine weltweit einheitliche Zivilisation geschaffen. „Die Bourgeoisie“, so konstatieren Marx und Engels, „reißt durch die rasche Verbesserung aller Produktionsinstrumente, durch die unendlich erleichterten Kommunikationen alle, auch die barbarischsten Nationen in die Zivilisation.“
-Diese drei bahnbrechenden Leistungen zu gesellschaftlichem, technisch-ökonomischem und zivilisatorischem Fortschritt läuten ein Zeitalter bürgerlicher Weltherrschaft ein, das ungleich stabiler erscheint als alle vorangegangenen Weltreiche zusammen
-Wie soll man sich unter diesen Umständen vorstellen, dass eines Tages eine andere Klasse an die Stelle des erfolgreichen Bürgertums treten sollte? Diese neue Klasse müsste, wenn man der Logik des Klassenkampfmodells im Kommunistischen Manifest folgt, mit ähnlichen Leistungen aufwarten können wie die Bourgeoisie.
-Marx und Engels glauben die neue, fortschrittliche Klasse im Proletariat gefunden zu haben. Was prädestiniert das Proletariat zu dieser Führungsrolle? Worin besteht sein Beitrag zu gesellschaftlichem Fortschritt? Wie sehen seine Leistungen auf den Gebieten der fortschreitenden Entzauberung und Enttraditionalisierung, der Entwicklung der Produktivkräfte und der Zivilisation aus? Marx und Engels geben eine verblüffende, um nicht zu sagen, paradoxe Antwort: seine Unterdrückung.
-Die prophetische These von Marx und Engels lautet: „Mit der Entwicklung der großen Industrie wird [...] unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst hinweggezogen, worauf sie produziert und Produkte sich aneignet. Sie produziert vor allem ihre eigenen Totengräber. Ihr Untergang und der Sieg des Proletariats sind gleich unvermeidlich.“ (MEW 4: 474) Wie begründen sie diese überraschende und auf Anhieb wenig überzeugende These?
-Nicht so Marx und Engels, die das Ende bürgerlicher Herrschaft nicht bei der Bourgeoisie selbst suchen, sondern bei ihrem Klassengegner: dem Proletariat. Marx und Engels stützen also ihre Erklärung hauptsächlich auf die Rolle, Entwicklung und politische Organisation der Arbeiterklasse. Das Proletariat als unterdrückte Klasse, so hatten wir gesehen, entsteht mit der Bourgeoisie als Unterdrücker. Die Ausbeutung der Arbeiterklasse besteht zum einen in der Entfremdung im Arbeits- und Produktionsprozess, zum anderen in der Verelendung im realen Lebens- und Reproduktionsprozess. Die Arbeiter werden zum leblosen Appendix der Maschine und damit zu „gemeinen Industriesoldaten“ im Produktionsprozess und zum Pauper im Reproduktionsprozess. Zu dieser Entfremdung gesellt sich die Verelendung, da die Löhne sich zum Teil unter dem Existenzminimum bewegen
-Marx und Engels führen also die notwendige Revolutionierung aller gesellschaftlichen Verhältnisse weniger auf die fortschreitende Degeneration der Bourgeoisie zurück, sondern auf die Degeneration der Arbeiterklasse. Technisch und ökonomisch gesehen, hat demnach die Bourgeoisie noch lange nicht ausgespielt: die Revolutionierung der Produktivkräfte, die koloniale Erschließung neuer Märkte, die Expansion der Wirtschaftsbeziehungen, die Perfektionierung kapitalistischer Organisation in der Großindustrie usf. – alles dies ist und bleibt ihr Werk
-Es bleibt daher festzuhalten: Marx und Engels' Zeitdiagnose im Kommunistischen Manifest, die eine gewaltsame Umwälzung und die Herrschaft des Proletariats prognostiziert, stützt ihre Aussage in erster Linie auf die Entwicklung des Proletariats und nicht auf die wachsende Schwäche der Bourgeoisie.
-Die revolutionären Erwartungen stützen sich daher eher auf das Proletariat. Was macht das Proletariat zu einer revolutionären Klasse? Wir haben gesehen, dass Marx und Engels darauf vier Antworten geben:
Erstens, die wachsende Ausbeutung, die auf Entfremdung einerseits und auf Verelendung andererseits beruht;
zweitens, die Dichotomisierung der Klassenstruktur – das Verschwinden von Zwischen- und Übergangsklassen und das Anwachsen des Proletariats;
drittens, die wachsende politische Organisation der Arbeiterklasse;
viertens, die Zunahme des Klassenkampfes zwischen Bourgeoisie und Proletariat.
—>Diese vier quantitativen Steigerungsprozesse – Ausbeutung, Wachstum des Proletariats, politische Mobilisierung und politische Organisation sowie verschärfter Klassenkampf – erreichen einen Punkt, an dem sie in eine neue Qualität umschlagen. Die Anlehnung an Hegels dialektisches Modell ist unübersehbar: 'was vernünftig ist, wird wirklich`
-Die proletarische Revolution, so Marx‘ und Engels‘ Zuversicht, wird gleichsam die erste und letzte Revolution sein; die erste Revolution, die nicht eine alte durch eine neue Klassengesellschaft ersetzt, sondern die Existenz von Klassen gänzlich abschafft; die letzte Revolution, weil die freie Assoziation gesellschaftlicher Produzenten das „Reich der Freiheit“ in Gestalt einer wahrhaft humanen, brüderlichen Gesellschaft errichtet. Die sozialistische Gesellschaft ist daher „Gemeinschaft“ und „Gesellschaft“ zugleich: Gemeinschaft, weil sie in der freien Vereinigung assoziierter Individuen und mit der allseitigen Entfaltung des Menschen ein wirksames Band der Solidarität stiftet; Gesellschaft, weil dieses humane Zusammenleben auf dem hohen Stand der kapitalistischen Entwicklung der Produktivkräfte und des akkumulierten kapitalistischen Reichtums erfolgt. Sozialismus, in einem Satz, ist das Versprechen „to have the best of both worlds“: vom Kapitalismus den Reichtum, vom Kommunismus die Brüderlichkeit
-Hegelsche Philosophie als Grundlage für seine Suche nach einer „Wirklichkeitswissenschaft“:
„Das was ist zu begreifen“, so Hegel in der Rechtsphilosophie, „ist die Aufgabe der Philosophie, denn das was ist, ist die Vernunft. Was das Individuum betrifft, so ist ohnehin jeder Sohn seiner Zeit; so ist auch die Philosophie ihre Zeit, in Gedanken gefaßt.“ (Hegel 1970: 26) Philosophie als Zeitdiagnose – das ist eine Vorstellung, die Marx sich zu eigen macht. Die Erkenntnis der Wirklichkeit erlaubt es, die „Zeichen der Zeit“ zu deuten und auf den Begriff zu bringen.
-Zweitens hilft bei diesem Unterfangen Hegels Methode der Dialektik. Der Dreischritt von These, Antithese und Synthese legt die Vorstellung nahe, dass die Geschichte der Menschheit als wechselvoller Prozess von Ordnung und Konflikt, Bewahrung und Wandel, Krisen und Kämpfen, Reaktion und Revolution zu begreifen ist. Die menschliche Geschichte folgt nicht einfach einem geradlinigen, lineareren Prozess, sondern vollzieht sich in qualitativen Sprüngen zu neuen Synthesen, die ihrerseits wieder der Ausgangspunkt für neuerliche Thesen und Antithesen werden.
-Marx macht sich die dialektische Methode zu eigen, steht sie doch für zwei unvergleichliche Vorzüge; zum einen gibt sie mit dem Dreiklang von These, Antithese und Synthese ein präzises Erkenntnisinstrument zum Studium der Geschichte an die Hand; zum anderen ermöglicht sie, den Idealismus in der Wirklichkeit selbst zu realisieren und damit den unversöhnlichen Dualismus von Sein und Sollen zu überwinden, den Kants idealistische Philosophie errichtet hatte.
-Darüber hinaus knüpft Marx noch in einer weiteren Hinsicht an Hegels Philosophie an. Er übernimmt, drittens, einen wichtigen theoretischen Baustein von Hegels Ansatz. Hegel hatte als Wesen des Menschen die Arbeit bestimmt und als sein Schicksal die Entfremdung. Dieser Zusammenhang von Arbeit und Entfremdung ist der konstitutive Ausgangspunkt von Marx‘ eigener Theorie.
-Trotz dieser drei zentralen Anknüpfungspunkte – Philosophie als Zeitdiagnose, Dialektik als Methode und Arbeit und Entfremdung als theoretische Grundlage – unterzieht Marx Hegels Philosophie einer radikalen Kritik. Ihm muss es in der Tat wie eine „groteske Felsenmelodie“ anmuten, wenn die kritikwürdigen Verhältnisse der preußischen Monarchie bei Hegel unvermutet als „Wirklichkeit der sittlichen Idee“ erscheinen. Marx charakterisiert daher die Hegelsche Staatsphilosophie als spiritualistisch und teleologisch; sie ist spiritualistisch, weil sie den Geist als tätiges Wesen hypostasiert, statt vom wirklichen Menschen auszugehen; und sie ist uneingestandenermaßen teleologisch, weil sie die Selbstentfaltung des Geistes in den politischen Institutionen der preußischen Monarchie zur Ruhe kommen lässt.
-Das große Vorbild, auf das sich der junge Marx bei seinem Versuch stützt, Hegel vom Kopf auf die Füße zu stellen, ist Ludwig Feuerbach. Feuerbach hatte als erster die Hegelsche Philosophie einer radikalen Kritik unterzogen und dabei an der Religion angesetzt. Während Hegel die Religion als erste Stufe des Selbstbewusstseins des Menschen ansieht, fasst Feuerbach sie als extreme Form der Selbstentfremdung des Menschen.
-Marx interessiert sich nicht in erster Linie für Feuerbachs radikale Religionskritik, obgleich er in seiner Ideologiekritik auch die Religion als „Opium des Volkes“ bezeichnet. Vielmehr knüpft er methodisch und theoretisch (nicht aber sachlich) an Feuerbachs Philosophie an. Er übernimmt dessen transformative Methode und verallgemeinert dessen Religionskritik zum Modell radikaler Gesellschaftskritik überhaupt
-Feuerbach hatte Hegel vorgeworfen, dass er Mensch und Natur unnötig voneinander trenne; aber der Mensch ist selbst ein Teil der Natur. Um dies zu zeigen, kehrt Feuerbach die Hegelsche Subjekt-Objekt-Relation gemäß seiner transformativen Methode um . Während Hegels Idealismus das Denken bzw. den Geist als Subjekt setzt und den Mensch und die Natur als Objekt, fasst Feuerbach den Menschen in concreto als Subjekt und das Denken bzw. den Geist als Objekt. Marx geht insofern über Feuerbachs „anschauende(n) Materialismus“ noch einen Schritt hinaus, als er zwar auch den Menschen als Subjekt begreift, als Objekt jedoch die Praxis bzw. die Gesellschaft. Auf diese Weise gelangt er durch die kritische Aneignung von Hegel und Feuerbach zu dem für die klassische Soziologie konstitutiven Begriffspaar von Individuum und Gesellschaft.
-Marx‘ Gedankengang wirft unmittelbar vier Fragen auf:
Erstens, was ist die menschliche Wirklichkeit? Marx’ Antwort: die Praxis. „Der Hauptmangel alles bisherigen Materialismus (den Feuerbachschen mit eingerechnet)“, so Marx in der ersten Feuerbachthese am Beginn der Deutschen Ideologie (1845/46)), „ist, dass der Gegenstand, die Wirklichkeit, Sinnlichkeit nur in der Form des Objekts oder der Anschauung gefaßt wird; nicht aber als sinnlich-menschliche Tätigkeit, Praxis, nicht subjektiv.“
Zweitens erhebt sich die Frage, was der Mensch bzw. das menschliche Wesen sei? Marx’ Antwort: ein tätiges Wesen in Gesellschaft. „[...] das menschliche Wesen“, so Marx in der sechsten Feuerbachthese , „ist kein dem einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse.“
Drittens stellt sich die Frage, was denn die gesellschaftlichen Verhältnisse ausmacht. Marx’ Antwort: die Produktion bzw. die materiellen Bedingungen der Produktion. „Man kann die Menschen durch das Bewußtsein, durch die Religion, durch was man sonst will, von den Tieren unterscheiden. Sie selbst fangen an, sich von den Tieren zu unterscheiden, sobald sie anfangen, ihre Lebensmittel zu produzieren“; kurz: „Wie die Individuen ihr Leben äußern, so sind sie. Was sie sind, fällt also zusammen mit ihrer Produktion, sowohl damit, was sie produzieren, als auch damit, wie sie produzieren. Was die Individuen sind, das hängt ab von den materiellen Bedingungen ihrer Produktion.“
Viertens erhebt sich schließlich die Frage, wer der „erniedrigte Mensch“ denn ist, von dem oben die Rede war? Marx’ Antwort: der entfremdete Mensch. Was versteht Marx unter Entfremdung?
-Marx gebraucht indes den Begriff der Entfremdung vage und weitläufig; zum Teil setzt er ihn synonym mit Entäußerung und differenziert auch nicht systematisch nach verschiedenen Formen der Entfremdung. Man kann vier Formen der Entfremdung unterscheiden:
1. die Entfremdung vom Produkt, das materielle Gewalt über den Produzenten gewinnen kann;
2. die Entfremdung von der eigenen Tätigkeit, etwa in Gestalt der monotonen Routine von Fabrikarbeit im Gegensatz zur reichen Kreativität des Gattungswesen Mensch;
3. die Entfremdung der Menschen untereinander, etwa durch Arbeitsteilung zwischen Stadt und Land und der einhergehenden Differenzierung zwischen Städtern und Landleuten oder der Arbeitsteilung zwischen geistiger und körperlicher Arbeit und der Hierarchisierung von Kopfarbeitern und Handarbeitern;
4. schließlich die Entfremdung vom Gattungswesen Mensch, der für Marx im Bild der allseitigen Entfaltung einen idealen Maßstab als kritische Folie für vorfindbare reale gesellschaftliche Verhältnisse dient.
-Marx‘ materialistische Geschichtsauffassung lässt sich in sieben Punkten resümieren:
1. Der Stoff des gesellschaftlichen Verkehrs sind stets die materiellen Lebensverhältnisse; diese verweisen im Kapitalismus auf die Anatomie der bürgerlichen Gesellschaft und erheben die Politische Ökonomie zur Grundlagenwissenschaft.
2. -Die gesellschaftliche Produktion lässt sich aufteilen in die Produktivkräfte einerseits, die gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse andererseits. Die Produktivkräfte umschreiben stets die Technik im weiteren Sinne, umfassen also die Technologie und die Fähigkeiten und Fertigkeiten der Produzenten. Die Produktivkräfte sind die eigentlich treibenden Kräfte der gesellschaftlichen Produktion und schreiben der Gesellschaft das Entwicklungstempo und die Entwicklungsrichtung vor. Sie sind eingebettet in den Rahmen der Produktionsverhältnisse, die juristisch betrachtet, nichts weiter als die Eigentumsverhältnisse sind.
-Die Produktionsverhältnisse sagen also etwas über die Art und Weise des gesellschaftlichen Verkehrs aus und charakterisieren die Verteilung der Produktionsmittel, idealtypisch den Besitz oder Nicht-Besitz an Produktionsmitteln und damit Kapital und Lohnarbeit, oder, von der Warte der Trägergruppen betrachtet, Bourgeoisie und Proletariat. Zugleich fasst Marx das „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ als Basis, die ideologischen Verkehrsformen als Überbau. Der Überbau – das sind die politischen, rechtlichen und kulturellen Beziehungen. Die Basis oder ökonomische Struktur stellt das treibende Moment dar, der Überbau das Trägheitsmoment, das mit der ökonomischen Entwicklung meist nicht Schritt hält.
-3. charakterisiert Marx das Basis-Überbau-Schema durch die Dialektik von Sein und Bewusstsein. Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein, nicht umgekehrt. Man darf daher nicht einfach von dem herrschenden Bewusstsein einer Epoche ausgehen, um ihre Lebensverhältnisse zu analysieren; das hieße, die ideologischen Verkehrsformen an die Stelle der tatsächlichen materiellen Lebensverhältnisse zu setzen. Man würde einem Schein aufsitzen und nicht zum Wesen der Gesellschaft vordringen. Dennoch ist das Bewusstsein nicht nur ein Epiphänomen der Gesellschaft, denn der Überbau bestimmt darüber, wie die Gesellschaft sich selbst begreift.
-4. tritt der Hiatus zwischen Basis und Überbau, Sein und Bewusstsein immer dann offen zutage, wenn die Produktionsverhältnisse mit der Entwicklung der Produktivkräfte nicht mithalten und, wie Marx es nennt, die Produktionsverhältnisse in eine Fessel für die Produktivkräfte derselben umschlagen.
-5. Marx geht davon aus, dass der so gefasste Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen notwendig und zwangsläufig zu einem offenen Konflikt treibt und, wie er meint, eine Epoche der sozialen Revolution einleitet. Das Ziel und der Endpunkt einer solchen Revolution ist ein neues „Gleichgewicht“ zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen; nach der Logik seiner materialistischen Geschichtsauffassung heißt das, dass eine neue Produktionsweise entsteht und mithin eine neue ökonomische Gesellschaftsformation.
-6. Freilich wird eine neue Gesellschaftsformation nur möglich, wenn alle Bedingungen dafür im „Schoße der alten Gesellschaft“ ausgebildet sind. Beispielsweise wäre eine sozialistische Revolution nur möglich, wenn in der bürgerlichen Produktionsweise die Produktivkräfte so weit entwickelt sind, dass der Übergang zur sozialistischen Produktionsweise möglich wird.
-7. Schließlich unterscheidet Marx asiatische, antike, feudale und bürgerliche Produktionsweisen und setzt diese Produktionsweisen mit der Abfolge von Gesellschaftsformationen gleich. Der Logik von Produktionsweisen entspricht demnach eine historische Abfolge von Gesellschaftsformationen. Entwicklungslogik von Produktionsweisen und Entwicklungsdynamik von Gesellschaftsformationen dürfen also als synonym angesehen werden. Darüber hinaus behauptet Marx, dass asiatische, antike, feudale und bürgerliche Produktionsweise die Vorgeschichte der Menschheit umschreiben. Diese Vorgeschichte der Menschheit weist einmal zurück auf den natürlichen Ausgangspunkt der Entwicklung der Menschheit, die Urgemeinschaft. Und sie deutet prophetisch auf den wahren Beginn der eigentlichen Geschichte hin – die kommunistische Gesellschaft, in der auf höherer Stufe der Produktivkraftentwicklung die nicht-entfremdenden Lebensbedingungen der Urgemeinschaft auf höherem Niveau der sozialistischen Gemeinschaft wieder hergestellt werden.
-Zunächst wirft die Gleichsetzung von Entwicklungslogik von Produktionsweisen und Entwicklungsdynamik von Gesellschaftsformationen die schwierige Frage auf, wie einzelne Produktionsweisen einzuordnen sind; z. B. die asiatische Produktionsweise – geht sie notwendig der antiken Produktionsweise voraus, wie das Schema intuitiv nahelegt? Oder kann sie sich durchaus parallel zur antiken Gesellschaftsformation behaupten, was plausibler erscheint, wenn man die Geschichte von Okzident und Orient vergleichend betrachtet. Ferner verleitet die missverständliche Rede von der „Vorgeschichte“ zu einer teleologischen Geschichtsauffassung, die gar nicht so sehr von der Hegelschen Konstruktion entfernt ist.
-So wie bei Hegel der Weltgeist in der preußischen Monarchie zu sich selbst findet und zur Ruhe kommt, so scheint bei Marx mit der Verwirklichung der kommunistischen Gesellschaft Ziel- und Endpunkt der menschlichen Geschichte erreicht. Schließlich insinuiert das „Ende der Geschichte“ die Vorstellung einer stillgestellten Dialektik, in dem alle gesellschaftlichen Kräfte und Verhältnisse zu einer neuen, versöhnlichen Einheit zurückfinden.
—>Alle Gegensätze scheinen aufgehoben, alle Differenzen eingeebnet; stattdessen herrscht die harmonische Eintracht von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, von Entäußerung und Wiederaneignung, von Produktion und Konsum, von Arbeit und Selbstverwirklichung usf. Man hat daher nicht zu Unrecht dieses geschichtsphilosophische Moment des Historischen Materialismus mit der christlichen Heilslehre verglichen
-Die Kritik der Politischen Ökonomie in Gestalt der Kapitalproduktion und -verwertung bildet das Herzstück der Marxschen Theorie
-Das Kapital ist damit ökonomische Strukturanalyse und praktisch folgenreiche Ideologiekritik. Was Marx zu zeigen versucht, sind die typischen Verkehrungen in der bürgerlichen Gesellschaft. Er bedient sich dazu einmal mehr der bei Feuerbach entlehnten transformativen Methode. So wie er in seiner Kritik der Hegelschen Staats- und Rechtsphilosophie den Nachweis geführt hatte, dass Hegel am Ende die preußische Monarchie mit dem Selbstbewusstsein des Weltgeistes gleichsetzen muss, so bemüht sich seine Kritik der Politischen Ökonomie aufzuzeigen, dass die politischen Ökonomen die kapitalistische Produktionsweise mit der Wirtschaft schlechthin gleichsetzen.
-Diese Oberflächenphänomene wie Äquivalententausch, Konkurrenz und die Einkommensarten Profit, Grundrente und Lohn sind jedoch nur Ausdruck der Kerngestalt und Grundstruktur modernen Wirtschaftens: der gesellschaftlichen Kapitalproduktion und -verwertung, die auf gesellschaftlicher Produktion bei privater Aneignung beruht und die Ausbeutung der Arbeiterklasse bedingt. Was die Klassiker der Politischen Ökonomie als natürlich ansehen, ist also in Wirklichkeit ein gesellschaftlicher Prozess. Als gesellschaftliche Prozesse unterliegen die Produktions- und Verkehrsformen historischem Wandel – der gesellschaftliche Prozess im Kapitalismus ist so, aber er muss nicht immer so sein und kann – mit Willen und Bewusstsein – geändert werden. Diese prinzipielle Wandelbarkeit der kapitalistischen Produktionsweise unterstreicht Marx gleich zu Beginn seiner Untersuchung:
-Ausgangspunkt seiner Untersuchung ist die Beobachtung, dass der Reichtum der modernen Gesellschaften als „ungeheure Warensammlung“ erscheint. Sein Augenmerk richtet sich daher zuerst auf die Grundeinheit der Ware und das Verhältnis von Ware und Geld. Wodurch wird eine Ware bestimmt? Zunächst ist eine Ware ein nützliches Ding mit Gebrauchswert. In der arbeitsteiligen, bürgerlichen Ökonomie werden Waren jedoch produziert, um von demjenigen, der sie benötigt, durch Austausch einen Gegenwert zu bekommen. Das macht den Tauschwert einer Ware aus. Eine Ware ist also immer zweifach bestimmt: durch ihren Gebrauchswert und ihren Tauschwert.
-Nach ihrem Gebrauchswert sind die Waren höchst unterschiedlich, während sie nach ihrer abstrakten Eigenschaft, Tauschwert zu besitzen, gleich sind. Was macht den gemeinsamen Nenner des Tauschwerts aller Waren aus? Marx zufolge ist es die Tatsache, Produkt von Arbeit, also Arbeitsprodukt zu sein. Er vertieft diese Einsicht, indem er eine Unterscheidung einführt, die Gebrauchs- und Tauschwert analog ist: die Unterscheidung von nützlicher, konkreter Arbeit und abstrakter Arbeit. Wenn eine Schneiderei ein Kleid herstellt, so ist dies konkrete Arbeit mit Gebrauchswert. Betrachtet man die Kleiderproduktion eines Landes, so richtet sich das Augenmerk auf die abstrakte Arbeit, die Verausgabung von „Hirn, Muskel, Nerv, Hand“ . Die Gleichheit der Tauschwerte besteht in der auf ihre Produktion verwendeten abstrakten, qualitätslosen Arbeit, da nur sie in Zeitanteilen gemessen werden kann. Marx schließt daraus, dass die durchschnittlich notwendige Arbeitszeit, die zur Produktion einer Ware verausgabt wird, ihren Wert bestimmt. Der Wert einer Ware, ihr Tauschwert, bemisst sich also nach der in sie eingegangenen, durchschnittlichen notwendigen Arbeitszeit
-Nun darf man diese Behauptung nicht so verstehen, als ob im Tausch jedes Mal die durchschnittlich notwendige Arbeitszeit zweier Waren verglichen wird. Vielmehr drückt sich der Wert einer Ware in ihrem Preis aus, der in Geldgrößen gefasst wird. Das Geld ist nach Marx selbst eine Ware, welche den Wert aller anderen Waren materiell ausdrückt. Das Geld ist also das notwendige Zwischenglied jedes Warentausches. Die Waren drücken im Geld ihren Tauschwert aus
-Dennoch ist die Warenanalyse als pars pro toto Charakterisierung des Kapitalismus nur die Vorstufe für das Herzstück der Untersuchung: die Bestimmung von Lohnarbeit und Kapital. Marx versucht in den nächsten Schritten aufzuzeigen, wie aus dem Geld- und Warenverkehr Kapital entspringen kann. Kapital kann man als Ressource ansehen, die mit der Absicht eingesetzt wird, ihren Wert zu erhöhen bzw. Mehrwert zu bilden. Da am Markt durchschnittlich Äquivalententausch herrscht, muss die Vergrößerung der investierten Wertsumme auf einer eingetauschten Ware beruhen, welche „die eigentümliche Beschaffenheit besäße, Quelle von Wert zu sein [...]. Und der Geldbesitzer findet auf dem Markt eine solche spezifische Ware vor – das Arbeitsvermögen oder die Arbeitskraft.“ Was versteht Marx darunter? „Unter Arbeitskraft oder Arbeitsvermögen verstehen wir den Inbegriff der physischen und geistigen Fähigkeiten, die in der Leiblichkeit, der lebendigen Persönlichkeit eines Menschen existieren und die er in Bewegung setzt, sooft er Gebrauchswerte irgendeiner Art produziert.“
-Die Menschen, die nichts als ihre Arbeitskraft besitzen, sind die Proletarier. Der moderne Arbeiter ist in dem Doppelsinne frei, „dass er als freie Person über seine Arbeitskraft als seine Ware verfügt
-Worin besteht das Geheimnis der Ware Arbeitskraft, mehr Wert zu schaffen? Marx arbeitet mit folgendem Beispiel: Man stelle sich, dass ein Arbeiter sechs Stunden pro Tag arbeiten muss, um die Lebensmittel zu seiner eigenen Reproduktion zu erzeugen. Tatsächlich arbeitet er aber zwölf Stunden. Die zweite Hälfte des Arbeitstages – die sog. Surplusarbeitszeit im Gegensatz zur reproduktionsnotwendigen Arbeitszeit – wird vom Kapitalisten angeeignet. Die unbezahlte Mehrarbeit schafft den Mehrwert. Mehrwertproduktion zieht zwangsläufig Ausbeutung oder Exploitation nach sich. Warum? Nach dem Prinzip des Äquivalententauschs wird im Arbeitsvertrag festgelegt, dass Arbeitskraft gegen Arbeitslohn getauscht wird; mithin wird unterstellt, dass die gesamte Arbeitsleistung des Arbeiters bezahlt wird; in Wirklichkeit jedoch ist das nicht der Fall. Die Diskrepanz zwischen dem Prinzip des Äquivalententauschs und der tatsächlichen Unternehmerpraxis bezeichnet Marx als Ausbeutung.
-Um dieses einfache Beispiel zu vertiefen, unterscheidet Marx zwei Arten der Mehrwertproduktion: die Produktion des absoluten und relativen Mehrwerts: Angenommen, die notwendige Arbeitszeit sei konstant (6 Stunden), die Surplusarbeitszeit variabel. Unter dieser Prämisse kann der Kapitalist in dem Maße seinen Mehrwert erhöhen, wie er den Arbeitstag verlängert. Denn: Je länger der Arbeitstag, desto größer die Mehrarbeit. Diese Produktion des absoluten Mehrwerts ist jedoch beschränkt durch den kollektiven Widerstand der Arbeiter, wie Marx an dem Kampf um den Normalarbeitstag demonstriert.
—>Typisch für die kapitalistische Produktionsweise ist daher die Produktion des relativen Mehrwerts. In diesem Falle ergibt sich das Wachstum der Mehrwertproduktion aus der Verkürzung der notwendigen Arbeitszeit, die möglich wird, wenn die Produktivkraft der Arbeit durch neue Technologien verbessert wird. Das hat zur Konsequenz, dass die Arbeitskraft billiger wird.
—> Um diesen Zusammenhang im Einzelnen zu veranschaulichen, untersucht Marx die Produktionsmethoden des relativen Mehrwerts. Er studiert die Kooperation, die Manufaktur, die große Industrie und die Fabrik. In allen diesen Formen der Arbeitsteilung, so Marx, wird die Ausbeutung verschärft. So wird die kombinierte Arbeitskraft nicht bezahlt, weil nur der einzelne Arbeiter entlohnt wird. Ferner haben diese neuartigen Formen der Arbeitsteilung die Intensifikation der Arbeit, die Verdichtung der Arbeitszeit und den breiten Einsatz von Frauen- und Kinderarbeit zur Folge.
-Diese Methoden der Mehrwertproduktion, die in den neuen Formen der Arbeitsteilung zum Ausdruck kommen, ziehen nicht nur eine verschärfte Ausbeutung der Arbeiter nach sich. Sie verändern auch in folgenreicher Weise das Verhältnis von toter Arbeit und lebendiger Arbeitskraft. Als tote Arbeit bezeichnet Marx die Maschinen und Arbeitsmittel, die das Produkt lebendiger Arbeitskraft sind. Nach seiner Auffassung steuert nur die lebendige Arbeitskraft zur Wertschöpfung bei. Die wachsende Disproportionalität zwischen toter und lebendiger Arbeit verändert das Verhältnis von konstantem und variablem Kapital, die Marx auch die organische Zusammensetzung des Kapitals nennt. Als konstantes Kapital fasst Marx die Investition in Produktionsmittel, da diese ihre Wertgröße im Produktionsprozess selbst nicht verändern; als variables Kapital bezeichnet er die eingesetzte Arbeitskraft, die im Produktionsprozess ihren Wert erhöht.
—> Das Kapital C setzt sich also zusammen aus konstantem Kapital c und variablem Kapital v; der Wert der produzierten Ware lässt sich auf die Formel bringen: W = c + v + m (m = Mehrwert).
-Die Veränderung in der organischen Zusammensetzung des Kapitals zieht paradoxe Folgen nach sich. Der wachsende Einsatz von Maschinerie – die Steigerung von c – bedingt die Reduktion von v – den Einsatz von Arbeitskraft. Diese Veränderung bringt unerwünschte Effekte für Kapital und Arbeit mit sich:
Für das Kapital: Einerseits soll der höhere Aufwand für das konstante Kapital die notwendige Arbeitskraft verkürzen und so den Mehrwert erhöhen; andererseits verkleinert er den Einsatz von lebendiger Arbeitskraft, die allein mehrwertschöpfend sein soll.
Für die Arbeit: Der geringe Einsatz von Arbeitskraft trägt zu technologisch bedingter Arbeitslosigkeit bei und drängt immer mehr Arbeiter in die industrielle Reservearmee ab
-Die fatalen Folgen, die aus der Veränderung der organischen Zusammensetzung des Kapitals resultieren, bestätigen in Marx‘ Augen nur den Grundwiderspruch der kapitalistischen Produktionsweise: die gesellschaftliche Produktion einerseits, die private Aneignung andererseits. In diesem Fall kommt der Grundwiderspruch zum Ausdruck in der parallelen Überproduktions- und Unterkonsumtionskrise: Die geschilderten Methoden zur Steigerung der Mehrwertproduktion führen zwar zu einem Wachstum des Güterausstoßes, der aber angesichts des Drucks auf die Arbeiterlöhne und der sich vergrößernden industriellen Reservearmee keine Abnehmer findet. Diese endemische Systemkrise des Kapitalismus – Überproduktion und Unterkonsumtion – das hat schon die vereinfachte Analyse der Gesetze der kapitalistischen Warenproduktion gezeigt, verweist zugleich auf den Handlungskonflikt zwischen Kapital und Lohnarbeit: dem Widerspruch zwischen Bourgeoisie und Proletariat.
-In der Unternehmerpraxis wird die organische Zusammensetzung des Kapitals – also c + v – zum Kostpreis k einer Ware zusammengefasst, der vorgeschossen wird, um den Profit p zu erzeugen. Aus der ursprünglichen Formel W = c + v + m wird damit W = k + p. Zudem orientiere sich der Kapitalist weniger an der Mehrwertrate m/v, welche das Verhältnis von Mehrwert zum variablen Kapital und zugleich den Exploitationsgrad der Arbeit markiert; vielmehr sei für ihn maßgebend die Profitrate m/(c + v) = m/C, die das Verhältnis von Mehrwert und dem gesamten investierten Kapital bezeichnet. Marx geht davon aus, dass ein Unternehmen mehrere Produktionsbereiche besitzt, die unterschiedliche Profitraten abwerfen. Der Kapitalist wird den durchschnittlichen Profit errechnen und ihn dem Kostpreis zuschlagen. Daraus resultiert der Produktionspreis, den der Kapitalist auf alle Fälle erhalten will
-Freilich gibt es Tendenzen, welche dem allgemeinen Gesetz entgegenwirken. Marx nennt im Einzelnen: 1. Die Erhöhung des Exploitationsgrades der Arbeit; 2. Die Herabdrückung des Arbeitslohnes unter seinen Existenzwert; 3. Die Verbilligung der Elemente des konstanten Kapitals; 4. Die relative Überbevölkerung; 5. Der auswärtige Handel; 6. Die Zunahme des Aktienkapitals.
-Trotz dieser Gegentendenzen ist Marx überzeugt, dass sich der tendenzielle Fall der Profitrate und daraus die bereits genannte Krise von Überproduktion und Unterkonsumtion ergeben. Vor allem durch die Konzentration und Zentralisation des Kapitals wachse die Produktivkraft schneller als die Bevölkerung, so dass die Kapitalakkumulation keine Verwertung finden könne. Daraus resultieren die periodisch wiederkehrenden Krisen. Für Marx steht fest, „dass im Maße wie Kapital akkumuliert, die Lage des Arbeiters, welches immer seine Zahlung, hoch oder niedrig, sich verschlechtern muß.
-Émile Durkheims Augenmerk ist auf den Zusammenhang von freiwilliger Kooperation und gesellschaftlicher Koordination gerichtet. Wir arbeiten freiwillig zusammen – Arbeitsteilung und Kooperation; aber aus dieser Zusammenarbeit resultieren Pflichten und Zwänge, die – obschon unintendiert – erfüllt werden müssen, um die erfolgreiche Funktionsweise dieser Kooperation auf Dauer zu stellen. Insofern geht ein regelrechter Druck zu sozialer Solidarität aus den Folgen der arbeitsteiligen Kooperation hervor. Émile Durkheims Interesse an gesellschaftlicher Koordination, die er in der spannungsgeladenen Beziehung zwischen Arbeitsteilung und Solidarität fasst, reiht sein Werk in die Tradition gesellschaftstheoretischer Ansätze ein, die allesamt der Frage nachgespürt haben, was die Welt im Innersten zusammenhält
-Wo ist die Identität in der Differenz? Die Antwort, die von Adam Smith bis Herbert Spencer gegeben wird, lautet: das ureigenste Interesse, denn die Verfolgung persönlicher Interessen steigert nicht nur das eigene Wohlergehen – die individuelle Wohlfahrt; sondern ineins mit der individuellen Interessenverfolgung wird auch der gesellschaftliche Zusammenhalt über die Produktion gesellschaftlichen Reichtums – The Wealth of Nations (Smith 1978) – und somit gesellschaftlicher Wohlstand hergestellt. Émile Durkheim hält diese Lösung der Ordnungsproblematik – die utilitaristische Moral individueller Interessenverfolgung – für eine denkbar schwache und instabile Konstruktion. Aber was ist die Alternative zu dieser ökonomischen Lesart moderner Sozialordnung? Auf der Suche nach einer besseren Alternative wendet er sich dem Idealismus Kants zu. Kant hatte das Credo der Aufklärung – das Sapere Aude – in der Gestalt einer neuen Moraltheorie konstruktiv weiterentwickelt. Der kategorische Imperativ ist das Moralgesetz, welches eine geregelte Sozialordnung mit individueller Freiheit zu realisieren erlaubt. Die Grundfrage in Kantischer Diktion lautet von nun an: Wie ist soziale Ordnung mit moralischer Autonomie zu vereinbaren
-Arbeitsteilung und Moral bezeichnen die strukturellen und moralischen Grundkomponenten von Durkheims Version der Ordnungsproblematik. Aber wie lassen sich Smith und Kant, Utilitarismus und Idealismus zusammendenken? Meiner Auffassung nach verknüpft Durkheim die unterschiedlichen Traditionen in der Weise, dass er sich auf die Suche nach einer dynamischen und gerechten Sozialordnung begibt, Blick nicht rückwärtsgewandt auf eine vermeintlich goldene Zeit, sondern vorwärts gerichtet auf eine bessere Zukunft.
-Mit der Forderung nach Gerechtigkeit meldet Durkheim den moralischen Anspruch an, dass die Früchte der gesellschaftlichen Arbeit auch fair verteilt werden. Wie verwirklicht man ein solches Ideal? Wenn die dynamische und gerechte Sozialordnung die Problemstellung umschreibt, wie lautet die Problemlösung? Durkheim glaubt die Lösung in einer reformerischen Konzeption zu finden, die man in Anlehnung an Talcott Parsons auf die Formel vom institutionellen Individualismus bringen kann.
-institutioneller Individualismus: Durkheim entwickelt grob die Umrisse einer institutionellen Konfiguration, die es erlauben soll, den moralischen Individualismus zu verwirklichen. Der moralische Individualismus, wie er die Werte von 1789 auch kurzerhand bezeichnet, existiert zwar in den Köpfen der Menschen und steht in den Verfassungen der französischen Gesellschaft geschrieben; doch ist er bislang nicht in institutionelle Realität umgesetzt worden. Erst wenn es gelingt, Institutionen nach den Werten von 1789 zu bauen, werden diese Grundsätze im sozialen Leben auch praktisch wirksam. Sie stecken dann nicht mehr nur als ein Ideal in den Köpfen der Menschen und den Präambeln von Verfassungen, sondern werden – zumindest partiell – soziale Wirklichkeit.
-Mit Karl Marx verbinden Durkheim vor allem die Werte der französischen Revolution. Zwar teilen in gewisser Weise alle klassischen Soziologen dieses Werteprogramm; aber nach meiner Auffassung verfolgen nur Marx und Durkheim in konsequenter Weise das Ziel
Die Lösung liegt für Marx wie für Durkheim in der gesellschaftlichen Regulierung der Ökonomie, wenn auch Durkheim von der Vergesellschaftung der Produktionsmittel wenig hält. Die wichtigsten Unterschiede betreffen zweifellos die Einschätzung der modernen Gesellschaft: Durkheim spricht nicht von Kapitalismus und Entfremdung, sondern – der Tradition von Saint-Simon folgend – von industrieller Gesellschaft und Anomie. Klassen sind daher ein vorübergehendes Phänomen auf dem Wege von der traditionellen zur modernen Gesellschaft und werden in dem Maße verschwinden, wie soziale Ungleichheiten abgebaut werden. Dies soll nicht durch eine sozialistische Revolution geschehen wie bei Marx, sondern mittels geplanter institutioneller Reformen. Statt für Sozialismus als wahrem Humanismus, plädiert Durkheim für organische Solidarität und institutionellen Individualismus
-Die Analyse von Durkheims Zeitdiagnose verfolgt drei Thesen:
-1. Die zeitdiagnostische These, die wir auf die Formel vom institutionellen Individualismus gebracht haben.
-2. Die werkinterpretatorische These, die – ähnlich wie bei Marx – als Kontinuität des Werkes trotz materialer Umorientierung gefasst wird. Wie gesehen, wird in der Sekundärliteratur gern der frühe philosophische Marx von einem späten politökonomischen Marx abgegrenzt, ohne dass die Einheit des Werkes sichtbar wird. Auch im Falle von Durkheim kursieren Interpretationen, die einen Unterschied machen zwischen dem frühen Durkheim, der sich mit Arbeitsteilung und Differenzierung befasst, und einem späten Durkheim, der sich mit Religion beschäftigt
-3. Die systematische These zielt schließlich auf die soziologische Transformation der sozialphilosophischen Ordnungsproblematik, wie sie eingangs bereits kurz beschrieben wurde. Soziale Ordnung und individuelle Freiheit werden übersetzt in den Zusammenhang von Arbeitsteilung und Moral bzw. Solidarität. Das beweist die Fragestellung der Arbeitsteilung: „Die Frage, die am Anfang dieser Arbeit stand, war die nach den Beziehungen zwischen der individuellen Persönlichkeit und der sozialen Solidarität. Wie geht es zu, dass das Individuum, obgleich es immer autonomer wird, immer mehr von der Gesellschaft abhängt? Wie kann es zu gleicher Zeit persönlicher und solidarischer sein? [...] Uns schien, dass die Auflösung dieser scheinbaren Antinomie einer Veränderung der sozialen Solidarität geschuldet ist, die wir der immer stärkeren Arbeitsteilung verdanken.“
-Durkheim definiert Soziologie als „Wissenschaft von den Institutionen, deren Entstehung und Wirkungsart“ (Durkheim 1976: 100)
-Anders als Montesquieu will Durkheim den Gegenstand der Soziologie jedoch nicht nur auf politische Einrichtungen beschränkt sehen, sondern er fasst darunter allgemein und viel weiter alle sozialen Faktoren, Strömungen und kollektiven Vorstellungen in einer Gesellschaft.
-Durkheim schlägt daher vor, den eigentlichen Gegenstand in sozialen Phänomenen bzw. sozialen Tatbeständen zu sehen. Durkheim definiert einen fait social als „jede mehr oder minder festgelegte Art des Handelns, die die Fähigkeit besitzt, auf den Einzelnen einen äußeren Zwang auszuüben; oder auch, die im Bereich einer gegebenen Gesellschaft allgemein auftritt, wobei sie ein von ihren individuellen Äußerungen unabhängiges Eigenleben besitzt“. Diese Definition enthält einige Merkmale, die zusammen genommen die Eigenart von Durkheims Konzeption ausmachen; deshalb sollen die Elemente Äußerlichkeit, Zwanghaftigkeit, Allgemeinheit und Unabhängigkeit näher betrachtet werden, um sie besser zu verstehen
-1. Äußerlichkeit: Dieses Kriterium verweist auf die Existenz „besondere[r] Arten des Handelns, Denkens, Fühlens, deren wesentliche Eigentümlichkeit darin besteht, dass sie außerhalb des individuellen Bewußtseins existieren“. Durkheim verbindet mit diesem Element zwei Überlegungen: Einerseits verbürgt die Exteriorität von jedem individuellen Bewusstsein einmal mehr die methodisch gesicherte Erkenntnis, dass soziale Phänomene einen eigenständigen Bereich verkörpern und sich weder auf Psychologie noch auf Biologie reduzieren lassen , . Zum anderen weist die Äußerlichkeit auf das sachliche Erfordernis hin, dass soziale Verpflichtungen weder vom einzelnen Individuum geschaffen worden noch ihm angeboren sind, sondern „im Wege der Erziehung“ erworben werden
-2. Zwang: Dieses Kriterium verkörpert den imperativen Charakter sozialer Verbindlichkeiten. Gleich, ob es sich um Rechtsnormen, Moralgebote, Sitten oder Konventionen dreht, stets sind soziale Phänomene „mit einer gebieterischen Macht ausgestattet“ (Durkheim 1976: 106), die das Handeln von Individuen beeinflusst. Der verhaltenssteuernde Druck sozialer Regeln wird immer dann sichtbar, wenn Individuen Normen verletzen und Sanktionen für dieses abweichende Verhalten auf sich ziehen. In allen diesen Fällen bekommen zuwiderhandelnde Menschen den Widerstand sozialer Regelungen zu spüren, der sich der Missachtung oder dem Versuch ihrer Änderung entgegenstellt.
-3. Allgemeinheit: Dieser Klasse verbindlicher Regelungen, die über den Indikator der Sanktionierung unproblematisch zu erfassen sind, fügt Durkheim (1976: 112) eine weitere Klasse von sozialen Phänomenen hinzu, die nicht so leicht aufzuspüren sind, weil sie nur „mittelbare[n] Zwang“ ausüben. Darunter versteht er soziale Strömungen wie kollektive Massenhysterien oder soziale Tendenzen, die in statistischen Geburten-, Ehe- und Selbstmordraten enthalten sind. Der zweite Teil der Definition versucht dieser Klasse von Phänomenen gerecht zu werden, „die im Bereiche einer gegebenen Gesellschaft allgemein auftritt, wobei sie ein von ihren individuellen Äußerungen unabhängiges Eigenleben besitzt“
-4. Unabhängigkeit: Dieses Merkmal unterstreicht, dass durchschnittlich vorfindbare und damit allgemein geäußerte Verhaltensweisen in den individuellen Inkarnationen nicht aufgehen, sondern ein von den individuellen Manifestationen trennbares und damit unabhängiges Eigenleben führen. Exemplarisch verkörpern diese Verknüpfung von Allgemeinheit und Unabhängigkeit sozialer Phänomene statistische Raten, die alle individuelle Fälle enthalten, individuelle Besonderheiten durch ihre Aggregation wechselseitig neutralisieren, sodass die soziale Tendenz in reinster Form zutage tritt
-Nirgendwo kommt die kollektive Natur des Sozialen und damit die methodologische Eigenart seines Ansatzes so deutlich zum Ausdruck wie im Begriff der Gesellschaft, die Durkheim nach dem Prinzip der schöpferischen Synthese als Realität sui generis, als Emergenz begreift. Ganz im Geiste von Auguste Comte fasst Durkheim das Soziale als eigenständigen Bereich der Realität, der sich weder auf physische, biologische oder gar psychische Faktoren zurückführen lässt.
-Nach der ausführlichen Diskussion der analytischen Merkmale sozialer Phänomene und der methodologischen Eigenart von Durkheims Ansatz stellt sich die Frage nach ihrer konkreten methodologisch-theoretischen Erfassung. Seine Erklärungsstrategie besteht stets aus drei Schritten: Wer das soziale Leben verstehen will, muss sich um eine Beschreibung, Erklärung und Beurteilung von sozialen Phänomenen bemühen:
- 1. Beschreibung: Dazu gilt es, sich in einem ersten Schritt aller vorgefassten Ideen und Vorurteile zu entledigen, soziale Phänomene in ihrer Eigenart und anhand ihrer äußeren Merkmale gleichsam wie Dinge, comme des choses, zu beschreiben. Diese Chosismus-These von Durkheim beruht auf drei Überlegungen. Zunächst sollte sich die Untersuchungspraxis in den Sozialwissenschaften nicht mit Ideen über soziale Sachverhalte begnügen, sondern sie in ihren empirischen Erscheinungsformen selbst zu erfassen suchen. Ganz im Sinne des methodischen Zweifels von Descartes muss der wissenschaftliche Beobachter „beim Vordringen in die soziale Welt das Bewußtsein haben, dass er ins Unbekannte dringt“ . Sodann sollte der Gegenstand mit der sog. Initialdefinition möglichst exakt bestimmt werden. Das gelingt am ehesten, wenn diese Definition objektiv und allgemein ausfällt. Objektiv, weil die wesentlichen Grundzüge erfasst sind; allgemein, wenn auch alle gleichartigen Phänomene dem Begriff subsumiert werden.
-2. Erklärung: Bietet diese Klassifikation von Gesellschaften einen theoretischen Rahmen zur Ordnung des Materials, so verlangt die Erklärung eines Phänomens die gesonderte Analyse seiner Funktionalität und Kausalität: Der sachliche Begründungszusammenhang – wie hängt ein Phänomen mit dem anderen zusammen – muss also stets von dem genetischen Entstehungszusammenhang – wie ist ein Phänomen entstanden – getrennt untersucht werden. Genese und Geltung müssen stets separat erforscht werden. Das gelingt am besten durch die historisch-komparative Methode, einen gleichsam indirekt experimentellen Zugang zur Realität: Zum einen kann man diachron, also historisch-vergleichend, zum anderen synchron, also historisch-vergleichend verfahren
-3. Beurteilung: Ein Phänomen zu verstehen, heißt indes nicht nur, eine adäquate Beschreibung und Erklärung vorzulegen, sondern auch eine Beurteilung vorzunehmen. Ist ein Phänomen normal oder pathologisch? Aber wie kann man diese schwierige Unterscheidung vornehmen? Durkheim schlägt die allgemeine Verbreitung als Normalitätskriterium vor; d. h. zunächst wird die durchschnittliche Häufigkeit durch Beobachtung konstatiert; sodann wird die historische Bedingungskonstellation für deren Allgemeinheit ermittelt; schließlich wird durch einen Vergleich von Vergangenheit und Gegenwart festgestellt, ob diese ursprünglichen Bedingungen noch gegeben sind oder nicht: wenn ja, ist das fragliche Phänomen normal, wenn nicht, gilt es als pathologisch
-In der Arbeitsteilung sucht sich Durkheim ein theoretisch angeleitetes Bild von der Struktur und Funktionsweise moderner Gesellschaften zu verschaffen —>Bezugsrahmen, in dem er die dominanten Probleme moderner Gesellschaften konzeptualisiert und ist somit grundlegend für seine politischen Schriften.
-Er thematisiert jedoch weder die Beziehung zwischen Arbeitsteilung und Produktivität noch das Verhältnis von Arbeitsteilung und Klassenbildung, sondern den Zusammenhang zwischen Arbeitsteilung und Solidarität.
- Mit „Solidarität“ fasst Durkheim in erster Linie die Beziehung zwischen der sozialen Organisation einer Gesellschaft und ihrem Regel- und Wertsystem. Kurz: Es geht ihm um das Verhältnis zwischen Sozialstruktur und Kultur. Befinden sich beide im Gleichgewicht, kommen also die Werte einer Gesellschaft in ihrer Sozialstruktur und ihren Institutionen zum Ausdruck, so besteht „Solidarität“. Dieser Wertbezug macht „Solidarität“ zu einem moralischen Phänomen, denn gesellschaftliche Institutionen werden nur dann moralische Autorität ausstrahlen und Legitimität erheischen, wenn sie zumindest annähernd, wenn auch niemals vollständig, die Werte einer Gesellschaft realisieren
-Zwar geht er von der Arbeitsteilung als dynamischer Triebkraft moderner Gesellschaften aus, verallgemeinert aber Smiths Erkenntnisse über den Bereich der Ökonomie hinaus. Denn sie wirkt als zentrales Strukturprinzip der Moderne in allen gesellschaftlichen Lebensbereichen wie Politik, Wissenschaft und Kunst. In diesem Sinne ist arbeitsteilige Differenzierung ein soziales Phänomen sui generis und es ist daher umso wichtiger zu wissen, welche moralischen Effekte es zeitigt. Den moralischen Charakter der Arbeitsteilung versucht Durkheim durch die Gegenüberstellung von archaischen und modernen Gesellschaften zu erfassen.
-Archaische Gesellschaften bestehen aus kleinen, segmentär differenzierten Einheiten, in denen ein starkes Kollektivbewusstsein eine Solidarität aus Ähnlichkeiten oder mechanische Solidarität erzeugt, die den einzelnen direkt in die Gemeinschaft integriert. Moderne Gesellschaften hingegen bestehen aus großen, funktional differenzierten Lebensbereichen, in denen Arbeitsteilung ein Netz von Interdependenzen produziert. Organische Solidarität oder eine Solidarität aus Unterschieden bindet den einzelnen indirekt an die Gesellschaft, indem sie ihn in die arbeitsteiligen Tätigkeitsbereiche integriert, in denen er wirkt. Differenzierung und Spezialisierung prämieren differente Fähigkeiten, die individuelle Persönlichkeitsbildung begünstigen.
-In dem Maße, wie die Individualisierung der Gesellschaftsmitglieder fortschreitet, können sie von einem einheitlichen Kollektivbewusstsein nicht mehr integriert werden. Vielmehr differenziert sich auch das Kollektivbewusstsein in eine Fülle funktionsspezifischer Normkomplexe aus, die trotzdem ihren moralischen Charakter beibehalten. Für Durkheim resultiert daraus ein direkter Zusammenhang zwischen Arbeitsteilung, Solidarität und Moral. In einem Wort: „Dadurch, dass die Arbeitsteilung zur Hauptquelle der sozialen Solidarität wird, wird sie gleichzeitig zur Basis der moralischen Ordnung.“
-Durkheim unterscheidet drei pathologische Formen: die anomische Arbeitsteilung, die erzwungene Arbeitsteilung sowie „eine andere anormale Form“, die man als innerorganisatorisches Koordinationsdefizit bezeichnen könnte. Anomie, die sich in ökonomischen Krisen, der Feindschaft zwischen Kapital und Arbeit und der Anarchie in der Wissenschaft äußert, entsteht in Zeiten rapiden Wandels, in denen sich neue Organe und Funktionen herausbilden, ohne dass in gleichem Maße Regeln der Kooperation und damit soziale Bande entstehen. Normalerweise, so Durkheims Annahme, bilden sich Regeln im sozialen Austausch spontan in einem allmählichen Prozess der Habitualisierung, in dem der Austausch erst provisorisch, dann gewohnheitsmäßig und schließlich rechtlich geregelt wird.
-Anomie als Regellosigkeit oder Deregulierung des sozialen Lebens hingegen ist Ausdruck von raschem und tiefgreifendem sozialen Wandel, dennoch meint Anomie keine fundamentale Systemkrise, sondern lediglich eine Anpassungskrise, denn Zeit zur Regelfindung und kontinuierlicher Kontakt werden ein neues funktionelles Gleichgewicht der geteilten Funktionen hervorbringen und soziale Integration wie organische Solidarität erzeugen.
-Während Anomie durch die allmähliche Bildung neuer Regeln beseitigt werden kann, sind im Falle erzwungener Arbeitsteilung oder von Zwang „die Regeln selbst die Ursache des Übels.“ Regeln werden dann als drückend und ungerecht empfunden, wenn sie eine soziale Ordnung repräsentieren, die dem fortgeschrittenen Moralbewusstsein nicht mehr entspricht, folglich nur mit Gewalt aufrechterhalten werden kann. Klassenkämpfe und ungerechte Verträge sind Ausdruck für die Diskrepanz zwischen traditionaler Sozialstruktur und sozialem Gerechtigkeitsempfinden
-Im Gegensatz zur Anomie verweist Zwang auf eine Systemkrise, auf einen konstitutiven Defekt im Regelwerk einer Gesellschaft, der nur durch tiefgreifende Änderungen der Regeln selbst beseitigt und keineswegs den Selbstheilungskräften der Zeit überlassen werden kann. Ein revolutionärer Wandel solcher Art hätte am Komplex der Eigentumsrechte, an der wirtschaftlichen Produktionsweise und den Verteilungsmechanismen knapper Güter und Ressourcen anzusetzen
-Anomie deutet also auf einen vorübergehenden Zustand der Anarchie hin, in dem als Folge der Regellosigkeit der hobbessche „Kampf aller gegen alle“ tobt, Zwang verweist auf eine illegitime Ordnung, deren ungerechte Regeln systematisch eine asymmetrische Machtverteilung hervorbringen, die eine kleine Elite auf Kosten der Masse der Gesellschaft privilegiert. Für die Gesellschaftstheorie im Allgemeinen und die politische Soziologie im Besonderen ist natürlich entscheidend, welchen Krisentyp man für dominant hält. Marx führt die erzwungene Arbeitsteilung auf die Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise zurück, die notwendig Ausbeutung und Entfremdung erzeugen und begründet damit die eingangs geschilderte deutsche Tradition, die Arbeitsteilung stets im Zusammenhang mit Klassenbildung sieht. Durkheim hingegen erachtet anomische Arbeitsteilung als dominant, so dass er Zwang nur als temporäre Begleiterscheinung von Anomie betrachtet, die verschwindet, sobald neue Regeln der Koordination von Funktionen und der Kooperation von Gruppen institutionalisiert worden sind
-Da sich moderne Gesellschaften nach Durkheims Diagnose im Zustand einer anomischen Transitionskrise, nicht jedoch in einer fundamentalen Systemkrise befinden, besteht die „Therapie“ nicht in einer konsequenten Revolutionierung, sondern in geplantem sozialem Wandel gesellschaftlicher Verhältnisse
-Durkheim vermag vor allem drei Problemkomplexe in der Arbeitsteilung nicht zu lösen:
1. Die Rolle kollektiver Akteure: Da er vorrangig mit der Perspektive von Individuum und Gesellschaft arbeitet, werden die Träger organischer Solidarität nicht näher behandelt. Das zwingt Durkheim dazu, in der zweiten Auflage von 1902 ein weiteres Vorwort über die Berufsgruppen einzuschieben. Wer genau vermag denn zum Träger organischer Solidarität werden? Ideen und Institutionen benötigen stets Trägergruppen, um sich auf lange Sicht durchsetzen zu können.
2. Die Rolle des Staates: Durkheims Einschätzung in der Arbeitsteilung ist doppeldeutig. Gegen Comtes kollektivistische Forderung nach einem starken Staat hält er die These, dass der moderne Staat selbst nur ein Nebenprodukt sozialer Differenzierung sei. Gegen Spencers Idee eines liberalen Nachtwächterstaates wendet er ein, dass der Staat heute schon zu einem zentralen Regelorgan geworden sei. Zwischen Traditionalismus und Liberalismus stellt sich die Frage, welche Rolle denn nun der Staat in Durkheims republikanischem Modell einer wohlgeordneten Gesellschaft spielen soll?
3. Die Rolle des modernen Kollektivbewusstseins: Einerseits erweckt er den Eindruck, als ob die Arbeitsteilung an die Stelle des alten Kollektivbewusstseins als Quelle von Solidarität rücke und sich kollektive Vorstellungen auf den „Kult des Individuums“ verdünnten. Andererseits erachtet er diesen Kult als letztes und als das höchste Kollektivideal der Moderne. Welche Rolle spielt also der Individualismus als neues Kollektivideal in Durkheims Denken?
-Andererseits sind mit wachsender Arbeitsteilung und mit dem allmählichen Übergang von der Geburts- zur Berufswelt, in der Positionen nicht mehr nach sozialer Herkunft, sondern nach Leistung vergeben werden, Arbeit und Beruf auch zum zentralen Lebensbereich im Leben des Einzelnen geworden. Nach dem Funktionsverlust von Familie und Verwandtschaft, den Durkheim in seinem Kontraktionsgesetz der Familie nachweist, nehmen berufliche Aufgaben den Rang der wichtigsten Rolle im menschlichen Rollenhaushalt ein. Zudem wird Arbeit der Bereich, in dem die meiste Zeit des wachen Lebens verbracht wird und in dem die größten Kontaktchancen bestehen. Dort erwirbt und übt das Individuum seine Fähigkeiten und Fertigkeiten aus und bringt seine Kompetenzen in das Netz von Kooperation ein. Zeit, Kontakt und Zusammenarbeit, so hatten wir gesehen, sind gleichzeitig die wichtigsten Kriterien, wie aus Arbeitsteilung Regeln erwachsen sollen, die organische Solidarität stiften
-Darüber hinaus gibt es für Durkheim noch ein weiteres strukturelles Charakteristikum, warum Berufsgruppen zum wichtigsten Träger organischer Solidarität werden können. Professionelle Organisationen haben eine mittlere Größe und sind gleichsam zwischen politischer Gesellschaft und Staat auf der einen Seite und Familie auf der anderen Seite angesiedelt. Sie sind daher als intermediäre Instanzen geeignet, die Erfordernisse des Berufslebens zu artikulieren und zwischen politischen und familialen, öffentlichen und privaten Pflichten zu vermitteln.
-Durkheim schlägt als Organ einen gewählten administrativen Rat vor, in dem alle Industriezweige auf nationaler Ebene vertreten sind. Auf regionaler und lokaler Basis sind die nachgeordneten Organe entsprechend einzurichten. Diese hierarchische Organisation soll die lückenlose Artikulation und Repräsentation von industriellen Interessen und Problemen gewährleisten. Durkheim fordert die Anlage eines Zwei-Kammer-Systems auf der Basis von Zwangsmitgliedschaft, in dem Arbeitgeber und Arbeitnehmer vertreten sind. Ihr obliegt die Regelung des gesamten Komplexes industrieller Beziehungen, von den Arbeitsbedingungen über Löhne und Gehälter bis hin zu den Wettbewerbsbedingungen. Artikulations-, Repräsentations- und Entscheidungsfunktionen sind eingebunden in den verbindlichen Rahmen, wie er vom Staat gesetzt wird.
-Zu diesem Zweck steht das oberste Organ, der administrative Rat, in engem Kontakt zum Staat, der die allgemeinen Prinzipien der industriellen Gesetzgebung festlegt. Trotz regen Kontakts und Austausches muss die relative Autonomie von Staat und administrativem Rat wechselseitig erhalten bleiben. Weder darf der Staat über allgemeine Rahmenrichtlinien hinaus versuchen, konkrete Regelungen zu implementieren, noch sollte der administrative Rat sich anmaßen, die Funktion der allgemeinen Regelsetzung zu usurpieren. Gelingt es, die relative Autonomie der beiden Instanzen aufrechtzuerhalten, können ökonomische Effizienz und generelle Erwägungen sozialer Gerechtigkeit miteinander verbunden werden
-Durkheim schätzt die Leistungsfähigkeit der Berufsorganisation so hoch ein, dass er sie auch als Grundlage der politischen Struktur für geeignet hält. Berufsgruppen sollen also nicht nur die ökonomische Anomie abbauen, sondern in zweiter Linie auch zur politischen Reorganisation Frankreichs beitragen. Dieser Vorschlag, wirtschaftliche Gruppierungen zur Grundlage politischer Organisation zu machen, verleiht Durkheims Reformansatz einen stark korporatistischen Zug
-„Eine Gesellschaft, die aus seiner Unmasse von unorganisierten Individuen zusammengesetzt ist und die sich ein Überstaat bemüht zusammenzuhalten, ist ein wahres soziologisches Monstrum.“ Wie Tocqueville hält Durkheim diese Konstellation für eine ernsthafte Gefährdung der Demokratie, die in der fortwährenden Diskrepanz zwischen revolutionärem Anspruch (Individualismus) und bürokratischer Verwaltungsroutine (Traditionalismus) zum Ausdruck kommt
In der Arbeitsteilung, so hatten wir gesehen, schwankt Durkheims Staatskonzept zwischen Staat als mechanischem Produkt sozialer Differenzierung und als eigenständigem Zentralorgan. Danach greift er jedoch den Zusammenhang von Strafarten, Stand der sozialen Differenzierung und dem Grad der Zentralisierung nochmals auf und formuliert zwei Gesetze zur Entwicklung von Strafrechtssystemen. Durkheim argumentiert hier, dass der Staat nicht einfach ein Appendix der sozialen Differenzierung ist, sondern dass Sozialstruktur und politische Herrschaft durchaus unabhängig voneinander sind. In unserem Zusammenhang ist das Gesetz der quantitativen Variation entscheidend: „ Die Intensität der Strafe ist umso größer, je primitiver die Gesellschaft – und die zentrale Macht nimmt einen absoluten Charakter an
-Der Staat ist ein spezielles Organ, das die Aufgabe hat, bestimmte Vorstellungen zu entwickeln, die für die Gemeinschaft bindend sind. Diese Vorstellungen unterscheiden sich von den übrigen kollektiven Vorstellungen durch ein höheres Maß an Bewußtheit und Reflexion.“ (Durkheim 1991: 74f.) Nach dieser Vorstellung bildet den Staat eine Gruppe von Funktionären, die eine Art Artikulations-, Informations- und Entscheidungszentrum darstellen, das diffuse Kollektivvorstellungen in der Gesellschaft aufgreift, systematisiert und Entscheidungen fällt. Neben diesen Steuerungsfunktionen hat der Staat auch integrative Aufgaben zu erfüllen, denn er ist nach Durkheim Hüter des Kollektivideals. In traditionellen Gesellschaften wachte der Staat über den Kult des Staates; im Zeichen archaischen Kollektivismus galt die einzelne Person nicht viel, der Staat dagegen alles. In modernen Gesellschaften kehrt sich die Relation von Staat und Individuum um und die Person wird heilig, ohne dass der Staat deshalb einen Funktionsverlust erleidet:
-Aus der Analyse der pathologischen Formen leitet Durkheim folgende Schlussfolgerung ab: Machtbalance und Kommunikation markieren die beiden entscheidenden Randbedingungen, die das Verhältnis von sekundären Gruppen und Staat so definieren, dass daraus die Autonomie des Individuums erwachsen kann. Die Demokratie ist nun die politische Form, welche diese beiden Eigenschaften kongenial auf sich vereint und so pathologische Entwicklungen zu minimieren vermag. Durkheim ist überzeugt, dass ein Machtgleichgewicht zwischen Berufsgruppen und demokratischem Staat die zentrale strukturelle Voraussetzung für die Praktizierung des „Kult des Individuums“ ist.
-Bei seiner Suche nach einer geeigneten Initialdefinition fällt Durkheim auf, dass alle bisherigen Bestimmungen den Versuch machen, mit ihrer Definition die Essenz der Religion zu fassen und gleichsam das Ewige und Unveränderliche der religiösen Erfahrung einzufangen. Natürlich ist das nicht falsch und Durkheim versucht letztlich genau dasselbe. Aber er legt Wert darauf, die elementaren Komponenten aufzufinden, die auch die einfachste Religion benötigt. Und hier wird er in zweierlei Hinsicht fündig: 1. Mit der Unterscheidung von heilig und profan und – im Rahmen religiöser Dinge – zwischen Glauben und Ritus oder Kult; 2. Mit der Idee der Kirche als moralische Gemeinschaft der Gläubigen.
-Diese elementare Klassifikation teilt die Welt in zwei Bereiche ein, die strikt voneinander getrennt und häufig als antagonistisch angesehen werden. Zudem existiert eine regelrechte Hierarchie zwischen ihnen, denn heilige Dinge gelten als wertvoller als profane Dinge. Heterogenität, Antagonismus und Hierarchie – diese Merkmale markieren den Unterschied zwischen heilig und profan und unterstreichen die tiefe Scheidelinie zwischen beiden Bereichen
-Aber Durkheim geht noch einen Schritt weiter. Denn: „Die religiösen Phänomene kann man auf natürliche Weise in zwei Kategorien aufteilen: die Glaubensüberzeugungen und die Riten.
—>Die ersten sind Meinungen: sie bestehen aus Vorstellungen; die zweiten sind bestimmte Handlungsweisen. Zwischen diesen beiden Klassen liegt derselbe Abstand wie zwischen dem Denken und Tun.“ Durkheim wehrt sich damit gegen alle idealistischen und spiritualistischen Konstruktionen der Religion, die vor allem auf Glaubenssysteme und Transzendenzerfahrungen abheben, ohne das religiöse Handeln zu berücksichtigen. Für Durkheim ist gerade beides wichtig: die Vorstellungen und die Praktiken, der Glauben und die Riten, das Denken und das Tun gehören konstitutiv zur religiösen Erfahrung.
-Wir können daher die doppelte Unterscheidung von heilig und profan sowie Glauben und Riten wie folgt zusammenfassen: „Heilige Dinge sind, was die Verbote schützen und isolieren. Profane Dinge sind, worauf sich diese Verbote beziehen und die von den heiligen Dingen Abstand halten müssen. Religiöse Überzeugungen sind Vorstellungen, die die Natur der heiligen Dinge und die Beziehungen ausdrücken, die sie untereinander oder mit den profanen Dingen halten. Riten schließlich sind Verhaltensregeln, die dem Menschen vorschreiben, wie er sich den heiligen Dingen gegenüber zu benehmen hat.“
-Um nun sauber zwischen Magie und Religion zu trennen, ist ein weiteres Kriterium vonnöten, dass nur auf die Religion zutrifft. Nach Durkheim ist es die Vorstellung der Kirche, die Magie von der Religion abtrennt. „Eine Kirche ist eben nicht einfach eine Priester-Brüderschaft; sie ist eine moralische Gemeinschaft, die aus allen Anhängern eines gemeinsamen Glaubens besteht, aus den Gläubigen wie aus den Priestern. Eine derartige Gemeinschaft fehlt der Magie normalerweise.“
—>„Eine Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken, die sich auf heilige, d. h. abgesonderte und verbotene Dinge, Überzeugung und Praktiken beziehen, die in einer und derselben moralischen Gemeinschaft, die man Kirche nennt, alle vereinen, die ihr angehören.“
-Durkheim belässt es indes nicht bei diesem allgemeinen Zusammenhang, der für ihn fundamental ist, sondern sucht das Verhältnis von Religion und Gesellschaft in dreierlei Weise zu vertiefen:
1. Religion ist sozial bestimmt; das ist die kausale Hypothese;
2. Religion verkörpert Repräsentationen der sozialen Wirklichkeit; das verweist auf die interpretative Hypothese;
3. Religion zeitigt funktionale Konsequenzen; das umschreibt die funktionale Hypothese. In bestimmten sozialen Situationen, so Durkheims These, werden religiöse Glaubenssysteme erzeugt und/oder bekräftigt. Diese Situation sind solche der „effervescence créatrice“, Momente der „schöpferischen Gärung“, wie die deutsche Übersetzung lautet.
- Religion ist eine Repräsentationsform sozialer Realitäten. Der französische Begriff der „représentation“ ist allerdings systematisch doppeldeutig. Zum einen bedeutet es in kognitiver Hinsicht, dass die Religion eine Vorstellung von der Gesellschaft gibt, also der Totemismus etwa vom sozialen Leben im Clan. Zum anderen meint es in expressiver Hinsicht, dass die Religion eine dramatisierte Version der Gesellschaft gibt. Im ersten Falle geht es um eine mehr oder minder adäquate Abbildung der Gesellschaft – Repräsentation als Rekonstruktion; im zweiten Falle hingegen wird die Gesellschaft in bestimmter Weise dramatisiert oder ausgedrückt – Repräsentation als Symbolisierung. Im ersten Sinne verkörpern Religionen erste und vorläufige Modelle der Welterklärung, sie nehmen die Gestalt von Kosmologien an, die alles und jedes sich zu erklären zutrauen.
- Religion zeitigt soziale Konsequenzen auf makroskopischer und mikroskopischer Ebene, für Gesellschaft und Individuum gleichermaßen. Auf makrosozialer Ebene, das sieht Durkheim ganz ähnlich wie Tocqueville, sorgt die Religion für Kommunikation unter den Gesellschaftsmitgliedern, trägt zur sozialen Integration und zum Zusammenhalt bei und erneuert ihre Werte und Ideale. Ferner ist sie nicht nur die erste Stufe der Kultur, die die Menschen erklimmen, sondern sorgt auch für so etwas wie ein Bewusstsein von sich selbst und markiert insofern auch eine erste Stufe der Selbstreflexion. Auf mikrosozialer Ebene vermag Religion den Menschen über sich selbst hinauszuheben, zu stärken und zu disziplinieren in seiner Lebensführung. „Der Gläubige, der mit seinem Gott kommuniziert hat, ist nicht nur ein Mensch, der neue Wahrheiten sieht, die der Ungläubige nicht kennt: er ist ein Mensch, der mehr kann. Er fühlt mehr Kraft in sich, entweder um die Schwierigkeiten des Lebens zu ertragen oder um sie zu überwinden.
-Ohne ein gewisses Maß von Intellektualismus, so Durkheim, ist der moralische Individualismus in der Tat nicht denkbar. Doch heißt diese geistige Freiheit nicht, dass das Individuum nun sich selbst zum alleinigen Maßstab aller Dinge machen würde. Im Gegenteil: So wie der Wissenschaftler laufend ungeprüft Wissensbestände aus anderen Disziplinen übernimmt, ohne an seiner Autonomie zu zweifeln, so beugt sich auch das Individuum dem Rat der Mitmenschen, sofern sie gute Gründe vorbringen. Die guten Gründe selbst stiften die notwendige wissenschaftliche und moralische Autorität, die dem Prinzip organischer Solidarität, Reziprozität auf der Basis von Gleichheit, zugrunde liegt. Ferner erzeugt die soziale Arbeitsteilung im Prozess der Zusammenarbeit selbst die gemeinsamen Ideen und Gefühle, die sich auf den Kult des Individuums verdichtet haben. Schließlich bringt der moralische Individualismus nichts anderes als die Heiligkeit der Person zum Ausdruck: „Diese menschliche Person […] wird als heilig betrachtet, sozusagen in der rituellen Bedeutung des Wortes. Sie hat etwas von der transzendenten Majestät, welche die Kirchen zu allen Zeiten ihren Göttern verleihen […] Eine solche Moral ist also nicht einfach eine hygienische Disziplin oder eine weise Ökonomie der Existenz; sie ist eine Religion, in der der Mensch zugleich Gläubiger und Gott ist“
-daher nicht nur aus Mitleid mit dem Betroffenen, sondern gilt auch der Reinigung und Wiederherstellung des religiösen Ideals. Die engagierte Parteinahme für individuelle Interessen ist also nichts anderes als die nachhaltige Stärkung des gemeinschaftlichen Kollektivideals. Der moralische Individualismus wird so zum letzten und höchsten Kollektivideal in modernen Gesellschaften. „Das zeigt also, wie der Mensch ein Gott für den Menschen geworden ist und warum er, ohne sich selbst zu belügen, sich keine anderen Götter mehr schaffen kann. Und da jeder von uns etwas von der Menschheit in sich verkörpert, hat jedes individuelle Bewußtsein in sich etwas Göttliches und findet sich so mit einem Merkmal versehen, das es für die anderen heilig und unverletzlich macht. Hier liegt der ganze Individualismus; und das ist es, was aus ihm eine notwendige Doktrin macht.
-Durkheim ist zuversichtlich, dass die forcierte Weiterentwicklung des Erbes von 1789 zu einer wahrhaft demokratischen Gesellschaft führen wird, in der der Staat oberster Hüter des individualistischen Kollektivideals, Berufsorganisationen die Regelungsorgane von Wirtschaft und Politik, und ein rationaler Erziehungs- und Bildungsprozess die beste Gewähr für die Entwicklung autonomer Persönlichkeiten sind
-Wie Durkheims institutionelle Vorstellungen zum Nomos einer differenzierten Gesellschaft zeigen, läuft dieser auf eine korporative Gesellschaft Saint-Simonscher Provenienz hinaus, mit dem er offenkundig zwei Ziele zugleich verwirklichen wollte: Die Politisierung der Ökonomie hebt ihren Status der Autarkie mitsamt den krisenhaften Folgen auf und holt die Ökonomie wieder zurück in das gesellschaftliche Steuerungszentrum. Die Ökonomisierung der Politik erkennt indirekt den Primat der Wirtschaft in der modernen Gesellschaft an und weist die Berufsgruppen als bedeutende autonome demokratische Einheiten aus.
-Das Projekt einer korporativen Gesellschaft schien ihm für drei Vorzüge zu bürgen:
Erstens ermöglicht die Kontrolle der Ökonomie durch die regulativen Instanzen des Staates, den Daseinskampf der Menschen zwar nicht zu beseitigen, denn „es ist weder nötig noch auch nur möglich, dass das soziale Leben ohne Kämpfe verläuft. Die Rolle der Solidarität besteht nicht darin, die Konkurrenz zu unterdrücken, sondern diese zu mäßigen.“ Doch diese Mäßigung verhindert die ärgsten disruptiven Nebenfolgen der Ökonomie, verbessert die sozialen Beziehungen und trägt dadurch zur organischen Solidarität bei.
Zweitens erhöht die Rückbindung der Ökonomie an das zentrale Regelorgan die Chancen des demokratischen Staates, zugunsten des Individuums zu intervenieren, weil ihm nunmehr im Prinzip alle gesellschaftlichen Lebensbereiche unterstehen (soziale Gerechtigkeit).
Drittens scheinen ihm unter diesen sozialstrukturellen und institutionellen Voraussetzungen die Aussichten zur Realisierung des moralischen Individualismus am höchsten zu sein. Das Projekt einer korporativen Gesellschaft soll über die praktische Wirksamkeit hinaus gleichzeitig auch eine theoretische Synthese zu den unversöhnlichen Positionen von ökonomischem Utilitarismus und Sozialismus leisten. Mit den Utilitaristen wie Spencer akzeptiert Durkheim den Primat der Ökonomie, ohne damit die Verpflichtung einzugehen, Gesellschaft als ökonomische Assoziation oder als Marktgesellschaft zu begreifen. Die utilitaristische Perspektive unterschätzt den politischen Organisations- und Koordinationsbedarf der modernen Staats- und Berufswelt und übersieht den soziokulturellen Rahmen, in den ökonomisches und politisches Handeln stets eingebettet ist.
-Der Staat als Sitz und Hüter des Kollektivideals, als Instanz, die der Gesellschaft erst zu dem Bewusstsein ihrer selbst verhilft, und der als Sachwalter des Allgemeininteresses auftritt, sind Wendungen, die der hegelschen Rechtsphilosophie entstammen könnten. Durkheim unterzieht indes Hegels mystische Lösung einer herben Kritik, denn sie repräsentiert für ihn die bedauernswerte Renaissance des archaischen Kollektivismus. Der zentrale Unterschied der beiden Konzeptionen liegt darin, dass in Hegels Konzeption der Staat selbst zum Gegenstand des Kollektivideals wird, in Durkheims Modell hingegen ist es das Individuum.
—>Durkheim könnte man als typischen Vertreter einer substantiellen oder normativen Demokratietheorie bezeichnen
-Für die eine Partei ist er der klassische Begründer einer eigenständigen Gesellschaftslehre, der sogenannten formalen Soziologie, die sich dem Studium sozialer Strukturen, Prozesse und Wechselwirkungen verschreibt und Arbeitsteilung und soziale Differenzierung, Über- und Unterordnung, die Kreuzung sozialer Kreise und weitere strukturelle Phänomene analysiert
-Für die andere Partei zählt dagegen Simmel nicht zu den Klassikern seines Faches, denn er hat der Soziologie weder zu einem unverwechselbaren Ansatz verholfen noch die Tradition einer „Simmel-Schule“ begründet.
—>diese beiden Formeln, die die endgültige Aufteilung seines Erbes besiegeln, zerreißen auch genau den Zusammenhang, der sein Werk auch für uns heute noch wertvoll macht: Das „lehrreiche Ineinander von strukturanalytischer Betrachtung und Kulturanalyse“ (Tenbruck 1958: 610). Wohlgemerkt – es geht nicht darum, die Berechtigung dieser gegensätzlichen Interpretationen grundsätzlich infrage zu stellen. Sie haben ihre Berechtigung und unterbreiten gute Gründe für ihre Lesart, die Simmel im Bereich der Struktursoziologie zu einem Wegbereiter der Netzwerkforschung und in der Kultursoziologie zum kongenialen Zeitdiagnostiker von Moderne und Postmoderne machen.
-Das Thema von Simmel ist Modernität und Individualität und umschreibt zugleich formelhaft seine abstrakte und ambivalente Zeitdiagnose. Ein, wenn nicht das Grundproblem seines Ansatzes betrifft das Verhältnis von gesellschaftlicher Differenzierung und menschlicher Individualität. Im Rahmen seiner Gesellschaftsanalyse zeigt Simmel auf, dass der Prozess sozialer Differenzierung Freiheits- und Individualitätsspielräume zu eröffnen vermag. Im Rahmen seiner Kulturanalyse verfolgt er die Frage, ob diese strukturell eröffneten Freiheits- und Individualitätsspielräume auch durch kulturelle Orientierungen so abgestützt werden, dass sie zur Stilisierung autonomer Lebensführung beitragen. Sein Ansatz erlaubt ihm, das Wechselspiel oder wie er sagen wird, die Wechselwirkung zwischen Gesellschaft und Kultur zu untersuchen. Sein Grundproblem, das Verhältnis von gesellschaftlicher Differenzierung und Individualität, so meine systematische These, untersucht er mit einem analytischen Bezugsrahmen, der sich aus den Komponenten Gesellschaft, Kultur und Persönlichkeit zusammensetzt. Simmel geht den Beziehungen zwischen gesellschaftlichen Wechselwirkungen, objektiver und subjektiver Kultur und individueller Seele auf den Grund
-Dieser Rahmen versucht das spannungsreiche Verhältnis zwischen dem objektiven Stil des modernen Lebens und der individuellen Lebensführung aufzudecken. Im Grunde genommen hat Simmel stets mit zwei Fragen gerungen. Zum einen mit der Frage: „Wie ist Gesellschaft möglich?“. Zum anderen mit der Frage: „Wie ist Individualität möglich?“ Die erste Frage inspiriert seine Überlegungen zu sozialer Differenzierung, Geldwirtschaft und Urbanität. Die zweite Frage kulminiert in seinen Gedanken über die „Tragödie der Kultur“ einerseits, seinem lebensphilosophischen Erbe des „individuellen Gesetz“ andererseits.
-Wenn man seine Antworten genauer unter die Lupe nimmt, so meine dritte zeitdiagnostische These, stößt man auf seine abstrakte Grundformel Modernität und Individualität und deren Ambivalenz, in die er die kulturelle Revolution der Moderne einfängt. In den Begriffen von Max Weber ausgedrückt: Die Moderne und ihre arbeitsteilig differenzierte Gesellschaftsform eröffnet einmalige Lebenschancen zur Freiheit und Selbstentfaltung. Aber stellt die Moderne und ihre pluralistische Kultur auch die vorbildlichen und verbindlichen Wertorientierungen zur Verfügung, die für die Stilisierung einer autonomen Lebensführung geeignet sind? . Genau dieses „Dazwischen“ oder diese „Zwischenlage“ bringt seine zeitdiagnostische Formel zum Ausdruck: Die Ambivalenz von Modernität und Individualität.
-Simmels Wirklichkeitsauffassung, am prägnantesten ausgedrückt in seiner Philosophie des Geldes (1900), geht vom „relativistischen Charakter des Seins“ aus. Was muss man sich unter dem relativistischen Charakter des Seins vorstellen? Die Auflösung identitätsstiftender Traditionen und einheitsbegründender Werte haben einem pluralistischen Wertekosmos in der Moderne Platz gemacht, in dem das „Gute, Schöne und Wahre“ prinzipiell auseinanderfallen, Recht und Moral, Kunst und Wissenschaft eigenständige „Lebensmächte“ geworden sind.
-Wertevielfalt und ausdifferenzierte Lebensmächte wie Recht und Moral, Kunst und Wissenschaft, Wirtschaft und Politik haben zur Folge, dass die verschiedenen Lebensbereiche eigenständigen Regeln und Standards sowie einer eigenen Dynamik unterliegen. Man kann sich den Relativismus, der für Simmel daraus resultiert, an der Situation der Wissenschaften im Zeitalter aus dem Schoß der Philosophie ausdifferenzierter Einzeldisziplinen verdeutlichen.
-Wenn es um die Frage geht, wie Erkenntnisse gewonnen werden, konkurrieren in der Epistemologie seit jeher zwei Vorstellungen:
Der Realismus geht – vereinfacht gesagt – davon aus, dass die Analyse mehr oder minder eine Kopie der Wirklichkeit anfertigt und Erkenntnis gleichsam als „Spiegel der Natur“ (Rorty 1987) entsteht – eine Vorstellung, die auch heute noch das Gros der empirischen Sozialforschung dominiert.
Angesichts der Komplexität in Natur und Kultur hält Simmel diese Auffassung für unhaltbar; ganz in der Tradition Kants geht er davon aus, dass unsere Erkenntnis strukturiert wird durch Apriori, welche den Weltausschnitt erst ordnen und einsichtig machen. In Abgrenzung zu Kant hingegen nimmt Simmel nicht an, dass es sich bei den Apriori um von Natur aus gegebene Invarianten des menschlichen Verstandes handelt. Vielmehr dreht es sich um Prinzipien, die nach Raum, Zeit, und gesellschaftlicher Entwicklung selbst variieren.
-Der Ursprung dieser Prinzipien und die Entwicklung der Erkenntnisgewinnung stellt er sich – etwas schematisch – als stufenartigen Prozess vor. Ursprünglich, auf einer ersten pragmatischen Stufe, könnten die Prinzipien gemäß den vitalen Bedürfnissen des erkennenden Subjekts entstanden sein. Zumindest hier hätte gegolten: Wahr ist, was nützlich erscheint. Doch gegen eine pragmatistische Verkürzung, die Wahrheit auf Nützlichkeit reduziert, wendet Simmel ein, dass auf einer nächsten Stufe sofort ein darwinistisches Selektionsprinzip greift. Sowie es konkurrierende Erkenntniskonzeptionen gibt, wird sich diejenige durchsetzen, die den besten Zugang zur Wirklichkeit eröffnet, und das heißt, welche das höchste Maß an Natur- und Gesellschaftsbeherrschung garantiert. Da dieser darwinistisch geregelte Erkenntnisvorgang ein dynamischer Prozess ist, befinden sich die Wissenschaften in einem dauerhaften Auf-, Aus- und Umbau. Es entstehen immer mehr und neue Einzelwissenschaften mit hochgradiger Spezialisierung und eigenen Prinzipien und Apriori der Erkenntnis. Wie muss man sich die Formung der Erkenntnis durch Apriori vorstellen? Auf jeden Fall nicht, wie schon erwähnt, in Anlehnung an Kants unwandelbare Kategorien des Verstandes. Vielmehr eher in dem Sinne, dass alle Erkenntnisgewinnung abhängig ist vom Bezugspunkt der jeweiligen Einzelwissenschaft. Dieser Bezugspunkt wiederum variiert historisch gemäß dem Wandel der Gesellschaften durch soziale Differenzierungsprozesse und dem „Fortschritt“ der Wissenschaften selbst als Folge neuer Erkenntnisse. Simmels Relativismus ist deshalb am ehesten als Perspektivismus anzusehen und jede Wissenschaft wie auch jeder einzelne Zweig von ihr legt einen anderen „Blick“ nahe, der wiederum in charakteristischer Weise geformte Erkenntnisse erzeugt
-Simmels Relativismus dagegen markiert eine dritte Position jenseits von Realismus und Konventionalismus. Relativismus heißt bei ihm gerade nicht Skeptizismus und Beliebigkeit oder gar Zersetzung, wie ihm der Historiker Schäfer in seinem Gutachten vorgeworfen hatte. Relativismus impliziert Perspektivismus. Die Bezugspunktabhängigkeit unserer Forschung, ihre besondere Perspektive, impliziert, dass unsere Erkenntnis immer nur fragmentarisch sein kann, stets unvollständig und korrekturbedürftig, weil sie nur einen spezifischen Wirklichkeitsausschnitt in den Blick nimmt
-Nach Simmels Auffassung wird der Mensch in zweifacher Hinsicht konstituiert, was seine besondere Stellung in der Welt begründet: durch seine Eigenschaft als Grenzwesen und durch seine Natur als homo duplex. Zu jeder Zeit und in jedem Raum ist der Mensch stets durch zwei Grenzen bestimmt. „Wir orientieren uns dauernd, wenn auch nicht mit abstrakten Begriffen, an einem Über-uns und einem Unter-uns, einem Rechts und Links, einem Mehr oder Minder, einem Fester oder Lockrer, einem Besser oder Schlechter.“ Es sind diese elementaren Klassifikationen, wie sie Emile Durkheim und Marcel Mauss genannt haben, die uns eine Orientierung erlauben.
-Aber nicht nur das – wir können auch unseren eigenen Standpunkt in der Welt bestimmen. „Die Grenze nach oben und nach unten ist unser Mittel, uns in dem unendlichen Raum unserer Welten zurechtzufinden.“ Orientierung und Standortbestimmung gelingen nur über Grenzen, also die Arbeit der Ein- und Ausgrenzung, der Ab-und Begrenzung; aber genau diese anthropologische Grenzbestimmtheit, so Simmel , macht den Menschen zum Grenzwesen par excellence. „Damit, dass wir immer und überall Grenzen haben, sind wir auch Grenze. Denn indem jeder Lebensinhalt – Gefühl, Erfahrung, Tun, Gedanke – eine bestimmte Intensität und eine bestimmte Farbe besitzt, ein bestimmtes Quantum und eine bestimmte Stelle in irgend einer Ordnung, so setzt sich von jedem jeweils eine Reihe nach zwei Richtungen, nach ihren beiden Polen zu, fort; dadurch hat der Inhalt selbst an jeder dieser beiden Reihenrichtungen teil, die in ihm zusammenstoßen und die er begrenzt.
-Diese Doppelnatur – Grenze(n) haben, Grenze zu sein – hat eine Reihe wichtiger Implikationen:
1. Diese Bestimmungen definieren den „Grenzcharakter unserer Existenz“ (Simmel 1999b, S. 213), weil erst durch Festlegung und Feststellung der Mensch im Kosmos nicht verloren geht oder sich verloren fühlt. Aber keine Grenze ist unbedingt, starr, aus Stein gemeißelt oder unveränderlich. Im Gegenteil: Grenzen im Leben sind dazu da, überschritten zu werden.
2. Der Mensch ist also nicht nur Grenzwesen, sondern auch Grenzüberschreiter und -verschieber. Auf diese Weise – und das ist für die Selbstreflexion und Selbsttranszendenz des Individuums zentral – steht er stets zugleich diesseits und jenseits der Grenze und vermag die Grenzsetzung von beiden Seiten zu betrachten.
3. Die Doppelnatur – Grenze(n) zu haben und Grenze zu sein – führt Simmel in einer weiteren Gedankendrehung in die Zweiheit von Begrenzung und Entgrenzung über, um die prinzipielle Verschiebbarkeit von Grenzen zu verdeutlichen. Er macht das am Wissen und Nicht-Wissen um die Folgen unseres Handelns deutlich
—> Stets können wir zwar unsere nächsten Schritte im Leben überschauen, aber eben nicht alle Schritte bis zum Tode. Sonst wäre der Charakter des menschlichen Lebens – Kontingenz, Zäsur, Schicksal – ein ganz anderer
-Dieser Grenzcharakter des menschlichen Wesens und die Dialektik von Form und Inhalt kehren auch in Simmels Vorstellung vom Individuum als homo duplex wieder, die er in seinen drei soziologischen Aprioritäten zur Beantwortung der Frage: „Wie ist Gesellschaft möglich?“ als Basis seiner großen Soziologie diskutiert. Zunächst geht er davon aus, dass jeder Mensch in sich einen tiefsten Individualitätspunkt trägt, den weder andere noch das betreffende Individuum selbst vollständig nachempfinden können.
-Sodann fügt Simmel der Dialektik von Allgemeinheit und Individualität das Prinzip des „Außerdem“ hinzu. Der Mensch ist nicht nur ein Gesellschaftswesen, sondern „außerdem“ noch etwas. Jeder Mensch ist mit einem Bein, dem Standbein, Mitglied der Gesellschaft, mit dem anderen Bein hingegen, dem Spielbein, markiert er eine individuelle Persönlichkeit. Simmels homo duplex trennt also strikt zwischen sozialer und personaler Existenz
-Fassen wir zusammen: Der Mensch ist nicht nur ein Grenzwesen, sondern auch ein Grenzüberschreiter. Gerade deshalb kann er sein Leben so führen und seine Persönlichkeit so entwickeln, dass er dem tiefsten Individualitätspunkt mal näher, mal ferner steht. Grenzwesen ist er auch, weil er mit einem Bein in der Gesellschaft und mit dem anderen Bein außerhalb von ihr steht. So vermag er die Grenze diesseits und jenseits der Gesellschaft zu betrachten, was die Selbstreflexion und Selbstdistanzierung erst ermöglicht. Simmel lehnt jeglichen Soziologismus ab, wonach die Gesellschaft den Menschen macht. Vielmehr sind Gesellschaft wie soziale Kreise Arena und Schauplatz, auf denen der Mensch seine individuelle Persönlichkeit entwickeln kann. Das wesentliche Erfordernis, damit aus der Potentialität auch die Realität von Individualität werden kann, besteht darin, dass jeder einen seinen Neigungen und seinem Leistungsvermögen angemessenen Platz in der Gesellschaft zu finden vermag. Insofern ist auch für Simmel der Mensch ein genuin soziales Wesen, als die Selbstentfaltung nur in und mit der Gesellschaft, wenn auch nicht allein durch die Gesellschaft erfolgen kann
-Die Gesellschaft ist also keine Realität sui generis, die über ein Kollektivbewusstsein („conscience collective“) erfasst werden kann, wie Durkheim behauptete. Denn, wie Simmel (1983: 39) sagt, „die Gesellschaft ist [...] keine Substanz, [...] sondern ein Geschehen“, keine statische Einheit, sondern „etwas Funktionelles“. Kurz und auf eine Formel gebracht: Gesellschaft existiert nur als Vergesellschaftung, im Sinne ihrer Dynamik und ihrer Prozesshaftigkeit. Seine Minimaldefinition von Gesellschaft lautet daher, „dass sie da existiert, wo mehrere Individuen in Wechselwirkung treten.“ (Simmel 1968:4) Simmel macht also eine Gleichung auf, um den Gegenstandsbereich seiner Soziologie zu umreißen: „Soziologie – Gesellschaft – Wechselwirkungen – Formen der Vergesellschaftung.“ „Diese Wechselwirkung entsteht immer aus bestimmten Trieben heraus oder um bestimmter Zwecke willen. Erotische, religiöse oder bloß gesellige Triebe, Zwecke der Verteidigung wie des Angriffs usw.
- Diese Wechselwirkungen bedeuten, dass aus den individuellen Trägern jener veranlassenden Triebe und Zwecke eine Einheit, eben eine ‚Gesellschaft’ wird.“ Um Ordnung in die Fülle möglicher Wechselwirkungen zu bringen, unterscheidet Simmel analytisch streng zwischen Inhalt und Form. Der Inhalt – das sind die mannigfaltigen Triebe, Interessen, Neigungen und Zwecke der Individuen, „gleichsam die Materie der Vergesellschaftung.“ Die Form oder die Formen sind die Gebilde, die diese Wechselwirkungen zwischen den Menschen im Zuge der Vergesellschaftung annehmen können und deren Eigenart und Typik Simmel zu studieren vorschlägt. Er unterscheidet zwei Arten soziologischer Objekte: Zum einen die „großen Organe und Systeme“ wie Staaten, Wirtschaft, Klassen etc.; zum anderen die „unscheinbaren Sozialformen“ und „die scheinbar unbedeutenden Relationsarten“. Es sind letztere, die „mikroskopisch-molekularen Vorgänge“ (ebd.: 15), die „die wunderbare Unzerreißbarkeit der Gesellschaft“ bewerkstelligen
-Gemäß diesem Programm weist Simmel seiner Soziologie drei zentrale Arbeitsgebiete zu: die reine, die allgemeine und die philosophische Soziologie. Die Formen der Vergesellschaftung, verstanden als dynamische Prozesse der Wechselwirkung, bilden das Hauptgebiet der sogenannten reinen Soziologie.
-Es ist diese reine Soziologie, die sich mit den Formen der Wechselwirkung wie Arbeitsteilung, Konkurrenz, Streit, Über- und Unterordnung usf. befasst, die als formale Soziologie in der Disziplin rezipiert und von Leopold von Wiese zur Beziehungslehre weiterentwickelt wurde. Die reine Soziologie ist in Simmels Augen aber nur eins von drei Hauptgebieten der Soziologie. Hinzu treten stets die allgemeine und philosophische Soziologie.
-Die allgemeine Soziologie bettet die in der reinen Soziologie gewonnenen speziellen Erkenntnisse ein in den Rahmen genereller Prinzipien der Differenzierung, der Evolution und der gesellschaftlichen Konfiguration. Nur durch diese Einbettung kann man ihren Charakter und ihren Stellenwert verstehen.
-Die philosophische Soziologie, bestehend aus Erkenntnistheorie und Metaphysik, studiert einerseits die Verfahrensweisen des Denkens, andererseits versucht sie den allgemeinen „Sinn der Einzelerscheinungen“ aufzudecken und die kulturelle „Deutung festgestellter Tatsachen“ (Simmel 1983: 50) vorzunehmen. Die reine oder formale Soziologie, welche die Formen der Wechselwirkungen in Abstraktion von den Inhalten untersucht, kann daher prinzipiell keine zureichende Analyse bieten. Die rein strukturellen Ergebnisse der formalen Soziologie müssen stets auf allgemeine Überlegungen zum globalen evolutionären und geschichtlichen Geschehen bezogen werden; zum anderen müssen ihr Sinn und ihre kulturelle Bedeutung im Rahmen der philosophischen Soziologie geprüft werden.
- „das Grundschema seiner Philosophie [...] die Drei [ist, H.- P.M.], die in allen Disziplinen seines Denkens wiederkehrt.“ Was genau muss man sich unter dem Dritten vorstellen? eine zeitlose metaphysische Versöhnung und Aufhebung zweier als ewig erlebter und so nicht ertragbarer Gegensätze in einem metaphysischen Bereich, der teils gedanklich, teils chiliastisch gefasst ist: Subjekt und Objekt, Leben und Tod, Sein und Sollen, Wirklichkeit und Idee sollen sich in einer dritten, noch nicht entdeckten, doch zu entdeckenden Geistes- und Lebensform versöhnen. Ja, das Dritte als ein Ausdruck des Absoluten ist nicht nur in der Form des Metaphysischen, sondern auch in der des Mystischen, sogar des Religiösen, immer der letzte Gegenstand von Simmels relativistischem Denken geblieben.“ Wenn demnach das Dritte als der Fluchtpunkt seiner methodologischen, soziologischen und lebensphilosophischen Überzeugungen angesehen werden darf, scheint es nicht unstatthaft, in seinem gesellschaftstheoretischen Ansatz von der Trias Gesellschaft, Kultur und Persönlichkeit auszugehen.
-Simmel versteht unter gesellschaftlicher Differenzierung drei Prozesse:
1. Arbeitsteilung;
2. Rollendifferenzierung und
3. Funktionsdifferenzierung.
-Ähnlich wie Adam Smith, Karl Marx und Herbert Spencer vor ihm und Émile Durkheim zu seiner Zeit sieht er das hauptsächliche gesellschaftliche Entwicklungsmoment in der wachsenden Teilung der Arbeit. Indem Tätigkeiten auf mehrere Personen aufgespalten werden, so das zentrale Argument in seiner Arbeit Über sociale Differenzierung von 1890, wirkt das „Prinzip der Kraftersparnis“ zugunsten der Produktivität und der effizienteren Allokation von sachlichen und personellen Ressourcen.
—>Neben dieser gesellschaftlichen Wachstums- und Leistungssteigerung führt die Teilung der Arbeit zur Spezialisierung der Produzenten, und die berufliche Differenzierung mildert den Wettbewerb durch Verteilung der Produktion auf spezialisierte Berufstätigkeiten.
-Zu dieser Arbeitsteilung im klassisch volkswirtschaftlichen Sinne tritt ein spezifisch soziologisches Argument: die Rollendifferenzierung. Indem der Wirtschaftskreis ausgedehnt und die Gruppeneinheit, der jemand angehört, größer wird, so Simmels Einsicht, wachsen auch die Chancen zur Ausbildung einer eigenständigen Individualität. Dieser Prozess der parallelen Ausdehnung von Gruppengröße und Individualität wird verstärkt durch die interne Differenzierung der gewachsenen Gruppe. Je größer die Gruppe, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich innerhalb der Großgruppe kleinere Kreise herausbilden. In dem Maße, wie der Einzelne in den Schnittpunkt mehrerer Kreise gerät, wächst seine Freiheit. Da der Einzelne verschiedene Rollenerwartungen koordinieren muss, eröffnet ihm die Art und Weise der Koordination Handlungs- und Manipulationsspielräume in der Ausgestaltung und Balancierung seiner Rollenverpflichtungen. Gruppenausdehnung und die Kreuzung sozialer Kreise fördern Individualität und eröffnen Freiheitsspielräume – sodass in der Rollen- und Gruppensoziologie (Coser 1991) inzwischen etablierte Argument der Rollendifferenzierung
-Der Rollendifferenzierung auf sozialer und individueller Ebene korrespondiert die Funktionsdifferenzierung auf gesellschaftlicher Ebene. In dem Maße, wie die Arbeitsteilung fortschreitet, werden immer mehr Funktionen ausdifferenziert und wachsen zu eigenständigen Funktionsbereichen aus. Diese Funktionsbereiche wie die Wirtschaft, die Wissenschaft oder das Recht bezeichnet Simmel als „formale Lebensmächte“, die eigensinnige „Gehäuse des schöpferischen Lebens“ mit eigenen Werten, Normen und Sachgehalten ausbilden und fast „unvermeidlich die Widersprüche [...] in die Totalität des Lebens“ hineinbringen. Paradigmatisch für die Funktionsweise dieser „rein formalen und indifferenten Lebensmächte“ , die eine spezielle Aufgabe wahrnehmen und über diese Funktionsausübung die gesamte Gesellschaft beeinflussen, ist die entwickelte Geldwirtschaft.
—>Wie Simmels Analogie zum lebenden Organismus drastisch verdeutlicht, drückt die entwickelte Geldwirtschaft allen sozialen Beziehungen ihren Stempel auf. Soziale Beziehungen werden einerseits versachlicht, objektiviert, nivelliert und berechenbar, da sie alle dem Maßstab des Geldwertes unterworfen werden
-durch die unterschiedliche Verteilung des Geldbesitzes andererseits differenziert es zwischen den Menschen und schafft soziale Distanz wie soziale Ungleichheit unter ihnen. In seiner Eigenschaft als Symbol und Medium erwächst Simmel unter der Hand ein neues, vorher noch so vehement abgelehntes „totalisierendes Prinzip“: „[…] so ermöglicht das Geld, indem es zwischen den Menschen und die Dinge tritt, jenem eine sozusagen abstrakte Existenz, ein Freisein von unmittelbaren Rücksichten auf die Dinge und die unmittelbare Beziehung zu ihnen, ohne das es zu gewissen Entwicklungschancen unserer Innerlichkeit nicht käme;
-Arbeitsteilung, gesellschaftliche Differenzierung und Geldwirtschaft verdichten sich im privilegierten sozialen Raum der modernen Gesellschaft: der Großstadt. Denn die Großstadt ist Hort und Brutstätte der Individualität. Hier ist mehr Gesellschaft als Gemeinschaft, mehr Anonymität und Indifferenz als Vertrautheit und soziale Kontrolle, mehr Verstand als Gemüt. Genau diese strukturelle Situation und Konfiguration eröffnet erst die Freiheit zur Selbstentfaltung
-Zunächst zeichnet sich die Struktur urbanen Lebens durch vier Eigenschaften aus, die sie vom kleinstädtischen oder ländlichen Leben abheben.
Da ist erstens die Steigerung des Nervenlebens, denn in der Großstadt ballen sich Tempo und Vielseitigkeit der unterschiedlichsten Reize zusammen, die auf das Individuum niederprasseln. Beschleunigung, Abwechslung und Diversität stehen im Gegensatz zur gemächlichen Lebensform der Kleinstadt und des Landes.
Zweitens sticht „der intellektualistische Charakter des großstädtischen Seelenlebens“ hervor, denn die Dominanz des Verstandes überwiegt das Gemüt in der Regulation des menschlichen Verkehrs.
Das hängt drittens eng mit der Tatsache zusammen, dass die Großstädte „der Sitz der Geldwirtschaft“ sind. Das Geld als Mittel, Medium und Zweck fördert die Sachlichkeit des gesellschaftlichen Verkehrs. „Geldwirtschaft aber und Verstandesherrschaft stehen im tiefsten Zusammenhange. Ihnen ist gemeinsam die reine Sachlichkeit in der Behandlung von Menschen und Dingen, in der sich eine formale Gerechtigkeit oft mit rücksichtsloser Härte paart.“
Eng damit verbunden ist viertens die Rechenhaftigkeit, zu dem Wissenschaft, Technik und Wirtschaft, die Steigerungsprovinzen gesellschaftlichen Lebens, gleichermaßen beitragen
—>Was diese vier Struktur- und Charaktereigenschaften des großstädtischen Lebens eint, also Tempo und Steigerung des Nervenlebens, die Dominanz des Verstandes, der Sachlichkeit und Rechenhaftigkeit, ist ihre unpersönliche Natur. Allein es ist diese unpersönliche Form, welche erst die „Exaktheit und minutenhafte Präzision der Lebensform“ in der Stadt möglich macht.
-Während diese Eigentümlichkeiten der Großstadt den Konformismus urbaner Lebensformen begründet, treiben Prozesse der Differenzierung und Individualisierung die höchst individualistische Form urbaner Mentalität hervor. In ökonomischer Hinsicht ist es die Arbeitsteilung, welche berufliche Spezialisierung verlangt; in sozialer Hinsicht ist es der Kampf der Menschen unter- und gegeneinander, denn im Gegensatz zum Land, in dem der Kampf gegen die Natur auf der Tagesordnung steht, muss der Mensch im städtischen Alltag sich im Kampf gegen seine Mitmenschen behaupten.
-Die tiefste Ursache für diese verzweifelte Suche nach Individualität freilich ist der Hiatus zwischen objektiver und subjektiver Kultur, der sich vor allem in der Großstadt zeigt. „Hier bietet sich in Bauten und Lehranstalten, in den Wundern und Komforts der raumüberwindenden Technik, in den Formungen des Gemeinschaftslebens und in den sichtbaren Institutionen des Staates eine so überwältigende Fülle kristallisierten, unpersönlich gewordenen Geistes, dass die Persönlichkeit sich sozusagen dagegen nicht halten kann.“
-Struktur- und Charaktereigenschaften der Großstadt wie die Prozesse der Differenzierung und Individualisierung zusammen genommen zeichnen für die Mentalität des Großstädters verantwortlich. Vier Eigenschaften sind es, die Simmel hervorhebt:
Da ist erstens eine Haltung der Blasiertheit gegenüber den Dingen, die als Folge der Reizabwechslung und -überflutung gelten muss. „Das Wesen der Blasiertheit ist die Abstumpfung gegen die Unterschiede der Dinge, nicht in dem Sinne, dass sie nicht wahrgenommen würden, wie bei dem Stumpfsinnigen, sondern so, dass die Bedeutung und der Wert der Unterschiede der Dinge und damit der Dinge selbst als nichtig empfunden wird.“ Die Folge ist eine kontinuierlich graue und matte Seelenstimmung des „déja-vu“, die nur durch neue, auf- und anregende Reize erneut eine farbliche Tönung vorübergehend bis zur nächsten Abstumpfung annehmen kann.
Diese Haltung der Blasiertheit gegenüber den Dingen korrespondiert, zweitens, mit einer Haltung der Reserviertheit, ja der latenten Aversion, gegenüber den Menschen. Angesichts der zahllosen Berührungen im alltäglichen Verkehr wird es dem Einzelnen unmöglich, auf jeden Mitmenschen mit der notwendigen Aufmerksamkeit einzugehen, sondern er wird dazu gezwungen, auf Distanz zu gehen
Das wichtigste Kennzeichen für die Mentalität des Großstädters freilich besteht, drittens, in seiner Freiheit. Es ist die doppelte Freiheit von Zwängen und Rücksichtnahmen einerseits, und die Freiheit zur Selbstgestaltung des eigenen Lebens andererseits. „Dass wir den Gesetzen der eigenen Natur folgen – und dies ist doch Freiheit , wird uns und anderen erst dann ganz anschaulich und überzeugend, wenn die Äußerungen dieser Natur sich auch von denen anderer unterscheiden; erst unsere Unverwechselbarkeit mit anderen erweist, dass unsere Existenzart uns nicht von anderen aufgezwungen ist.“
Schließlich gilt die Großstadt als Hort des Kosmopolitismus. Gerade weil die Großstadt eine Welt für sich ist und an der Welt durch internationale Beziehungen teilhat, eine Gesellschaft in der Gesellschaft also, vermag sie eine kosmopolitische Geisteshaltung gegenüber der übrigen Welt zu entwickeln. Simmel erklärt diese Horizonterweiterung ,den globalen Blick der Urbanität, mit der funktionellen Größe einer Metropole, die an ihren physischen Grenzen nicht haltmacht. Gerade weil die Großstadt eine globale Welt im Kleinformat darstellt, vermag sie Sinn und Bedeutung für die eine Welt im Großen und Ganzen zu entwickeln.
-Simmel versteht unter Kultur „die Verfeinerungen, die vergeistigten Formen des Lebens, die Ergebnisse der inneren und äußeren Arbeit an ihm.“ Man muss dabei indes einen objektiven und subjektiven Aspekt unterscheiden, die Schaffung von Kulturgütern und die Kultivierung der Menschen voneinander trennen. In der Regel besteht zwar durchaus ein enger Zusammenhang zwischen objektiver und subjektiver Kultur: „Indem wir die Dinge kultivieren“, so Simmel (ebd.: 503), „kultivieren wir uns selbst: es ist der gleiche, von uns ausgehende und in uns zurückgehende Werterhöhungsprozess, der die Natur außer uns oder die Natur in uns ergreift.“
-Aber das drastische Entwicklungstempo gesellschaftlicher Differenzierung hat zu einer enormen Kultivierung der Dinge und zum Anwachsen der objektiven Kultur geführt, hinter dem die Kultur der Individuen indes zurückgeblieben ist. Ist diese Diskrepanz wohl ein generelles Problem aller entwickelten Kulturen, weil sich die Individuen das Wissen von Generationen nicht mehr vollständig aneignen können, so hat darüber hinaus der Pluralismus des Wertekosmos zu einer Vervielfältigung von Stilen geführt. Über der Vielfalt von Stilen ist ein allgemein verbindlicher Stil verlorengegangen. Denn: „Wir nennen es den Stil der Zeit oder des Volkes, der Lebensäußerungen überhaupt, die sich in jeweils begrenzten Abschnitten von Raum und Zeit ergeben; und diese Gemeinsamkeit des Stiles, die wir selten genau beschreiben können, aber sozusagen als unverkennbare Familienähnlichkeit fühlen, läßt uns einen solchen jeweiligen Abschnitt des Menschheitslebens eben als eine Kulturepoche, als einen fest charakterisierten unter den Bezirken des Lebens erscheinen.“ Der Verlust eines orientierungsfähigen, allgemeinen Stils einerseits, die Pluralisierung möglicher individueller Stile andererseits erklären die „tiefe Sehnsucht, den Dingen eine neue Bedeutsamkeit, einen tieferen Sinn, einen Eigenwert zu verleihen.
-Woher rührt das Bedürfnis nach Individualität? Simmel spürt immer wieder den historischen Formen des Individualismus nach, um genealogische Hinweise auf die zeitgemäße Form der Individualität zu gewinnen. Für ihn steht fest, dass Idee und Ideal der Individualität modernen Ursprungs sind. Modernität und Individualität sind gleichursprünglich, d. h. keine Modernität ohne Individalität und keine Individualität ohne Modernität. Um seine Richtungen und Ausprägungen näher charakterisieren zu können, führt er die Unterscheidung von quantitativem und qualitativem Individualismus ein.
-Historisch gesehen hat sich der quantitative Individualismus im Zeitalter der Aufklärung herausgebildet. Im Zentrum steht die Idee der Freiheit des Menschen, die gegen die traditionellen Mächte von Monarchie und Kirche erkämpft werden müssen. Das Ancien Régime bindet den Einzelnen an traditionelle Gewalten und deren Verpflichtungen, die aus moderner Sicht als Last und Zumutung empfunden werden. Das Licht der Freiheit scheint so hell, dass ihre Realisierung scheinbar alle gesellschaftlichen Probleme gleich mit zu lösen verspricht. Es geht vor allem um den Kampf gegen die Macht und die Freiheit von ihrer Gewalt. Die befreite Gesellschaft schafft offenkundig das autonome Individuum in Gestalt des Menschen als Menschen. In diesem Sinne, also nach heutigem Verständnis der Menschen- und Bürgerrechte, gehen die Werte von Freiheit und Gleichheit eng zusammen.
-Die Folgeprobleme bleiben indes ausgespart. Die Menschen sind als Personen gleichgestellt, aber als Menschen sind sie höchst unterschiedlich in ihren Talenten und Energien, Fähigkeiten und Fertigkeiten. Das Bedürfnis nach Freiheit schafft in seiner Verwirklichung einen performativen „Selbstwiderspruch. Denn es ist offenbar nur dann dauernd zu realisieren, wenn die Gesellschaft aus lauter gleich starken und innerlich wie äußerlich genau gleich begünstigten Individuen besteht.“ Ist das nicht der Fall, dann werden diese individuellen Unterschiede soziale Ungleichheiten produzieren und die Freiheit der Starken wird die Unterdrückung der Schwachen bedeuten. „Aus diesem Grunde war die paradoxe Frage durchaus gerechtfertigt, ob nicht die Vergesellschaftung der Produktionsmittel die einzige Bedingung wäre, unter der – die freie Konkurrenz durchzuführen wäre! […] Die volle Freiheit eines jeden kann nur bei voller Gleichheit mit jedem anderen statthaben.“
-Der qualitative Individualismus des 19. Jahrhunderts hält an der Freiheit fest, ersetzt aber Gleichheit durch Ungleichheit oder Differenz. Gerade nicht wie alle anderen Menschen zu sein, sondern Anderssein ist das Ideal. „Es geht durch die ganze Neuzeit: das Individuum sucht nach sich selber, als ob es sich noch nicht hätte, und ist doch sicher, an seinem Ich den einzig festen Punkt zu haben.“ Diese Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit der je eigenen Individualität ein Leben lang zu entwickeln, zu pflegen und zu verwirklichen, wird das wichtigste Anliegen eines jeden Menschen. Denn es gilt, „sein eigenes, nur ihm eigenes Urbild zu verwirklichen.“ (ebd.) In Simmels Augen schließt sich da der Kreis zwischen der strukturellen Entwicklung der Gesellschaft in Gestalt der Arbeitsteilung einerseits, ihrer kulturellen Entfaltung in Gestalt des qualitativen Individualismus andererseits. „Mit dem Individualismus des Andersseins, der Vertiefung der Individualität bis zur Unvergleichlichkeit des Wesens ebenso wie der Leistung, zu der man berufen ist – war nun auch die Metaphysik der Arbeitsteilung gefunden.“
-Den mannigfaltigen Wegen, die er beschritt, kann man soziologisch auf Anhieb nur zwei empirisch wahrscheinliche Entwicklungen entnehmen. Das aristokratische Individuum vermag aus seinen schöpferischen Kräften einen persönlichen Lebensstil zu kreieren. „Hier ist das Individuelle der Fall eines individuellen Gesetzes; wer dazu nicht stark genug ist, muß sich an ein allgemeines Gesetz halten.“ Es scheint, als ob eine starke Minderheit für sich das, was man als erfolgreiche Individuierung zu bezeichnen pflegt, realisieren kann. Für die große Mehrheit der Menschen hingegen gilt, dass sie die Qual der Lebensstilwahl aus dem Ensemble rasch wechselnder Mode- und Stilangebote zu treffen hat. Simmel nimmt weitsichtig die heutige Konsumgesellschaft vorweg, die mit ihren Angeboten an flotten Lebensstilen die Accessoires für eine Form der „Individualität light“ ohne Individuierung offeriert. „Der Mangel an Definitivem im Zentrum der Seele treibt dazu, in immer neuen Anregungen, äußeren Aktivitäten eine momentane Befriedigung zu suchen; so verstrickt uns dieser erst seinerseits in die wirre Halt- und Ratlosigkeit, die sich bald als Tumult der Großstadt, bald als Reisemanie, bald als wilde Jagd der Konkurrenz, bald als die spezifisch moderne Treulosigkeit auf den Gebieten des Geschmacks, der Stile, der Gesinnungen, der Beziehungen offenbart“
-Simmel war stets ein guter Kantianer, aber die Ethik des kategorischen Imperativ hielt er nicht nur für hoffnungslos veraltet, sondern auch in seiner dualistischen Konstruktion ungeeignet mit seinen Dichotomien wie Subjekt – Objekt, das Individuelle – das Allgemeine, die Wirklichkeit – das Ideal, die Freiheit – das Gesetz, das Sein – das Sollen, die Subjektivität – die Objektivität. Statt solcher Dualismen wie Leben und Sollen optierte Simmel für ein „Drittes“ – seine Lieblingslösung: die Triade von Wirklichkeit, Sollen und Leben. Das Leben umfasst nämlich stets beides: die Wirklichkeit und das Sollen. Die Ethik wird also nicht abgeschoben in eine eigene Sphäre, um dann wie ein „deus ex machina“ exogen und von oben das Leben zu regeln. Vielmehr geht es Simmel um eine endogene, aus der Mitte des Lebens heraus sich entwickelnde Lösung. Es ist das Individuum selbst, das sich gleichsam „von innen her“ ein ethisches Gesetz verleihen muss, das als Richtschnur für die individuelle Selbstverwirklichung dem einzelnen Leben sein „Telos“ vorschreiben sollte.
-Hier handelt es sich um eine bewusste und vernünftige Bestimmung eines ethischen Gesetzes, dem dann die Lebensführung der ganzen Existenz unterstellt wird. Es erwächst gleichsam ein objektives Sollen für das Individuum, „die aus seinem Leben heraus an sein Leben gestellte Forderung.“ Das Leben des modernen Individuums, das seinem eigenen „individuellen Gesetz“ konsequent über seinen Lebensverlauf hinweg und im Rahmen seiner Biografie folgt, ähnelt der „methodisch-rationalen Lebensführung“ der Puritaner in seiner Rigorosität, Folgerichtigkeit und Lebenslänglichkeit. Hier wie dort wird ein strenges moralisches Regime errichtet, das eine gelungene Seelen- und Lebensführung verspricht. Aber das moderne Individuum unterwirft sich seinem „individuellen Gesetz“ nicht um Gottes Wohlgefallen halber oder um einen Platz im jenseitigen Paradies zu erheischen, sondern um die Sicherheit seines eigenen Seelenheils im Diesseits zu gewährleisten.
Am Ende, so Simmels Überzeugung, nützt nur die Hilfe zur ethischen Selbsthilfe, wenn soziale Differenzierung und Komplexität der Gesellschaft zu groß geworden sind und die Kultur in ihrer eklektizistischen Mannigfaltigkeit keine Stil- und Sinnorientierung mehr dem Einzelnen zu geben vermag. Der Mensch muss unter Zuhilfenahme des individuellen Gesetzes sein Leben zum ethischen Gesamtkunstwerk machen, wenn er der allgemeinen Kultur- und seiner eigenen Seelennot entkommen will. Angesichts der Optionsvielfalt und der Orientierungsunsicherheit muss er sich – wie Münchhausen – am eigenen Schopfe aus dem Sumpf ziehen. Individualität im ethischen Sinne heißt: Mache dir deinen eigenen Regelkanon und folge ihm konsequent.
-Es ist Goethe, der die beiden Formen von Individualismus, die Simmel unterscheidet, in sich verkörpert und zu einer eigensinnigen, eben goetheanischen Symbiose – dem von Simmel stets gesuchten „Dritten“ – führt. Es ist die ganze Lebensführung des Staatsmannes, Theaterdirektors, Dichters und Weltliteraten, die Simmel fasziniert. Goethe hat das individuelle Gesetz vorgelebt, das Simmel als sein geistig-moralisches Vermächtnis in seiner „Lebensanschauung“ hinterlassen hat. Kein Zweifel, Goethe verkörpert für Simmel Ideal und Realität von erfüllter Individualität und gelungener Lebensführung, die „Mehr-Leben“ und „Mehr-als-Leben“ bedeutet
—> „Die metaphysische Auffassung der Individualität aber erreicht ihre ganze anschauliche Fülle und lebendige Ausgestaltung dann, wenn die Grundfärbung, die das Individuum in seiner Einzigkeit ausmacht, die Ganzheit des Daseins um das Individuum herum durchströmen und auf sich abstimmen kann. Das menschliche Wesen ist erst dann wirklich ganz Individuum, wenn es nicht nur ein Punkt in der Welt, sondern selbst eine Welt ist, und dass es sie ist, kann es nur damit beweisen, dass seine Qualität sich als Bestimmung eines möglichen Weltbildes zeigt, als der Kern eines geistigen Kosmos, von dessen individueller Totalität all seine einzelnen Äußerungen nur ganz partielle Verwirklichungen sind.“
-Simmels Gesellschafts- und Zeitdiagnose, die wir im Lichte der gesellschaftlichen, kulturellen und Persönlichkeitsentwicklung skizziert haben, zeichnet alles in allem ein ambivalentes Bild der Moderne . Einerseits eröffnet erst der gesellschaftliche Differenzierungsprozess die Chancen zu Freiheit und Individualität. Andererseits zeigt seine Kultur- und Zeitdiagnose, dass das Übergewicht der objektiven über die subjektive Kultur, der Verlust eines orientierungsleitenden kollektiven Lebensstils den Freiheits- und Individualitätsoptionen keine materiale Abstützung angedeihen lässt.
-In dieser ambivalenten Konstellation, mit der der Einzelne in der modernen Gesellschaft konfrontiert wird, sieht Simmel soziologisch und das heißt empirisch nur zwei Lösungswege, um dem Bedürfnis nach Freiheit und Individualität gerecht zu werden: einen individualistischen und einen kollektivistischen.
-Das aristokratische Individuum ist dank intellektueller Bildung und ästhetischer Erfahrung in der Lage, aus sich heraus den eigenen Lebensweg zu gestalten und einen eigenen, unverwechselbaren persönlichen Lebensstil zu kreieren. Diese aristokratische Individualität in diesem Sinne, darüber gibt sich Simmel keinen Illusionen hin, ist nur einer Minorität und wohl nur einer kleinen Elite vorbehalten.
- Die Mehrheit der Menschen und mithin die Masse muss seine Individualitätsbedürfnisse aus dem reichhaltigen gesellschaftlichen Reservoir von Mode- und Stilangeboten des Marktes befriedigen. Wo die konsumistische Befriedigung versagt, bleibt nur die therapeutische Betreuung von gescheiterten Lebensstilexperimenten einzelner Gruppen und Individuen. Auch in diesem Falle bleibt Simmel skeptisch, ob die konsumorientierte Lebensstilisierung langfristig tragfähig ist, um der menschlichen Lebensführung Sinn und Bedeutung zu verleihen. Simmel zieht einen bemerkenswerten Vergleich der Situation des modernen Menschen mit den Franziskanern. Das asketische Ideal der Armut gipfelte in dem franziskanischen Grundsatz: „Nihil habentes, omnia possidentes“ (Wir haben nichts, besitzen aber alles). Der moderne Mensch hingegen, dem „Mammonismus“ und dem ungeheuer „praktischen Materialismus“ seiner Zeit ausgesetzt, scheint dem umgekehrten Grundsatz nachzustreben: „Omnia habentes, nihil possidentes“ (Wir haben alles, besitzen aber nichts), so Simmel
-Unsere zeitdiagnostische Formel von Modernität und Individualität soll diese schwebende, oszillierende Gemengelage charakterisieren: Die moderne Gesellschaft verspricht Freiheit, aber die pluralistische Kultur macht das Freiheitsversprechen zur Makulatur. Die soziale Differenzierung eröffnet Chancen zur Ausbildung von Individualität, aber die moderne Kultur entzieht sie zugleich, weil sie in ihrer Polyvalenz und ihrem Polytheismus keine anerkannten Identitätsmodelle bereitstellt. Individualität, so Simmels These, ist nur in der Modernität möglich, aber die Modernität scheint sie zugleich zu verunmöglichen. Das ist die Botschaft seiner Soziologie und Philosophie. Seine Lebensphilosophie lässt ihn indes Ausschau halten nach einer dritten Möglichkeit diesseits und jenseits von Modernität und Individualität. Er findet „Das individuelle Gesetz“ als Kern seiner „Lebensanschauung“ und füllt es mit Anschauungsmaterial in seinen Studien zu erfüllter Individualität
-Ähnlich wie Max Weber plädiert Simmel letztlich dafür, Spannungen und Paradoxien des modernen Lebens auszuhalten. Verlangt diese Situation dem „modernen Kulturmenschentum“ eine Haltung asketischen Heroismus ab, ist sie aus kultursoziologischer und -philosophischer Sicht die Voraussetzung weiterer schöpferischer Entwicklung. Gegensätze und Spannungen wie Leben und Form, objektive und subjektive Kultur, die Charakterlosigkeit des modernen objektiven Lebensstils und die persönliche Lebensführung können produktiv aufgelöst werden und sozialen wie kulturellen Wandel anleiten. Schließlich bezeichnen moderne Gesellschaften und die moderne Kultur kein „stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit“ (Max Weber), sondern „Gehäuse des schöpferischen Lebens“. Am Ende verbirgt sich hinter der Logik kulturellen Wandels Simmels persönliche und philosophische Auffassung modernen Lebens. Denn: „[...] es ist ja gar nicht der Sinn des Lebens, die Dauer versöhnter Zustände, nach der es stets strebt, auch wirklich zu erlangen“
Struktur
Freiheit
Gesellschaftliche Differenzierung
von zu
Objektive und subjektive Kultur
Arbeitsteilung
Hiatus
Rollendifferenzierung
2.Tragödie
3.Funktionsdifferenzierung plus Geldwirtschaft
Individualismus
• aristokratisch: das individuelle Gesetz (Elite)
• demokratisch: Konsum und Stilangebote (Masse)
4. Geld als Symbol, Medium und Vermögen
-Max Weber war wahrscheinlich der letzte Universalgelehrte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, der gleichermaßen als Ökonom, Jurist, Historiker, Politikwissenschaftler und Soziologe, manche sagen sogar als Philosoph, gelten durfte. Seine weit gespannten Interessen richteten sich auf wirtschaftliche, rechtliche, historische und soziologische Studien von Antike, Mittelalter und Moderne. Angesichts dieser Interessenvielfalt überrascht es nicht, dass er zum multiplen Gründungsvater avancierte. Neben der politischen und sozialen Theorie inspirierte er
1. die ökonomische Soziologie, wie Richard Swedberg (1998) eindrucksvoll dargelegt hat;
2. die Arbeits-, Berufs, Professions-, Organisations- und Industriesoziologie, und er ist stets ein Geheimtipp für „Management Studies“, wie die Arbeiten von Peter Drucker (1993) zeigen;
3. die Soziologie sozialer Ungleichheit, Mobilität und Schichtung, wo er einen der drei theoretischen Ansätze neben Marxens Klassentheorie und der funktionalistischen Schichtungstheorie (Müller 1997) repräsentiert;
4. die politische Soziologie und Soziologie des Staates, wo Weber das Modell des westfälischen Staates (Ertman 1997) kodifiziert haben dürfte;
5. die Kultur- wie Religionssoziologie, in der Weber nicht nur einen bemerkenswerten Ansatz bereitgestellt, sondern durch sein Studium der Weltreligionen Maßstäbe gesetzt hat
-Welche Verkettung von Umständen hat diese spezifische gesellschaftsgeschichtliche Konstellation im Westen möglich gemacht und warum? Es geht Weber also um die okzidentale Moderne, ihre charakteristische Eigenart oder auch Besonderheit einerseits, ihre historische Einzigartigkeit andererseits. Um diese komplexe Frage zu beantworten, studiert er im Einzelnen:
1. den Kapitalismus und hier vor allem den modernen bürgerlichen Betriebskapitalismus, die „schicksalsvollste[...] Macht unsres modernen Lebens“ (1972b: 4);
2. den Staat, die Bürokratie und das Recht, die erst dem entstehenden Kapitalismus einen stabilen gesellschaftlichen Rahmen zu seiner Entfaltung sichern;
3. die Religion als Kultur, denn die Religion war und ist eine der größten Lebensführungsmächte auf der Welt. Es ist die Religion, die den Menschen sagt, was sie tun und lassen sollen, was sie sich wünschen und wollen dürfen, und wie sie auf ihrem beschwerlichen Weg das Leben meistern, ihre Ziele erfüllen und am Ende ins „Paradies“ kommen können. Weber untersucht in vergleichender Absicht die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, um herauszufinden, was gerade im asketischen Protestantismus den Aufstieg Europas und der USA ermöglicht hat und umgekehrt, was in anderen Religionen und Regionen der Welt diesen Take-off zur Modernisierung behindert hat. Webers Thema ist wie bei Marx der moderne Kapitalismus
-Webers Ansatz ist nicht leicht auf den Begriff zu bringen, aber folgende Komponenten lassen sich nennen:
1. eine Handlungs-, Ordnungs- und Kulturtheorie, die das Zusammenspiel von Wirtschaft, Politik und Kultur untersucht;
2. eine verstehende Soziologie als Methode, die Verstehen und Erklären mit idealtypischer Begriffsbildung unter dem Postulat der Werturteilsfreiheit zu kombinieren unternimmt;
3. eine universalhistorische Analyse, die Entstehung, Durchsetzung und Etablierung der westlichen Moderne auf der Basis historisch-komparativer Studien der institutionellen Konfiguration des Okzidents zum Gegenstand hat
-„Die Sozialwissenschaft, die wir treiben wollen, ist eine Wirklichkeitswissenschaft. Wir wollen die uns umgebende Wirklichkeit des Lebens, in welches wir hineingestellt sind, in ihrer Eigenart verstehen – den Zusammenhang und die Kulturbedeutung ihrer einzelnen Erscheinungen in ihrer heutigen Gestaltung einerseits, die Gründe ihres geschichtlichen So-und-nicht-anders-Gewordenseins andererseits.“ Es geht also um die Realität, nicht die Idealität des sozialen Lebens, und zwar nicht allgemein, generell oder gar universal wie im Falle des Studiums des gesellschaftlichen Lebens an und für sich, etwa im Sinne von „Der Mensch in der Gesellschaft“. Vielmehr geht es um die jeweilige Eigenart, den spezifischen Charakter, also die differentia specifica einer konkreten sozialen Wirklichkeit, d. h. um den Zusammenhang, die Kulturbedeutung, die Gestalt und die Entstehungsgründe ihrer einzelnen Erscheinungen.
-Wo jedoch ist der Platz der Soziologie? Soll sie nach dem Vorbild der Naturwissenschaften modelliert werden oder soll sie dem Paradigma der Geistes- oder Kulturwissenschaften folgen? Max Webers zentrale Einsicht lautet: weder noch. Denn bei den Sozialwissenschaften handelt es sich um eine dritte Kultur, die weder in der einen noch der anderen Kultur einseitig aufgeht. Seine eigene, dritte Lösung lautet: Erklären und Verstehen, oder kurz: erklärendes Verstehen.
- Zunächst wäre es ein grobes Missverständnis, Max Weber, den Verfechter einer verstehenden Soziologie, als Gegner kausaler Analysen zu positionieren. Im Gegenteil: Die Kausalanalyse gilt ihm als selbstverständlicher Bestandteil jeglichen erklärenden Verstehens. Nur warnt er vor einer Überschätzung von Gesetzeswissen. Unabhängig davon, ob und inwiefern es Gesetze im sozialen Leben gibt und wir sie entdecken können, hilft es uns im Alltagsgeschäft soziologischen Verstehens nur bedingt weiter. Tatsächlich ist die Feststellung von Ursache-Wirkungs-Relationen, von „Gesetzen“ und „Faktoren“ stets nur eine Vorarbeit. Im nächsten Schritt hat die individuelle Anordnung der „Faktoren“ sowie die Aufdeckung ihrer Bedeutsamkeit und ihres konkreten Zusammenwirkens zu erfolgen. Sodann muss man sich um eine historische Erklärung ihrer Entstehung bemühen, um schließlich „die Abschätzung möglicher Zukunftskonstellationen“ vorzunehmen zu können.
-Erst diese vier Schritte genügen einer sozialwissenschaftlichen Erklärung:
1. Die Kausalanalyse;
2. Die individuelle Konstellationsanalyse;
3. Die genetische Analyse;
4. Die projektive Zukunftsanalyse.
-Im Gegensatz zu vielen geisteswissenschaftlichen Philosophen und Phänomenologen macht Max Weber aus dem Prozess des Verstehens kein mystisches Geheimnis, dem man nur mit einer besonderen hermeneutischen Methode, genannt „Verstehen“, auf die Spur kommen kann. Die kulturelle Verfassung der Gesellschaft, ihre Eigenart und Bedeutsamkeit und die anthropologische Basis des Menschen als „Kulturmensch“ mit der Fähigkeit zur sinnhaften Stellungnahme zur Welt und seinen Mitmenschen machen Verstehen im Alltag zu einem soziologisch nachvollziehbaren, wenn auch komplexen Vorgang. Was den grundlegenden Prozess der Zurechnung von Motiven und Handlungen angeht, unterscheiden sich Verstehen im Alltag und Verstehen in der Wissenschaft nicht prinzipiell voneinander. „All dies sind verständliche Sinnzusammenhänge, deren Verstehen wir als ein Erklären des tatsächlichen Ablaufs des Handelns ansehen.
-‚Erklären‘ bedeutet also für eine mit dem Sinn des Handelns befaßte Wissenschaft soviel wie: Erfassung des Sinnzusammenhangs, in den, seinem
subjektiv gemeinten Sinn nach, ein aktuell verständliches Handeln hineingehört.“ Stets geht es dabei um den subjektiv gemeinten Sinn eines Handelnden, der auf bekannte und anerkannte, verständliche und insofern berechenbare Motivlagen zugerechnet werden kann. Die verstehende Soziologie à la Weber interessiert sich also weder für den vollkommen privaten, idiosynkratrischen und auf diese Weise vollkommen unzugänglichen Sinn individuellen Handelns, noch für etwaige unbewusste Motive, die dem Handelnden selbst nicht gewärtig sind. Überdies geht es auch nicht um einen metaphysisch wahren Sinn, der den Akteuren häufig gänzlich verborgen zu sein scheint, noch um irgendeinen objektiven Sinn, der sich angeblich aus dem Geschichtsablauf erschließen lässt.
-Soziologie als Wissenschaft vom sozialen Handeln, also als Handlungs- nicht als Strukturwissenschaft, der Fokus auf Sinn und Bedeutung, Handeln als „verständliches“ Sichverhalten – Weber schneidet seine Sozialwissenschaft als Kulturwissenschaft so zu, dass Erklären und Verstehen, Kausal- und Sinnanalyse ineinandergreifen.
-Handlungs-, Ordnungs- und Kulturtheorie: „Soziologie (im hier verstandenen Sinn dieses sehr vieldeutig gebrauchten Wortes) soll heißen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will. ‚Handeln‘ soll dabei ein menschliches Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden) heißen, wenn und insofern als der oder die Handelnden mit ihm einen subjektiven Sinn verbinden. ‚Soziales‘ Handeln aber soll ein solches Handeln heißen, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.“
-Max Webers Typologie des Handelns geht von den jeweiligen Motiven aus und versucht die vier Handlungstypen nach Art und Ausmaß rationaler Kontrolle zu klassifizieren. Er unterscheidet:
1. zweckrationales,
2. wertrationales,
3. affektuelles und
4. traditionales Handeln.
—>Messlatte, Maßstab und Folie für die Rationalität menschlichen Tuns sind ihm der zweckrationale Typus. Denn in diesem Idealtypus herrscht eine vollständige Kontrolle über die Mittel, den Zweck, den Wert und die Folge des Handelns. Wohlgemerkt, es handelt sich um einen Idealtyp und kein Ideal, einen Grenzfall und nicht die Regel, ein reines Gedankenbild, von dem das empirische Tun mehr oder weniger stark abweicht. Nach Weber (1973: 183) meint Zweck „die Vorstellung eines Erfolges, die Ursache einer Handlung wird.
-Wert lässt sich im Anschluss an Schluchter definieren als „die Vorstellung einer Verpflichtung, die Ursache einer Handlung wird“. Wertrationales Handeln erfolgt aus dem bewussten Glauben an den Eigenwert einer Handlung, die um ihrer selbst getan wird. In diesem Falle bleiben auch noch Mittel, Zweck und Wert kontrolliert, während die Folgen und Nebenfolgen unter den Tisch fallen. „Der Christ tut recht und stellt die Folgen Gott anheim“ ist das typische Credo des gläubigen Christen. Das affektuelle Handeln kontrolliert noch Mittel und Zwecke, muss aber Wert und Folge außenvor lassen. Das traditionale Handeln, nach eingelebter Gewohnheit, kontrolliert nur die Mittel, alles andere entgleitet seiner bewussten Kontrolle
-Weber geht von der einseitigen Sinnbezogenheit (Handeln und soziales Handeln) zur direkten wechselseitigen Sinnbezogenheit über, wie sie soziale Beziehungen charakterisiert. „Soziale ‚Beziehung‘“, so definiert Weber, „soll ein seinem Sinngehalt nach aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer heißen. Die soziale Beziehung besteht also durchaus und ganz ausschließlich: in der Chance, dass in einer (sinnhaft) angebbaren Art sozial gehandelt wird, einerlei zunächst: worauf diese Chance beruht.“
-Soziales Handeln und soziale Beziehungen können „an der Vorstellung vom Bestehen einer legitimen Ordnung orientiert werden. Die Chance, dass dies tatsächlich geschieht, soll ‚Geltung‘ der betreffenden Ordnung heißen.“ (Weber 1972a: 16) Orientiert sich der Sinngehalt einer sozialen Ordnung an angebbaren Maximen, so werden diese „Maximen“ nur dann gelten, wenn sie als verbindlich oder vorbildlich angesehen werden. Genau diesen Sachverhalt erfasst das Konzept der Legitimität, also das „Prestige der Verbindlichkeit oder Vorbildlichkeit“ Es kommt nun nicht ganz überraschend zu einer Aufzählung von Motiven für die Geltung einer sozialen Ordnung, die der Handlungstypologie entsprechen. Die legitime Geltung ergibt sich kraft:
1. Tradition;
2. affektuellen Glaubens;
3. wertrationalen Glaubens; 4
. positiver Satzung, an deren Legalität, sei es dank Paktierung bzw. Vereinbarung oder dank Oktroyierung bzw. Zwang, geglaubt wird.
-Weber hat keine Kulturtheorie oder -philosophie entwickelt wie Simmel, sondern er relationiert einfach Kultur und Kulturmensch. „,Kultur‘ ist ein vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens.“ Wenn man so will, nutzt Weber eine „implizite Anthropologie“, um den Menschen als „Kulturmenschen“ zu setzen. „Transzendentale Voraussetzung jeder Kulturwissenschaft ist nicht etwa, dass wir eine bestimmte oder überhaupt irgend eine ‚Kultur‘ wertvoll finden, sondern dass wir Kulturmenschen sind, begabt mit der Fähigkeit und dem Willen, bewußt zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen.“ (ebd.) Diese Definition enthält drei Momente, welche die enge Verzahnung mit der Kulturdefinition demonstrieren: Transzendentalität, Urteilsfähigkeit und Sinngebungskompetenz. Die Setzung kommt in der transzendentalen Qualität zum Ausdruck: Die „Bedingung der Möglichkeit“ von Kulturwissenschaft ist der Kulturmensch. Kulturmenschen zeichnen sich durch Urteilsfähigkeit aus; sie wollen und sie können eine bewusste Stellungnahme zur Welt abgeben. Fähigkeit und Wille zur Stellungnahme schließen auch das Vermögen ein, sich einen Reim auf die Welt zu machen. Diese welterschließende Kompetenz nennt Weber Sinn bzw. Sinngebungskompetenz. In seiner Methodologie der Kulturwissenschaft sind diese Qualitäten des „Kulturmenschen“ auch die Grundlage für Verstehen und für seine Kulturwissenschaft die Basis für eine „verstehende Soziologie“
-4. Idealtypus: Ausgangspunkt für ihn ist die Erkenntnis, dass es angesichts der unendlichen Mannigfaltigkeit der Wirklichkeit ein aussichtsloses Unterfangen wäre, den Versuch zu machen, mit einem System von Begriffen die soziale Realität vollständig auszuschöpfen. Es gibt keine analytische Ausschöpfbarkeit der Wirklichkeit durch Begriffe. Das ist nicht nur eine Schimäre, sondern auch ein gefährliches, weil falsches Wissenschaftsideal. Ebenso naiv und falsch wäre es anzunehmen, dass Begriffe einfach Abbilder der Wirklichkeit sind. Begriffe sind vielmehr analytische Konstruktionen, die stets gesichtspunktabhängig bleiben und von einer Wertbeziehung, also letztlich den Wertideen abhängig sind. Der Idealtypus „wird gewonnen durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankenbilde
-5. Werturteilsfreiheit: Ein großes Missverständnis in der ganzen Diskussion, das auch bis heute nicht gänzlich ausgeräumt zu sein scheint, besteht in der Vorstellung, Weber plädiere für eine wertfreie Soziologie. Das ist nach seinen eigenen Denkvoraussetzungen gar nicht möglich, denn Problem- und Fragestellungen empfangen die Sozialwissenschaften als Kulturwissenschaften von den sog. „Wertideen“, die eine „Wertbeziehung“ zwischen der Kultur und der soziologischen Arbeit stiften. Es sind Kulturwertideen, die den Sozialwissenschaften Perspektiven, Probleme, Themen, Ideen und Ideale, Visionen und Utopien vorgeben
-Max Webers zentrale Fragestellung aus der Religionssoziologie lautet: „Universalgeschichtliche Probleme wird der Sohn der modernen europäischen Kulturwelt unvermeidlicher- und berechtigterweise unter der Fragestellung behandeln: welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt, dass gerade auf dem Boden des Okzidents, und nur hier, Kulturerscheinungen auftraten, welche doch – wie wenigstens wir uns gern vorstellen – in einer Entwicklungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen?“ (Weber 1972)
-Ihm geht es vor allem um die evolutionäre Bedeutung von Phänomenen in ihrem Zusammenhang. Das meint die Rede von „universeller Bedeutung“. Dahinter steht ein evolutionäres, aber nicht unbedingt evolutionistisches Verständnis von Gesellschaft.51 Mit „Fortschritt“, in welcher Form auch immer – sei es als menschlicher, gesellschaftlicher oder kultureller Fortschritt –, hat Weber nichts im Sinn.
-Es war Talcott Parsons (1969), dessen Idee der „Evolutionären Universalien“ Webers Intentionen wohl am nächsten kam. Parsons’ Grundidee war relativ einfach: Es gibt so etwas wie institutionelle Erfindungen, die neue und leistungsfähigere Wege der gesellschaftlichen Organisation erlauben und die daher unhintergehbar, ja nicht mehr wegzudenken sind und genau aus diesem Grund, ihrer Unentbehrlichkeit, sich global verbreiten. Man denke nur an Erfindungen wie die Schrift, Wissenschaft und Technologie (vom Faustkeil bis zum Computer), Familie und Verwandtschaft, die Bürokratie als Verwaltungsstab eines Herrschers, aber auch die soziale Schichtung und soziale Ungleichheit. Wenn man partout auch Weber in die Differenzierungstradition einordnen wollte, dann handelt es sich bei ihm um eine Theorie der institutionellen Differenzierung. Folglich richtet sich sein Augenmerk auf die institutionelle Revolution oder Revolutionen der Rationalisierung. Das Ergebnis ist die okzidentale Konstellation.
-Worin besteht nun die besondere und einzigartige Konstellation des Westens? Nur im Westen, so Max Weber in seiner berühmten Vorbemerkung zu den Gesammelten Aufsätzen zur Religionssoziologie, hat es:
1. rationalen Kapitalismus; 2. rationale Wissenschaft; 3. rationale Kunst; 4. rationales Recht; 5. einen rationalen Staat; 6. rationale Bürokratie und professionell geschultes Fachbeamtentum; 7. freie Lohnarbeit gegeben.
-Kapitalismus: Weber definiert daher: „Ein ‚kapitalistischer‘ Wirtschaftsakt soll uns heißen zunächst ein solcher, der auf Erwartung von Gewinn durch Ausnützung von Tausch-Chancen ruht: auf (formell) friedlichen Erwerbschancen also.“ (ebd.) Damit grenzt er das Spezifische des okzidentalen Kapitalismus, also Gewinnerwartung und friedlicher Tausch, gerade von allen Formen des Abenteuer- oder Beutekapitalismus ab, die auf Spekulation, Macht und Gewalt beruhen. Also: Kapitalismus, Geldwirtschaft und Unternehmertum an sich sind sehr alt. Der moderne bürgerliche Betriebskapitalismus in der definierten Form hingegen ist rezenter Natur, und ihn hat es in dieser Form zuerst und vor allem im Westen gegeben
-Wissenschaft: Wichtig ist vor allem das Verhältnis von Wissenschaft und Anwendung, Invention und Innovation, Wissenschaft und Technologie. Der enge Konnex von (natur-)wissenschaftlicher Entdeckung, technologischer Anwendung und kapitalistischer Verwertung war es, welcher der westlichen Entwicklung ihre Dynamik verlieh. Ein Beispiel zur Illustration: Das Schießpulver wurde in China erfunden. Aber man weigerte sich, es für kriegerische Zwecke zu nutzen. Es blieb buchstäblich „Feuerwerk“ und erhielt sich seinen säkularen Unterhaltungswert. Im Westen hingegen sollte es die Militärtechnologie und die Kriegsführung revolutionieren
-Kunst: In der Architektur des Orient fehlt „die rationale Verwendung des gotischen Gewölbes als Mittel der Schubverteilung und der Ueberwölbung beliebig geformter Räume“ (ebd.), obgleich das Spitzbogen-Kreuzgewölbe bekannt gewesen ist. In der Malerei schuf die Renaissance im Westen die Linear- und Luftperspektive. Kurz: Es fehlt im Orient „jene Art von ‚klassischer‘ Rationalisierung der gesamten Kunst [...], welche die Renaissance bei uns schuf.“
-Recht: Für eine rationale Rechtslehre fehlen anderwärts trotz aller Ansätze in Indien (Mimamsa-Schule), trotz umfassender Kodifikationen besonders in Vorderasien und trotz aller indischen und sonstigen Rechtsbücher, die streng juristischen Schemata und Denkformen des römischen und des daran geschulten okzidentalen Rechtes. Ein Gebilde ferner wie das kanonische Recht kennt nur der Okzident.“
- Rationaler Staat, rationale Verwaltung und Fachbeamtentum: „Der ‚Staat‘ überhaupt im Sinne einer politischen Anstalt, mit rational gesatzter ‚Verfassung‘, rational gesatztem Recht und einer an rationalen, gesatzten Regeln: ‚Gesetzen‘, orientierten Verwaltung durch Fachbeamte, kennt, in dieser für ihn wesentlichen Kombination der entscheidenden Merkmale, ungeachtet aller anderen Ansätze dazu, nur der Okzident.“
-Freie Arbeit: „Die rational-kapitalistische Organisation von (formell) freier Arbeit“ ist ebenfalls eine okzidentale Entwicklung. Sie ist Voraussetzung für eine kapitalistische Arbeitsorganisation ebenso wie die Trennung von Haushalt und Betrieb sowie die rationale Buchführung. Erst die Scheidung von Familie und Unternehmen macht die Differenzierung von Privat- und Betriebsvermögen möglich und damit auch die unterschiedlichen Funktionen der Geld- bzw. Kapitalverwendung: Konsumieren einerseits, Investieren andererseits. Erst die rationale Buchführung erlaubt die exakte Kalkulation von Gewinn und Verlust, das Verhältnis von Einsatz und Risiko, die Abschätzung von Aufwand und Ertrag, kurz: die präzise Rechenhaftigkeit und Kalkulierbarkeit des Kapitalismus.
-Trotz seiner Forderung nach klar geschnittenen und eindeutigen Begriffen arbeitet Weber keine Rationalisierungstheorie aus, welche nicht nur die verschiedenen Formen zu klassifizieren hätte, sondern auch ihre Konstellation oder Konfiguration, also ihr Verhältnis zueinander, damit die diversen Probleme, Konflikte, ja Widersprüche untereinander gefasst und verstanden werden könnten.
-Wolfgang Schluchter (1980: 10) hat aus der Not einer fehlenden Theorie die Tugend einer Klassifikation zu analytischen Zwecken gemacht und unterscheidet drei Formen des Rationalismus:
1. Der wissenschaftlich-technische Rationalismus im weitesten Sinn bezeichnet die mit dem empirischen Wissen gegebene Fähigkeit, fragliche Sachverhalte durch Berechnung zu beherrschen.
2. Der metaphysisch-ethische Rationalismus stellt auf die anthropologische Notwendigkeit des „Kulturmenschen“ ab, seine soziale Wirklichkeit als irgendwie sinnvoll geordnete Welt zu erfassen; folglich behandelt er in erster Linie die Systematisierung von Sinn, die intellektuelle Durchdringung und kohärente Bestimmung von Sinnzielen und ihre Bedeutung.
3. Der praktische Rationalismus im weitesten Sinn beschäftigt sich mit Fragen methodischer Lebensführung, die sich als gesellschaftlich umgrenzte Möglichkeitsspielräume mit der Institutionalisierung von spezifischen Sinn- und Interessenkomplexen auftun.
-berühmteste Schrift von Max Weber besteht in einer Aufsatzfolge zum Thema „Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus
-Ausgangspunkt seiner Analyse ist die empirische Beobachtung, dass Protestanten häufiger als Katholiken das Unternehmertum und die gebildeteren Arbeiterkreise stellen. Woher rührt „spezifische Neigung zum ökonomischen Rationalismus“ bei den Protestanten? Diese Neigung ist sicherlich kein Ergebnis der Reformation, weil sie etwa die moralischen Zügel gelockert und dem ökonomischen Erwerb Tür und Tor geöffnet hätte. Ganz im Gegenteil, so Weber , bedeutete sie im Alltag eine „unendlich lästige und ernstgemeinte Reglementierung der ganzen Lebensführung“. Woher soll dann die behauptete Wahlverwandtschaft zwischen Religion und Wirtschaft, Puritanismus und Kapitalismus kommen?
-Zur Beantwortung konstruiert Weber seinen Idealtyp vom „Geist des Kapitalismus“, worunter er das „Ideal des kreditwürdigen Ehrenmannes“ versteht. Dem amerikanischen „Businessman“ als Nachfolgemodell des englischen „Gentleman“ geht es einzig und allein darum, mit ehrlichen Mitteln und durch unaufhörliches Streben sein Kapital zu vermehren.Kapitalbildung als Selbstzweck, so Weber (ebd.: 33), ist mehr als nur Technik oder Geschäftsklugheit, sondern „nimmt hier den Charakter einer ethisch gefärbten Maxime der Lebensführung an.“
-Zugleich stößt er hier auf die Brücke zwischen Religion und Wirtschaft: Tüchtigkeit im Beruf. Die Reformation bringt eine mächtige moralische Aufwertung der Arbeit mit sich, wie er sowohl anhand von Luthers als auch von Calvins Berufskonzeption demonstriert. Das strukturkonservative Luthertum schließt Weber in der Folge aus, weil die lutherische Frömmigkeit („sola fide“ – allein der Glaube zählt) auf eine gottgewollte mystische Gefühlskultur zielt, die den Einzelnen im Alltag in seinem sozialen Status traditionalistisch festhält („Schuster, bleib bei Deinem Leisten!“) und folglich wenig für die ökonomische Dynamik leistet. Ganz anders die Lehre von Jean Calvin, denn die reformierte Frömmigkeit („fides efficax“ – nur der Glaube zählt, der wirkt) legt gottgewirktes, asketisches Handeln nahe und begünstigt somit eine methodisch-rationale Lebensführung, die der Wirtschaft die entscheidende Dynamik stürmischer Entwicklung verleiht
-Webers Augenmerk richtet sich daher auf die Berufsethik des asketischen Protestantismus. Die geschichtlichen Träger eines solchen asketischen Protestantismus oder Puritanismus, wie Weber das nennt, sind der Calvinismus, der Pietismus, der Methodismus, und die aus der Täuferbewegung hervorgegangenen Sekten (Baptisten, Mennoniten und Quäker). Ihn interessiert, warum und wie diese religiösen Ethiken die puritanische Berufsidee hervorgebracht haben, die in der Folge dem Kapitalismus die notwendige methodisch-rationale Lebensführung für seine Entstehung und Etablierung bereitgestellt hat. Im Zentrum des Calvinismus steht für Weber die Lehre von der Gnadenwahl. Es ist die Prädestination, also die Vorherbestimmung durch Gott, wer in den Himmel und wer in die Hölle kommt. Gott gilt als „deus absconditus“, als unergründliches Wesen, das frei und willkürlich seine Entscheidung über die Verteilung von Seligkeit und Verdammnis der Menschen fällt – ungeachtet ihrer diesseitigen Verdienstes
-Der Mensch ist vollkommen auf sich allein gestellt, soll gleichwohl zum Wohle Gottes wirken und kann nur hoffen, durch gottwohlgefällige Lebensführung die Gnade Gottes zur Rettung vor dem ewigen Höllenschicksal zu erringen. Die Folge ist die Entstehung eines religiösen Individualismus
—>(„Gott hilft dem, der sich selbst hilft!“), der „eine der wichtigsten geschichtlichen Grundlagen des modernen ‚Individualismus’“ (ebd.: 235) werden sollt
-Anhand der Schriften von Richard Baxter untersucht er, wie die Puritaner im Alltag mit dieser Lehre umgegangen sind. Zwei Ratschläge waren es, die Baxter den Gläubigen empfahl: 1. Die Umbiegung des Dogmas: Jeder hat sich für erwählt zu halten. Zweifel daran zeigen bereits, dass man den Anfechtungen des Teufels zu erliegen droht. 2. Die Wahl der Mittel: „rastlose Berufsarbeit“ als ein Weg, um die eigenen Ängste abzubauen und die Selbstgewissheit zu erlangen, zu den „beati electi“, den glücklich Auserwählten Gottes, zu gehören. Der reine Calvinismus führt, wenn man ihn logisch zu Ende denkt, zu schicksalsergebenem Fatalismus, denn man kann ohnehin nichts für sein Seelenheil tun, da Gottes Ratschluss ja von jeher feststeht. Der baxterianische Puritanismus dagegen sorgt für eine axiologische Kehre, für die Drehung der Wirkung gegenüber dem Wollen im Glauben, um 180 Grad. Statt fatalistischer Schicksalsergebenheit führt die Pflicht zur Selbsterwähltheit und rastloser Berufsarbeit zu aktiver Selbst- und Weltbeherrschung. Es dieser religiöse Bewährungsgedanke, der mittels methodisch-rationaler Lebensführung zur lebenslangen Kontrolle des Gnadenstandes in der Berufsarbeit zwingt. „Diese Rationalisierung der Lebensführung innerhalb der Welt im Hinblick auf das Jenseits war die Wirkung der Berufskonzeption des asketischen Protestantismus
-Allen Religionen ist Reichtum suspekt, denn verdirbt er nicht den Charakter und führt zur Hybris der Menschen? Der Puritanismus macht darin keine Ausnahme, aber er verurteilt nur das Ausruhen auf dem Besitz oder seinen eitlen Genuss, nicht aber seine unbeschränkte Anhäufung. Denn der ökonomische Erfolg gilt ja als Zeichen der „Auserwähltheit“ durch Gott. Weber notiert daher den Hang zur Selbstgerechtigkeit der Puritaner, weil sie ökonomischen und religiösen Erfolg derart engführen. Die Zeit spielt eine Schlüsselrolle, denn „Zeit ist Geld“
-Die Puritaner adeln harte, stetige und disziplinierte körperliche oder geistige Arbeit als Heilmittel wie als Schutz gegen ein „unclean life“: „Wer arbeitet, sündigt nicht“. Ebenso treiben sie die Arbeitsteilung voran, wenn denn Spezialisierung die Arbeitsleistung zu steigern verspricht. Berufsarbeit und nicht Arbeit an sich sowie Berufsmobilität stehen im Zentrum der religiösen Bewährungsethik, zumal sie Gottwohlgefälligkeit und Profitabilität kongenial zu kombinieren erlauben. Armut hingegen ist das Skandalon des Puritanismus. Der Arme zeigt schon durch seine Armut, dass er des Teufels ist
-Die direkten Einflüsse der puritanischen Berufsidee bündeln sich vor allem im Verbot des unbefangenen Genießens des Daseins. Triebhafter Lebensgenuss verstößt gegen „das Prinzip asketischer Lebensführung“ (ebd.: 184), woraus sich eine ambivalente Haltung gegenüber der Kultur ergibt.
-Im Bereich des Konsums wird dem Puritaner zwar ein gewisser „comfort“ zugestanden, jede Protzerei dagegen ist verpönt. Angesichts des bescheidenen Konsums sind alle Kräfte auf die Produktion gerichtet, so dass die puritanische Lebensführung einer regelrechten Akkumulationsethik gleichkommt: „Kapitalbesitz durch asketischen Sparzwang“ – Webers (ebd.: 192) Version der „ursprünglichen Kapitalakkumulation“ (Karl Marx) und der Geburt des modernen Kapitalismus aus dem Geist des Puritanismus. Dennoch hat die Askese eine Schattenseite, so dass sich hier die Paradoxie der Wirkung gegenüber dem Wollen zeigt, denn die „Askese [ist, H.-P. M.] die Kraft, ‚die stets das Gute will und stets das Böse’ – das in ihrem Sinn Böse: den Besitz und seine Versuchungen – ‚schafft’
-Die Liaison zwischen Puritanismus und Kapitalismus endet tragisch, denn der einmal eingerichtete Kapitalismus, so Weber, bedarf nicht länger dieses puritanischen „Geistes“. Im Gegenteil: Sein enormer Wohlstand säkularisiert die Gesellschaften und unterminiert eine rein religiöse Lebensführung. Weber gibt am Ende der Protestantischen Ethik eine denkbar düstere Zeitdiagnose. „Der Puritaner wollte Berufsmensch sein – wir müssen es sein
—>Das Resultat seiner Studie lautet: „Einer der konstitutiven Bestandteile des modernen kapitalistischen Geistes, und nicht nur dieses, sondern der modernen Kultur: die rationale Lebensführung auf Grundlage der Berufsidee, ist [...] geboren aus dem Geist der christlichen Askese.“ Deshalb spricht er auch nicht von „Kausalität“, sondern nur von einer „Wahlverwandtschaft“ zwischen Religion und Kultur, Reformation und Kapitalismus, Die Reformation bringt eine religiös inspirierte methodisch-rationale Lebensführung hervor, eine Wirtschafts- und Berufsethik, die zum Kapitalismus in seiner Entstehungszeit kongenial „gepasst“ hat.
-In seinen späten Vorträgen „Wissenschaft als Beruf“ (1917/1919) und „Politik als Beruf“ (1919) unterbreitet Max Weber eine sozialphilosophisch eingefärbte Zeitdiagnose, die den Zusammenhang zwischen Beruf, professioneller Ethik und Persönlichkeit beleuchtet
-Vielmehr sucht er die institutionelle Eigenart der jeweiligen Wertsphäre und Lebensordnung zu charakterisieren, um dann zu prüfen, welche Art von Menschen mit welchem Persönlichkeitstypus für diesen Beruf geeignet ist. Diese Passform zwischen rationalisierter Wertsphäre und Lebensordnung und der ihr angemessenen, methodisch-rationalen Lebensführung gibt eine Vorstellung davon, wie der moderne Mensch in diesem Kosmos der modernen Welt sich überhaupt behaupten
Wissenschaft als Beruf:
-So oder so ist und bleibt die wissenschaftliche Karriere eine unwägbare, riskante Angelegenheit, über die, neben dem eigenen Können, Glück und soziale Beziehungen, also die Einbettung in einflussreiche Netzwerke, entscheiden. Zudem braucht man einen langen Atem und starke Nerven, denn das durchschnittliche Habilitationsalter heute liegt bei über 40 Jahren. In keinem anderen beruflichen Bereich gilt das Motto so uneingeschränkt: hop oder top. Denn es handelt sich um ein extremes Bewährungsmodell, in der Tat um eine „geistesaristokratische Angelegenheit“, wie Weber (ebd.: 587) sagt, mit starkem Lotteriecharakter: Verdienst und Zufall liegen eng und un(v)erträglich beieinander, wie sonst nur in künstlerischen Berufen.
-Genau diese kontingente und zufallsbehaftete Organisation von Wissenschaft als Beruf geht mit besonderen psychischen Belastungen einher, da nirgendwo die Kluft zwischen eigenem Selbstverständnis und objektiver Lage so groß sein dürfte wie in der Wissenschaft
-Je mehr sich die Wissenschaften ausdifferenziert und professionalisiert haben, desto weniger können (und wollen) sie die Existenz- und Sinnfragen der Menschen beantworten. Das Pathos und mit ihm die Aura der Magie (der Wissenschaftler als legitime Nachfolger des Zauberers) ist gewichen. Übrig geblieben ist die nüchterne Professionalität und der Glaube an die technische Machbarkeit. Das heißt der Glaube, dass man alles durch Kalkül berechnen und technisch schon meistern wird. Aber das unvermeidliche Resultat scheint nun eben zu sein, dass Wissenschaft und Leben immer weiter auseinanderfallen. „Hat der ‚Fortschritt‘ als solcher einen erkennbaren, über das Technische hinausreichenden Sinn, so dass dadurch der Dienst an ihm ein sinnvoller Beruf würde?“
-Dennoch lassen sich mit den Wissenschaften keine letzten Wert- und Sinnfragen des Lebens verbindlich entscheiden, wie das einstmals „dem großartigen Pathos der christlichen Ethik“ (ebd.: 605) gelungen war. Denn: „Es ist das Schicksal unserer Zeit, mit der ihr eigenen Rationalisierung und Intellektualisierung, vor allem: Entzauberung der Welt, dass gerade die letzten und sublimsten Werte zurückgetreten sind aus der Öffentlichkeit, entweder in das hinterweltliche Reich mystischen Lebens oder in die Brüderlichkeit unmittelbarer Beziehungen der Einzelnen zueinander.“
-Immerhin nennt Weber vier große Bereiche, in denen die akademische Bildung uns über das Spezialwissen der einzelnen Disziplinen hinaus am Ende doch für das Leben und die eigene Lebensführung schult:
1. Die Wissenschaften verleihen uns Kenntnisse über die Technik, wie man das Leben durch Berechnung beherrscht.
2. Sie schulen Methoden des Denkens ein.
3. Sie verhelfen uns zur Klarheit über Zweck-Mittel-Relationen, Folgen und Nebenfolgen unseres Tuns.
4. Sie helfen uns, Rechenschaft abzulegen über den letzten Sinn unseres eigenen Tuns.
Politik als Beruf
-Weber schaltet seiner Betrachtung eine Reihe von Definitionen voraus. Politik hat immer mit dem „Streben nach Machtanteil oder nach Beeinflussung der Machtverteilung, sei es zwischen Staaten, sei es innerhalb eines Staates zwischen den Menschengruppen, die er umschließt“ (Weber 1973: 493) zu tun. Denn: „Wer Politik treibt, erstrebt Macht“. (ebd.: 495) Politik meint also ganz allgemein „die Leitung oder die Beeinflussung der Leitung eines politischen Verbandes, heute also: eines Staates.“ (ebd.: 493) Den Staat definiert er als „ein auf das Mittel der legitimen [...] Gewaltsamkeit gestütztes Herrschaftsverhältnis von Menschen
-Was die äußere Organisation von Politik als Betrieb angeht, also die Politik als eigene Wertsphäre und Lebensordnung, so diskutiert Weber die Figur des Politikers und der Parteien im historischen Wandel. Die Rolle des Politikers kommt in drei Abstufungen vor:
1. als Gelegenheitspolitiker –diese Funktion betrifft alle Menschen in einer Demokratie, etwa wenn sie zur Wahl gehen;
2. als nebenberuflicher Politiker – etwa, wenn jemand ein Ehrenamt im Gemeinderat ausübt;
3. als Berufspolitiker: „Es gibt zwei Arten, aus der Politik seinen Beruf zu machen. Entweder: man lebt ‚für‘ die Politik, – oder aber: ‚von‘ der Politik.“ (ebd.: 501) Für die Politik lebt, wer sich ein Leben lang einer Sache hingibt. Voraussetzung für ein solches Engagement ist aber, dass man vermögend und abkömmlich ist.
-Schaut man sich die Arten der Politiker näher an, so kann man Fachbeamte und politische Beamte unterscheiden. „Die Entwicklung der Politik zu einem ‚Betrieb‘, der eine Schulung im Kampf um die Macht und in dessen Methoden erforderte, so wie sie das moderne Parteiwesen entwickelte, bedingte nun die Scheidung der öffentlichen Funktionäre in zwei, allerdings keineswegs schroff, aber doch deutlich geschiedene Kategorien: Fachbeamte einerseits, ‚politische Beamte‘ andererseits.“ (ebd.: 507) Fachbeamte arbeiten in der Regel sine ira et studio, also ohne Ansehen der Person, wenn auch im Dienste einer Herrschaft. Die politischen Beamten hingegen walten ihres Amtes cum ira et studio, vertreten also mit Leidenschaft ihre Ideen und Interessen
-Wie steht es um die inneren Voraussetzungen zur Politik als Beruf? Mit anderen Worten geht es um die Frage, „was für ein Mensch man sein muß, um seine Hand in die Speichen des Rades der Geschichte legen zu dürfen.“ (ebd.: 533) Drei Qualitäten, so Weber, zeichnen den Politiker aus: „Leidenschaft – Verantwortungsgefühl – Augenmaß.“ (ebd.: 533) Die Leidenschaft ist das Antriebsmoment für die politische Sache, das Verantwortungsgefühl rechnet mit den Folgen des eigenen Handelns und das Augenmaß sorgt für Balance zwischen Leidenschaft und Verantwortung
-An dieser Spannung zwischen Gesinnung und Verantwortung scheint der reine Gesinnungsethiker in der Politik regelmäßig scheitern zu müssen. Denn: „‚Verantwortlich‘ fühlt sich der Gesinnungsethiker nur dafür, dass die Flamme der reinen Gesinnung, die Flamme z. B. des Protestes gegen die Ungerechtigkeit der sozialen Ordnung, nicht erlischt
-Sie stets neu anzufachen, ist der Zweck seiner, vom möglichen Erfolg her beurteilt, ganz irrationalen Taten, die nur exemplarischen Wert haben können und sollen.“ Für die Folgen ist man keineswegs selbst verantwortlich, sondern die Gesellschaft, der Krieg, der Gegner – alle anderen, nur man selbst nicht. Es kommt aber stets der Punkt, an dem die spezifischen Mittel der Politik, Macht und Gewaltsamkeit, mit den hehren und durchaus edlen Zielen kollidieren. Diese Wertkollision zwischen Politik und unbedingter Gesinnungsethik ist keineswegs ein kontingentes Schicksal, sondern eine selbst verursachte, unintendierte und paradoxe Folge des eigenen Kurses, die sich spätestens an dem Punkt zeigt, an dem der Zweck plötzlich die Mittel heiligen muss
-„Wer Politik überhaupt und wer vollends Politik als Beruf betreiben will, hat sich jener ethischen Paradoxien und seiner Verantwortung für das, was aus ihm selbst unter ihrem Druck werden kann, bewußt zu sein. Er läßt sich [...] mit den diabolischen Mächten ein, die in jeder Gewaltsamkeit lauern.“
—> Nur wer sicher ist, dass er daran nicht zerbricht, wenn die Welt, von seinem Standpunkt aus gesehen, zu dumm oder zu gemein ist für das, was er ihr bieten will, dass er all dem gegenüber: ‚dennoch!‘ zu sagen vermag, nur der hat den ‚Beruf‘ zur Politik.“
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—> Die Rationalisierung der Welt hat zur Ausdifferenzierung von Wertsphären und Lebensordnungen geführt, in der der Einzelne sich qua Beruf hineingestellt zu bewähren hat. Sein Grundgedanke kulminiert in der Vorstellung, dass der „Beruf“ heute im Gegensatz zum modischen Persönlichkeitskult „Selbstbegrenzung“ (ebd.: 494) verlangt. Wissenschaft als Beruf heißt daher entsagungsvolles, nicht versöhntes Leben, impliziert „Dienst an der Sache“ und „Beschränkung auf Facharbeit“, bedeutet also gerade nicht „die faustische Allseitigkeit des Menschentums“. Ähnliches gilt für die Politik als Beruf. Leidenschaft als Dienst an der Sache, Verantwortung und Augenmaß lassen den gesinnungsethisch inspirierten, aber verantwortungsethisch disziplinierten Politiker, der von der Politik lebt, für die Politik und Gesellschaft arbeiten
-Weber lehnt den Begriff der Gesellschaft ab und spricht lieber wie Georg Simmel von „Vergesellschaftung“, aber das Ensemble gesellschaftlicher Verhältnisse fasst er mit einer Theorie der institutionellen Differenzierung. Die ausdifferenzierten Bereiche einer modernen Gesellschaft begreift er als Wertsphären und Lebensordnungen. Die Rede von Wertsphären spielt auf die Deutungs- und Sinnkomponente an, die Vorstellung von Lebensordnungen verweist auf die institutionelle Eigenart
-Die Attraktivität und Applikabilität von Webers Ansatz hat sehr viel mit den beiden Säulen zu tun, auf denen seine Behandlung des okzidentalen Rationalismus ruht:
1. dem Kapitalismus, „der schicksalsvollsten Macht unsres modernen Lebens“, und
2. der Religion.
—>Beide, Kapitalismus und Religion, sind die zentralen Mächte, welche die Lebensführung der Menschen prägen. Die Religion herrscht vor allem in traditionalen Gesellschaften, wobei „der moderne Mensch im ganzen selbst beim besten Willen nicht imstande zu sein pflegt, sich die Bedeutung, welche religiöse Bewußtseinsinhalte auf die Lebensführung, die Kultur und die Volkscharaktere gehabt haben, so groß vorzustellen, wie sie tatsächlich gewesen ist“
-Der Kapitalismus im Verein mit Wissenschaft und Technik, mit bürokratischer Organisation und dem Berufsmenschentum drückt seinen Stempel vor allem den modernen Gesellschaften der Gegenwart auf und trägt maßgeblich dazu bei, die Säkularisierung und Entzauberung der Welt voranzutreiben, indem das gesellschaftliche Leben in wachsendem Maße seiner technisch-instrumentellen Rationalität unterworfen wird. Dieser Rationalisierungsprozess hat drei gravierende Konsequenzen.
-1. Institutionelle Ebene – Religion als institutionelle Macht: Die Religion wird als zentrale Wertsphäre „zunehmend aus dem Reich des Rationalen ins Irrationale verdrängt und nun erst: die irrationale oder antirationale überpersönliche Macht schlechthin.“ (ebd.: 564) Überall, wo sie einst unumschränkt herrschte, sind ihre Ansprüche beschnitten worden. In der kognitiven Dimension wird sie von der Wissenschaft abgelöst; an die Stelle von magischer und religiöser Rationalität tritt wissenschaftliche Rationalität, kurz: Wissen löst den Glauben ab. In der expressiven Dimension verliert die Kunst ihre religiöse Einfärbung und reklamiert eine eigene, ästhetische Aura. L’art pour l’art etwa dient nicht der Verherrlichung Gottes und des Glaubens, sondern ist eine Apotheose der Kunst selbst. Und in der evaluativen Dimension wird die religiöse Ethik und Moral durch rein weltliche Modelle ersetzt.
-2. Ideelle Ebene – Religion als Lebensführungsmacht: Die Religion verliert im Alltagsleben der Menschen ihre fraglos höchste Priorität, und an die Stelle des religiösen Heils als vornehmstem Ziel religiös geprägter Lebensführung treten anders geartete säkulare Ziele. Mit Ausnahme der Minorität religiöser Virtuosen, dürfte das Gros der Menschen im Westen mundane Erfolgsziele verfolgen: Schulerfolg, Berufserfolg, Einkommenserfolg, Liebeserfolg, Sporterfolg, Freizeiterfolg, Erlebniserfolg und Ruhmeserfolg.
—>„Erleben will ich, erleben!“ – so könnte man den schon zu Webers Zeiten zumindest unter der akademischen Jugend grassierenden und von ihm kritisierten neuen kategorischen Imperativ nennen. Darum die sterile Aufgeregtheit, die Jagd nach dem nächsten Erlebnis und die hektische Hast nach den Gütern des westlichen Lebensstils, wie auch Georg Simmel schon registriert hatte. Dem Kapitalismus kann das nur recht sein. Denn sein kategorischer Imperativ lautet: „Konsumieren sollst Du, konsumieren
-3. Inter- und intrainstitutionelle Ebene – Wertsphären und Lebensordnungen im Zusammenhang: Schließlich werden Wirtschaft und Politik als Wertsphären in materialistischen Gesellschaften immer bedeutender. Zudem machen der Religion andere Kulturmächte als Sinnstifter heftig Konkurrenz. Wie Weber zeigt, zieht die Rationalisierung der Lebensordnungen und die Säkularisierung der Ideale einen Rückgang der religiös bestimmten Lebensführung nach sich, und die religiöse Wertsphäre wird durch differenzierte Kultursphären ersetzt. In der Zwischenbetrachtung zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen unterscheidet Weber in diesem Sinne die ästhetische, erotische und intellektuelle Sphäre. Kunst, Liebe und Wissenschaft kommen sehr wohl ohne Religion aus, ja können unter Umständen je für sich säkulare Sakralität beanspruchen,
—>Es heißt jedoch, dass konsequente Rationalisierung in einer bestimmten Richtung die Kluft zwischen verschiedenen Wertsphären überhaupt erst geöffnet und damit dauerhaft Spannungen im Gesellschaftsgefüge erzeugt hat. Diese Gegensätze und latenten Spannungen zwischen der „Eigengesetzlichkeit“ unterschiedlicher Lebensordnungen haben zur Folge, dass sich Werte und Regeln einer Sphäre nicht mehr in eine andere übersetzen lassen ohne Verletzung von deren spezifischen Charakter. Wo der erotische Maßstab der reinen Liebe angelegt wird, ist die rationale Kalkulation von Gewinnerwartung und Rentabilität fehl am Platze. Wer das doch tut, verwechselt Liebe mit Prostitution.
-In Webers Augen sind diese Wertkonflikte die unausweichliche Folge der Entstehung von unterschiedlichen Wertmaßstäben, Beurteilungskriterien und „letzten Wertungen“ im Zuge der Ausdifferenzierung von spezifischen Lebensbereichen, die nur um den Preis einer fadenscheinigen Harmonisierung rückgängig gemacht und in einer einheitlichen Wertordnung synthetisiert werden können. Die Heterogenität der Werte ist gerade das spezifische Kennzeichen der Moderne, so dass es keinen übergreifenden Maßstab für die gegensätzlichen ethischen Werte geben kann. Es existiert also nicht so etwas wie eine Art gemeinsamer „Überwährung“, die es erlaubt, die Werte der einen Sphäre in die der anderen zu konvertieren. Das, was einst die Religion zu stiften versprochen hatte, Versöhnung, Einheit, Harmonie und eine allgemeine Brüderlichkeitsethik, ist unter modernen Bedingungen nicht mehr zu haben. Keine Ideologie, sei es der Sozialismus, sei es religiöser Fundamentalismus, kann das leisten
-Aus Webers Analyse lassen sich drei Schlussfolgerungen ziehen:
-1. Was seine allgemeine Einschätzung der okzidentalen Moderne betrifft, so gibt er eine denkbar pessimistische Gesellschafts-, Kultur- und Zeitdiagnose. Die kapitalistische Wirtschaft und der bürokratische Anstaltsstaat weben an einer gigantischen Verwaltungsmaschinerie, die ein neues stahlhartes „Gehäuse der Hörigkeit“ errichtet, welches die individuelle Freiheit ernsthaft bedroht. Der Säkularisierungs- und Entzauberungsprozess entwertet das kollektiv verbindliche religiöse Weltbild des Christentums als Prägeinstanz individueller Lebensführung und setzt an seine Stelle eine fragmentierte Kultur, die Ausdruck der modernen Erfahrung sozialer Zerrissenheit ist. Die Fortschritte in Wissenschaft und Kunst vermehren zwar unser Wissen von Natur, Gesellschaft und Mensch, ohne jedoch das „mystische Haben“ des metaphysischen Erklärungsversprechens zu teilen, das allen Weltreligionen und noch allen großen philosophischen Lehren eignete: dass die Welt ein sinnhaft geordneter Kosmos sei, gleichviel wie und wodurch, und dass die Spannungen und Konflikte in der Welt unter bestimmten Voraussetzungen einer „Versöhnung“ zugeführt werden können, sei es im Diesseits oder im Jenseits
-2. Der Pluralismus, ja Antagonismus letzter Werte – das hat die Analyse der Zwischenbetrachtung gezeigt – verhindert eine „ethische Überwährung“ zur harmonisierenden Koordination der Eigenlogiken der verschiedenen Wertsphären. Eine gesellschaftliche Integration durch ein gemeinsames Moral- und Wertsystem erscheint als eine Schimäre
3. Schließlich ist Weber äußerst skeptisch, ob und inwieweit überhaupt eine moralisch inspirierte, sinnvolle individuelle Lebensführung noch möglich ist. Nachdem das „Pathos der christlichen Ethik“ an ihr Ende gekommen ist, bleibt nur die Perfektibilität von Mensch und Gesellschaft. Ein Blick zurück auf die Kulturentwicklung scheint Weber die Vergeblichkeit der Perfektibilitätsidee und der ihr innewohnenden Fortschrittsmetaphysik nahe zu legen: „Alle ‚Kultur‘ erschien, so angesehen, als ein Heraustreten des Menschen aus dem organisch vorgezeichneten Kreislauf des natürlichen Lebens, und eben deshalb dazu verdammt, mit jedem Schritt weiter eine nur immer vernichtendere Sinnlosigkeit, der Dienst an den Kulturgütern aber, je mehr er zu einer heiligen Aufgabe, einem ‚Beruf‘, gemacht wurde, ein um so sinnloseres Hasten im Dienst wertloser und überdies in sich überall widerspruchsvoller und gegeneinander antagonistischer Ziele zu werden.“
-Webers (1973: 494) Grundgedanke kulminiert in der Vorstellung, dass „Beruf“ heute im Gegensatz zum modischen Persönlichkeitskult „Selbstbegrenzung“, „Dienst an der Sache“ und professionelle Facharbeit und gerade nicht „die faustische Allseitigkeit des Menschentums“. verlangt. „Wo dies asketische Grundmotiv, das schon an der Wiege bürgerlicher Lebensführung gestanden hat, sich zu entfalten vermag, wo Beruf in diesem Sinne zur „Berufung“ wird, da kann sich eine „Persönlichkeit“ durch „Konstanz ihres inneren Verhältnisses zu bestimmten letzten ‚Werten‘ und Lebens-‚Bedeutungen‘“ ) bilden.
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