-Untersuchungsgegenstand soziologischer Zeitdiagnosen ist die Gesellschaft als Ganzes. Das bedeutet nicht, dass Entwicklungen in einzelnen gesellschaftlichen Teilbereichen (etwa in der Politik oder im Bildungssystem), Transformationsprozesse in Organisationen (z.B. in Gewerkschaften, Schulen und Unternehmen) oder der Wandel der Lebensführung von Menschen nicht thematisiert werden. Im Wesentlichen aber nehmen Zeitdiagnosen eine breitere Perspektive ein: Sie betrachten die in gesellschaftlichen Teilbereichen beobachtbaren Phänomene nicht isoliert, sondern im Zusammenhang mit Entwicklungstendenzen, die die Gesellschaft insgesamt betreffen. Gleichwohl zielen soziologische Zeitdiagnosen jedoch nicht auf eine totalitäre Einheit gesellschaftlicher Strukturen
-Keine von ihnen beansprucht für sich, die Totalität der Gesellschaft zu erfassen; vielmehr beanspruchen sie, einen Beitrag zur Selbstreflexion der Gesellschaft zu leisten. Im besten Fall folgt daraus ein erheblicher Effekt auf die Selbstthematisierung der Gesellschaft. Zeitdiagnosen organisieren Diskurse, indem sie bestimmte Begriffe wie eben Risiko, Flexibilisierung, Desintegration oder Beschleunigung prägen. Damit strukturieren sie Art, in der Gesellschaften über sich selbst nachzudenken in der Lage sind
-Aus diesen Anliegen und Merkmalen soziologischer Zeitdiagnosen leitet Hans-Peter Müller (2018: 22ff.) vier grundlegende Funktionen des Genres ab:
• Konstitutive Funktion: Zeitdiagnosen erfüllen eine konstitutive Funktion, da sie gesellschaftliches Orientierungswissen bereitstellen.
• Kognitive Funktion: Zeitdiagnosen erfüllen eine kognitive Funktion, da sie oftmals vor dem Hintergrund einer umfassenderen Gesellschaftstheorie und einer detaillierten empirischen Analyse entwickelt wurden.
• Expressive Funktion: Zeitdiagnosen erfüllen eine expressive Funktion, da sie die pluralen Erfahrungsmöglichkeiten und -wirklichkeiten der Menschen in wenigen oder gar einem einzigen Begriff verdichten und damit in neuer Weise zum Ausdruck bringen.
• Evaluative Funktion: Zeitdiagnosen erfüllen eine evaluative Funktion, da sie immer auch ein normatives Urteil über den Zustand der Gegenwart fällen.
-Zeitdiagnosen wollen also auf Gefährdungspotentiale und drohende Krisen hinweisen. Sie verweisen darauf, dass es so nicht weitergehen kann, und beinhalten – anders etwa als soziologische Gesellschaftstheorien – häufig auch Handlungsaufforderungen an gesellschaftliche Akteure. Dies verwundert nicht, ist die Soziologie ihrem Selbstverständnis nach doch als Problemwissenschaft zu verstehen, der daran gelegen ist, gesellschaftliche Pathologien aufzudecken. Nicht selten kritisieren Zeitdiagnosen daher lautstark das Verhältnis von gesellschaftlichen Entwicklungsdynamik einerseits und ihrer normativen Grundlagen andererseits
-Die normativ-kritische Ausrichtung soziologischer Zeitdiagnosen, ihre Pointierung und ihre Position zwischen Theorie und Empirie sind jedoch keineswegs unproblematisch. Vielmehr verweisen sie auf drei grundsätzliche Probleme des Genres:
• Problem des Normativen: Zeitdiagnostische Werturteile und die von ihnen unterbreiteten Lösungsvorschläge bewegen sich oftmals an der Grenze zu normativen Postulaten.
• Problem der Adäquanz: Weil Zeitdiagnosen den Anspruch erheben, gesellschaftliche Komplexität auf einen zentralen Begriff zu bringen, besteht die Gefahr der Vereinseitigung.
• Problem des Zeitgeistes und der Ideologie: Zeitdiagnosen erfassen das Problematische der Gegenwartsgesellschaft eher intuitiv und nutzen vorhandene wissenschaftliche Instrumente und empirische Daten vergleichsweise selektiv. Gerade die Verwendung empirischer Daten hat dabei oftmals eher illustrativen Charakter.
—> Auch aufgrund dieser drei Probleme gelangt Hans-Peter Müller (2018: 29) zu dem Schluss: „Zeitdiagnostik ist und bleibt Soziologie mit beschränkter Haftung.“ Sie sind dann erfolgreich, wenn sie es vermögen, ein Unbehagen an der Funktions- und Lebensweise moderner Gesellschaften in eine treffende Begrifflichkeit und eine explizite Kritik zu übersetzen und hierdurch gesellschaftlich artikulierbar zu machen. Sie sind erfolgreich, wenn sie es vermögen, die Kluft zwischen soziologischer Analyse und empirischer Erfahrungswirklichkeit zu schließen
-Für Beck resultiert die Risikogesellschaft aus der Eigendynamik der Industriegesellschaft. Fortschreitende Modernisierung führt geradezu zwangsläufig in eine ‚andere Moderne’, eine Zweite Moderne, die sich wesentlich von der vorangegangenen Stufe gesellschaftlicher Entwicklung, der Ersten Moderne, unterscheidet. Unter der Ersten Moderne ist die industriegesellschaftliche Moderne zu verstehen, welche in einem Prozess einfacher Modernisierung aus der Agrargesellschaft hervorgegangen ist. Demgegenüber bezeichnet Beck den Wandel von der Ersten zur Zweiten Moderne, also den Übergang in die Risikogesellschaft, als reflexive Modernisierung
-Die einfache Modernisierung war von einer allgemeinen wissenschaftlich-technischen Fortschrittseuphorie begleitet und wurde dementsprechend positiv bewertet. Die Entwicklung vollzug sich durchaus als eine bewusste und auch gewollte Abkehr von der Tradition. Schließlich erhoffte man sich die Überwindung materiellen Mangels.
—>Beim Übergang von der Industrie- zur Risikogesellschaft liegt der Sachverhalt nun völlig anders. Die Moderne steht hier nicht einer als ungenügend erlebten Tradition gegenüber, sondern die ‚fortschrittliche’ Industriegesellschaft wird aufgrund der latenten Nebenfolgen bzw. Modernisierungsrisiken, die sie produziert, mit sich selbst konfrontiert. „Der Modernisierungsprozess wird ‚reflexiv‘, sich selbst zum Thema und Problem.“ (26) Reflexivität im Beckschen Sinne meint also Selbstkonfrontation
-Demnach handelt es sich bei der Risikogesellschaft nicht um die gezielte Überwindung einer vorigen Stufe der gesellschaftlichen Entwicklung, sondern um einen eigendynamisch verlaufenden Prozess, der den wissenschaftlich-technischen Fortschritt immer weiter vorantreibt. Im Unterschied zur vorangegangenen Entwicklungsstufe vollzieht sich dieser zweite Modernisierungsschub latent, d. h. im Verborgenen.
-Von zentraler Bedeutung für Modernisierung insgesamt sind die Wissenschaften. Zum einen wäre ohne naturwissenschaftliche Forschung der technische Fortschritt der Ersten Moderne nicht möglich gewesen. Zum anderen kann erst dann von Risikogesellschaft gesprochen werden, wenn Risiken als solche erkannt und definiert sind. Und dazu bedarf es ebenfalls wissenschaftlicher Analyseverfahren. Welche Konsequenzen sich daraus ergeben, sei erst einmal dahingestellt. Festzuhalten ist, dass der wissenschaftliche Untersuchungsgegenstand im Zuge des Modernisierungsprozesses eine Veränderung erfährt:
-Bildete in der Ersten Moderne ausschließlich „die ‚vorgegebene‘ Welt von Natur, Mensch und Gesellschaft“ den Bezugspunkt wissenschaftlicher Forschung, so ändert sich dies im Zuge des Übergangs von der Industrie- zur Risikogesellschaft. —>In dieser Phase der gesellschaftlichen Entwicklung „sind die Wissenschaften bereits mit ihren eigenen Produkten, Mängeln, Folgeproblemen konfrontiert“ . Von daher unterscheidet Beck auch hinsichtlich der Wissenschaften zwischen einfacher und reflexiver Verwissenschaftlichung. Erst das Reflexivwerden von Wissenschaft stellt somit den gesellschaftlichen Wendepunkt dar
-Zentral ist vielmehr, dass die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im Zuge reflexiver Modernisierungsprozesse radikal verändert werden: mit der Verwissenschaftlichung der Modernisierungsrisiken wird ihre Latenz aufgehoben. Entsprechend können auch die Naturzerstörungen nicht länger auf die ‚Umwelt’ abgewälzt werden, sondern werden mit ihrer industriellen Universalisierung zu systemimmanenten sozialen, politischen, ökonomischen und kulturellen Widersprüchen
-Jedoch wird die Grundüberzeugung der industriegesellschaftlichen Moderne, jegliches Problem letztlich wissenschaftlich-technisch lösen zu können, auch in der Risikogesellschaft beibehalten.
—>“Die Konstellationen der Risikogesellschaft werden erzeugt, weil im Denken und Handeln der Menschen und Institutionen die Selbstverständlichkeiten der Industriegesellschaft (der Fortschrittskonsens, die Abstraktion von ökologischen Folgen und Gefahren, der Kontrolloptimismus) dominieren.“ (Beck 1993)
-Gerade weil die gesellschaftlichen Akteure – anders als bei der einfachen Modernisierung – dem ‚alten’ Gesellschaftsmodell und damit auch der Utopie wissenschaftlich-technischer Allmacht kognitiv verhaftet bleiben, können sich risikogesellschaftliche Strukturen überhaupt nur entwickeln. Die Ursache für dieses ‚Immer-weiter-so’ liegt Beck zufolge in den unterschiedlichen Rationalitäten der gesellschaftlichen Teilsysteme begründet, allen voran Wissenschaft, Wirtschaft und Politik.
-Um die Erste von der Zweiten Moderne analytisch abzugrenzen, führt Beck die beiden Kategorien Reichtum und Risiken ein.
Unter Reichtum subsumiert er generell ‚erstrebenswerte Knappheiten’ wie Bildung, Einkommen, Konsumgüter, etc.,
Risiken sind demgegenüber ein „Modernisierungsbeiprodukt von verhinderungswertem Überfluss.“ Die Risiken in der Risikogesellschaft haben moderne Ursachen; es sind Modernisierungsrisiken und nicht etwa Gefährdungen natürlichen Ursprungs wie Erdbeben, Wirbelstürme o. ä.
• Wird die Aneignung von Reichtum allgemein als erstrebenswert angesehen, so stellen Modernisierungsrisiken demgegenüber eine Bedrohung dar, deren Realisierung möglichst vermieden werden soll. „Der positiven Aneignungslogik steht also eine negative Logik des Wegverteilens ... gegenüber.“
• In der Industriegesellschaft sind Risiken im Großen und Ganzen umgekehrt proportional zu Reichtum verteilt, d. h. am stärksten sind diejenigen von Gesundheitsrisiken, Arbeitslosigkeit, Hunger o. ä. bedroht, die in der gesellschaftlichen Hierarchie ganz unten stehen. Dieses Verteilungsprinzip hat sich in der Risikogesellschaft gelockert: „Not ist hierarchisch, Smog ist demokratisch.“ D. h., „Modernisierungsrisiken erwischen früher oder später auch die, die sie produzieren oder von ihnen profitieren.“
• Legt man die beiden genannten Verteilungsprinzipien zugrunde, dominiert in der Industriegesellschaft die Logik der Reichtumsproduktion. In der Risikogesellschaft existiert diese Dominanz nicht mehr. Im Zuge der für alle immer bedrohlicher werdenden Risiken hat sich parallel zur Logik der Reichtumsproduktion die Logik der Risikoproduktion etabliert, so dass beide Logiken jetzt miteinander um gesellschaftliche Relevanz konkurrieren.
• Eine ähnliche Form der Verschiebung lässt sich hinsichtlich der Ursachen gesellschaftlicher Konflikte konstatieren. Entzünden sich diese in der Industriegesellschaft an der ungleichen Verteilung materieller Güter, so sind es in der Risikogesellschaft die negativen Folgen der materiellen Güterproduktion, die ein hohes Konfliktpotential beinhalten. Dem Gleichheitspostulat der Industriegesellschaft steht in der Risikogesellschaft die Forderung nach Sicherheit gegenüber
• Folglich entsprechen der industriegesellschaftlichen Reichtumsverteilung Klassenlagen, während die Risikogesellschaft durch Gefährdungs- bzw. Risikolagen charakterisiert ist, die durchaus quer zu den Strukturen gesellschaftlicher Ungleichheiten liegen können.
-Modernisierungsrisiken werden also nicht anstelle von, sondern neben materiellem Wohlstand zunehmend zu einem charakteristischen Strukturmerkmal der Gegenwartsgesellschaft. Mit dieser Diagnose bezieht sich Beck keinesfalls nur auf die Bundesrepublik Deutschland. Die Risikogesellschaft ist nicht national begrenzt; von daher spricht Beck auch von Weltrisikogesellschaft
-Doch gerade, weil es sich bei Risiken um potentielle Gefährdungen handelt und damit um mögliche Ereignisse, die eintreten könnten, aber keinesfalls mit Sicherheit eintreten werden, haftet ihnen ein großes Maß an Irrealität an: „In der Risikogesellschaft verliert die Vergangenheit die Determinationskraft für die Gegenwart. An ihre Stelle tritt die Zukunft, damit aber etwas Nichtexistentes, Konstruiertes, Fiktives als ‚Ursache‘ gegenwärtigen Erlebens und Handelns
-Diese Latenz von Modernisierungsrisiken stellt Akteure folglich vor Probleme, die unter den strukturellen Bedingungen der Ersten Moderne völlig unbekannt waren. Die Logik der Reichtumsproduktion gab den Menschen eine klare Orientierung vor, Risiken hingegen „sagen, was nicht zu tun ist, nicht aber, was zu tun ist. ... Wer die Welt als Risiko entwirft, wird letztlich handlungsunfähig.“ (Beck 1993)
—> Denn es kann im Hinblick auf Modernisierungsrisiken letztendlich immer nur darum gehen, deren Eintreten zu vermeiden. Dies kann entweder dadurch geschehen, dass im Vorfeld bzw. im Nachhinein daran gearbeitet wird, riskante Nebenfolgen gar nicht erst entstehen zu lassen oder die Gefährdungen zu minimieren. Oder aber – und dies ist die andere Möglichkeit von Vermeidung – man wirkt darauf hin, dass Risiken verbal nicht thematisiert werden
-Denn noch ein anderes Problem ergibt sich aus der Latenz von Modernisierungsrisiken: sie überhaupt zu erkennen, Modernisierungsrisiken müssen, um als solche wahrgenommen werden zu können, zuallererst einmal als solche definiert werden, d. h. ihre Latenz muss aufgebrochen werden
-Und da es sich über die Tatsache ihrer ‚Unsichtbarkeit’ hinaus zumeist um hochgradig vielschichtige Ursache-Wirkungs-Komplexe handelt,die jenseits des Alltagswissens liegen, verfügt allein die Wissenschaft über die Definitionsmacht im Hinblick auf Risiken. Diese Wissensabhängigkeit hat Konsequenzen:
• Betroffenheit werden abhängig von wissenschaftlichen Definitionen. Ohne Experten weiß man gar nicht, ob man gefährdet ist oder nicht und in welchem Ausmaß man es gegebenenfalls ist. Andersherum erzeugt das Wissen um Risiken Betroffenheit
• Betroffenheit und ein darauf basierendes Risikobewusstsein bleibt notwendigerweise immer ein abstraktes Wissen.
• Aufgrund der Tatsache, dass Risiken „sich also erst und nur im (wissenschaftlichen bzw. antiwissenschaftlichen) Wissen um sie“ herstellen, sind sie „im besonderen Maße offen für soziale Definitionsprozesse.“ Risiken können ‚objektiv’ dargestellt, aber ebenso verharmlost bzw. dramatisiert werden, ohne dass die Betroffenen irgendeine Möglichkeit der Kontrolle über das haben, was ihnen als ‚Wahrheit’ vermittelt wird.
• Risiken sind zudem auf kommunikative Vermittlung angewiesen, d. h. auf Journalisten und Massenmedien, die das für den Laien unverständliche wissenschaftliche Wissen einerseits ‚übersetzen’ und andererseits der Öffentlichkeit zugänglich machen. Ohne Verbreitungsmedien verbleibt das Wissen um Risiken im Bereich der Wissenschaft.
• Aufgrund der Wissens- und Medienabhängigkeit „zeigen sich Gruppen betroffen, die besser ausgebildet sind und sich rege informieren.“ Auch wenn andere gesellschaftliche Gruppen womöglich den gleichen oder noch weitaus riskanteren Gefährdungen ausgesetzt sind, müssen sie sich deshalb nicht gleichermaßen betroffen fühlen.
—>Alle Akteure, die sich mit Modernisierungsrisiken auseinandersetzen, müssen sich folglich der Wissenschaft und der Massenmedien bedienen, unabhängig davon, welches spezifische Interesse jeweils handlungsleitend ist.
—>„Damit werden Medien und Positionen der Risikodefinition zu gesellschaftlich-politischen Schlüsselstellungen.“ „Die Risikogesellschaft ist in diesem Sinne auch die Wissenschafts-, Medien- und Informationsgesellschaft
-Da die Wissenschaften für den Modernisierungsprozess einen Dreh- und Angelpunkt darstellen, liegt es nahe, sich zuerst diesen gesellschaftlichen Bereich etwas genauer im Hinblick auf eine mögliche Verantwortung für Modernisierungsrisiken anzuschauen. Das gesellschaftliche Teilsystem Wissenschaft ist auf dreierlei Weise mit Risiken verknüpft:
• Wissenschaft produziert Risiken, indem ihre Erkenntnisse der Naturbeherrschung technisch-wirtschaftlich in der Industrie umgesetzt werden.
• Wissenschaft definiert Risiken und macht sie erst als solche sichtbar.
• Wissenschaft bewältigt Risiken, indem ihre Erkenntnisse über Kausalzusammenhänge zwischen technisch-wirtschaftlicher Produktion und deren Nebenfolgen in der sogenannten Umwelttechnologie umgesetzt werden
-Bei näherer Betrachtung der drei genannten Aspekte fällt auf, dass es sich bei zweien dezidiert um Schnittstellen zwischen Wissenschaft und Wirtschaft handelt. Und sowohl hinsichtlich der Risikoproduktion als auch hinsichtlich der Risikobewältigung ist stets die Wirtschaft derjenige gesellschaftliche Bereich, in dem das wissenschaftliche Wissen überhaupt erst zur technischen Anwendung kommt. In diesem Sinne ist die Wissenschaft also nicht direkt, sondern nur mittelbar an der Risikoproduktion beteiligt
—>Die Entscheidungen darüber, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse in der Gesellschaft zur Anwendung kommen, werden nicht in der Wissenschaft getroffen. So betrachtet ist die Wissenschaft auch für Modernisierungsrisiken nicht zuständig.
-Die Wirtschaft trifft demgegenüber sehr wohl Entscheidungen hinsichtlich der Nutzung wissenschaftlicher Erkenntnisse. Und da Modernisierungsrisiken Nebenfolgen industrieller Produktion sind, ist das Wirtschaftssystem so gesehen zuständig für die Risikoproduktion
-Eben weil das politische System für die „Gestaltung und Veränderung von Lebensverhältnissen“ zuständig ist, aber de facto keinen Einfluss auf wissenschaftlich-ökonomische Entscheidungen hat, bleibt als Ausweg nur noch, der Bevölkerung „Entwicklungsrichtung und Ergebnis des technischen Wandels als Ausdruck unausweichlicher technisch-ökonomischer Sachzwänge“ zu ‚verkaufen’.
-Die auf naturwissenschaftlich-technischer Rationalität basierenden ökonomischen Investitionsentscheidungen sind es aber, welche den gesellschaftlichen Modernisierungsprozess immer weiter in Richtung Risikogesellschaft treiben. Das bedeutet: „Die Entscheidungen, die die Gesellschaft verändern, haben keinen Ort, an dem sie hervortreten können, werden sprachlos und anonymisiert. In der Wirtschaft werden sie in Investitionsentscheidungen eingebunden, die das gesellschaftsverändernde Potential in die ‚ungesehene Nebenfolge‘ abdrängen. Die empirisch-analytischen Wissenschaften, die die Neuerungen vordenken, bleiben in ihrem Selbstverständnis und ihrer institutionellen Einbindung von den technischen Folgen und den Folgen der Folgen, die diese haben, abgeschnitten.
-Die zukünftige Entwicklung der Gesellschaft ist damit von Entscheidungen abhängig, die Akteure in gänzlich unpolitischen – und damit von sozialer Legitimation entbundenen – Handlungszusammenhängen treffen. „Das Politische wird unpolitisch und das Unpolitische politisch.“ Infolgedessen, dass es „letztlich keine fixierte, fixierbare Entscheidung“ gibt, lassen sich auch für die Nebenwirkungen dieser ‚Nicht’-Entscheidung keine Verantwortlichen heranziehen: „Der Nichtzuständigkeit der Wissenschaft entspricht eine Implizitzuständigkeit der Betriebe und die bloße Legitimationszuständigkeit der Politik. Fortschritt ist die in die Unzuständigkeit hineininstitutionalisierte Gesellschaftsveränderung.“
-Diese ‚Unzuständigkeit’ lässt sich genauer fassen. Es sind nämlich sehr wohl Zuständigkeiten auszumachen, aber diese sind auf mehrere gesellschaftliche Teilsysteme verteilt. Modernisierungsrisiken sind nicht den Wissenschaften oder der Wirtschaft oder der Politik zuzuordnen, sondern stellen Ko-Produktionen dieser Teilsysteme dar. Auch darauf lässt sich der globale Charakter von Risiken beziehen: „Es handelt sich also um ein weitverzweigtes Labyrinth-System, dessen Konstruktionsplan nicht etwa Unzuständigkeit oder Verantwortungslosigkeit ist, sondern die Gleichzeitigkeit von Zuständigkeit und Unzurechenbarkeit, genauer: Zuständigkeit als Unzurechenbarkeit oder: organisierte Unverantwortlichkeit.“
-Beck sieht also in der zunehmenden gesellschaftlichen Differenzierung, aber vor allem in der damit verknüpften Internalisierung des Systemgedankens die Ursache für die organisierte Unverantwortlichkeit in der Moderne. Denn die Akteure denken, entscheiden und handeln immer nur teilsystemintern. Damit sind sie jeglicher Verantwortung für alle Folgen ihres Handelns außerhalb ‚ihres’ Teilsystems enthoben. Darüber hinaus lässt sich das Handeln selbst durch Systemzwänge legitimieren. „Man kann etwas tun und weitertun, ohne es persönlich verantworten zu müssen.“
—> „Bereiche, Verhältnisse, Bedingungen, die alle prinzipiell veränderbar wären, werden von dieser Veränderungszumutung durch die Unterstellung von ‚Systemzwängen‘, ‚Eigendynamiken‘ systematisch ausgeschlossen.
-Doch Differenzierung ist nicht nur auf gesellschaftlicher Ebene problematisch, sondern auch auf der Ebene des wissenschaftlichen Systems, denn „mit der Ausdifferenzierung der Wissenschaft (wächst) die unüberschaubar werdende Flut konditionaler, selbstungewisser, zusammenhangloser Detailergebnisse.“ Die fortschreitende Binnendifferenzierung des Teilsystems in immer mehr wissenschaftliche Disziplinen und Teilgebiete erzeugt zum einen eine heterogene Überkomplexität von wissenschaftlichen Wahrheiten
-Dieser Pluralismus von Interpretationsangeboten hat zur Folge, dass die Anwender wissenschaftlicher Erkenntnisse auf sich selbst verwiesen sind; sie müssen entscheiden, welcher Variante wissenschaftlicher ‚Wahrheiten’ sie Glauben schenken wollen. Im Hinblick auf Modernisierungsrisiken bedeutet das: „Wissenschaft wird immer notwendiger, zugleich aber auch immer weniger hinreichend für die gesellschaftlich verbindliche Definition von Wahrheit.“
-Zum anderen steht die Überspezialisierung der ausdifferenzierten Wissenschaften der Analyse von komplexen Faktorenbündeln entgegen. Und besonders für Modernisierungsrisiken gilt, dass sie sich meist nicht auf isolierbare Einzelursachen zurückführen lassen: „Risiken weisen ... einen übergreifenden Bezug auf. ... Durch das Sieb der Überspezialisierung fallen sie hindurch. Sie sind das, was zwischen den Spezialisierungen liegt.“ (93) Noch nicht einmal das Wissenschaftssystem ist also augenscheinlich in der Lage, adäquat auf Modernisierungsrisiken zu reagieren.
-Im Hinblick darauf, die Risikoproduktion einzudämmen, entwirft Beck ein äußerst pessimistisches Bild von der Gegenwartsgesellschaft. Angesichts der Zunahme von Gefährdungen und/oder der steigenden Sensibilität dafür, aber vor allem aufgrund des Wissens um die soziale Konstitution von Modernisierungsrisiken, wächst der politische Handlungsbedarf aber.
-Die institutionalisierten Antworten der Ersten Moderne – mehr und bessere Technik, mehr und besseres wirtschaftliches Wachstum, mehr und bessere Wissenschaft, mehr und bessere funktionale Differenzierung – überzeugen und greifen nicht mehr. Beck fordert daher die „Erfindung des Politischen“ (1993) jenseits der bestehenden institutionellen politischen Strukturen.
-Darin sieht er auch die einzige realistische Chance, ein weiteres Problem der Zweiten Moderne in den Griff zu bekommen: die soziale Integration der Gesellschaft.
-Risiken können diesbezüglich zum Kristallisationskern werden: Ein Zusammenbinden hochindividualisierter Gesellschaften ist – wenn überhaupt – zum einen nur durch die Einsicht in genau diese Lage möglich; zum anderen, wenn es gelingt, die Menschen für die Herausforderungen zu mobilisieren und zu motivieren, die im Zentrum ihrer Lebensführung präsent sind (Arbeitslosigkeit, Naturzerstörung usw.). ...
—>Integration wird hier also dann möglich, wenn man nicht versucht, den Aufbruch der Individuen zurückzudrängen – sondern wenn man, im Gegenteil, bewusst daran anknüpft und aus den drängenden Zukunftsfragen neue, politisch offene Bindungs- und Bündnisformen zu schmieden versucht: projektive Integration.
-Das Leben unter risikogesellschaftlichen Bedingungen ist nicht nur im Hinblick auf die Bedrohung durch technische Nebenfolgen für alle Akteure riskant. Ebenso ambivalent wie die naturwissenschaftlich-technischen Innovationen, die einerseits einen hohen materiellen Lebensstandard ermöglichen, andererseits Modernisierungsrisiken erzeugen, ist für Beck ein anderes Charakteristikum des Modernisierungsprozesses: die zunehmende Individualisierung:
„Der Individualisierungsprozess wird theoretisch als Produkt der Reflexivität gedacht, in der der wohlfahrtsstaatlich abgesicherte Modernisierungsprozess die in die Industriegesellschaft eingebauten Lebensformen enttraditionalisiert.“
-Unter Individualisierung versteht Beck die Herauslösung der Menschen aus den Sozialgebilden der Industriegesellschaft. Beck bezieht ‚traditional’ also nicht, wie Simmel und andere Klassiker, auf religiöse und ständische Bindungen vormoderner Gesellschaften, sondern auf die gesellschaftlichen Bedingungen der Ersten Moderne. Das Eingebundensein in Klassen, Familien und Geschlechterrollen ist in der Zweiten Moderne bereits zur ‚veralteten’ Tradition geworden.
—>Diese ehemals festen sozialen Strukturen, die Bindung und Orientierung ermöglichten, werden im Zuge der reflexiven Modernisierung brüchig. Die Individuen sind dadurch mehr und mehr auf sich selbst gestellt und „werden innerhalb und außerhalb der Familie zum Akteur ihrer marktvermittelten Existenzsicherung und der darauf bezogenen Biographieplanung und -organisation
-Ausschlaggebend für diesen Freisetzungsprozess war der wirtschaftlich-industrielle Aufschwung der fünfziger und sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts. Dieser führte zu einer Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen. Die Entwicklung dieser Jahre war gekennzeichnet durch „ein kollektives Mehr an Einkommen, Bildung Mobilität, Recht, Wissenschaft, Massenkonsum.“ Beck bezeichnet dies als Fahrstuhl-Effekt nach oben, denn „die Klassengesellschaft wird insgesamt eine Etage höher gefahren.“ Der Fahrstuhl-Effekt ist daher keineswegs gleichzusetzen mit der Veränderung von sozialen Ungleichheitsrelationen. Diese bleiben weitgehend konstant.
—>Doch da auch diejenigen, die weiter unten im gesellschaftlichen Schichtgefüge
stehen, am Wohlstand partizipieren, haben die Verteilungskonflikte ihre prägenden und damit sozialen Klassen bzw. Schichten ihre integrierende Wirkung im Alltagsleben der Menschen verloren. Aufgrund längerer Lebenszeiten, kürzerer Arbeitszeiten und höherer Einkommen steht zudem immer mehr Zeit und Geld jenseits der materiellen Lebenssicherung zur Verfügung: „Die neuen materiellen und zeitlichen Entfaltungsmöglichkeiten treffen zusammen mit den Verlockungen des Massenkonsums und lassen die Konturen traditionaler Lebensformen und Sozialmilieus verschwinden.“
„Die wohlfahrtsstaatliche Aufschwungphase hat bei gleichbleibenden Ungleichheitsrelationen eine kulturelle Erosion und Evolution der Lebensbedingungen ausgelöst, die schließlich auch die Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen hervortreten lässt. Dies ist die Dynamik des Individualisierungsprozesses, der im Zusammenwirken aller genannter Komponenten – mehr arbeitsfreie Zeit, mehr Geld, Mobilität, Bildung usw. – seine strukturverändernde Intensität entwickelt und die Lebenszusammenhänge von Klasse und Familie aufbricht.“
-Auch im Hinblick auf die soziale Integration wird die Moderne also zum Problem. Die institutionellen Strukturen der entwickelten Industriegesellschaft sind es, die die Menschen einerseits in die Individualisierung drängen und sie zwingen, ihre sozialen Bindungen eigenständig immer wieder neu herzustellen, und die ihnen andererseits in Form neuer Abhängigkeitsverhältnisse gegenüberstehen: —> Die freigesetzten Individuen werden arbeitsmarktabhängig und damit bildungsabhängig, konsumabhängig, abhängig von sozialrechtlichen Regelungen und Versorgungen, von Verkehrsplanungen, Konsumangeboten, Möglichkeiten und Moden in der medizinischen, psychologischen und pädagogischen Beratung und Betreuung.“
-Jedoch bieten die vielfältigen Institutionen der Zweiten Moderne den Menschen keine Sicherheiten auf Zeit mehr, weder im Hinblick auf soziale Bindungen noch hinsichtlich fester Orientierungsvorgaben. Der Vielzahl an Wahlmöglichkeiten, die einerseits als Chancen erfahren werden, steht der Zwang gegenüber, sich permanent für eine der Optionen entscheiden zu müssen: „Die Möglichkeit der Nichtentscheidung wird der Tendenz nach unmöglich.“ Individualisierung ist somit ein Prozess mit ambivalenten Folgen. Der ‚Befreiung’ aus vorgegebenen Formen der Existenz steht nun gleichermaßen der Zwang zur Autonomie gegenüber: „Der Mensch wird (im radikalisierten Sinne Sartres) zur Wahl seiner Möglichkeiten, zum homo optionis. Leben, Tod, Geschlecht, Körperlichkeit, Identität, Religion, Ehe, Elternschaft, soziale Bindungen – alles wird sozusagen bis ins Kleingedruckte hinein entscheidbar, muss, einmal zu Optionen zerschellt, entschieden werden.“
- Zwang zur Autonomie heißt aber auch, dass die Akteure für ihr eigenes Tun verantwortlich sind. Da sie es sind, die sich für oder gegen etwas entscheiden (müssen), haben sie auch alle Folgen ihres Tuns – seien sie positiv wie beruflicher Erfolg oder negativ wie Arbeitslosigkeit – selbst zu verantworten. Individualisierung erfordert daher eine konsequente Selbstbezogenheit der Akteure im Hinblick auf die gesamte Lebensführung:
„In der individualisierten Gesellschaft muss der einzelne ... lernen, sich selbst als Handlungszentrum, als Planungsbüro in bezug auf seinen eigenen Lebenslauf, seine Fähigkeiten, Orientierungen, Partnerschaften usw. zu begreifen.“
-Und gerade in dieser Eigenverantwortlichkeit der Akteure im Hinblick auf ihr Leben liegt letztlich die Chance, die Dynamik der Risikogesellschaft zu durchbrechen. Denn dadurch, dass die individualisierten Akteure in verschiedenen Teilsystemen agieren, ist ihre „Biographie ... – in Anknüpfung an N. Luhmann formuliert – die Summe der Teilsystemrationalitäten“. Damit liegen Individuallagen ebenso quer zu den Teilsystemen wie Modernisierungsrisiken.
—>Um die organisierte Unverantwortlichkeit zu überwinden, ist folglich ein Perspektivenwechsel erforderlich: von der System- zur Akteurperspektive. „Modernisierungsrisiken, für die in einem hochprofessionalisierten System, in dem jeder seine Zuständigkeiten hat, sonst niemand zuständig ist“ , können lediglich von risikobewussten Akteuren zu ihrer Sache erklärt werden
-Grundsätzlich setzt Risikobewusstsein also die Distanzierung von den teilsystemischen Rationalitäten voraus. Das Denken und Handeln muss sich stattdessen angesichts der Globalität der Bedrohungen an einer übergeordneten sozialen Rationalität orientieren: dem Überleben der Gesellschaft.
—>Beck bezeichnet dies als zweite Stufe reflexiver Modernisierung: Die Risikogesellschaft wird aufgrund des durchgesetzten Risikobewusstseins reflexiv im Sinne dieses Bewusstseinsprozesses. Neben einer teilsystemübergreifenden Perspektive setzt Risikobewusstsein zudem Akteure voraus, die ihr Leben gewissermaßen selbst in die Hand nehmen. Individualisierte Akteure müssen Ich-zentriert denken und handeln. Außerdem stehen sie unter ständigem Entscheidungsdruck.
-Doch dieser Zwang, für das eigene Leben eigenverantwortlich Entscheidungen treffen zu müssen, wird gerade im Hinblick auf Modernisierungsrisiken zu einer notwendigen Fähigkeit. Denn hinsichtlich der ‚wahren’ Risikodefinition sowie des Umgangs mit den Bedrohungen sind die Akteure aufgrund der organisierten Unverantwortlichkeit der gesellschaftlichen Teilsysteme sich selbst überlassen.
-Und diese Erfahrung politisiert. Um aus der riskanten Gegenwart in eine etwas sicherere Zukunft zu gelangen, bedarf es Beck zufolge auf der gesellschaftlichen Ebene einer Entdifferenzierung, einer „Spezialisierung auf den Zusammenhang“ . Im Hinblick darauf, dass die organisierte Unverantwortlichkeit bezüglich der Modernisierungsrisiken maßgeblich auf gesellschaftlicher Differenzierung basiert, liegt diese Forderung auf der Hand:
„Die Bewältigung der Risiken zwingt zum Überblick, zur Zusammenarbeit über alle sorgfältig etablierten und gepflegten Grenzen hinweg. ... Insofern werden in der Risikogesellschaft die Entdifferenzierung der Subsysteme und Funktionsbereiche, die Neuvernetzung der Spezialisten, die risikoeindämmende Vereinigung der Arbeit das systemtheoretische und -organisatorische Kardinalproblem.“
-Die Frage, die sich nun unmittelbar stellt, ist: Wie soll diese Entdifferenzierung erreicht werden? Becks Antwort: Über ein verändertes Selbstverständnis von Wissenschaft sowie über ein gewandeltes Politikverständnis im Sinne einer Entgrenzung von Politik aus dem alleinigen Zuständigkeitsbereich des politischen Systems in eine Gesellschaft mündiger politischer Bürger. In dieser Erfindung des Politischen sieht Beck den primären Schlüssel zu einem Ausweg aus der Risikogesellschaft. Der Wandel des wissenschaftlichen Selbstverständnisses kann demgegenüber erst infolge dieser Politisierung erfolgen
-Der Ausgangspunkt für diese Veränderungen liegt in der Risikoproduktion selbst. Wie beschrieben, müssen Risiken wissenschaftlich definiert sein, andernfalls existieren sie nicht. Das setzt aber voraus, dass sich wissenschaftliches Erkenntnisinteresse den Modernisierungsrisiken und damit gleichsam den technisch-industriellen Folgeerscheinungen wissenschaftlicher Erkenntnisse zuwendet. Da dies den ausdifferenzierten Teilzuständigkeiten zuwiderläuft, kann so gesehen gar kein wissenschaftliches Interesse an der Beschäftigung mit Risiken zustande kommen.
—>Dazu bedarf es laut Beck einer kritischen Öffentlichkeit, die jegliche Verschleierung und Verharmlosung der technischen Nebenfolgen und die teilsystemischen Nichtzuständigkeitserklärungen von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik nicht mehr hinnehmen will. Erst durch die „öffentliche Sensibilität gegenüber bestimmten problematischen Aspekten der Modernisierung“ kann ‚der Stein ins Rollen gebracht’ werden
-Die zunehmende öffentlich artikulierte Kritik zwingt den Wissenschaften die Beschäftigung mit Modernisierungsrisiken auf. Dadurch erst gerät das Wissenschaftssystem „als Quelle für Problemursachen ins Visier.“ Eine mit der reflexiven Verwissenschaftlichung einhergehende Selbstkritik setzt einen „Prozess der Demystifizierung der Wissenschaften in Gang ..., in dessen Verlauf das Gefüge von Wissenschaft, Praxis und Öffentlichkeit einem grundlegenden Wandel unterworfen wird.“
-Dieser Verlust an Glaubwürdigkeit wird dadurch verstärkt, dass die wissenschaftlichen Deutungsangebote – neben anderen – immer vielschichtiger werden und parallel dazu die Menschen durch den fortschreitenden Individualisierungsprozess bei allen Entscheidungen in zunehmendem Maße auf sich selbst zurückverwiesen sind. Und je größer die durch die Ausdifferenzierung des Wissenschaftssystems erzeugte Unsicherheit im Hinblick auf ‚wahre’ wissenschaftliche Erkenntnisse wird, desto mehr müssen die Individuen sich selbst zu ‚wissenschaftlichen’ Experten entwickeln
-Öffentliche Kritik, die sich an Modernisierungsrisiken entzündet, wird zu einer Aufforderung an den Wissenschaftsbetrieb, die durch immer weitergehende Spezialisierung erzeugte externe Unsicherheit zu reduzieren. Um dies zu erreichen, sind laut Beck drei Aspekte zentral:
• Anstelle der bisher praktizierten „marktexpansive(n) Sekundärindustrialisierung von Folgen und Symptomen“ müssen die Wissenschaften die Modernisierungsrisiken als empirische Herausforderung begreifen und an der Beseitigung der Ursachen arbeiten.
• Darüber hinaus müssen sie ihre praktische Lernfähigkeit zurückgewinnen, d. h. es bedarf der Möglichkeit, Fehlentscheidungen in der Technologieentwicklung zu akzeptieren, anstatt sich auf wissenschaftliche ‚Irrtumslosigkeit’ zu berufen. Grundsätzlich erfordert das allerdings wissenschaftlich-technische „Entwicklungsvarianten ..., die die Zukunft nicht verbauen und den Modernisierungsprozess selbst in einen Lernprozess verwandeln, in dem durch die Revidierbarkeit der Entscheidungen die Zurücknahme später erkannter Nebenwirkungen immer möglich bleibt.“
• Die zersplitterten wissenschaftlichen Disziplinen müssen ihr Spezialwissen interdisziplinär anwenden. Nur durch diese Spezialisierung auf den Zusammenhang ist das wissenschaftliche System in der Lage, auf die ökologische Bedrohung adäquat zu reagieren
-Wie bereits erwähnt, kann dieser wissenschaftsimmanente Prozess nur von außen initiiert werden. Öffentliche Kritikfähigkeit setzt somit nicht nur wissenschaftliche, sondern auch politische Mündigkeit gesellschaftlicher Akteure voraus. Für Beck liegt der Schlüssel zur Politisierung der Bevölkerung zum einen in einem Machtverlust des politischen Systems begründet. Denn mit der Durchsetzung des demokratischen Prinzips auf der Basis universalistischer Grundrechte wurden die strukturellen Voraussetzungen dafür geschaffen, dass sich eine neue politische Kultur in Gestalt von Bürgerinitiativen, sozialen Bewegungen oder anderen Formen etablieren konnte
—> Risiken werden zum Motor der Selbstpolitisierung ... – mehr noch: mit ihnen verändern sich Begriff, Ort und Medien von ‚Politik‘“
-Die zentralen Orte und Formen dieser basisdemokratischen Politik sind die unabhängige Rechtsprechung und die Massenmedien. Die demokratischen Rechte sind einerseits Garantie für politische Partizipation der Gesellschaftsmitglieder. Andererseits gewinnen richterliche Urteile an Bedeutung auch im Hinblick auf die technologisch-ökonomischen Prozesse, denn: „In vielen zentralen Konfliktfeldern – insbesondere der Reaktortechnologie und bei Umweltfragen ... – stehen Experten und Gegenexperten in unversöhnlichem Meinungsstreit gegenüber.“ Massenmedien fungieren demgegenüber in erster Linie als Verbreitungsmittel, um Risikoproduzenten öffentlich anzuklagen
-Schulze gibt mit der These der Erlebnisgesellschaft eine Antwort auf die Frage, wie sich soziale Ordnung in einer hochgradig individualisierten Gesellschaft konstituiert: „Der kleinste gemeinsame Nenner von Lebensauffassungen in unserer Gesellschaft ist die Gestaltungsidee eines schönen, interessanten, subjektiv als lohnend empfundenen Lebens.“ Diese Lebenshaltung, ehemals ein Privileg der Angehörigen der höheren Schichten, wurde infolge geänderter Lebensbedingungen zum Massenphänomen und drang zudem in immer mehr gesellschaftliche Handlungsbereiche vor.
—>Innenorientiertes, genauer: erlebnisorientiertes Denken und Handeln wurde somit auf Grund der wachsenden Bedeutung von Subjektivität zur letzten Gemeinsamkeit aller Akteure
-Für Schulze (1993: 405) stellt sich die Erlebnisgesellschaft als Übergangszustand dar, als „Momentaufnahme unserer Gesellschaft im Prozess der Veränderung.“ Da die empirischen Untersuchungen Mitte der achtziger Jahre durchgeführt wurden, drängt sich somit zwangsläufig die Frage auf, ob die Bundesrepublik diesen gesellschaftlichen Zustand nicht womöglich schon hinter sich gelassen hat. Hätte man es dann noch mit einer Gegenwartsdiagnose zu tun?
—> „Die Erlebnisgesellschaft war ein erster kollektiver Antwortversuch auf die Frage nach dem Glück. Wenn diese Antwort sich nun als unzureichend herausstellt, wie könnte dann eine bessere, dem Menschen angemessenere Lebensphilosophie aussehen? Auf dieser Suche befinden wir uns jetzt.“ (Schulze 1997)
-Die Strukturen der Erlebnisgesellschaft sind demnach auch Ende der 90er Jahre noch nicht obsolet. Schulze konstatiert allerdings eine wachsende Sensibilität der Akteure für die Probleme, die ihre erlebnisorientierte Lebensweise mit sich bringt
-Mit der kontinuierlichen Anhebung des Lebensstandards des Großteils der Bevölkerung seit Mitte der sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts entwickelte sich nach und nach die strukturelle Basis, auf der die Erlebnisgesellschaft entstehen konnte. Schulze hebt diesbezüglich zwei miteinander verzahnte Entwicklungen hervor.
-Im Alltagsleben der Akteure sind es vor allem die steigenden Einkommen sowie die Reduzierung der Arbeitszeit. Die Menschen haben zunehmend mehr Freizeit gewonnen, die sich zudem auf Grund der über das Lebensnotwendige hinausreichenden Verfügbarkeit von Ressourcen und durch den Abbau formaler oder informaler Zugangsbarrieren zu vielen gesellschaftlichen Ereignissen als immer gestaltbarer erwies. Der Aspekt Freizeitgewinn steht in engem Kausalzusammenhang mit der Technisierung nicht nur der Arbeitswelt, sondern des gesamten Alltagslebens. So wurde beispielsweise auch das erforderliche Zeitbudget für die Hausarbeit in immer größerem Maße mittels technischer Geräte auf einen Bruchteil, der vordem zu veranschlagenden Zeit reduziert.
-Parallel dazu hat auf Seiten des Wirtschaftssystems eine Vervielfachung von Angeboten an Waren und Dienstleistungen stattgefunden. Ein riesiger Markt hat sich entwickelt, auf dessen zentrale Bedeutung für die Dynamik der Erlebnisgesellschaft noch näher eingegangen wird.
-Schulze erfasst diesen sozialen Wandel analytisch als Veränderung des Verhältnisses von Subjekt und Situation. Beide Ebenen stehen in einem Wechselverhältnis zueinander. In einer Situation, die durch einen Ressourcenmangel gekennzeichnet ist, wird ein Akteur bestrebt sein, auf die als beengend empfundene Lebenssituation verändernd einzuwirken. Er wird versuchen, seinen Lebensstandard zu verbessern, sei es durch das Bestreben, selber beruflich aufzusteigen, oder auch dadurch, seinen Kindern eine qualifizierte Ausbildung zu ermöglichen
-Im Zuge der genannten Veränderungen hat sich dieses Subjekt-Situation-Verhältnis gewandelt. Die Situation betrifft die Akteure nun in anderer Weise als zuvor. Sie schränkt nicht mehr ein, sondern legt dem Subjekt lediglich bestimmte Optionen nahe oder löst diese aus. Handeln wurde entgrenzt und damit die freie Wahl zur neuen Notwendigkeit im Alltagsleben: „Entgrenzung heißt Zunahme der Möglichkeiten; die Erhöhung der Konsumchancen ist nur einer von vielen Aspekten. Gemeint ist nicht bloß ein Wohlstandsphänomen, sondern ein Modernisierungsphänomen, das auch durch Arbeitslosigkeit, Rezession und Stagnation der Realeinkommen nicht vertrieben werden wird.“
-Denn nicht nur Waren, sondern Situationen selbst werden zunehmend frei wählbar. Man kann bzw. muss selbst entscheiden, ob man sich einer bestimmten Situation überhaupt aussetzen will. Zumindest für den Bereich der Freizeit gilt dieses Prinzip relativ durchgängig. Ob ich ins Kino gehe oder in ‚meine’ Szenekneipe oder vielleicht doch lieber mit dem Mountainbike eine Runde durch den Wald fahre, bleibt letztlich meine freie Entscheidung: „An die Stelle der Situationsarbeit, kennzeichnend für die einwirkende Existenz, tritt in der wählenden Existenz das Situationsmanagement, das Nehmen und Entsorgen von Lebensumständen.“
-Und dass das Handeln eines Individuums, welches unter einer Vielzahl von Möglichkeiten wählen kann, in viel stärkerem Maße von den subjektiven Intentionen geprägt ist, als wenn es nichts zu entscheiden gäbe, liegt auf der Hand: „Das Subjekt tritt soziologisch in den Vordergrund.“ Dabei bleiben die Akteure ihren individuellen Erfahrungen verhaftet, und somit haben Situationen – wenn auch vergangene – nach wie vor eingrenzende Wirkungen auch auf die aktuelle Handlungspraxis. Schulze redet also keiner subjektiven Willkür das Wort.
-Mit der Entgrenzung der Lebenssituation verändern sich auch die Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Einstellungsmuster und damit die kognitive Orientierung der Akteure:
„Angebotsexplosion, Ausweitung der Konsumpotentiale, Wegfall von Zugangsbarrieren, Umwandlung von vorgegebener in gestaltbare Wirklichkeit: die Erweiterung der Möglichkeiten führt zu einem Wandel der Lebensauffassungen. Man befindet sich in einer Situation, die besser als Entscheidungssog denn als Entscheidungsdruck zu bezeichnen ist
-In der unmittelbaren Nachkriegszeit bis hinein in die 60er Jahre war der Fokus der Akteure primär auf die Situation gerichtet und damit außenorientiert. Diese Außenorientierung fand ihren Niederschlag in allen Bereichen der Alltagspraxis. So stand im Rahmen normativer Neuorientierung und des Strebens nach materieller Absicherung die Erwerbsarbeit im Mittelpunkt. Im Hinblick auf Konsumentscheidungen waren der primäre Gebrauchswert und die Qualität der Güter ausschlaggebend.
-Das Wechselspiel zwischen den gesellschaftlichen Teilbereichen Wirtschaft und (Natur-)Wissenschaft sowie den an Nutzen, Qualität und Reichtum orientierten Akteuren setzte in der „industriegesellschaftlichen Moderne“ eine „Zirkularstimulation der Steigerung“ in Gang. Dieser Steigerungsprozess, in dessen Folge das Wohlstandsniveau immer weiter angehoben wurde, führte hinsichtlich der wirtschaftlichen Produktion nicht nur zu einer immer breiter werdenden Angebotspalette, sondern auch zur Perfektionierung der Produkte im Hinblick auf Qualität und Funktionalität. Diese auf den ersten Blick positive Entwicklung hatte jedoch ambivalente Folgen, denn die drei Kategorien Nutzen, Qualität und Reichtum büßen zunehmend ihre orientierende Funktion ein:
• Mit steigendem Wohlstandsniveau wird es zunehmend schwieriger, einen ‚äußeren’ Nutzen von Gegenständen zu definieren, da die Mehrzahl der angebotenen Produkte für das rein physische Überleben der Akteure kaum noch relevant ist.
• Mit der wissenschaftlich-technischen Perfektionierung der Produkte nehmen objektive Qualitätsunterschiede zwischen den Waren ab.
• Mit dem steigenden materiellen Lebensstandard aller verliert die Orientierung an sozialem Aufstieg, d. h. an der Reichtumskategorie, ihre Bedeutung für das Alltagsleben: Wem es bereits ‚gut’ geht, der kann eine weitere Anhebung seines Lebensstandards kaum noch konkret erfahren
-Die Steigerungslogik der Industriegesellschaft führte am Ende des 20. Jahrhunderts zu einer Orientierungskrise, und zwar sowohl auf der Seite der Produzenten im Wirtschaftssystem als auch auf der Seite der Konsumenten. Wussten die einen nicht, in welche Richtung sie ihre Produktentwicklung steuern sollten, so fehlte es den anderen an Maßstäben, um aus dem Überangebot die richtige Auswahl treffen zu können. Resultat war ein „Orientierungsdruck, der gerade dadurch entsteht, dass der ökonomische Druck nachlässt“
-Diese Orientierungslosigkeit löste Schulze zufolge „eine Art kopernikanische Wende des Alltagsdenkens“ aus, indem sich die Handlungsziele der das Subjekt verlagern: Je größer die Vielfalt von Angeboten gleicher außenorientierter Zweckbestimmung ist, desto mehr treten innenorientierte Motive in den Vordergrund. Da die ökonomischen Kriterien von wichtig/unwichtig (Nutzenkategorie), gut/schlecht (Qualitätskategorie) und viel/wenig (Reichtumskategorie) als Orientierungsmaßstäbe nicht mehr greifen, tritt jetzt der psychophysische Akt des Erlebens in den Vordergrund, welcher über den Konsum von Gütern und Dienstleistungsangeboten im Subjekt ausgelöst wird. Der Erlebnischarakter von Produkten, ehemals lediglich ein Nebeneffekt, wird zum zentralen Gesichtspunkt für die Konsumentscheidung
„Kern der Erlebnisgesellschaft, aus dem alles andere entsteht, ist ein bestimmtes Grundmuster des Denkens, das sich durch den Gegensatz von Außen- und Innenorientierung beschreiben lässt. Unter der Bedingung von Knappheit und Begrenzung richtet sich das Denken auf die Situation; es ist außenorientiert. Mit dem Übergang vom Einwirken zum Wählen, ausgelöst durch die Entgrenzung der Situation, wird das Denken innenorientiert: Es bezieht sich auf Ziele in uns selbst – Gefühle, psychophysische Prozesse, Erlebnisse.“
-Mit dem Übergang von der Außen- zur Innenorientierung auf der kognitiven Ebene ändert sich auch die Rationalität auf der Handlungsebene. Nach wie vor agieren die Akteure nach dem Kosten-Nutzen-Prinzip, nur zielt ihr Handeln jetzt auf einen subjektiven Prozess. Schulze bezeichnet diese „Systematisierung des Handelns“ als Erlebnisrationalität, und meint damit die „Selbstmanipulation des Subjekts durch Situationsmanagement.“ Situationen und Produkte dienen dem Subjekt nur noch als Auslöser für psychophysische Prozesse:
„In der außenorientierten Denkwelt haben Gefühle lediglich die Funktion der Steuerung objektiver Nutzendefinitionen, ohne zu ihrem Bestandteil zu werden; dagegen gehen sie in der erlebnisorientierten Denkwelt in die Nutzendefinition selbst ein. Der klassische Konsument lebt nach der Philosophie des Habens, der neue Konsument nach der Philosophie des Seins.“
-Das innenorientierte Denken und Handeln stellt die Akteure vor neue Schwierigkeiten. „Mit der Expansion des Möglichkeitsraums treten Zielprobleme an die Stelle von Mittelproblemen.“
-Die Frage, die den Akteur in der Erlebnisgesellschaft ständig begleitet, ist: Was will ich eigentlich? Und je mehr Möglichkeiten einem offenstehen, desto schwieriger wird es, klare Bedürfnisse zu definieren. Zu dieser Entscheidungsunsicherheit kommt auf Grund des psychophysischen Charakters von Erlebnissen ein Enttäuschungsrisiko hinzu. Da Erlebnisse erst durch reflexive Verarbeitung äußerer Ereignisse entstehen und die eigenen Reaktionen auf die gewählten Erlebnismittel nie vollständig kalkulierbar sind, kann sich ein Akteur seiner Sache sozusagen nie sicher sein. Der Gewöhnungseffekt, der durch die fortdauernde Angebotssteigerung hervorgerufen wird – das ewig Neue ist Normalität –, steigert diese beiden Probleme noch:
„Wir können versuchen, eine besonders günstige äußere Situation herzustellen, aber das angestrebte innere Ereignis, das Erlebnis, ist damit nicht identisch. Das notorische Lamento über die Umstände – ‚langweilig‘, ‚nichts geboten‘, ‚hat mich kalt gelassen‘ usw. – bezeugt den geringen Erkenntnisstand des Alltagswissens angesichts einer schieren Trivialität: Jeder ist für seine Erlebnisse selbst verantwortlich.“
-Innenorientierte Akteure befinden sich folglich in einem grundsätzlichen Dilemma. Auf Grund ihrer Entscheidungsunsicherheit tendieren sie dazu, auf bewährte Muster und Handlungsroutinen zurückzugreifen, wodurch dann aber andererseits das Enttäuschungsrisiko wächst, weil die Erlebnisintensität mit der Zeit sinkt. Um dem entgegenzuwirken, ist der Akteur gezwungen, sich in neue Situationen zu begeben, womit sich aber wiederum die Entscheidungsfrage stellt. Diese prinzipielle Offenheit – sowohl im Hinblick auf die Situation als auch hinsichtlich des Ergebnisses – führt erneut zu einem „Orientierungsbedarf, der die Gemeinsamkeiten der Erlebnisgesellschaft erst erklärbar macht“
„Es entsteht eine Bereitschaft, Dienstleistungen anzunehmen, die sich, sobald Anbieter auftreten, rasch zur Abhängigkeit entwickelt. ... Auf dem Erlebnismarkt ... werden die Ordnungserfindungen der Menschen aufgegriffen, akzentuiert und in massenhafte Angebote übersetzt. Ein wichtiger Bereich der Situation gerät in die Regie korporativ organisierter Anbieter, zu denen nicht nur der ‚böse‘ Kommerz zu rechnen ist, sondern auch die ‚gute‘ Kulturpolitik ...“
-Den gesellschaftlichen Ort, an dem Erlebnisnachfrage und Erlebnisangebot aufeinandertreffen, bezeichnet Schulze als Erlebnismarkt. Dieser umfasst – wie bereits erwähnt – neben rein wirtschaftlichen auch kulturelle sowie massenmediale Erlebnisangebote. Aus der Sicht der Konsumenten ist diese Unterscheidung nebensächlich. Die strukturelle Differenzierung des Erlebnismarktes wird lediglich als Pluralisierung von Angeboten wahrgenommen. Versprechen sich die Konsumenten durch die Auswahl der passenden Angebote psychophysische Effekte, so wollen demgegenüber die Produzenten ihre Produkte verkaufen, d. h. sie verfolgen mehr oder minder offen ein ökonomisches Interesse. Der Erlebnismarkt stellt somit eine Schnittstelle innenorientierter und außenorientierter Rationalitätstypen dar:
„Stoßen beide Handlungstypen aufeinander ..., so wird nach kurzer Zeit der außenorientierte Typ das Gesetz des Handelns übernehmen, der innenorientierte reagieren und nur durch unkalkulierbare, scheinbar irrationale Kurswechsel und Bocksprünge Verwirrung stiften. Doch auch dies lässt sich in außenorientierte Risikoberechnungen einplanen. Von der Rationalität des Erlebnisangebots wird die Rationalität der Erlebnisnachfrage in den Dienst genommen.“
-Hier wird auch nochmals deutlich, dass Schulze die Erlebnisorientierung ausschließlich auf das Konsum- und Freizeithandeln bezieht. Die Produzenten hingegen müssen zwar der Innenorientierung ihrer potentiellen Kunden im Hinblick auf die Wahl der eigenen Strategien Rechnung tragen, jedoch basieren diese letztlich auf einer außengerichteten Interessenlage. Doch wie kommt es zur Dominanz der außenorientierten Rationalität? Innenorientiertes Handeln ist stark von subjektiven Faktoren abhängig und daher weder berechenbar noch langfristig planbar.
-Demgegenüber ist außenorientiertes Handeln zum einen leicht zu optimieren, da die Wirkungen im Großen und Ganzen berechenbar sind. Zum anderen handelt es sich bei den Erlebnisanbietern im Gegensatz zu den Konsumenten meist um korporative Akteure. Dies gilt sowohl für den Bereich der Wirtschaft als auch für die Bereiche der Kulturpolitik und der Massenmedien.
-Auf Grund dessen, dass Korporationen unabhängig vom Wollen der beteiligten Akteure eine Tendenz zur Selbsterhaltung inhärent ist, werden die Interaktionen zwischen Produzenten und Konsumenten mehr und mehr von den Intentionen der Akteure entkoppelt. Damit gewinnt der gesamte Erlebnismarkt eine zunehmende Eigendynamik jenseits aller Steuerungsmöglichkeiten. Dadurch, dass Akteure sich in ihrem Handeln immer stärker am Erlebnismarkt orientieren, kommt diesem eine vereinheitlichende und integrierende Funktion zu:
„Der Erlebnismarkt hat sich zu einem beherrschenden Bereich des täglichen Lebens entwickelt. Er bündelt enorme Mengen an Produktionskapazität, Nachfragepotential, politischer Energie, gedanklicher Aktivität und Lebenszeit
-Zugleich fungiert der Erlebnismarkt quasi als Ersatz für den Verlust an früheren Möglichkeiten kollektiver Selbsterfahrungen im Alltagsleben. Denn die sozialen Großgruppen der Gegenwartsgesellschaft entziehen sich mehr und mehr der Alltagswahrnehmung. Arbeitserfahrungen bilden im Zuge zunehmender „Differenzierung der Erwerbstätigkeit in tausende von partikularen Erfahrungsfeldern“ keine Quelle mehr für ein Gemeinschaftsgefühl und ein darauf basierendes milieuspezifisches Kollektivbewusstsein. Zudem resultieren Betroffenheit aufgrund der allgemeinen Steigerung des Lebensstandards immer weniger aus einer gleichen sozialen Lage, so dass auch aus diesem Grund ein kollektives ‚Klassenbewusstsein’ gar nicht mehr zustande kommen kann.
—>Generell haben sich die Kriterien für die Konstitution des Verhältnisses der Akteure zueinander gewandelt. Nicht mehr die soziale Lage, d. h. die Situation, bedingt die Zugehörigkeit zu einer sozialen Großgruppe, sondern der persönliche Stil und damit auch der Akt des Konsumierens spezifischer Erlebnisangebote. „Ohne Erlebnismarkt würden wir ... auf andere soziale Großgruppen, auf eine andere soziale Wirklichkeit stoßen.
-Die Sozialstruktur der Erlebnisgesellschaft ist demnach eng mit dem Erlebnismarkt verknüpft. Denn mit dem Wechsel von der Außen- zur Innenorientierung geriet auch das alte hierarchische Gesellschaftsbild ins Wanken, und die Bezugspunkte für die Einordnung anderer und die Stabilisierung von Identität änderten sich. In der Industriegesellschaft waren vor allem die Lebensbedingungen ausschlaggebend, in der Erlebnisgesellschaft hingegen sind Denk- und Handlungsmuster die zentralen Kategorien bei der Konstitution sozialer Milieus. An die Stelle einer „Gemeinsamkeit des Zweckmäßigen“ ist eine „Gemeinsamkeit des Zweckfreien“ getreten
-Soziale Milieus zeichnen sich nach Schulze durch typische Existenzformen und eine erhöhte Binnenkommunikation aus. Die Akteure verorten sich selbst und andere über die Feststellung von Ähnlichkeit bzw. Unähnlichkeit. Dazu bedarf es leicht dekodierbarer Zeichen. Schulze benennt vier solcher Zeichenkategorien, von denen allerdings die vierte weniger offensichtlich ist und sich erst nach dem Kennenlernen herausstellt:
• Der persönliche Stil,
• das Alter, welches einerseits als „Indikator für eine bestimmte Situationsgeschichte (Generationszugehörigkeit) und gleichzeitig als Indikator für ein bestimmtes Stadium der Subjektivitätsentwicklung (Lebenszyklus)“ fungiert
• Die Bildung, die ebenfalls Rückschlüsse auf die Situationsgeschichte zulässt, und
• die Art und Weise des Situationsmanagements. „Gemeint ist die Steuerung des Nahelegens und Auslösens durch das Subjekt selbst: In welche Situationen bringt sich der andere? Mit wem lebt er zusammen, wo wohnt er, was macht er beruflich, welche Pläne hat er usw.?“
-Diese Zeichenbündel lassen sich bestimmten Erlebnisroutinen zuordnen. Schulze führt hier den Begriff der alltagsästhetischen Schemata ein, worunter er intersubjektive Muster von „Zeichen-Bedeutungs-Verbindungen“ versteht, die den Akteuren ganz bestimmte Erlebnisroutinen signalisieren. Er unterscheidet zwischen Hochkultur-, Trivial- und Spannungsschema. Die Milieuzugehörigkeit und damit die soziale Position von Akteuren lässt sich dann anhand von Nähe und Distanz zu diesen drei Schemata ermitteln. Schulze gelangt auf diese Weise zu fünf verschiedenen sozialen Milieus:
• Niveaumilieu: Nähe zum Hochkulturschema, Distanz zu den beiden anderen Schemata. Die Akteure dieser sozialen Gruppe bevorzugen „überregionale Tageszeitungen, Zeit, Spiegel, Belletristik. Musikalisch dominiert die klassische Musik ... Fast alle beteiligen sich an der Hochkulturszene, gehen ins Konzert, ins Theater, ins Museum, in die Oper, in Ausstellungen, Dichterlesungen und ähnliches.“ Parallelen zum Bildungsbürgertum sind hier offensichtlich. Man strebt nach kontemplativem Genuss, nach Distinktion gegenüber allem Nicht-Kultiviertem und nach Perfektion.
• Harmoniemilieu: Nähe zum Trivialschema, Distanz zu den beiden anderen Schemata. Als Pedant zur eben geschilderten sozialen Gruppe lässt sich hier eine Nähe zur Arbeiterschicht konstatieren. Man liest Zeitschriften der Regenbogenpresse und Bestsellerromane, hört Unterhaltungs- und Volksmusik, sieht Heimat- und Naturfilme sowie Game-Shows im Fernsehen. Die Akteure des Harmoniemilieus sind sehr gemeinschaftsorientiert: „Gemütlichkeit als Genussform, Harmonie als Lebensphilosophie, Antiexzentrität als Muster der Distinktion.“
-• Integrationsmilieu: Nähe zum Hochkultur- und zum Trivialschema, Distanz zum Spannungsschema. „Seinen besonderen Charakter erhält das Integrationsmilieu nicht durch eigene Stilelemente, sondern durch die Kombination von Stilelementen anderer Milieus.“ Ebenso verhält es sich mit den Mustern von Genuss, Distinktion und Lebensphilosophie. Die Merkmale des Niveau- und des Harmoniemilieus fließen auch diesbezüglich ineinander.
• Selbstverwirklichungsmilieu: Nähe zum Hochkultur- und zum Spannungsschema, Distanz zum Trivialschema. Auf Grund der Kombination zweier Schemata zeichnet sich diese soziale Großgruppe durch einen ‚Grenzverkehr’ zwischen den Zeichenkonfigurationen aus: Man hört ebenso klassische Musik wie Rockmusik, der Besuch von Museen und Kunstausstellungen ist ebenso charakteristisch wie der Gang ins Kino oder in Diskotheken. Hinsichtlich der Muster des Genießens vermischen sich hier Kontemplation und Action, man distinguiert sich ebenso vom Trivialen wie vom Konventionellen, und die Lebensphilosophie ist einerseits die Perfektion und andererseits der Narzissmus.
• Unterhaltungsmilieu: Nähe zum Spannungsschema, Distanz zu den beiden anderen Schemata. „Orientiert am Spannungsschema, auf der Suche nach Action als Genussform, bedient sich das Milieu mehr als jedes andere solcher Erlebnisangebote, die reines Aktiviert-Werden ohne ästhetische Dekodierungsarbeit verheißen, oft in Verbindung mit Unterhaltungsmaschinen.“
-Doch unabhängig von äußeren Kriterien der Zuordnung anderer ist im Hinblick auf die eigene Zugehörigkeit zu einem sozialen Milieu der Akteur wiederum als Wählender gefordert. Zwar konstatiert Schulze eine relativ enge Korrelation zwischen Lebensstil, Alter und Bildungsniveau, doch betont er andererseits die subjektiven Präferenzen, nach denen die Akteure ihre sozialen Kontakte frei wählen:
„Der räumliche Aktionsradius ist nun schier unbegrenzt; die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung verfügt über genügend Ressourcen, um nach Belieben Lebensstil zu kultivieren und Kontakte zu pflegen; ... das Telefon gibt die Möglichkeit, Kontakte auch bei räumlicher Distanz aufrechtzuerhalten; bindende Kontakterwartungen und Kontaktverbote ... haben nur geringe Bedeutung.“
-Da subjektives Erleben in den Mittelpunkt gerückt ist, steht letztlich nur das ‚eigene’ soziale Milieu – gewissermaßen stellvertretend für den Erlebnismarkt – im Fokus des Alltagshandelns: „Je mehr die Menschen begannen, sich mit Urlauben, Wochenenden, Garderoben, Autos, Fernsehangeboten, Illustrierten, Speisekarten, generell: mit dem Erlebnisgehalt ihrer unmittelbaren Zukunft auseinanderzusetzen, desto uninteressanter wurden andere soziale Milieus.“
-Die gesellschaftliche Großgruppenstruktur insgesamt gerät dabei völlig aus dem Blickfeld. Und damit werden auch die Relationen, in denen diese Gruppen zueinanderstehen, für den einzelnen immer unbedeutender. War es bis in die 70er Jahre hinein noch wichtig, sich über die kulturelle Alltagspraxis von anderen gesellschaftlichen Gruppen abzugrenzen – zuerst, um die soziale Position in der gesellschaftlichen Hierarchie sichtbar zu machen, später dann, um die normative Orientierung zu dokumentieren – so verschwand diese auf wechselseitigem Bezug basierende distinktive Alltagspraxis mit dem Übergang in die Erlebnisgesellschaft: „Nach der Bedeutungsminderung der ökonomischen Semantik und dem Bedeutungsgewinn der psychophysischen Semantik hat sich eine Struktur des Nichtverstehens etabliert, die einhergeht mit einem Rückzug sozialer Kollektive auf sich selbst.”
-Neben den beiden bereits angesprochenen Risiken der Unsicherheit und der Enttäuschung sowie dem daraus resultierenden Widerspruch erlebnisrationalen Handelns bringt die Innenorientierung auf Dauer aber noch weitaus tiefgreifendere Probleme für die Akteure mit sich. Denn auch auf den psychophysischen Akt des Erlebens werden die ökonomischen Kategorien des Nutzens, der Qualität und des Reichtums angewendet. Auf Grund der Subjektbezogenheit existiert aber hinsichtlich der ersten beiden Größen jetzt kein für alle Gesellschaftsmitglieder verbindlicher Bewertungsmaßstab mehr.
-Ein großes Problem liegt hier in der generellen Nichtkommunizierbarkeit von Erlebnissen. Ob ein Erlebnisangebot innere Prozesse aktiviert (Nutzen) und intensiviert (Qualität), ist nur noch subjektiv beurteilbar und bleibt damit schlussendlich beliebig, denn: „Erlebnisnutzen oszilliert mit der Selbstreflexion“. Je nach der aktuellen psychophysischen Verfassung des Akteurs variiert somit auch das Besser oder Schlechter ein und desselben Ereignisses
-Unsicherheit und Enttäuschungsrisiko lassen sich also im Grunde genommen noch nicht einmal minimieren, geschweige denn beseitigen. Gravierender noch ist das Festhalten an der Reichtumskategorie. Der permanente Ausstoß des Erlebnismarktes an neuen Erlebnisangeboten hat einen Gewöhnungseffekt zur Folge. Das ‚Neue’ an sich kann nicht mehr befriedigen. Als einziger Ausweg gegen aufkommende Langeweile greifen die Akteure zum Mittel der Kumulation, d. h. sie streben nach immer mehr Erlebnissen in immer kürzeren zeitlichen Intervallen. Diese Verdichtung stößt aber – anders als das bei der Außenorientierung der Fall war – an psychische Grenzen: Menschen sind nicht in der Lage, unbegrenzt viele Reize zu verarbeiten, denn Reflexion erfordert immer ein Mindestmaß an Zeit und Aufmerksamkeit. Erlebnisreichtum führt so letztendlich zur Erlebnisverarmung
-Hinzu kommt, dass die Konsumenten von Erlebnisangeboten den Versprechungen der Anbieter gewissermaßen ‚blind’ vertrauen müssen. „Der Glaube des Abnehmers an zugesicherte Eigenschaften der Ware lässt die zugesicherten Eigenschaften überhaupt erst entstehen.“ So stellt die Autosuggestion gewissermaßen den letzten Versuch der Konsumenten dar, Unsicherheit und Enttäuschungsrisiko zu minimieren.
—>„In einer Situation der Unsicherheit verschafft man sich das Gefühl, das Richtige zu tun.“ Aber da den Akteuren letztlich bewusst ist, dass es sich bei dem, was die Ware suggeriert, um gezielt erzeugte Illusionen seitens der Anbieter handelt, können diese Sinnkonstruktionen leicht zusammenbrechen:
„Die Strukturen der Erlebnisgesellschaft sind Ordnungskonstruktionen im Orientierungsvakuum. In einer Situation zunehmender Unbestimmtheit haben sich die Menschen gewissermaßen zu Notgemeinschaften der Zweckfindung zusammengetan. Nichts ist zwangsläufig, alles könnte auch ganz anders sein, doch das Kollektiv suggeriert eine Selbstverständlichkeitsvermutung, an die sich die Menschen nur allzu bereitwillig klammern. In Form von alltagsästhetischen Schemata, sozialen Milieus und fundamentaler Semantik haben sie den Boden, auf dem sie zu stehen glauben, selbst erfunden. Doch die Konstruktionen sind labil; die Ordnungserfindungen lassen sich jederzeit um-erfinden.“
-Das Orientierungsvakuum am Ende der industriegesellschaftlichen Moderne wird – so könnte man pointiert sagen – in der Erlebnisgesellschaft nicht aufgehoben, sondern lediglich verschleiert. Die Wendung von der Außen- zur Innenorientierung erlaubt nur oberflächlich eine klare Zieldefinition im Alltagshandeln. Das Projekt des schönen Lebens bleibt hinsichtlich der individuellen Ausgestaltung diffus, den Sinn des Lebens muss jeder für sich selbst definieren.
-Zusätzlich zu diesem nach wie vor bestehenden Orientierungsproblem verlernen die Akteure als innenorientierte Situationsmanager zunehmend die Fähigkeit, sich auf nichtveränderbare strukturelle Gegebenheiten und begrenzende Situationen einzulassen und diese zu akzeptieren. Die zu Nichtakzeptanz des biologischen Prozesses des Alterns oder die Unzufriedenheit mit dem bisherigen Lebenslauf sind Beispiele dafür. Das gleiche gilt auch für ökologische Probleme oder soziale Ungleichheiten, deren Wahrnehmung allein schon die Bereitschaft voraussetzt, sich Situationen zu stellen. Dass andernfalls auch kein auf Veränderung wirkendes Handeln möglich ist, versteht sich von selbst. Innenorientierung führt somit zur kollektiv-politischen Handlungsunfähigkeit.
-Im Gegensatz zum innenorientierten Alltagshandeln agieren die Erlebnisanbieter zwar außenorientiert, aber ausschließlich im Hinblick auf ökonomischen Profit. Sowohl die Interessen der Produzenten als auch die Dynamik des Erlebnismarktes werden daher zur Stabilisierung der Instabilität erlebnisgesellschaftlicher Strukturen beitragen. So sieht denn auch Schulze in einer subjektiven
Verweigerungshaltung die einzige Möglichkeit, der Erlebnisgesellschaft etwas entgegenzusetzen, denn: „Man kann den Erlebnismarkt nicht steuern, sondern höchstens verlassen.“
-Schulze stellt daher dem zirkulären Subjekt das eigensinnige Subjekt gegenüber. Der Akteur muss sich aus seiner zirkulären Existenz, in der alles „Objektive nur Kristallisationspunkt für Gefühle ist“, lösen und lernen, „sich auf etwas anderes einzulassen, ... auch jenseits seiner selbst.“ (Schulze 1999, 100 102) Dieses andere meint die Fähigkeit,
• für sich äußere Handlungsziele zu definieren,
• Wiederholungen im Alltagsleben zu genießen,
• und „mit einem Nichts zu spielen“ , d. h. kreativ und phantasievoll mit den vorhandenen Gegebenheiten umzugehen
-Folgt man Wilhelm Heitmeyers Diagnose, so ist für die soziale Entwicklung der westlichen Industriegesellschaften im ausgehenden 20. Jahrhundert eine Radikalisierung des Tempos sozialstruktureller, normativer und kognitiver Veränderungen charakteristisch. Als Vergleichsmaßstab, vor dem die Radikalität der Veränderungen deutlich wird, dient hier jener gemäßigte soziale Wandel, den die westlichen Gesellschaften im Zeitraum von ca. 1949 bis 1989 erfahren haben.
-Greift man Deutschland als ein Beispiel für den forcierten sozialen Wandel seit 1989 heraus, lassen sich mannigfache Indikatoren für eine krisenhafte Beschleunigung dieser Entwicklung herausstellen. Neben der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit und einer allgemeinen Verunsicherung, die aus den Folgen der Globalisierung von Kapital und Kommunikation herrührt, benennt Heitmeyer unter anderem folgende Probleme, die sich in der Tendenz zu gesellschaftlichen Krisenlagen verdichten:
1. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter auseinander: Soziale Ungleichheit verschärft sich, die bislang integrierenden Mittelschichten erodieren.
2. Immer mehr Menschen ziehen sich aus den Institutionen zurück. Dies gilt nicht nur für Ehe, Familie und Kirche, sondern im besonderen Maße auch für die konfliktvermittelnden intermediären Institutionen wie Vereine, Verbände, Gewerkschaften und Parteien.
3. Gesteigerte Anforderungen der Arbeitswelt, vor allem mit Blick auf Mobilität und Arbeitszeitflexibilität, führen zur Zerstörung von sozialen Beziehungen und zur Fragmentierung von Lebenszusammenhängen; der Lebenslauf wird zur ‚Bastelbiographie’.
4. Basale Wert- und Normenkonsense, die bislang gesellschaftsintegrierend wirkten, lösen sich auf
—>Zusammengenommen verdichtet sich dieses Spektrum von Problemlagen zu gesellschaftlichen Phänomenen, die die Soziologie seit den Tagen Emile Durkheims mit dem analytischen Begriff ‚Anomie’ beschreibt
-Anomie (lat. für Gesetz- oder Normlosigkeit) wird erstmals 1893 in Durkheims Studie über die soziale Arbeitsteilung in den Stand einer soziologischen Kategorie erhoben. Moderne Gesellschaften zeichnen sich für ihn durch das Prinzip der Arbeitsteilung aus und werden durch ‚organische Solidarität’ integriert. In Analogie zu dem Zusammenwirken der verschiedenen Organe in einem lebenden Körper stellte sich Durkheim vor, dass die arbeitsteiligen Untereinheiten der modernen Gesellschaft durch ein normatives Band aus Vertrag (mit Blick auf Arbeitsbeziehungen) und korporativer Sittlichkeit (mit Blick auf darüberhinausgehendes Sozialverhalten) zusammengeschweißt werden.
-Gesellschaftliche Krisenphänomene, wie z. B. der Klassenkampf zwischen Arbeitern und Kapitalisten, Gewalttätigkeit, Suff und Prostitution in den Arbeiterquartieren, aber auch psychosomatische Hysterie und Selbstmord in den Mittel- und Oberschichten galten Durkheim als vorübergehende Kinderkrankheiten der arbeitsteiligen Gesellschaft
-Das Problem der Anomie liegt in dem Auseinanderfallen von materieller und moralischer Entwicklung in Zeiten erhöhter Modernisierungsdynamik. Eine forcierte ökonomische Produktivität stellt einerseits neue Anforderungen an die kognitiven Fertigkeiten der Gesellschaftsmitglieder und bringt andererseits immer mehr Produkte als individuell erstrebenswerte Güter hervor. In dem Maße, in dem bisherige Formen von Autorität, Religiosität und Sittlichkeit die steigenden beruflichen Anforderungen und neu entfachten Bedürfnisse nicht mehr zügeln können, und solange ein neues normatives Regelsystem noch nicht zur Verfügung steht, das überzogene Erwartungen zu dämpfen in der Lage wäre, ist mit einer Steigerung der Selbstmordrate und anderer Indikatoren für Anomie zu rechnen.
-Im ‚Selbstmord’ gelangt Durkheim zu einer teilweisen Revision seiner früheren Überlegungen, wonach Anomie nur ein Übergangsphänomen der Arbeitsteilung sein könnte. An der Epochenschwelle zum 20. Jahrhundert diagnostizierte er, dass „Krise und Anomie zum Dauerzustand und sozusagen normal geworden“ sind
-In den Vereinigten Staaten hat während der Rooseveltschen ‚New-Deal-Ära’ mit Robert K. Merton ein weiterer Klassiker der Soziologie Durkheims Überlegungen zur Anomie mit Blick auf die amerikanischen Verhältnisse modifiziert. Merton nimmt vor allem die kulturelle Dimension von Anomie in den Blick. Die höchsten kulturellen Werte der amerikanischen Gesellschaft setzt Merton mit finanziell messbarem ‚Erfolg’ in Gestalt von Wohlstand an. Diese Werte werden in den amerikanischen Familien, den Schulen, den Massenmedien etc. als Leitorientierungen für ein gelingendes, d. h. ‚gutes“ Leben vermittelt
-Merton machte nun darauf aufmerksam, dass in den Vereinigten Staaten der 20er und 30er Jahre die Sozialstrukturen einem immer größer werdenden Teil der Gesellschaft die notwendigen Mittel verwehrten, um diese kulturell verankerten Werte auf legalem Weg zu erreichen. Die Diskrepanz zwischen kulturellen Zielen und den individuellen Ressourcen zur Zielerreichung führte bei sozialstrukturell benachteiligten Gruppen zu abweichendem Verhalten und letztlich zu Anomie, von Merton verstanden als Zusammenbruch der „kulturellen Struktur“ für die betroffenen Gruppen
-Heitmeyer und seine Mitstreiter nehmen die klassischen Anomie-Konzeptionen von Durkheim, Merton u. a. auf und modifizieren sie im Hinblick auf unsere Gegenwartsgesellschaft, die als eine funktional differenzierte Gesellschaft beschrieben wird. Dabei legt das Heitmeyer-Team seiner Gegenwartsdiagnose die Differenzierungstheorie von Jürgen Habermas zugrunde.
-Im Gegensatz zu Niklas Luhmann, der in der heutigen Gesellschaft eine Vielzahl funktional ausdifferenzierter Teilsysteme verortet, unterscheidet Habermas nur zwei funktionale Teilsysteme: ein über Arbeits-, Kapital- und Gütermärkte gesteuertes Wirtschaftssystem und ein bürokratisches, gewaltmonopolisierendes politisch-administratives System. Diesen zwei Systemen steht eine kulturelle ‚Lebenswelt’ gegenüber, die frei ist von den systemleitenden Kalkülen der instrumentellen Vernunft. Charakteristisch für unsere heutige Lage ist nun der Umstand, dass die Effizienz- und Rentabilitätslogik des Marktes sich über die Grenzen des Wirtschaftssystems hinaus in die Gesellschaft ausdehnt und durch keinerlei nicht-marktförmige Kulturbestände mehr in Schach gehalten werden kann
-Während das ökonomische System expandiert, scheint neben der Lebenswelt auch das politisch-administrative Funktionssystem zu verkümmern: „die Gerichtetheit der gesellschaftlichen Entwicklungen entlang von Utopien und gesellschaftlichen Visionen“ nimmt in dem gleichen Maße ab, wie „die Desillusionierung über die politische Steuerbarkeit der Prozesse wächst“
-Einher mit der Auflösung von Lebenswelt, tradierten Sozialmilieus und dem Bedeutungsverlust von Politik geht die Individualisierung gesellschaftlicher Bezüge. Individualität hat sich in den letzten 20 Jahren neben Erfolg und Wohlstand sicherlich zu der zentralen Leitorientierung in den westlichen Gesellschaften entwickelt. Eng verkoppelt mit einem seit 1989 ‚entfesselten Kapitalismus’ führt Individualität als Leitorientierung nicht nur zu Freiheitsgewinnen, sondern gleichermaßen zu Desintegrationsphänomenen wie Inkonsistenz, Ungleichzeitigkeit und Asymmetrie. Das Problem der Inkonsistenz tritt auf, sofern durch die Subjektivierung von Werten und Normen zwar prinzipiell neue Entscheidungsfreiräume ermöglicht werden, diese Freiräume aber gleichzeitig durch den Zwang zu einem rein utilitaristisch-kalkulierenden Verhalten am kapitalistischen Markt wieder verstellt werden
-Unter Ungleichzeitigkeit versteht Heitmeyer die Kollision von erlernten individualisierten Verhaltensweisen, deren Ausübung einen hohen materiellen Lebensstandard bedingt, mit ‚alten’ sozialen Fragen wie z. B. Armut und realer oder drohender Arbeitslosigkeit. Letztere stellen, Damoklesschwertern gleich, nicht nur eine Bedrohung des bisherigen Lebensstandards, sondern gleichzeitig der Möglichkeit zur Entfaltung einer eigenen Individualität überhaupt dar. Mit dem Stichwort Asymmetrie wird die bereits von Merton thematisierte Diskrepanz zwischen dem penetranten Aufforderungscharakter einer kulturellen Leitorientierung, wie Individualität, und den als schwindend angesehenen sozialstrukturellen Realisierungschancen dieses Wertes für breite Bevölkerungsschichten benannt:
„Individualisierung als kulturelle Norm gilt für alle. Die damit verheißenen und mit Aufforderungscharakter oder Anpassungsdruck verbundenen Realisierungschancen sind zwischen den Angehörigen der unterschiedlichen Milieus strukturell zunehmend ungleich verteilt, dies führt zu einer strukturellen Konservierung von Statuspositionen und Milieuzugehörigkeiten bei gleichzeitig existentem kulturellen Wandlungsdruck, so dass sowohl individuelle als auch politische Konfliktsituationen entstehen. Konkurrenz wird zum zentralen Motor von Desintegration und damit der Auflösung des Sozialen“
-Diese Desintegrationsphänomene lassen sich idealtypisch zu drei gesellschaftlichen Krisenlagen bündeln:
Hier ist erstens die Strukturkrise zu nennen, die auf der Ebene der gesellschaftlichen Systemintegration ansetzt und vor allem die abnehmende Steuerungsfähigkeit von Politik und Staat vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Globalisierung bezeichnet.
Zweitens lässt sich eine Regulationskrise ausmachen, die sich aus der zunehmenden Kontingenz ehemals verbindlicher Werte und Normen speist. Die heutige Gesellschaft nimmt – so scheint es – ihre eigenen Regeln nicht mehr ernst. -
Drittens führt eine übersteigerte Individualisierung auf der Ebene der Sozialintegration zu einer Kohäsionskrise, d. h. zur Auflösung von Vergemeinschaftungen und zum Verlust der Bindekraft von Idealen, sozialen Beziehungen, Milieus etc
Gesellschaftliche Entwicklungen
Problementwicklung für
Krisenphänomen im Sinne der Anomietheorie
Folgen für soziale und politische Prozesse
Individuelle und kollektive Wahrnehmung/ Verhaltensweisen
Differenzierung (System)
stratifikatorische Positionierung/ Existenzsicherung
Strukturkrise
Ausgrenzung/ Desintegration (Verschärfung der Ungleichheit)
Ohnmacht/ Machtlosigkeit/ Gleichgültigkeit (Indifferenz) Entsicherung von Gewaltpotenzial
Pluralisierung (Werte/ Normen)
Verständigung/Sinn
Regulationskrise
Delegitimierung von Normen/ Kontingenz von Werten
Absenkung der Gewaltschwellen/ Steigerung der Gewaltanfälligkeit
Individualisierung (soziale Lebenswelt)
Anerkennung/ Bindungen/ Zugehörigkeite
Kohäsionskrise
Vereinzelung und kollektive (Re-) Aktivierung von Abgrenzungen
(Selbst-)Ethnisierungsprozesse (Lenkung von Gewaltpotenzialen)
-Ähnlich wie in Durkheims Diagnose gegen Ende des 19. Jahrhunderts lässt sich auch im jetzigen fin-de-siècle ein Wirtschaftssystem beobachten, das die Grenzen der bisherigen nationalen Volkswirtschaften sprengt und einen weltweiten Markt für Güter, Arbeitskraft und Kapital konstituiert. Auf dem globalisierten Markt wächst mit der Möglichkeit, länderübergreifend Qualität und Kosten von Gütern, Informationen und Dienstleistungen zu vergleichen, auch der Druck zur forcierten Standortkonkurrenz und damit einhergehend der Druck zu Rationalisierung und Rentabilität in der Produktion.
- In diesem Transformationsprozess scheint der bisherige Erfolg des ‚deutschen Modells’ – also eines organisierten Kapitalismus auf der Grundlage arbeitsintensiver und diversifizierter Qualitätsproduktion auf der Produktions- sowie Sozialpartnerschaft zwischen Lohnarbeit und Kapital auf der Verteilungsseite des Wirtschaftens – zunehmend zu verblassen. Die Konkurrenzfähigkeit der deutschen Wirtschaft kann nur durch neue Formen internationaler Verflechtung und rigider Rationalisierung sowie durch Stellenabbau gesichert werden
—> Eine Kompensation des industriellen Stellenabbaus durch neue Stellen in der Informations- und Medienindustrie ist, zumindest in dieser Größenordnung, nicht wahrscheinlich. Stattdessen wird mit einem ‚jobless growth’ gerechnet, d. h. einem steigenden Wirtschaftswachstum bei stagnierenden oder gar noch weiter sinkenden Beschäftigtenzahlen
-Deutet man die Anpassungsreaktion der deutschen Wirtschaft auf die veränderten Weltmarktbedingungen als Strukturkrise, so lassen sich mannigfache anomische Auswirkungen auf die in dieses System involvierten Akteure feststellen.
—>Beispielhaft seien hier die Repräsentanten der ‚Blaumann-Berufe’ angeführt. Sie gehören zu der Gruppe der Verlierer des Globalisierungsprozesses, denn sie müssen eine ‚doppelte Entwertung’ ihres bisher identitätsstiftenden Arbeiterstatus hinnehmen. Zum einen sehen sie sich durch die Internationalisierung der Arbeitsteilung selbst innerhalb ein und desselben Unternehmens prekären Vergleichen mit ausländischen Arbeitnehmern, deren Leistungen, Bezahlung und sozialen Standards ausgesetzt. Zum anderen wird das Berufsethos des Arbeiters und Facharbeiters an sich durch die Globalisierungsprozesse einer schweren Legitimitätskrise ausgesetzt:
„Die Beruflichkeit der Arbeit, über einen langen Zeitraum Quelle von Selbstbewusstsein und Garantie von zumindest bescheidenem Wohlstand und relativer sozialer Sicherheit, büßt für wichtige Arbeitergruppen mehr und mehr Schutzfunktion ein. Als eine Art Minimalvoraussetzung zur Ausübung halbwegs anspruchsvoller Tätigkeiten in der Industrie verstärkt nachgefragt ..., ändert die Beruflichkeit der Arbeit nichts daran, dass die gesellschaftliche Anerkennung zumindest des traditionellen Facharbeiterstatus offenbar abnimmt
-Folgt man Dörre, so schlägt besonders bei jüngeren Arbeitern die doppelte Entwertung ihres beruflichen Status nicht selten von einem ziellosen Unsicherheitsgefühl in eine Form von ‚Arbeiternationalismus’ um. Sie misstrauen dem bemühten Internationalismus der Manager und wehren sich gleichermaßen gegen die Verlagerung von Produktionsabläufen in ‚billigere’ ausländische Firmeneinheiten wie gegen die für sie statusgefährdende Konkurrenz durch fremdländische Arbeitsimmigranten.
-Der heutige Arbeiternationalismus zeichnet sich dabei durch seinen defensiven, auf Status-quo-Bewahrung ausgerichteten Charakter aus. Es gibt für den Arbeiter in den westlichen Industrieländern – in Umkehrung der Marxschen Diagnose aus dem 19. Jahrhundert – keine Welt mehr zu gewinnen, wohl aber eine zu verlieren. Insofern ist der Ethnozentrismus einheimischer Arbeiter ein Zeichen der Schwäche und Statusunsicherheit, kein Signal der Stärke oder Überlegenheit. Als Pfadverstärker wirkt hier nicht die objektive Gefahr einer sozialen Verelendung der jungen einheimischen Arbeiter, sondern wirken Gefühle relativer Deprivation.
—> „Für die nachwachsende Arbeiter- und Angestelltengeneration steht mehr auf dem Spiel als ‚nur‘ die Arbeitsstelle oder die berufliche Position; es geht um soziale Identitäten, um Selbstbilder, deren Realisierung gesellschaftlich blockiert erscheint“ (Dör
-Anders als z. B. im angelsächsischen Kulturkreis hängen Legitimität und Unterstützung der politischen Systeme in Kontinentaleuropa stark von einem messbaren materiellen Output der politischen Verfahren für die Bevölkerung ab.
-Die Demokratieakzeptanz orientiert sich gerade auch in Deutschland an der Summe wohlfahrtsstaatlicher Schutz-, Vorsorge- und Transferleistungen. Freilich können die politischen Herrschaftsträger ihrem Volkssouverän solche Wohltaten nur gewähren, wenn und solange es überhaupt ein volkswirtschaftliches Mehrprodukt zu verteilen gibt. Unter den o. a. Bedingungen wirtschaftlicher Globalisierung wird jedoch die bisherige Verteilungslogik prekär, weil das wirtschaftliche Mehrprodukt nun in beliebige Volkswirtschaften eingespeist und dem nationalen Haushalt entzogen werden kann.
-Entsprechend dieser Logik sind in den vergangenen zehn Jahren die Steuereinnahmen aus Unternehmensgewinnen erheblich gesunken, während die Abgabenlast der Arbeitnehmer immens gestiegen ist. Befindet sich die Wirtschaft gleichzeitig noch in einer Anpassungskrise, die nur durch den rapiden Abbau von Arbeitsstellen zu meistern ist und somit neue Leistungsempfänger für den Staat erzeugt, kommt auch das politische System in eine Strukturkrise. Da dem materialistischen Politikverständnis der Bevölkerung von Seiten der politischen Elite immer weniger entsprochen werden kann, gerät das ganze politische System in einen Zustand reziproker Entfremdung
„‚Die Politiker‘ erscheinen einerseits ‚dem Volk‘ als distanziert und elitär, von den Problemen ‚der kleinen Leute’ hätte das politische Selbstversorgungssystem keine Ahnung; andererseits kommt ‚das Volk‘ ‚den Politikern‘ unzufrieden und ungerecht oder konsumverliebt vor und daher lenkungs- wie moralbedürftig. Vorwürfe der Cliquenwirtschaft und des Freizeitparks, der Bonzen und des Pöbels signalisieren, dass das Klima demokratischen Vertrauens gestört ist“ (Henning 1997)
-Umfrageergebnisse bestätigen, dass die Bevölkerung mehrheitlich keiner der beiden Volksparteien mehr die Lösung der wichtigen Probleme, insbesondere der Arbeitslosigkeit, des Ausländerzustroms und der Kriminalität, zutraut. Der wirklich systemgefährdende Kern der politischen Strukturkrise liegt in dem Umstand begründet, dass Regierung und Opposition in Deutschland gleichermaßen an Vertrauen verlieren. Dabei findet das pauschale ‚Herunter-Kritisieren’ der Parteien statt, ohne dass funktionale Äquivalente in Sicht wären.
-Neue intermediäre Instanzen im Sinne des Kommunitarismus oder gar die heute vielbeschworene ‚Bürgergesellschaft’ sind jedenfalls empirisch unauffindbar. Eher das Gegenteil lässt sich konstatieren: nicht nur die Parteien, sondern auch die anderen intermediären Instanzen politischer Interessenvermittlung und Integration, wie Vereine, Kirchen und Verbände, leiden an Vertrauensverlust und Mitgliederschwund. Die zivile Vermittlung von Staat und Gesellschaft erodiert und macht einer rebellischen Unzufriedenheit Platz, die sich in linker wie rechter Protestwahl niederschlägt
-Henning stellt seinen Fokus auf das Potential der rechten Protestwähler ein und entdeckt hier das Weltbild des ‚wohlstandschauvinistischen Isolationismus’, das eine starke Analogie zu dem von Dörre beschriebenen ‚Arbeiternationalismus’ im Wirtschaftssystem aufweist. Dem politischen Wohlstandschauvinismus liegt die Auffassung zugrunde, dass die ohnehin schrumpfenden Verteilungsleistungen des Wohlfahrtsstaates nach Kriterien ethnischer Zugehörigkeit verteilt werden sollten.
—>Nur diejenigen, die als Deutsche in Deutschland den gesellschaftlichen Reichtum erwirtschaftet haben, sollten auch Adressaten und Nutznießer des volkswirtschaftlichen Mehrprodukts in Form wohlfahrtsstaatlicher Leistungen sein. Den unzufriedenen Rebellen unter den Wählern ist zumeist der singuläre Akt der Protestwahl bereits Protest genug.
-Das politische System Deutschlands leidet unter einer latenten Strukturkrise der Politik, die auf absehbare Zeit nicht – und vielleicht auch nie wieder – in der Lage sein wird, ihre Legitimität auf einen stetig wachsenden wohlfahrtsstaatlichen Output zu gründen. Henning sieht deshalb für die Zukunft der politischen Demokratie in Deutschland keinerlei Anlass zu Optimismus, denn:
„Tendenziell sprechen die ... Befunde dafür, dass ein wohlstandschauvinistischer Isolationismus Chancen hat, den Mehrheitstenor zu bestimmen. Diese Haltung überlässt das politische System den (Berufs-)Politikern, schwört den Leitbildern des Gesellschaftsvertrags und Allgemeinwohls ab, fühlt sich angesichts der schlimmen Weltlage und des Versagens der Politik legitimiert, das Schicksal in die eigenen Hände zu nehmen“ (Henning 1997)
—> Blanker Eigennutz und Tribalismus treten letztlich an die Stelle von Politik.
-Die dem Menschen heute mögliche Sicht und Interpretation von Welt ist in vielen Bereichen eine durch Medien – zumal durch Massenmedien – konstruierte. Massenmedienkommunikation ist zu einem globalen, transkulturellen Phänomen geworden: vor allem via TV konstatieren und konstituieren Massenmedien eine Weltgesellschaft. Das Fernsehen trägt gleichermaßen zu psychosozialen Entdifferenzierungs- und Differenzierungsprozessen seiner Rezipienten auf der ganzen Welt bei.
- Eine Entdifferenzierung im Sinne von kultureller Angleichung findet statt, da durch die medial vermittelten Lebensmuster – dies sind vor allem die Lebensmuster des nordamerikanischen way of life – auf der ganzen Welt ähnliche Bedürfnisse, Erwartungen und Ansprüche an das Leben geschaffen werden. Parallel dazu lassen sich Differenzierungsprozesse im Sinne von Individualisierung oder Abweichung beobachten: „Getragen von den Medien, differenzieren sich zunehmend die Sinnangebote und Sinnproduktionen aus, und es entstehen neue ‚Sinnmärkte‘. Gleichzeitig differenzieren sich Sozialwelten in ‚Subwelten‘, in denen Interessen spezialisiert und Sonderkommunikationen entwickelt werden“ (Sander/Meister 1997)
-Gefördert werden diese Differenzierungsprozesse durch die Kommerzialisierung des Fernsehens und die damit einhergehende wachsende Zahl privater TV-Anbieter. Anders als beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen in Deutschland haben zivilgesellschaftliche und staatliche Institutionen bei den Privaten keinen Einfluss auf die Programmgestaltung. Die Medieninhalte des Privatfernsehens orientieren sich somit nicht an Gemeinwohlvorgaben, sondern an Marktanteilen bei den in den Sendungen platzierten Werbeblöcken, durch die sie sich finanzieren. Dies hat selbstverständlich gravierende Folgen für die Medieninhalte und die Art ihrer Präsentation:
„Charakteristisch für die Neuerungen in den privaten Programmen ist die Inszenierung von Normabweichung als Information und die Präsentation von Sensation als Unterhaltung. In Teilbereichen der privaten Programme, und zwar deutlicher bei RTL als bei SAT 1, zeichnet sich damit eine neue Strategie der qualitativen Programmoptimierung nach emotionalen Wirkungsfaktoren ab, die sich psychologische Regeln der Aufmerksamkeitserregung zunutze macht. Soweit diese Strategie nach dem Rezept verfährt, das beispielsweise für die Konzeption von Reality-TV maßgeblich ist, wird der Erfolg weniger an der Sozialverträglichkeit oder am Dienst für das Gemeinwohl gemessen als an der Optimierung eines bis zur Abnutzung einsetzbaren Programmprodukts mit Rating-Vorgabe pro Sendeplatz“ (Krüger 1993: 266).
-Die leicht konsumierbare Verpackung von politischen Nachrichten und Informationssendungen als ‚Infotainment’ hat weitreichende Auswirkungen auf die Entwicklung der politischen Kultur in Deutschland; Sander und Meister belegen eine fatale, auf lange Sicht anomiefördernde Symbiose von Massenmedien und Politik, die sich in Formen ‚symbolischer Politik’ und der Inszenierung politischer ‚Pseudoereignisse’ manifestiert. Eine weitere anomieträchtige Tendenz des heutigen Massenmediensystems besteht in der beispiellosen Steigerung von Sensations- und Gewaltdarstellungen. Auf Seiten der Rezipienten kann dies zu Ängsten, Unsicherheitsgefühlen und ‚globalem Anomieverdacht’ mit Blick auf jedes beliebige private oder gesellschaftliche Ereignis, bis hin zu nachahmendem abweichendem Verhalten führen.
-Sander und Meister betonen jedoch, dass die Auswirkungen von Massenmedien wie dem Fernsehen nicht an sich anomisch sind, sondern die tatsächlich durch sie induzierte Anomie letztlich von den Rezeptionskontexten der Zuschauer abhängt. Ist dieser Kontext bereits von den Randbedingungen einer normativen Regulierungskrise und einer Kohäsionskrise im familiären Bereich erfasst, ist es wahrscheinlich, dass diese Krisen durch das Anomiepotential der Massenmedien noch verstärkt werden, wenngleich sich hier keine unmittelbare, wissenschaftlich haltbare, Korrelation messen lässt
-In Deutschland, wie in vielen anderen westlichen Industrieländern auch, lässt sich seit Beginn der 60er Jahre eine Pluralisierung von Werten beobachten. Die ‚materialistischen’ Werte der Kriegs- und Wiederaufbaugeneration, wie Fleiß, Disziplin, Pflichterfüllung und Bescheidenheit sind bei der
Generation der Nachkriegsgeborenen in Misskredit geraten. Letztere haben ‚post-materialistische’ und individualistische Orientierungen wie Autonomie, Emanzipation, Genuss- und Selbstverwirklichung etc. an deren Stelle gesetzt.
- Immer mehr normative Orientierungen werden abgelehnt oder zumindest kontrovers beurteilt. Im Gegenzug werden Handlungen, die vormals als sozial abweichend eingestuft und sanktioniert wurden, wie z. B. Schwarzarbeit, Graffiti auf Wände und Bahnwaggons etc. sprühen, verbale Aggression im Straßenverkehr, Beschmutzen öffentlicher Verkehrsmittel, öffentliche sexuelle Selbstdarstellung ohne Rücksicht auf anderer Leute Schamgefühle und vieles mehr zur Selbstverständlichkeit:
„Wer sie kritisiert und hiermit direkt oder indirekt auf die vermeintlich noch bestehende Norm hinweist, sieht sich unerfreulichen Reaktionen ausgesetzt und muss sich wahlweise als ‚Dummkopf‘ und ‚Ersatz-Polizisten‘ oder als ‚Nörgler‘ und ‚Querulanten‘ beschimpfen lassen. Nicht die abweichende Person, sondern die sie kritisierende muss sich rechtfertigen. Die Kontrolle liegt in dieser Situation bei der abweichenden und nicht bei der kritisierenden Person. Offensichtlich haben sich diesbezüglich die Normen so stark geändert, dass nun der Kritiker als Abtrünniger gilt“ (Friedrichs 1997)
-Am Ende einer solchen Entwicklung, in der es der um die soziale Ordnung besorgte Akteur ist, der mit Sanktionen von Beschimpfung bis zur Körperverletzung rechnen muss, steht zweifellos die vielbeklagte ‚Wegschau-Gesellschaft’. Neben Ordnungswidrigkeiten veranlassen hier auch Vandalismus und Gewaltverbrechen auf öffentlichen Plätzen und in Regionalzügen und Straßenbahnen niemanden mehr zum Einschreiten. Sind die Fundamente der Normkontrolle erst einmal erschüttert, weil jeder gutgemeinte Disziplinierungsversuch ein unkalkulierbares Risiko darstellt, zielt auch der politische und publizistische Ruf nach ‚mehr Zivilcourage’ ins Leere. Ein Grund für die als Regulationskrise bezeichnete normative Anomie ist darin zu sehen, dass die heute vorherrschenden individualistischen Wertorientierungen nicht gemeinwohlorientiert, sondern egozentriert sind. Sie kommen im Kleid der Freiheit daher und bedeuten häufig Willkür
„Individualisierung heißt höhere Ansprüche, stärkeres Ausleben der Wünsche, weniger Rücksichtnahme auf andere/das Kollektiv. Wenn nun das individuelle Handeln, die individuelle Zielverfolgung zunehmen, steigt auch die Überzeugung, man habe ein Recht auf Zielverfolgung/Selbstverwirklichung. Wird dieser Anspruch eingeschränkt, sei es durch eine Einzelperson oder den Staat, sei es durch den Rückgriff auf Normen oder Gesetze, kommt es zu aggressiven Auseinandersetzungen“ (Friedrichs 1997)
—> Mit der Pluralisierung der Normen und Werte einher geht eine Differenzierung der deutschen Gesellschaft in verschiedenste Subkulturen und Lebensstilenklaven. Dies hat die paradoxe Wirkung, dass in dem gleichen Maße, in dem die informelle soziale Kontrolle in der Gesamtgesellschaft sinkt und die Normabweichung im öffentlichen Raum insgesamt steigt, die Rigidität von sozialer Kontrolle und Sanktionierung ganz spezifischer Normabweichungen in den Subkulturen und Lebensstilgruppen zunimmt.
-In der Summe zeigen die angeführten Fallstudien eine hohe Evidenz für Heitmeyers Diagnose, dass in der deutschen Gesellschaft die regulierenden und integrierenden Kräfte der Solidarität nachlassen und anomische Krisen zunehmen. Zu kontroversen Beurteilungen kommt es bei den Autoren der beiden Sammelbände hinsichtlich der Frage, ob sich die diagnostizierten Krisen weiter zuspitzen und – wie Heitmeyer meint – den Zusammenhalt der modernen Gesellschaft insgesamt gefährden, oder ob sie nicht eher als ein Indiz für die Rückkehr zu gesellschaftlicher Normalität nach einer atypisch konfliktarmen Nachkriegszeit zu werten sind.
-Für Heitmeyer selbst spiegelt sich jedenfalls in den empirischen Studien noch nicht einmal die Spitze des Eisbergs gesellschaftlicher Desintegration in Deutschland. Er weist darauf hin, „dass die empirisch ermittelten Tatbestände das ganze Ausmaß der dramatischen Entwicklung nur unvollkommen abbilden können, da diese in der Regel in vollem Ausmaß erst zeitversetzt aufbrechen“ (Heitmeyer 1997)
-Was die skizzierten Desintegrationskrisen so gefährlich macht, ist laut Heitmeyer deren Überlagerung mit gleichzeitigen ethnisch-kulturellen Konflikten, die aus der hohen Zuwanderung von Ausländern nach Deutschland resultieren. Seit Mitte der 80er Jahre „verbinden sich Desintegrationserfahrungen für Angehörige der Aufnahmegesellschaft und Integrationshemmnisse für Angehörige der Einwanderergesellschaft“ (Heitmeyer 1996). In Anlehnung an Albert O. Hirschmans Dichotomie der teilbaren und unteilbaren Konflikte – erstere entzünden sich an verhandelbaren materiellen, letztere an unverhandelbaren kulturellen issues – sieht Heitmeyer zunehmend unteilbare Konflikte zwischen Einheimischen und Einwanderern auf Deutschland zukommen
-Das funktionale Differenzierungsprinzip moderner Gesellschaften hat nicht – wie einige Klassiker der Soziologie glaubten – die Probleme stratifikatorischer und ethnischer Schichtung überwunden. Noch das soziologische Theorem der ‚cross-cutting-cleavages’ aus den 70er Jahren ging davon aus, dass der im Zuge der Modernisierung eröffnete Zugang von immer mehr Menschen zu funktionalen Teilsystemen und Organisationsmitgliedschaften in eine Überkreuzung von Interessen münden würde, die ethnisch-kulturelle Kategorien überlagern und dauerhaft zivilisierte Konfliktregulierungen etablieren könnte.1 Funktionale Differenzierung hat aber im Gegenteil die unteilbaren Konflikte noch verschärft, da sie gleichzeitig mit einer Verunsicherung tradierter kultureller Sinnbestände hohe Mobilität und Migration erzeugt hat, die bei dem hohen Tempo des Strukturwandels in der Wirtschaft zu neuem Nationalismus, religiösem Fundamentalismus und Rassenhass führen kann:
„Das empirische Ergebnis scheint eindeutig: Modernisierung hat statt zur Einebnung ethnischer Unterschiede zu ihrer Verschärfung beigetragen .... Im Vertrauen auf die funktionale Differenzierung der Gesellschaft zur sozialverträglichen Regulierung des Zusammenlebens spiegeln sich einerseits die Überbetonung einer ‚technokratischen‘ Moderne und andererseits die ‚halbierte‘ Moderne, die beide die gewaltförmigen Energien in der Kultur und damit in den Identitätsprozessen unterschätzen“ (Heitmeyer 1996
-Dass die heutige deutsche Gesellschaft dennoch mit dem gewachsenen Konfliktpotential leben kann, verdankt sie ihrer Fähigkeit zur Interdependenzunterbrechung. Anomie im Bereich eines gesellschaftlichen Teilsystems, im Bereich bestimmter Organisations- und Institutionenstrukturen oder auch individuelle Anomie bei einer Vielzahl von Einzelpersonen hat heute – im Gegensatz zu der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts, die Durkheim beschrieb – sehr viel geringere Auswirkungen auf die Stabilität der Gesamtgesellschaft:
„Anomische Tendenzen in Funktionsbereichen wie Schule, Arbeitsmarkt oder Politik oder anomische Spannungen bestimmter Bevölkerungsgruppen (Arbeitslose, neue Arme etc.) werden durch unterbrochene Interdependenzverhältnisse ‚eingeklammert‘ und greifen nicht mehr zwangsläufig gesamtgesellschaftlich um sich. Die Metapher der Zwei-Drittel-Gesellschaft kennzeichnet eine solche Interdependenzunterbrechung“ (Bohle et al.)
-Funktionale Differenzierung hat den Sprengsatz der ‚alten’ Moderne, die stratifikatorische Differenzierung von oben und unten, durch die Dichotomie von Inklusion und Exklusion bzw. ‚in’ und ‚out’ ersetzt (Heitmeyer 1997). Im Wirtschaftssystem z. B. ist das zentrale Problem heute nicht mehr die Ausbeutung und Entfremdung in Arbeitsorganisationen, sondern, viel grundlegender, der Zugang zur Mitgliedschaft in einer Arbeitsorganisation überhaupt.
-Die Interdependenzunterbrechung zu den vom gesellschaftlichen Reproduktionskreislauf Ausgeschlossenen wird in Deutschland bislang durch wohlfahrtsstaatliche Kompensationsleistungen (z. B. in Organisationen der Arbeitslosen- und Sozialhilfe, durch Sozialpädagogik etc.) aufrechterhalten.
-Die Legitimität wohlfahrtsstaatlicher Leistungen zugunsten der ‚Outsider’ schwindet jedoch zunehmend in den Augen derer, die noch ‚in’ sind und für Transferleistungen steuerlich zur Kasse gebeten werden. Die Angehörigen der Mittelschicht – Stabilitätsanker einer jeden modernen Gesellschaft – müssen heute härter und länger arbeiten als früher, um ‚in’ zu bleiben; auch sie fühlen sich zunehmend vom Abstieg in den Kreis der ‚Outsider’ bedroht, neigen aber dazu, dies als individuelles Schicksal und nicht als strukturelles Problem zu betrachten
-Die Politik verspricht der Mittelschicht Abhilfe durch Abschaffung oder, euphemistisch ausgedrückt, den ‚Umbau’ des Wohlfahrtsstaates. Die gesellschaftsstabilisierende Funktion des Wohlfahrtsstaates als Interdependenzunterbrecher für die Ausweitung anomischer Prozesse bleibt dabei unberücksichtigt. Werden jedoch keine funktionalen Äquivalente zur wohlfahrtsstaatlichen Kompensation der Anomieprobleme gefunden, gelingt die (Wieder-)Eingliederung oder wenigstens die Ruhigstellung der ‚Outsider’ nicht, dann könnte sich Anomie – wie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in Europa geschehen – vom allgegenwärtigen Schatten der Moderne zu einer ernsthaften Bedrohung der modernen Gesellschaft als einer funktional differenzierten und freiheitlich-demokratisch verfassten Gesellschaft ausweiten
-Max Weber befürchtete Anfang dieses Jahrhunderts, dass immer mehr Bereiche der Gesellschaft nach Maßgaben rationaler bürokratischer Systeme organisiert würden, so dass sich die Menschen schließlich – in den Worten von George Ritzer – „in einem eisernen Käfig des Rationalen wiederfinden, aus dem es kein Entkommen … geben könnte.“
Um „Weber zeitgemäßer zu interpretieren“ , wählt Ritzer den Begriff der McDonaldisierung. Diese hat nach seiner Ansicht „ein breites Spektrum von Unternehmen und sogar die gesamte Lebensweise in einem beträchtlichen Teil der Welt beeinflußt“, und zwar hinsichtlich Effizienz, Berechenbarkeit und Vorhersagbarkeit; Kriterien, die auch für Weber moderne Bürokratie kennzeichnen.
-Ritzer sieht dabei McDonalds „als ‚Modellfall‘ für einen weitreichenden Vorgang, den ich McDonaldisierung nenne; das ist der Vorgang, durch den die Prinzipien der Fast-food-Restaurants immer mehr Gesellschaftsbereiche in Amerika und auf der ganzen Welt beherrschen“ .
—>Mit anderen Worten: Es wirken sich heute bürokratische Prinzipien wie Effizienz, Berechenbarkeit und Vorhersagbarkeit nicht nur in den modernen Schnellrestaurants aus, „sondern auch auf die Ausbildung, Arbeitswelt, Reisen, Freizeitgestaltung, Ernährung, Politik, Familie und praktisch sämtliche anderen gesellschaftlichen Bereiche.“ Die Menschen unterwerfen sich immer mehr einer formalen Rationalität:
„Man läßt also nicht zu, daß der einzelne sich seiner eigenen Hilfsmittel bedient, wenn er nach dem besten Weg sucht, um eine Aufgabe zu erfüllen, sondern es gibt Regeln, Vorschriften und Verfahrensweisen, welche die optimale Methode entweder vorherbestimmen oder bei ihrer Entdeckung helfen.“
—>Diese Passage deutet Ritzers Gegenwartsdiagnose an: Die moderne, McDonaldisierte Welt ist eine extrem verwaltete, bürokratische Welt, in welcher die Menschen keine eigenen Entscheidungen mehr treffen, sondern dies den Vorschriften und Verfahrensweisen überlassen, die von Organisationen stammen.
„In einer McDonaldisierten Gesellschaft neigen Menschen zu Tätigkeiten, die zu der effizienten Kategorie zählen, und andere, die als ineffizient gelten, werden vermieden. Dabei wird zwischen den Dingen, die man für effizient hält, kaum differenziert. Zum Teil ist das eine Erklärung für die Tatsache, daß das zu Hause zubereitete Mikrowellengericht den Umsatz der Fast-food-Restaurants nicht nennenswert beeinträchtigt.“
- Insgesamt ist die Zubereitung der Speisen, die Inneneinrichtung und die Bedienungsmannschaft darauf eingerichtet, eine große Zahl von Kunden schnell durch das Restaurant zu schleusen. Kurze Zeiten bei der Zubereitung und dem Verzehr der Speisen werden als Maßzahlen des Erfolgs gerechnet, und der basiert auf einer extrem berechnenden Organisation. In vielen Schnellrestaurants, die wie McDonalds organisiert sind, müssen die Kunden nichts bezahlen, wenn sie noch nicht nach ein paar Minuten ihr Essen erhalten haben.
-Und selbst in einem kein fast-food anbietenden amerikanischen Restaurant kann ein europäischer Besucher beobachten, dass sowohl die Kellner als auch andere Gäste es kaum verstehen, wenn man mehrere Gänge gemütlich verzehren möchte – alles ist mehr oder weniger stillschweigend auf einen effizienten, d.h. schnellen Verzehr ausgerichtet. Eine solche „Kultur“ der Berechenbarkeit und Effizienz hat sich nach Ritzers Ansicht heute in allen Poren der Gesellschaft festgesetzt. Sie dehnt sich auf Lebensbereiche aus, die bislang „lebensweltlich“, nach Gefühl, Geschmack oder Sympathie, entschieden wurden und nicht nach Rationalitätsgesichtspunkten. Webers These vom „Gehäuse der Hörigkeit“ bringt diese Entwicklung für Ritzer auf den Punkt.
-Zum einen besagt die These, dass sich die Menschen selbst der Berechenbarkeit als einem neuen Imperativ der Kultur unterwerfen – dem zufolge sie z.B. auch in der Liebe auf die verwendete Zeit, auf einen möglichst geringen Mitteleinsatz achten, was natürlich einer echten Liebe zuwiderläuft. Zum anderen meint Ritzer, dass die Berechenbarkeit von McDonaldisierten Firmen ausgeht und entsprechend bekämpft werden kann. Dazu muss aber zunächst erkannt werden, dass die McDonaldisierung die Menschen geschickt in ihre rationale Organisation einspannt. Wenn etwa die Kunden selbst noch ihre Tabletts wegbringen müssen oder (wie in manchen Warenhäusern in den USA) selbst ihre Waren über Scannerkassen schieben sollen, dann werden sie Teil rationaler Maschinen, ohne für ihre Tätigkeiten bezahlt zu werden.
-Berechenbarkeit bedeutet also zweierlei. Für die Firma beinhaltet sie einen bis ins kleinste kalkulierten Umgang mit dem Produkt, bei Vertrieb und Vermarktung, was straffe Hierarchien und strenge Kontrollen verlangt. Für den Kunden beinhaltet Berechenbarkeit zunächst einmal die Illusion eines leistungsfähigen Produkts, das nicht nur in seiner Qualität immer gleich gut und überall jederzeit erhältlich ist, sondern auch viel fürs Geld bietet. Dieser Eindruck entsteht, weil etwa die Pommes-Frites bei McDonalds in kleine Tüten gequetscht werden, so dass sie oben immer etwas herausragen und nach „Mehr“ aussehen. In Wirklichkeit sei der Wert der Pommes gering, die Gewinnspanne erheblich und die Rechnung des Verbrauchers falsch: „Er bekommt eben nicht viel für wenig Geld.“
-Hier scheint sich nach Ritzer der Trend zu einer schnelllebigen Gesellschaft, die den geringsten Mitteleinsatz für die Zielerreichung fordert, immer mehr durchzusetzen, und zwar so, dass die Menschen auch dort plötzlich Geld und Zeit kalkulieren, wo sie es früher nicht taten. Wenn sie es tun, stützen sie sich nicht auf eigene Urteile, sondern auf Effizienzkriterien rationaler Organisationen. So werden andere, „lebensweltliche“ Entscheidungskriterien immer mehr in den Hintergrund gedrängt.
-Schließlich sieht sich kaum jemand mehr in der Lage, Familienfeiern oder Kindergeburtstage selbst auszurichten. Es erscheint einfacher, dies einer kompetenter erscheinenden Organisation zu überlassen oder z.B. die Lust an Reiseüberraschungen gegen Sicherheit, Standardisierung und Vorhersagbarkeit einzutauschen. Sogar in den Bereichen, in
denen es um Entspannung geht, setzen sich die Menschen nun unter Erfolgsdruck.
-Zweitens kommen nach Ritzer die Zeit- und Kostenvorteile, die mit der McDonaldisierung einhergehen, in Wirklichkeit nur den Firmen und weniger den Menschen zugute, auch wenn knappe Kalkulationen und große Gewinnspannen erst die massenhafte Verbreitung der Produkte ermöglichten. Die Kosten sind in Wirklichkeit viel größer, vor allem in kultureller Hinsicht, denn was in der rationalen Kalkulation immer weniger Platz findet, sind Gespräche, Plaudereien, individuelle Wünsche
—> Tatsächlich wird die Berechenbarkeit der Restaurantkette oft gesprengt, wenn man beobachtet, dass sich einige Besucher gemütlich stundenlang an einem einzigen Getränk oder einem Burger festhalten, obwohl die Sitzmöbel in den Schnellrestaurants offensichtlich bewusst so gestaltet wurden, dass man auf ihnen nicht längere Zeit verweilen mag.
-Nicht zu leugnen bleibt nach Ritzer, dass von den an Berechenbarkeit und Effizienz orientierten Organisationen ein neuer Impetus auf alle Lebensbereiche ausstrahlt. Auch wenn die Menschen die neuen Angebote nicht vorbehaltlos nutzen, so unterhöhlen diese doch die traditionellen Regeln der Lebensorganisation. In diesem Sinne zersetzt die McDonaldisierung alte Institutionen und Bräuche, ohne etwas Neues an deren Stelle zu setzen
-Insbesondere befürchtet Ritzer wie viele Amerikaner eine Zerstörung des Familienlebens; statt gemeinsamer Mahlzeiten, die ja auch eine zwanglose erzieherische Funktion haben, sitzt überspitzt gesagt jeder allein mit seinem Hamburger vor dem Fernseher, was einer Untergrabung der Familienautorität gleichkommt. Die McDonaldisierung beinhaltet in dieser Hinsicht einen Wertezerfall, sie lobpreist Rationalität als einzigen Wert, und es wird begründungspflichtig bzw. zur Ausnahme, wenn die Familie zu Hause kochen will, wo das gleiche Ziel doch bei McDonalds billiger und schneller erreicht werden kann. Auch wenn man diesen Rationalitätsimpuls angesichts von Hamburgern und Fritten, die bestimmt nicht jeder mag, leicht abtun könnte: Wer zieht es schon vor, seine Reise von A bis Z selbst zu planen, anstatt sie von einem Reisebüro buchen zu lassen? Ein solches Unternehmen ist, wie McDonalds, nichts anderes als eine riesige Bürokratie, die vorgibt, individuelle Bedürfnisse effizient zu befriedigen.
-Egal wo heute eine Reise hinführt, überall findet man die gleiche Dichte von Fast-food-Restaurants oder anderen McDonaldisierten Organisationen. Dies macht nach der Auffassung von Ritzer die Welt extrem vorhersagbar. Damit verbunden ist eine Standardisierung des Angebotes, die so recht nicht zu individualisierten Gesellschaften passen mag. Nicht nur Speisende, auch Reisende oder Zeitungsleser können in den Vereinigten Staaten an beinahe jedem Ort die gleichen Produkte bzw. den gleichen Service erwarten. Als Beispiel nennt Ritzer Hotelketten, die in Amerika mit dem flächendeckenden Verkehrsnetz entstanden. Während früher der Besuch eines Motels eine Art Abenteuer war – niemand wusste genau, was einen erwartet –, warben Hotelketten wie Holiday Inn oder Motel 6 sozusagen mit Vorhersagbarkeit und Sicherheit an jedem Ort der Welt, was Preise und den Unterkunftsstandard betrifft.
-Was Ritzer an all diesen Beispielen beobachtet, sind Menschen, die möglichst keine Überraschungen mehr erleben wollen. Dies mutet paradox an: Auf der einen Seite wollen Tausende Europa besuchen, steigen aber immer seltener aus dem Bus, um die Kultur wirklich kennenzulernen
-Die McDonaldisierung läuft bezüglich der Vorhersagbarkeit darauf hinaus, jegliches Erleben des Fremden zu verbannen, wenn es nicht geplant ist. Eine solche kulturelle Verarmung geht gleichzeitig einher mit einer massenhaften Verbreitung dieser „Einheits“-Kultur – im Prinzip kann sich heute jeder jederzeit Pauschalreisen leisten. Insofern lockt die McDonaldisierte Gesellschaft mit vorhersagbaren Annehmlichkeiten für alle
-weitere Beispiele:
Standardisierung der Universitäten- Studierende erwarten heute schon viel von standardisierten Vorgaben, die jedoch nur vordergründig befriedigen, weil sie eben nicht die ganze Universität ausmachen. Wenn schließlich immer mehr Universitätsbesucher auf jene „effizienten“ Erfolgsmöglichkeiten setzen, die ihnen mit den standardisierten Leistungsangeboten offeriert werden, sind sie immer weniger zu eigenen Erfahrungen mit dem schwierigen „Text“ der Universität bereit
- Ein wieder anderes Beispiel stammt aus der Medizin. Ähnlich wie für individuelle Beziehungen zwischen Professor und Student in der standardisierten Massenuniversität kaum mehr Platz ist, kann auch ein Arzt im Krankenhaus auf die individuellen Sorgen und Nöte seiner Patienten nur noch selten eingehen. Insofern sie unter einem starken Kostendruck „operieren“ müssen, tendieren Universitäten und Krankenhäuser dazu, bürokratische Maschinerien zu werden
—>Grundsätzlich gehe der Trend „von den unvorhersehbaren, subjektiven Entscheidungen des Arztes zur eher objektiven Beurteilung, die durch verschiedene hochkarätige technische Entwicklungen vorgegeben werden.“ In einem solchen System sind die Kunstfertigkeit eines Arztes oder der individuelle Wunsch eines Patienten Störfaktoren. Im Ausgleich versprechen gleichsam die Maschinen, dass alle Entscheidungen an allen Orten gleich ausfallen – aber dies ist wiederum nur eine der Fiktionen, mit denen die McDonaldisierung Akteure anzieht
-Die Dimension der Kontrolle ergibt sich aus den standardisierten, auf Effizienz und Berechenbarkeit ausgerichteten Arbeitsprozessen der McDonaldisierung. Eingespannt in fließbandförmige Arbeitsabläufe werden die Menschen Ritzer zufolge von Technologien und bürokratischen Regeln geführt, die ihnen sagen, was sie tun und lassen sollen. McDonaldisierte Unternehmen sind bestrebt, die von Menschen ausgehende Unsicherheit zu beseitigen, denn eine Firma, die Millionen Brote maschinell backt, kann es sich nicht leisten, wenn ein Bäcker die Brote mal etwas dunkler und mal etwas heller ausfallen lässt.
-Tatsächlich werden in den modernen Produktionsstätten die wichtigsten Arbeitsschritte technologisch gesteuert und durch Maschinen ausgeführt. Und die Technologien übernehmen auch eine – nun indirekte – Kontrolle der Tätigkeiten, die in traditionellen Arbeitsorganisation noch face to face zwischen Vorgesetzen und Untergebenen ausgeübt wurde. Wenn in der bis ins Kleinste durchorganisierten Produktion ein Teil nicht zur rechten Zeit am rechten Platz ist, kommt der Arbeitsablauf ins Stocken, und deshalb ist das kontrollierte Ineinandergreifen das A und O
-Die starke technologische Durchsetzung McDonaldisierter Betriebe macht zudem qualifizierte Fachkräfte weitgehend überflüssig – man benötigt keine Facharbeiter mehr, um Pommes-Frites nach einem Klingelzeichen aus der Fritteuse zu nehmen, und der Arzt droht, wie erwähnt, zu einem Verteiler für die weitere „technologische“ Behandlung zu werden
-Darüber hinaus werden auch die Kunden in der McDonaldisierten Gesellschaft kontrolliert, beispielsweise, wenn sie durch die Organisation des Restaurants dazu angehalten werden, dieses möglichst schnell wieder zu verlassen, wenn Geräte angeben, wann Gerichte fertig sind, wenn Reiseleiter oder Diätpläne in Zeitschriften empfehlen, was man tun oder lassen sollte.
- Ähnlich kontrolliert werden die Menschen nach Ritzer durch die modernen Einkaufs- und Vergnügungsparks geschleust. Wenn es nach den McDonaldisierten Konsumangeboten geht, sind der individuelle Geschmack und überhaupt individuelle Wünsche störend. Denn die technologischen Wunderwerke a lá Disneyland behaupten, den Kunden viel effizienter, verbunden mit einem Erlebnisversprechen, von A nach B, d.h. von seinem Alltag in eine Reizlandschaft, überführen zu können.
—>Dahinter steht jedoch nach Ritzer nichts anderes als ein enormer bürokratischer Apparat, der den Kunden mit einem Netz von Vorschriften und Regeln kontrolliert. Wenn die Menschen dies nicht bemerken, sind sie in das „Gehäuse der Hörigkeit“ eingebunden.
-Nach der Ansicht von Ritzer ist die Effizienz versprechende Technologie letztlich inhuman. Sie wendet sich gegen den Menschen. Wenn sie im Zuge der McDonaldisierung auf das automatische Einchecken in Hotels warten, sich in Schlangen vor Bankautomaten einreihen, ihr Fastfood nach Herstelleranweisungen in der Mikrowelle zubereiten, Waren aus dem Katalog bestellen oder ins Fitnessstudio gehen, überlassen sie diese Bereiche des Lebens bürokratischen Organisationen und deren Regeln. Für die Individuen bedeutet die McDonaldisierung nicht mehr, sondern weniger Lebensqualität, insofern sie den Menschen außer der Konsumtion eigentlich alles abnimmt.
-Verlockend ist die McDonaldisierung deshalb, weil sie bei aller Vorhersagbarkeit und Eliminierung des Unbekannten gleichzeitig Erlebnis-, Unterhaltungs- oder Abenteueraspekte verspricht, die sie aufgrund der extremen Standardisierung jedoch nicht beinhaltet. Letzteres entspricht in gewisser Weise auch den Erfahrungen im Umgang mit der McDonaldisierung, denn im Prinzip ist man nach einem Hamburger nicht satt (obwohl er dies verspricht). Ob es sich um die institutionelle Organisation einer Nahrungsaufnahme, eines Kindergeburtstages oder eines Studiums handelt: irgendwie fühlt man sich hinterher nicht befriedigt.
- Genau deshalb kann man dazu gedrängt werden, entweder noch höhere Ansprüche an den Erfolg McDonaldisierter Organisationen zu stellen oder die Enttäuschungen, die in einem McDonaldisierten Lebensbereich entstehen, durch die Konsumtion McDonaldisierter Produkte aus anderen Bereichen auszugleichen. McDonaldisierte Gesellschaften bieten dabei eine ganze Kette von Möglichkeiten, die einander als Ersatzbefriedigungen dienen können (nach dem nicht ganz gelungenen Kindergeburtstag bei McDonalds fährt man das nächste Mal zu Disneyland oder reagiert sich im Fitness-Studio ab).
-Innerhalb der McDonaldisierung befriedigen natürlich auch die Ersatzbefriedigungen nicht richtig, da die McDonaldisierten Produkte zu einem gewissen Teil nur den Schein von Qualität vorspielen, so dass zu wieder anderen McDonaldisierten Produkten gegriffen werden muss, um sich Befriedigung zu verschaffen – unter dem Strich wird jedoch das unbefriedigende Gefühl nur verstärkt, was den Griff nach den Ersatzprodukten erneut stärker werden lässt etc
-Das Gesagte lässt sich als „Anspruchs-Enttäuschungs-Spirale“ der McDonaldisierung bezeichnen. Obwohl Ritzer diesen Begriff nicht verwendet, scheint genau darin eines der Erfolgsgeheimnisse der McDonaldisierung zu liegen.
-Der Kernmechanismus besteht darin, überhaupt von Organisationen etwas zu erwarten, was man früher selbst organisierte. Driften die Individuen einmal von ihren traditionellen Gewohnheiten ab bzw. öffnen sie sich einmal den Effizienz-Fiktionen der modernen Organisationen, dann warten gleichsam auf der Stelle hunderte solcher Organisationen mit solchen Fiktionen, die dann vom Einzelnen tatsächlich nicht mehr auf ihre wirkliche Effizienz überprüft werden können. Die Individuen haben gleichsam einen teuflischen Pakt mit den Organisationen geschlossen, wenn sie etwas von ihnen erwarten, denn dann können sie enttäuscht und in die Erwartungs-Enttäuschungs-Spirale hineingezogen werden.
-Um aus dem Mechanismus auszubrechen, müssten die Fiktionen der Effizienz, wie sie von den Organisationen verbreitet werden, durch ein Vertrauen in die eigene Urteilskraft ersetzt werden. Ist man aber an die McDonaldisierung und ihre Prinzipien erst einmal gewöhnt, nämlich mit den geringsten Mitteln das Bestmögliche schnellstens zu erreichen, dann erscheinen die Mühen eigener Wege und Entscheidungen tatsächlich als Entscheidungen, die unsichere Erfolge und Mühen beinhalten.
-Erst wenn die Kunden ihre eigenen Unlustgefühle in die Rechnung miteinbeziehen – was ja durch den effizienz- und erfolgversprechenden Konsum von McDonaldisierten Angeboten immer wieder hintangestellt werden kann –, wäre derjenige Zirkel entlarvt, der den McDonaldisierten Organisationen zugutekommt: dass nämlich Leistungsansprüche, die von Organisation erfüllt werden sollen, enttäuscht werden, was zu noch höheren Ansprüchen sowie zu abermaligen Enttäuschungen führt etc
-Zu der Anspruchs-Enttäuschungs-Spirale gesellen sich widersprüchliche Botschaften der McDonaldisierung, die ihre Durchschlagskraft auf kulturellem Gebiet erhöhen. Die erste Botschaft verspricht Vorhersagbarkeit, Effizienz, Berechenbarkeit und Risikolosigkeit, die zweite lockt mit Übersteigerungen, Erleben, Spaß und Risiko. Genau genommen ist diese zweite Botschaft den Angeboten nur äußerlich aufgeklebt, trägt aber maßgeblich zu der immensen Verbreitung der McDonaldisierung bei, denn der Unterhaltungswert des Produktes ist im Prinzip grenzenlos, während der Magen irgendwann mit Hamburgern gefüllt ist
—>Eine Interpretations-Variante, die man mit Adorno an Ritzer anschließen könnte, lautet: Die Akteure tun nur so, als würden sie die Scheinheiligkeit einer Massenkultur mitspielen, aber in Wirklichkeit durchschauen sie diese. In der McDonaldisierten Gesellschaft weiß man, dass die mit den Produkten verkauften Illusionen – die Größe des Hamburgers und sein vermeintlich geringer Preis, das „Erlebnis“ einer Pauschalreise – eben nur Illusionen sind. Aber man will wenigstens gut betrogen werden.
-Die McDonaldisierung und ihre technologischen Errungenschaften wie automatische Zapfhähne, Scannerkassen, vorgegebene Lehrpläne oder selbstkochende Suppen besitzen nach Ritzer dehumanisierende Auswirkungen, da sie Menschen auffordern, sich moderner Fließbänder zu bedienen, um Bedürfnisse schneller und damit „effizienter“ zu befriedigen. Über kurz oder lang werden auf diese Weise kulturell unterschiedliche Lebensweisen eingeebnet und, ausgehend von der Bürokratie, entindividualisieren sich die Menschen, insofern sie nichts Anderes mehr wollen als bequeme, McDonaldisierte Produkte.
-Obwohl der Grad der McDonaldisierung in einzelnen Bereichen unterschiedlich ist, so geht doch nach Ansicht von Ritzer der allgemeine Trend dahin, nicht mehr selbst Mittel und Ziele festzulegen, sondern dies Organisationen zu überlassen. Diese sind jedoch dazu genau genommen nicht in der Lage, denn Effizienz und Berechenbarkeit, Vorhersagbarkeit und Kontrolle sind nichts Anderes als organisationsinterne Kriterien. Aus der Sicht des einzelnen wird das Versprechen von Effizienz zunichtegemacht, wenn Tausende mit ihren Familien „mal eben“ zu McDonalds fahren wollen, dann aber im Stau stecken bleiben.
-Ziele und Mittel wählt das Individuum normalerweise nach sehr heterogenen Gesichtspunkten aus, was jedoch nicht automatisch weniger sinnvoll ist. Darauf nimmt die McDonaldisierung Rücksicht, denn in den standardisierten Produkten wird an der Oberfläche die bunte Vielfalt von Lebenswelten simuliert, ohne freilich an der Standardisierung des Kerns etwas zu ändern Auf der anderen Seite ahnen viele, dass dahinter das Ritual des Immergleichen steht, welches jedoch aus der Firmensicht geeignet ist, auch die Unsicheren und Ängstlichen an sich zu binden.
-So entgeht letztlich kaum jemand der McDonaldisierung. Aufgrund dieses Doppelspiels ist auch der Ausweg, den Ritzer am Ende des Buches angibt, nämlich McDonaldisierte Produkte einfach zu meiden, etwa Saisonprodukte zu kaufen, zu Hause zu kochen oder nicht zum McDentist zu gehen, kein gangbarer Ausweg. Denn der Doppelmechanismus, der den Ängstlichen „erlebnisreiche Sicherheiten“ und den Neugierigen „sichere Risikoerlebnisse“ bietet, ist so noch nicht ausgehebelt
-Zudem läßt sich, über Ritzers Analyse hinausgehend, eine Anspruchs-Enttäuschungs-Spirale erkennen, die durch Appelle nicht einfach zu umgehen ist. Werden die Erwartungen nach der Konsumtion McDonaldisierter Produkte nicht erfüllt, steht eine Vielzahl von Ersatzangeboten parat, die den Kunden unter dem Strich jedoch genauso unbefriedigt zurücklassen und ihn noch tiefer in die McDonaldisierung hineinlocken. Der Mechanismus wird nur durchbrochen, wenn in die Effizienzversprechen der McDonaldisierung auch die eigenen Unlustgefühle miteingerechnet werden. Wenn eigene Rationalitätsfiktionen mit denjenigen verglichen werden, die von den Organisationen stammen, lässt sich die Dominanz letzterer nicht mehr aufrechterhalten
-Insgesamt liefert Ritzer eine gesellschaftsbezogene Betrachtung von Organisationen, die Max Webers These vom „Gehäuse der Hörigkeit“ auf heutige Gesellschaften überträgt. Wie Weber sieht auch Ritzer in Effizienz und Wirtschaftlichkeit zentrale Triebkräfte, die zur Durchsetzung der McDonaldisierung geführt haben.
-Genauer als Weber beschäftigt er sich jedoch mit der Frage, warum die Menschen eine Gesellschaft wollen, die dem frei entscheidenden Individuum eigentlich entgegensteht. Eine erste Antwort lautet, dass die McDonaldisierung zu einem Wert an sich aufgestiegen ist, den die Menschen angenommen haben, ohne genauer nachzudenken; viele sind unter McDonaldisierten Lebensbedingungen sozialisiert worden und führen ihre Kinder wieder in diese Welt ein. Eine zweite Antwort ergibt sich aus der Betrachtung der Angebotsmechanismen: Die Versprechen von Effizienz, Berechen- und Vorhersagbarkeit appellieren unmittelbar an die inneren Entscheidungskriterien der Akteure und nehmen sie ihnen gleichzeitig mit Hilfe von Organisationen ab.
-So scheint sich auf der einen Seite Webers Prognose zu bestätigen:
„Er sah eine Gesellschaft voraus, in der die Menschen in eine Reihe rationaler Strukturen eingeschlossen sind und nur noch die Wahl haben, sich von einem rationalen System zum anderen zu bewegen. Sie würden sich also von einer rationalisierten Ausbildungsinstitution an einen rationalisierten Arbeitsplatz begeben und von einer rationalisierten Freizeiteinrichtung in ein rationalisiertes Zuhause. Letztlich gibt es dann keinen Ausweg mehr aus dem Rationalen …“
-Auf der anderen Seite beobachtet Ritzer Gegenbewegungen, etwa, wenn Firmen bewusst nicht mehr expandieren wollen und zu geschmackvollen Produkten zurückkehren, wenn Umweltschützer durch öffentliche Kampagnen die Schnellrestaurants zu einem etwas umweltfreundlicheren Verhalten zwingen, wenn Ärzte weniger verschreiben und zu persönlichen Beratungen zurückkehren oder wenn Gemeinden sich gegen eine weitere McDonalds-Filiale wehren. Ob dies mehr darstellt als bloße Schönheitsoperationen, ist zu bezweifeln, denn auch wenn z.B. regionale Anbieter wieder an Wert gewinnen, werden sie oft von größeren, McDonaldisierten Unternehmen geschluckt, die aber das alte Etikett beibehalten. So setzt sich die McDonaldisierung oft unterhalb einer vermeintlichen Angebotsvielfalt durch.
-Der flexible Kapitalismus wendet sich vor allem gegen Routinen des bisherigen Systems, die jedoch nach Sennett insoweit schützenswert sind, als sie geregelte Tätigkeiten und somit durchhaltbare Lebenserzählungen erlaubten. Enrico bewegte sich seit den sechziger Jahren in einer stabilen Routinezeit, die in einem fordistischen Arrangement zwischen Gewerkschaften, Kapital und Arbeit ausgehandelt wurde. Der Name dieser Produktionsweise ging auf die riesigen Fabriken à la Ford zurück, in denen sich alle zur Produktion benötigten Materialien unter einem Dach befanden und die Arbeiter von einer großen Zahl von Managern sowie den Gewerkschaften bürokratisch kontrolliert wurden.
-Entsprechend wurde auch die Zeit planbar gemacht. In einem solchen System können sich langfristige Erwartungen ausbilden, und es gibt viele Routinen, die zwar einerseits lähmend sind; andererseits verschaffen sie, wie Enrico zeigt, „einen sinnvollen Erzählrahmen“ für das Leben
-Sennett ist der Überzeugung, dass Menschen Alternativen überhaupt nur auf der Basis von Gewohnheiten und Bewährtem erproben können. Dafür benennt er mehrere Kronzeugen:
„Routine ist nicht geistlos. Diderot nahm an ..., die Wiederholung lehre den Menschen, eine gegebene Aktivität zu verändern. Der ‚Rhythmus‘ der Arbeit bedeutet, dass wir lernen, zu beschleunigen und zu verzögern, zu variieren, mit Material zu spielen und neue Verfahren zu entwickeln – genau wie ein Musiker lernt, beim Spielen eines Musikstücks die Zeit zu gestalten.“
-Den flexiblen Kapitalismus vor Augen, der gewissermaßen keinen Stein auf dem anderen lassen will, erscheinen auch die Routinen im Fordismus als schützenswerte Voraussetzungen für den menschlichen Charakter. Nach Sennett stehen wir derzeit vor einer „historischen Wasserscheide“ , denn einerseits tut der flexible Kapitalismus gut daran, allzu starre Zeit- und Arbeitsordnungen der fordistischen Großbetriebe aufzubrechen.
—>Andererseits schießt er dabei über das Ziel hinaus, insofern mit jeder Vergangenheit gebrochen werden soll. Dies wird, damit ein Betrieb modern und marktfähig sein soll, von den ‚Flexibilisierungsmanagern‘ gefordert, hat jedoch fatale Folgen für den Charakter, wie Ricos Beispiel zeigt.
-Das Motto des neuen flexiblen Kapitalismus, in dem Rico arbeitet, lautet: „nichts Langfristiges“ . Heute müsse ein junger Amerikaner damit rechnen, „in vierzig Arbeitsjahren wenigstens elfmal die Stelle zu wechseln und dabei seine Kenntnisbasis wenigstens dreimal auszutauschen“ – dies im Gegensatz zu traditionellen Laufbahnen, die gleichsam automatisch Schritt für Schritt weiterführten und Enricos Generation auf der Basis einer institutionalisierten Trias von Wirtschaft, Gewerkschaften und Staat eine stabile Zeitordnung bescherten. Für die jüngeren Generationen sei „‚nichts Langfristiges‘ ... ein verhängnisvolles Rezept für die Entwicklung von Vertrauen, Loyalität und gegenseitiger Verpflichtung“
-“. „Wenn ich Ricos Dilemma weiter fasse“, schreibt Sennett, „so bedroht der kurzfristig agierende Kapitalismus seinen Charakter, besonders jene Charaktereigenschaften, die Menschen aneinanderbinden und dem einzelnen ein stabiles Selbstgefühl vermitteln.“
-Was zwischen „den polaren Gegensätzen des Driftens und der festen Charaktereigenschaft eines Menschen fehlt, ist eine Erzählung, die Ricos Verhalten organisieren könnte.“ Erzählungen seien mehr als einfache Chroniken, sie gestalten vielmehr „die Bewegung in der Zeit, sie stellen Gründe bereit, warum gewisse Dinge geschehen, und sie zeigen die Konsequenzen.“ Die flexible Welt hat dagegen „weder ökonomisch noch sozial viel Narratives“ zu bieten. Während die neue Ökonomie auf das Schumpeter‘sche Ideal der kreativen Zerstörung setzt, würden die meisten Menschen Veränderungen nicht so gleichgültig aufnehmen. „Nichts Langfristiges“ als Motto des neuen flexiblen Kapitalismus bedroht die Fähigkeit der Menschen, „ihre Charaktere zu durchhaltbaren Erzählungen zu formen“ , und in der inneren Drift verliert sich der Sinn für Gemeinschaften.
-Die Organisation der Arbeit in diesem neuen flexiblen Kapitalismus wird nun von Sennett genauer betrachtet. Sein Ergebnis lautet: Dieser Kapitalismus beinhaltet eine noch größere Macht und Bürokratie als die, die er vorgab, zu bekämpfen. Er zerstört alte pyramidenförmige Hierarchien und setzt lockere Netzwerke dagegen, die jedoch erst recht zur Macht und zu stärkeren Kontrollen einladen. Im Endeffekt sind die Beschäftigten deshalb nicht engagierter oder besitzen mehr Freiheit, sondern sind stärker kontrolliert sowie überdies noch entwurzelt. Drei Elemente auf der Institutionenebene sind für einen solchen Prozess verantwortlich:
1. Diskontinuierlicher Umbau von Institutionen: Moderne Manager versuchen, Firmen zu einer radikalen Marktanpassung zu bewegen, insofern sämtliche Erfahrungswerte aufgegeben werden sollen. Hier liegt ein entscheidender Kritikpunkt des Autors, denn nach seiner Auffassung bedarf jede Innovation eines stabilen Fundamentes in Gewohnheiten. Die Zauberformel für Umstrukturierungen nach neoliberalem Modell heißt dagegen Reengineering. Sie zielt erstens darauf, durch Einsparungen und Verschlankung mit weniger Menschen mehr zu produzieren, so dass es zu Entlassungen kommt. Ricos Fall muss nach Sennett um die zunehmende Zahl jener Personen aus den Mittelschichten ergänzt werden, die mit Phasen der Arbeitslosigkeit zu kämpfen haben; sie sind einer Dequalifizierung zum Opfer gefallen, die ihnen das Gefühl der Nutzlosigkeit gibt, obwohl sie einen hohen Ausbildungsstandard besitzen. Zweitens beinhaltet Reengineering für die Noch-Beschäftigten den Druck, alle routinisierten Arbeitserfahrungen über Bord zu werfen.
2. Flexible Spezialisierung der Produktion:
Die ehemals monolithischen Großfirmen des Fordismus lagern Inseln von kleineren Zulieferfirmen um sich, die innerhalb von Wochen, ja sogar Tagen auf innovative Nachfragen reagieren können. Der Markt wird in viele kleine Segmente unterteilt. Jedes Segment soll von einer Unternehmenseinheit bedient werden, wobei die Beschäftigten unmittelbar dem Marktdruck ausgesetzt sind. Jeder Einheit gibt man nach Ansicht eines IBM-Betriebsrates die Weisung: „Tut was ihr wollt, aber ihr müsst profitabel sein“ (Glißmann 1999). Und unter dem Druck dieser maßlosen, zugleich jedoch unspezifischen Profiterwartung liegt es nahe, dass bei den Beschäftigten systematische Gefühle des schlechten Gewissens entstehen. Weil aus der Firmensicht im Prinzip nie genug am Markt abgesetzt werden kann, gehören charakterliche Selbstvorwürfe („Liegt es vielleicht doch an mir?“) zum Produktionsfaktor.
3. Konzentration der Macht ohne Zentralisierung: Der flexible Kapitalismus behauptet, er dezentralisiere Macht und gebe den einzelnen mehr Kontrolle. In Wirklichkeit würden die modernen elektronischen Informationssysteme der Führungsetage ein derart umfassendes Bild liefern, dass man kaum Möglichkeiten hat, „sich innerhalb des Netzwerkes zu verstecken“. Neue Produktionsformen beinhalten eine subtile Machtkonzentration, weil sie unsichtbar ist. Auf der Mesoebene behält das Großunternehmen „das wechselnde Ensemble abhängiger Firmen fest im Griff und gibt Einbußen ... an seine schwächeren Partner weiter.“ Und auf der Mikroebene trifft immer noch die Führung die Entscheidung, welches der vielen Teams den Auftrag übernimmt. Jede Einheit kann zwar formell frei entscheiden, wie sie Gewinnvorgaben umsetze, doch dies sei „eine vorgegaukelte Freiheit“, denn flexible Organisationen würden Ziele oft sehr hoch setzen, so dass die Einheiten unter dauerndem Druck stehen, „weit mehr zu produzieren ..., als in ihrer unmittelbaren Macht steht“ .
—>Die Macht im flexiblen Kapitalismus ist also potenziert worden, u.a. weil sich die vielen Teams gegeneinander ausspielen lassen. Und weil flexible Arbeitsplätze knappe Güter sind, um die konkurriert wird, kann dies wiederum machtstrategisch genutzt werden. Schließlich macht die offizielle Ideologie des guten Teamworks es schwerer, Machtkonzentrationen überhaupt anzusprechen.
-Das ideale Menschenbild des flexiblen Kapitalismus, „die Fähigkeit, sich von der eigenen Vergangenheit zu lösen“, trifft in Wirklichkeit nur für die Industrieführer zu, etwa Bill Gates, der Sennett zufolge seine gewaltige Firma von einem Augenblick auf den anderen auf das Internetgeschäft umschwenken ließ. Anders Menschen wie Rico. Er hat zwar im flexiblen Kapitalismus Erfolg, leidet aber dadurch an Unsicherheit und Entwurzelung. Rico arbeitet in immer neuen flexiblen Netzwerken, die einer größeren und unsichtbaren Macht unterworfen sind. Zwar sieht die Flexibilisierung wie die Befreiung von Macht- und Bürokratisierungszwängen aus.
—>Aber in modernen Organisationen, „die Konzentration ohne Zentralisierung praktizieren, ist die organisierte Macht zugleich effizient und formlos.“ Für den einzelnen bedeutet dies permanente Unsicherheit.
-Jederzeit kann es neue Zielvorgaben geben, die mit dem Zwang zum Umziehen verbunden sein können, also tief in persönliche Lebenskonzepte eingreifen. Eine ‚moderne’ Organisation braucht dabei Macht nicht mehr wir früher offen auszuüben. Sie beobachtet nur die Bereitschaft zur Flexibilität. Wer sich ihr nicht unterwirft, ist ‚draußen’. Und wer sich ihr unterwirft, muss mit dem unsicheren Leben eines „Drifters“ rechnen.
-Beispiel Modernisierung von Bäckereien:
Da Brot im Zuge der Automatisierung gleichsam ein Bildschirmsymbol geworden sei – Brotsorten können per Mausklick gewählt werden –, stehen die Arbeitenden manchmal kopflos herum, wenn die Maschinen nicht funktionieren. „Als programmabhängige Arbeitskräfte“ besitzt die Mannschaft „kein praktisches Wissen.“ Häufig würden die Leute nach Hause gehen, „wenn gerade eine missglückte Ladung aus dem Ofen kommt“, die dann in Mülltonnen landet, was der früheren verantwortungsvollen Belegschaft nicht passierte. Nun ist nur noch der Vorarbeiter „wütend über die blinde Gleichgültigkeit“ , mit der die Tätigkeiten verrichtet werden. Man interessiert sich aufgrund der Computerisierung kaum für die Arbeitsabläufe. Und im Vergleich zu früher herrscht auch keine klare Vorstellung darüber, was ein guter Arbeiter ist. Diese Entwicklung fasst Sennett mit ‚Unlesbarkeit’ zusammen:
„Wie mir klar wurde, ist es die Benutzerfreundlichkeit der Bäckerei selbst, welche zum Teil die Verwirrung der Menschen verursacht, die backen, sich aber nicht als Bäcker fühlen. Bei jeder Arbeit, von der Bildhauerei bis zum Kellnern, identifizieren sich die Menschen mit Aufgaben, die sie herausfordern.“
-Die neue Arbeitsordnung brüstet sich jedoch gerade damit, durch Abläufe, die einfach und sofort verständlich sind, alle Schwierigkeiten eliminiert zu haben. Es entsteht ein „schreckliches Paradox“ , weil man die Arbeit erleichtert, aber sich dadurch niemand mehr an sie gebunden fühlt. So sind die flexiblen Bäcker*innen dazu verurteilt, „an der Oberfläche zu bleiben“. Die berufliche Identität der Bäcker*innen driftet in Richtung einer Identitätslosigkeit. Kaum jemand ist an Bindungen zur Arbeit oder an sozialen Bindungen interessiert, die sich aus ihr ergeben könnten. Was während der Arbeit eigentlich vor sich geht, bleibt den Menschen verborgen. Diese „Trennung macht es den Menschen schwer, die Welt um sich herum und auch sich selbst zu ‚lesen‘“
-In der Werbeagentur sind offensichtlich überwiegend jüngere Menschen tätig gewesen, denen man keine längerfristigen Stellen angeboten hat. So sehen sie sich nicht in der Lage, Loyalität und längerfristige Bindungen aufzubauen. Sie verstehen, ganz anders als die älteren Beschäftigten, ihren Job nur noch als Sprungbrett, um Kontakte zu knüpfen, aus denen sich vielleicht wieder andere Jobs ergeben. Verallgemeinert heißt dies: Im flexiblen Kapitalismus muss sich der einzelne gleichsam fortwährend umtopfen. Und es wird jenseits aller biographischen Erfahrungen verlangt, Risiken einzugehen, und zwar sowohl am einzelnen Arbeitsplatz als auch bei Wechseln zwischen Arbeitsplätzen – niemand weiß genau, wie sicher der nächste Job sein wird. Der Erfolg von Strategien wäre vielleicht erkennbar, würden nicht immer neue Risikoeinsätze einander ablösen
-Der einzelne gerät damit in eine Situation ähnlich einem Würfelspiel: „der nächste Wurf kann gut oder schlecht sein“ . Jeder beginnt bei den Arbeitseinsätzen oder bei einem Stellenwechsel wieder bei null. Allem Risiko wohnt nach Sennett deshalb „der Drift inne“. Und dem permanenten Eingehen von neuen Risiken fehle „die Qualität einer Erzählung, bei der ein Ereignis zum nächsten führt und dieses bedingt“ . Inmitten relativ stabiler sozialer Strukturen und einer stabilen Zeitordnung ist es möglich, dass sich die Menschen an den Verhältnissen gleichsam abarbeiten.
-Sie können die Überzeugung gewinnen, dass ihre Erfahrungen mehr sind als die Folge zufälliger Ereignisse. In der Kultur des flexiblen Kapitalismus wird jedoch eine längerfristige Zielverfolgung verhindert. Man bewegt sich nur noch okkasionalistisch, kurzfristige Gelegenheiten ausnutzend, von Augenblick zu Augenblick, ohne dass zwischen den Einzelgeschehnissen Zusammenhänge hergestellt würden. So werden das Selbstbewusstsein und das soziale Gedächtnis allmählich fragmentiert.
-Die Ursachen für diese Entwicklungen liegen, wie erwähnt, in flexiblen Berufen, Diskontinuitäten in Netzwerken und der Lockerung von Hierarchien in sowie zwischen Unternehmen. All dies erfordert, Risiken einzugehen. Damit wird aber auch die Unsicherheit zu einem Basiserleben. Sie betrifft alle gesellschaftlichen Gruppen, insbesondere auch die Mittelschichten, die früher weitgehend von Dequalifizierungen und entsprechenden Unsicherheitserlebnissen verschont blieben
Im flexiblen Kapitalismus lassen sich drei Unsicherheiten differenzieren:
1. Mehrdeutige Seitwärtsbewegungen:
Darunter versteht Sennett eine Person, die glaubt, beruflich vorwärts zu kommen, während sie sich in Wirklichkeit seitwärts bewegt. Solche Bewegungen nach Art des Krebsgangs sind möglich, weil die Stellenkategorien in der flexiblen Arbeit gestaltloser werden und ein Akteur eigentlich erst erkennt, was ihn in einer beruflichen Position erwartet, wenn er diese Position verlassen und durch eine andere ersetzt hat. Weil es nur vage Anhaltspunkte für einen Erfolg gibt, ist es jedoch nicht nur möglich, auf eine sichere alte Position zurückzukehren, wie im Beispiel von Rose. Vielmehr ist auch eine biographische Suchdynamik möglich: Man erwartet, dass die nächste Position sichere Anhaltspunkte für einen Erfolg besitzt und strebt deshalb nach ihr. Wenn die neue Position das Versprechen nicht hält, wird erneut gewechselt, und so weiter und so fort. Ob es sich dabei jeweils um eine Vorwärts-, Seitwärts- oder Rückwärtsbewegung handelt, wird oft erst im Nachhinein deutlich.
2. Aushalten retrospektiver Verluste:
In flexiblen Arbeitswelten sind Menschen mit retrospektiven Verlusten konfrontiert. Oft liegen erst nach einem Wechsel präzisere Informationen über die Arbeitsanforderungen vor. Wenn jedoch ein Akteur erkennt, ein Risiko falsch eingeschätzt zu haben, hat er sich aber bereits festgelegt und muss die Folgen sowie die damit verbundene Unsicherheit aushalten.
3. Unvorhersehbare Einkommensentwicklungen:
Bei der Risikoabwägung für einen Stellenwechsel orientiert man sich gewöhnlich an der Bezahlung. Gegenwärtige Entwicklungen von Einkommen seien jedoch entmutigend: „Heutzutage wirkt sich ein Wechsel des Arbeitsplatzes für mehr Menschen negativ als positiv aus: 34 % verlieren nennenswert, 28 % gewinnen nennenswert“. Obwohl Sennett mit Zahlen vorsichtig sein möchte, wagt er die Einschätzung, dass die „berufliche Mobilität in der heutigen Gesellschaft häufig ein undurchschaubarer Vorgang“ sei
-Wichtiger als Statistiken sind jedoch qualitative Befunde, wie sie sich etwa am Beispiel von Rose entwickeln lassen. Was bei ihr auffällt, ist die Tatsache, dass Menschen überhaupt das Risiko von
Veränderungen auf sich nehmen, obwohl sie keine eindeutigen Anzeichen für einen Erfolg besitzen. Nach Sennett wissen sie oft nicht, was sie suchen, sind jedoch davon überzeugt, nicht bleiben zu können. Er bezeichnet dies als „moderne Kultur des Risikos“.
—>Sie „weist die Eigenheit auf, schon das bloße Versäumen des Wechsels als Zeichen des Misserfolgs zu bewerten. ... Das Ziel ist weniger wichtig als der Akt des Aufbruchs.“ Der neue kulturelle Imperativ entstand aufgrund einer gewaltigen Veränderung in der Institutionenlandschaft. Im Zuge einer Umstrukturierung von Institutionen scheinen „auch die handfestesten Immobilien ... in Fluss geraten zu sein. Da will niemand zurückbleiben. Wer sich nicht bewegt, ist draußen.“
-Weil sich die Menschen seitwärts bewegen und die Verhältnisse undurchschaubarer werden, funktionieren auch die bisherigen Wegweiser des Klassensystems nicht mehr, etwa Einkommenskategorien oder soziale Abgrenzungen. Dabei sei es
„nicht so, dass Ungleichheiten und soziale Abstufungen verschwunden wären – ganz im Gegenteil. Vielmehr ist es so, als habe man durch die eigenen Bewegungen plötzlich deren Wirklichkeit aufgehoben; man sucht nur nach dem strukturellen Loch, ohne viel zu kalkulieren oder rational abzuwägen, einfach in der Hoffnung, durch den Wechsel werde sich etwas bieten.“
-Dies geschieht jenseits der akademischen Vorstellung einer genauen Gewinn- und Verlustrechnung. Vor allem jüngere Menschen mit einer formal höheren Bildung würden sich von Wechseln etwas versprechen, wobei sich in der Gesellschaft „eine ungeheure Verschiebung“ von den weniger qualifizierten Arbeitnehmern zu einer neuen technologischen Aristokratie abzeichne. Durch ihre höheren Bildungsabschlüsse würden Millionen amerikanischer Hochschulabsolventen zu einer Überschätzung der eigenen Erfolgschancen verleitet.
-Und ohne ein bürokratisches System, welches Wohlstandszuwächse innerhalb einer Hierarchie verteilt, würden nur wenige die Spieltische abräumen, „während die Masse der Verlierer das Wenige teilt, was übrigbleibt“. Somit ist in der flexiblen Gesellschaft „der Imperativ, Risiken auf sich zu nehmen“, zu einer vermeintlichen „Charakterprobe“ geworden, in der das Entscheidende sei, angeregt durch augenblickliche Gelegenheiten „den Sprung zu wagen“. Dabei werde der größere Zusammenhang ausgeblendet, „das langfristige Denken ... aufgehoben“
-Ricos Beispiel macht deutlich, dass die Gewinner und gleichzeitigen Opfer des flexiblen Kapitalismus vor allem die Mittelschichten sind, weil sie sich aufgrund ihrer höheren Bildung selbst unter starken Veränderungsdruck setzen.
„Betriebsverschlankungen und Umstrukturierungen setzen die Mittelschicht plötzlich Katastrophen aus, die im früheren Kapitalismus sehr viel stärker auf die Arbeiterklasse begrenzt waren. Kommt man aber den Forderungen nach Flexibilität und Mobilität nach, verfolgt einen auf subtilere, aber ebenso mächtige Weise das Gefühl, als Familienvater oder -mutter zu scheitern.“
-Angesichts der heutigen Notwendigkeit, Risiken eingehen und wiederholt bei null anfangen zu müssen, wird die Normalkarriere aus der früheren Arbeitswelt retrospektiv gleichsam zur „moralischen Kategorie“ aufgewertet, insofern sie mit der Entschlossenheit einherging, „die eigen harte Arbeit in eine lebenslange Erzählung umzugestalten“.
-Eine zielgerichtete Arbeit am eigenen Charakter konnte sich an äußeren Kriterien, einer steigenden Entlohnung oder am Zurückbleiben anderer Schichten, bemessen. „Der Mensch, der eine Karriere verfolgt, definiert für sich langfristige Ziele, Verhaltensmaßregeln im Berufs- und Privatleben und ein Verantwortungsgefühl.“ Dagegen scheint die „Kurzfristigkeit und die Flexibilität des neuen Kapitalismus ... ein Arbeitsleben im Sinne einer Karriere auszuschließen.“ Dies deutet Sennett als moralischen Verlust, da die Arbeit am eigenen Charakter abgebrochen wird.
-Die Programmierer mittleren Alters, die von IBM entlassen wurden – von Sennett als letzte Fallgruppe vorgestellt –, empfinden deshalb nicht nur Statusverluste, sondern auch ein Versagen vor sich selbst. Auf den ersten Blick ist diese Gruppe prototypisch für die „Drifter“. Doch ihr Schicksal ist komplexer
-Sie suchen nun umgekehrt nicht alle Schuld bei sich, und es ist auch fraglich, ob sie die Zukunft hätten vorhersehen können (die bei IBM in PCs und nicht in Großrechnern bestand). Entscheidend ist, dass sie überhaupt über ihre Karrieren reden und versuchen, dem Scheitern „in den Begriffen ihrer eigenen Charaktere einen Sinn“ zu geben. So brechen sie „das Tabu, welches das Scheitern umgibt, sie bringen es an die Oberfläche“ (178). Die letzte Version, mit der die Programmierer ihre Schicksalsschläge zu verarbeiten suchen, enthält eine ethische Qualität im Sinne einer Charakterbildung
-Die Männer übernehmen nun Verantwortung für ihre Schicksale, und dies beinhaltet eine Abkehr vom „Driften“. In den Gesprächen, welche die Betroffenen miteinander führen, liegt eine „Art der Selbstheilung“. Wichtig an den Erzählungen sei nicht ihr gutes Ende. „Stattdessen erkennt und prüft eine gute Erzählung die Realität all der Möglichkeiten“ . Es wird erörtert, wie sich das eigene Handeln mit sozialen Umständen verwob – statt sich mit kollektiven Vorurteilen, etwa der Abhängigkeit der amerikanischen von einer globalen Wirtschaft, zufrieden zu geben
-Und zweitens ist das Erzählen in der Gruppe ein gemeinschaftlicher Akt; man beginnt, sich aufeinander einzulassen. Die „Leistung“ der Programmierer (dies sei genau das richtige Wort) bestünde darin, „die Furcht vor Verletzung in einem selbst zu überwinden“ sowie in einem reflexiven Akt zum wechselseitigen Vertrauen zurückzufinden. Die so entstehende Gemeinschaft basiert auf dem Eingeständnis von Verletzlichkeit und Konflikt. Sie bricht mit dem Tabu des flexiblen Kapitalismus, der dem einzelnen in seiner Bindungslosigkeit nahelegt, sich das Scheitern selbst anzulasten.
-Sennetts Buch beschäftigt sich mit den Folgen für die Biographie des Einzelnen und für Gemeinschaften, wenn neue Produktionsformen Flexibilität predigen. In flexiblen Netzwerken sollen sich die Individuen auf alles Neue einlassen und dabei ihre Gewohnheiten und Erinnerungen über Bord werfen. Dies lädt erstens zu strategischen Interventionen von Seiten der Firmen ein, die im Gegensatz zu den vereinzelten Akteuren, die immer wieder bei null beginnen sollen, sehr wohl ein Gedächtnis – und zwar eines der Macht – besitzen. Zweitens bringt die neue Produktionsweise eine biographische und kollektive Entfremdung mit sich, die „Drift“.
-In einer an Durkheim erinnernden Tradition setzt Sennett gegen den flexiblen Kapitalismus, der vereinzelte „Drifter“ erzeugt, die Gemeinschaft der Betroffenen, in welcher die rituelle Vergegenwärtigung der Schicksale zum Teil schon jene Bindungslosigkeit aufhebt, welche das wesentliche Element der neuen Ökonomie darstellt. Dabei sollen keine Lösungen herbeigeredet, sondern es soll überhaupt erst einmal wieder miteinander gesprochen werden. Die im kollektiven Erzählen sich konstituierende Gemeinschaft predigt keine statischen Werte, so wie es Rico tat, als er sich plötzlich auf rigide Erziehungsprinzipien besann. Vielmehr erkennt sie Konflikte an.
-Mit Lewis Coser meint Sennett, dass eine solche Gemeinschaft, deren Mitglieder Differenzen aushalten, weniger flach ist als Gemeinschaften im Sinne der Kommunitaristen. Während diese das „oberflächliche Teilen gemeinsamer Werte“ propagieren (198), stellt das Erzählen der Programmierer eine faktische Verantwortungsübernahme dar. Konflikte werden von ihnen ernst genommen, während sie im Kommunitarismus als bloße Bedrohung abgewertet würden. Deshalb gehen nur diese Akteure wirklich aufeinander ein, bilden ein echtes „Wir“ im Sinne einer Gemeinschaft
-Menschen in ihren Gemeinden zu sehen, wird am Ende des Essays als sozialstrukturelle Plattform gegen den flexiblen und global operierenden Kapitalismus erkennbar. Orte haben Macht, weil die neuen Ökonomien in ihnen arbeiten müssen. Keineswegs schwebe die globale Wirtschaft „draußen im Weltall“. Zwar halten sich die Gemeinden bislang durch die Drohung von Firmen, ihre Produktion abzuziehen, davon ab, über die Bedingungen dieser Produktion zu streiten. Dennoch machen die Programmierer als Gemeindemitglieder einen Anfang. Sie haben durch ihre Erzählungen noch nicht alle strukturellen Aspekte der Flexibilität verändert, setzen jedoch schon ihre realen Bindungen gegen unsichtbare Machtkonzentrationen – jene Verpflichtungen, die die Consulter gerne austreiben möchten. D
-ie wenig lesbaren Formen des flexiblen Kapitalismus werden von den Betroffenen öffentlich sichtbar gemacht, und im Erzählen sind sie immerhin zu Mitgliedern einer Problemgemeinschaft geworden. Freilich bedarf es institutioneller Sicherheiten und einer politisch engagierten Öffentlichkeit, um die „Drift“ zu beenden. Denn, so Sennett:
„In der Moderne übernehmen die Menschen Verantwortung für ihr Leben, da sie es ganz als ihre Leistung betrachten. Aber wenn diese ethische Kultur der Moderne mit ihrer Semantik der persönlichen Verantwortlichkeit und des persönlichen Lebenserfolges in eine Gesellschaft ohne institutionellen Schutz übertragen wird, zeigt sich dort nicht Stolz auf das eigene Selbst, sondern eine Dialektik des Versagens inmitten von Wachstum.“ (Sennett)
-Foucault ging es dabei nicht darum, einen allgemeinen Theorieapparat zu entwickeln, der auf unterschiedliche Untersuchungsgegenstände einfach angewandt werden könnte, sondern um die Entwicklung einer „‚Analytik‘ der Macht“ (1977a: 102), welche die historische Gewordenheit der Machtbeziehungen reflektiert und so zugleich eine Diagnostik der Gegenwartsgesellschaft erlaubt.
-
-Nach dem Mai 1968 erfährt Foucaults Arbeit eine markante Akzentverschiebung. Der „Archäologie des Wissens“ stellt er ihr nun eine Untersuchungsmethode an die Seite, die deutlicher mit der Vorstellung der Macht als Repression bricht. Diese Methode bezeichnet er in Anlehnung an einen von Friedrich Nietzsche geprägten Begriff als ‚Genealogie’
-Er geht davon aus, dass in der Tradition des ‚westlichen’ politischen Denkens Macht vor allem in Rechtsbegriffen und unter dem Gesichtspunkt der Repression begriffen wurde: als Gesetz, Verbot, Zensur und Zwang. Diese „juridisch-diskursive“ Repräsentation der Macht sei beherrscht von der Idee der Freiheit der Subjekte auf der einen und der Instanz der politischen Souveränität auf der anderen Seite. Im Rahmen dieses Modells wird Macht durch einen (Gesellschafts-)Vertrag begründet, wobei die (Rechts-)Subjekte ihre Freiheit an eine politische Instanz abgeben. Die auf diese Weise konstituierte Macht droht allein dann zum Zwang zu werden, wenn sie die gesetzmäßig bestimmten Grenzen des Vertrags verlässt.
-Die Machtausübung gliedert sich entsprechend in einen legitimen und einen illegitimen Gebrauch, eine rechtmäßige und eine missbräuchliche Anwendung der Macht. Foucault setzt sich mit drei wichtigen Grundannahmen der juridischen Machtkonzeption auseinander:
1. Das Postulat des Besitzes:
Macht wird ausschließlich in Aneignungskategorien begriffen; sie wird als ein Gut oder eine Substanz vorgestellt, die besessen, veräußert oder getauscht werden kann. In dieser Vorstellung verfügen einige soziale Gruppen oder Klassen über Macht, während die anderen von ihr ausgeschlossen sind.
2. Das Postulat der Lokalisation:
Machtprozesse verlaufen von oben nach unten, von einer zentralisierten Instanz ausgehend durchziehen sie die Gesellschaft und wirken auf die Individuen. Demnach beschränkt sich Macht auf politische Macht und ist in den Staatsapparaten konzentriert.
3. Das Postulat der Unterordnung:
Machtprozesse haben primär funktionalen und instrumentellen Charakter; ihre Modalitäten sind Verbote, Zwang und Ausschließung. In dieser Vorstellung dient Macht vornehmlich der Aufrechterhaltung sozialer Verhältnisse wie der ökonomischen Produktionsweise oder patriarchaler Herrschaft
-Foucaults Anliegen ist es, diese „rein juristische und formale Konzeption, [...] durch ein neues Verständnis der Macht“ (Foucault 2005) zu ersetzen. Das von ihm vorgeschlagene „strategische Modell“ (1977) soll die „allgemeine Richtung der Analyse umkehren“. Erstens betont Foucault, dass Macht kein Besitz sei, sondern eine Beziehung definiere, die sich nicht in Aneignungskategorien begreifen lasse.
- Dieser relationale Charakter der Macht habe zweitens zur Folge, dass diese nicht bei einer Gruppe oder Klasse zentralisiert sein könne, während andere davon völlig ausgeschlossen sind.
-Drittens seien Machtprozesse ebenso wenig Ausdruck einer tieferliegenden Realität, die sie lediglich widerspiegeln, absichern oder reproduzieren. Die Machtbeziehungen reichten weit über die Staatsapparate hinaus, so dass weder deren Kontrolle noch deren Zerstörung bestimmte Machtformen einfach verschwinden lasse. Foucault betont den Zusammenhang von ‚Macht’ und ‚Machen’ und stellt den ‚produktiven’ Charakter von Machtbeziehungen heraus:
„Man muß aufhören, die Wirkungen der Macht immer negativ zu beschreiben, als ob sie nur ‚ausschließen‘, ‚unterdrücken‘, ‚verdrängen‘, ‚zensieren‘, ‚abstrahieren‘, ‚maskieren‘, ‚verschleiern‘ würde. In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches. Sie produziert Gegenstandsbereiche und Wahrheitsrituale: das Individuum und seine Erkenntnis sind Ergebnisse dieser Produktion.“ (Foucault 1976)
-Foucault spricht daher auch von ‚Machttechnologien’. In diesem Sinn besteht beispielsweise die Bedeutung der Disziplin nicht allein in einer ideologischen Manipulation oder einer physischen Repression als in der aktiven Hervorbringung spezifischer Körper. Sie unterdrückt und verschleiert weniger als dass sie Wahrnehmungsformen, Fähigkeiten und Gewohnheiten konstituiert und strukturiert. Mit anderen Worten: Die Disziplin bringt (disziplinierte) Körper mit bestimmten Qualitäten und Merkmalen überhaupt erst hervor – aber auch Wissensformen (‚Disziplinen’), die diesen Körper vermessen und bewerten.
-Zur Kritik: Foucaults Gegenmodell zur juridischen Machtkonzeption genügt jedoch dem eigenen Anspruch nur teilweise. Es waren vor allem zwei theoretische Probleme, welche die „Genealogie der Macht“ bis Mitte der 1970er Jahre prägten. Zum einen analysierte Foucault gesellschaftliche Verhältnisse primär aus der Perspektive von Konfrontation und Krieg. Indem er die Politik „als die Fortsetzung [...] des militärischen Modells“ begreift, konnte jedoch nicht untersucht werden, wie sich Machtverhältnisse systematisieren, reproduzieren und verstetigen. Es stellt sich daher die Frage, ob die Stabilität der Machtverhältnisse nicht (auch) auf der ‚Akzeptanz’ oder dem ‚Konsens’ der Subjekte beruht – einem Konsens, der nicht notwendig gewaltsam oder durch Zwang hergestellt wurde.
-Zum anderen blieb die Analytik der Macht zu sehr auf Disziplinierungsprozesse und die Untersuchung lokaler Praktiken und einzelner Institutionen (wie dem Gefängnis oder der Schule) ausgerichtet. Damit vernachlässigte sie tendenziell die Frage nach der spezifischen Bedeutung des Staates und seine strategische Rolle bei der Herausbildung allgemeiner Herrschaftsstrukturen. Ebenso wenig konnte sie die Komplexität von Subjektivierungsprozessen zureichend erklären, da Foucault das Subjekt vor allem als Anhängsel und Effekt der (Disziplinar- )Macht begreift und die „Formierung des Gehorsamssubjekts“ in den Mittelpunkt seiner Analyse steht
-In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre nimmt Foucault eine wichtige Weiterentwicklung und Korrektur seiner Machtanalytik vor. Im Mittelpunkt dieser theoretischen Neuorientierung steht der Begriff der Regierung, der zum „Leitfaden“ für seine weitere Forschungsarbeit wird. Er erlaubt eine angemessenere Thematisierung des Staates und der Subjektivierungsprozesse und ermöglicht die Ausarbeitung einer Machtanalytik jenseits juridischer wie kriegerischer Untersuchungsperspektiven. Um diese innovative Perspektive auch begrifflich zu markieren, führt Foucault den Begriff der Gouvernementalität ein – eine Wortschöpfung, die sich vom französischen Adjektiv gouvernemental („die Regierung betreffend“) herleitet.
-Dabei geht es Foucault allerdings weniger um eine historische Rekonstruktion der Entstehung und Transformation politischer Strukturen; vielmehr will er der Institutionalisierung staatlich-rechtlicher Formen in ihrer Beziehung zu historischen Subjektivierungsmodi nachgehen. In ähnlicher Weise wie Norbert Elias (1976) interessiert sich Foucault für jenen langfristigen und miteinander verschränkten Prozess der Herausbildung moderner Staatlichkeit und moderner Subjektivität.
-Wie Elias’ Begriff der Zivilisation erlaubt der Begriff der Regierung, Subjektivierung und Staatsformierung unter einer einheitlichen Perspektive zu untersuchen. Anders als bei Elias liegt Foucaults genealogischen Forschungen jedoch nicht eine allgemeine Theorie der Zivilisation bzw. die Annahme einer einheitlichen historischen Entwicklungslogik („der Prozess“) zugrunde, sondern die Analyse heterogener und diskontinuierlicher ‚Regierungskünste’.
—>Diesem Untersuchungsinteresse folgend, verwendet Foucault den Regierungsbegriff in einem „sehr weitgefassten Sinn“. Er greift dabei die Vielfalt von Bedeutungen auf, die der Begriff noch bis in das 18. Jahrhundert hinein besaß. Während ‚Regierung’ heute vor allem Formen politischer Steuerung oder die rechtlich-administrative Struktur staatlicher Instanzen bezeichnet, bezog sich der Begriff früher auf die verschiedenen Formen der ‚Führung von Menschen’.
-Foucault unterscheidet daher die „Regierung in ihrer politischen Form“ von der „Gesamtproblematik des Regierens im allgemeinen“. Letztere umfasst die Führung von Menschen in vielen möglichen Aspekten: die Regierung des Selbst, die Leitung der Familie, die Erziehung der Kinder, die Lenkung der Seele, aber auch die Führung eines Gemeinwesens oder eines Geschäftes
-Dabei stellt er folgende historische These zur Diskussion: Der moderne (westliche) Staat ist das Ergebnis einer komplexen Verbindung von ‚politischer’ und ‚pastoraler’ Macht. Während sich Erstere von der antiken Polis herleitet und um Recht, Universalität, Öffentlichkeit etc. organisiert, ist Letztere eine religiöse Konzeption, die sich zunächst an Vorstellungen der Seelenführung orientiert und auf die christliche Beziehung zwischen Hirt und Herde zurückgeht. Den pastoralen Machttypus analysiert Foucault in den Texten der Kirchenväter und Klostergründer, welche die antiken Führungstechniken aufnehmen, neu artikulieren und modifizieren.
—>Während sich in den griechischen und römischen Konzeptionen Regierung auf die Leitung der Stadt bezieht, von der die Menschen ein Teil sind, ändert sich dies mit dem christlichen Pastorat. Die Macht des Hirten wird nicht über ein Gebiet oder ein Gemeinwesen, sondern über eine ‚Herde’, eine sich fortbewegende Menge von Menschen ausgeübt. Die Eigenart dieser Machtform besteht darin, dass sie das Verhältnis zwischen Führenden und Geführten nach der Idee eines Hirtenamtes fasst, dessen Ziel in der ‚Regierung der Seelen’ – der (An-)Leitung und Führung der Individuen im Hinblick auf ein jenseitiges Heil – besteht.
-Die innerhalb des Christentums entwickelten Führungstechniken haben Foucault zufolge im 16. und 17. Jahrhundert eine Ausweitung und Säkularisierung erfahren. Die allmähliche Auflösung feudal-ständischer Strukturen und der Aufbau großer Territorial- und Kolonialreiche sorgten ebenso wie die reformatorischen und gegenreformatorischen Bewegungen für eine Verallgemeinerung der Pastoralmacht über den kirchlich-religiösen Entstehungskontext hinaus.
-Foucaults Regierungsanalyse liegt die historische Annahme zugrunde, dass die pastoralen Führungstechniken Subjektivierungsformen ausarbeiten, auf denen der moderne Staat und die kapitalistische Gesellschaft aufbauen. Das Eigentümliche des Staates als spezifisch moderne, säkularisierte Formen von Regierung – der Regierung von Menschen im Unterschied zur Regierung der Seelen – besteht nach Foucault in einer gleichzeitigen Totalisierungs- und Individualisierungstendenz. Unter diesem Blickwinkel ist der moderne Staat zugleich eine rechtlich-politische Struktur und „eine neue Verteilung und Organisation dieser individualisierenden Machtform“ bzw. „eine Matrix der Individualisierung oder eine neue Form der Pastoralmacht“
-Er entsteht nicht allein durch den Aufbau großer Territorial- und Kolonialreiche, die Etablierung nationalstaatlicher Grenzen, rechtsstaatlicher Verfahren und militärischer Apparate, sondern auch durch die Entwicklung von Techniken der Menschenführung, etwa durch die Formierung der Humanwissenschaften, die zur Normalisierung und Normierung individuellen Verhaltens beitragen.
-Foucaults „Genealogie des modernen Staates“ ist daher zugleich „eine Geschichte des Subjekts“ . Foucault geht davon aus, dass die Formen der politischen Regierung eng verbunden sind mit den Prinzipien persönlichen Verhaltens und den Techniken der Selbstformierung. In dieser Hinsicht setzt eine erfolgreiche Regierung sowohl auf Seiten der Regierenden wie der Regierten die Fähigkeit zur ‚Selbstbeherrschung’ voraus. Regierungstechnologien zeichnen sich dadurch aus, dass sie Selbstführungstechniken mit Techniken zur Führung der anderen koppeln:
-Über die historische Rekonstruktion der „Geschichte der Gouvernementalität“ unter der doppelten Perspektive von Staatsformierung und Subjektivierung hinaus besitzt die Einführung des Begriffs der Regierung auch eine wichtige theoriestrategische Bedeutung. Foucault erkennt, dass weder die juridische noch die von ihm bis hin zu Überwachen und Strafen favorisierte kriegerische Konzeption der Macht der „Besonderheit der Machtverhältnisse“ gerecht wird.
-Zwar gehen Machtverhältnisse manchmal mit einer rechtlichen oder faktischen Übereinkunft einher, in anderen Fällen mögen sie von Gewalt oder Zwang begleitet sein; entscheidend ist jedoch, dass diese Elemente eine Machtbeziehung nicht konstituieren. Sie können Wirkungen oder Instrumente von Machtbeziehungen sein, nicht aber deren Grundlage oder Prinzip. Foucault zufolge ist vielmehr die Dimension der Führung für die Analyse der Machtverhältnisse von Bedeutung:
„Der Ausdruck ‚Führung‘ (conduite) vermag in seiner Mehrdeutigkeit das Spezifische an den Machtbeziehungen vielleicht noch am besten zu erfassen. ‚Führung‘ heißt einerseits, andere (durch mehr oder weniger strengen Zwang) zu lenken, und andererseits, sich (gut oder schlecht) aufzuführen, also sich in einem mehr oder weniger offenen Handlungsfeld zu verhalten. Machtausübung besteht darin, ‚Führung zu lenken‘, also Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit von Verhalten zu nehmen. Macht gehört letztlich weniger in den Bereich der Auseinandersetzung zwischen Gegnern oder der Vereinnahmung des einen durch den anderen, sondern in den Bereich der ‚Regierung‘ in dem weiten Sinne, den das Wort im 16. Jahrhundert besaß.“
Wenn sich Machtverhältnisse durch die „Lenkung der Führungen“ charakterisieren lassen, dann ist es dieses Moment, das eine Machtbeziehung von einer Übereinkunft oder einem Gewaltverhältnis abhebt. Eine Machtbeziehung:
„ist nicht als solche eine Gewalt, die sich nur versteckte, oder ein Konsens, der stillschweigend verlängert würde. Sie ist ein Ensemble von Handlungen, die sich auf mögliches Handeln richten, und operiert in einem Feld von Möglichkeiten für das Verhalten handelnder Subjekte. Sie bietet Anreize, verleitet, verführt, erleichtert oder erschwert, sie erweitert Handlungsmöglichkeiten oder schränkt sie ein, sie erhöht oder senkt die Wahrscheinlichkeit von Handlungen, und im Grenzfall erzwingt oder verhindert sie Handlungen, aber stets richtet sie sich auf handelnde Subjekte, insofern sie handeln oder handeln können. Sie ist auf Handeln gerichtetes Handeln.“
-Diese theoretische Bestimmung und begriffliche Spezifizierung der Machtbeziehungen sind offensichtlich auf einer sehr allgemeinen Ebene angesiedelt. Im Rahmen der Analytik der Gouvernementalität spricht Foucault konkreter von ‚Technologien’ bzw. ‚Rationalitäten’ des Regierens. Zwei Aspekte sind dabei besonders hervorzuheben. Zum einen bezeichnet ‚Regierung’ nur solche Machtbeziehungen, die auf kalkulierte und rationale Programme oder Wissensformen rekurrieren, und mit der Erfindung bzw. dem Einsatz von Verfahren zur Verhaltenssteuerung und -regulierung einhergehen.
-Zum anderen zielt der Modus der Regierung weniger auf eine direkte Einwirkung auf die Handlungen individueller und kollektiver Akteure, sondern eher auf eine indirekte und reflexive Bestimmung der Handlungsoptionen: Regiert wird die Art und Weise, in der die Akteure ihr Verhalten ‚regieren’ (‚auf Handeln gerichtetes Handeln’).
-Obwohl die Konzeption von Regierung als Führung also über Formen politischer Regierung hinausgeht, umfasst sie lediglich einen Teil des Feldes der Machtverhältnisse. Es ist daher notwendig, zwischen verschiedenen Dimensionen der Macht zu unterscheiden
-Die Einführung des Begriffs der Regierung trägt zu einer entscheidenden theoretischen Präzisierung der Machtanalytik bei. In seinen vorangegangenen Arbeiten hatte Foucault ‚Macht’ und ‚Herrschaft‘ weitgehend synonym verwendet oder sie nur unzureichend unterschieden. Dies war irreführend, da Foucault Machtverhältnisse immer schon als allgegenwärtig präsentierte und ihren ‚produktiven’ Charakter hervorhob, so dass der Eindruck entstehen konnte, dass Herrschaft unausweichlich und Widerstand unmöglich sei. Erst spät hält Foucault eine begriffliche Differenzierung für notwendig:
Unter Machtbeziehungen versteht Foucault „strategische Spiele zwischen Freiheiten [...], in denen die einen das Verhalten der anderen zu bestimmen versuchen“ (ebd.). Da strategische Spiele ein ubiquitäres Merkmal menschlicher Interaktion darstellen, existiert kein soziales Feld jenseits von Machtbeziehungen und keine machtfreie Form interpersonaler Kommunikation. Wiederum stellt Foucault die wirklichkeitsschaffende Bedeutung von Macht im Sinne eines allgemeinen ‚Vermögens’ heraus: die „Möglichkeit, auf das Handeln anderer einzuwirken“.
-Aus der Perspektive dieses weitgefassten Machtbegriffs sind die Machtbeziehungen einer Gesellschaft nicht äußerlich und bilden keinen parasitären Fremdkörper, der von ihr Besitz ergriffen hat, den man isolieren und entfernen könnte, sondern sie bilden im Gegenteil die Bedingung der Möglichkeit von Gesellschaft: „In Gesellschaft leben bedeutet: Es ist stets möglich, dass die einen auf das Handeln anderer einwirken. Eine Gesellschaft ‚ohne Machtbeziehungen‘ wäre nur eine Abstraktion.“
-Von diesen allgegenwärtigen strategischen Beziehungen, die prinzipiell veränderbar und umkehrbar sind, grenzt Foucault eine auf Dauer gestellte und mit ökonomischen, politischen oder militärischen Mitteln institutionalisierte Ausübung von Macht ab: Herrschaftszustände, in denen Machtbeziehungen starr, unbeweglich und blockiert sind. Herrschaftszustände sind demnach in Foucaults Terminologie eine spezifische Form oder ein Extrempunkt von Machtbeziehungen, in denen alternative Handlungsmöglichkeiten und Freiheitsspielräume stark eingeschränkt sind. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass es einem Individuum oder einer gesellschaftlichen Gruppe gelungen ist, das Feld der Machtbeziehungen zu blockieren und eine dauerhafte Asymmetrie zu etablieren
-Die entscheidende Differenz zu Weber – und der Tradition der ‚juridischen’ politischen Theorie – besteht darin, dass Foucault die Analyse von Macht und Herrschaft von Fragen des Konsenses, der Legitimität oder des Willens entkoppelt. Für Foucault – anders als für Weber – kann das rechtliche oder faktische Einverständnis der Herrschaftsunterworfenen nicht als Grundlage von Machtverhältnissen herangezogen werden, sondern ist ein Teil des Feldes der Machtbeziehungen und damit selbst erklärungsbedürftig: Welche Rationalität liegt dem Konsens zugrunde und welche Techniken wirken darauf hin, dass Machtbeziehungen akzeptiert werden? Durch welche Verfahren wird der Legitimitätsglaube generiert und stabilisiert? Foucault zufolge reicht es daher nicht, vom Faktum der Akzeptiertheit auszugehen; man muss vielmehr die „Akzeptabilitätsbedingungen eines Systems herausarbeiten“
-In dieser theoretischen Perspektive kommt dem Begriff der Rationalität eine entscheidende Bedeutung zu. Für Foucault bezieht sich Rationalität nicht auf eine transzendentale Vernunft oder einen ursprünglichen Willen, sondern auf soziale Praktiken, in deren Kontext Wahrnehmungs- und Beurteilungsstrategien hervorgebracht werden. Im Zentrum steht also nicht die Frage nach dem Verhältnis von Praktiken und Rationalität, ihrer Korrespondenz oder Nicht-Entsprechung im Sinne einer „Verzerrung der Vernunft“.
-Anders als bei Elias geht es ihm nicht darum, einen universellen Prozess der Zivilisierung zu beschreiben; vielmehr sucht er anhand konkreter Gegenstandsbereiche und gesellschaftlicher Erfahrungen (z. B. Wahnsinn oder Sexualität) spezifische Rationalitäten und deren historische Transformationen zu rekonstruieren: Daher liegt für Foucault das ‚wesentliche Problem’ nicht darin, ob Praktiken „mit den Prinzipien der Rationalität übereinstimmen oder nicht, sondern herauszufinden, auf welchen Typ von Rationalität sie sich beziehen“. Der Begriff der Rationalität impliziert also keine normative Wertung, sondern er hat vor allem eine relationale Bedeutung:
-Foucault operationalisiert diese Frageperspektive, indem er neben Herrschaftszuständen und strategischen Beziehungen eine weitere Dimension der Machtanalytik unterscheidet: das Feld der Regierungstechnologien. Dies sind mehr oder weniger systematisierte und reflektierte Formen der Machtausübung, die über den spontanen und ungeregelten Charakter der strategischen Spiele hinausgehen, ohne die Dauerhaftigkeit und Fixiertheit von Herrschaftszuständen anzunehmen. Die Regierungstechnologien stellen also eine Art Bindeglied zwischen strategischen Beziehungen und Herrschaftszuständen dar.
-Daraus resultiert Foucaults Umkehrung der Analyseperspektive: Herrschaft ist weniger die Quelle von Ausbeutung und Unterwerfung, sondern im Gegenteil der Effekt von Regierungspraktiken, die Machtbeziehungen in einer Weise systematisieren und stabilisieren, so dass sie schließlich die Form von Herrschaftszuständen annehmen. Mit anderen Worten: Die Analyse der Regierungstechnologien ist deshalb „erforderlich, weil sich häufig mit ihrer Hilfe die Herrschaftszustände errichten und aufrechterhalten.
-Demgegenüber macht Foucault im Rahmen der Analytik der Regierung deutlich, dass Machtverhältnisse auf zwei unverzichtbaren Elementen beruhen. Sie erfordern erstens die Anerkennung des ‚Anderen’ als Subjekt des Handelns, da „Macht nur über ‚freie Subjekte‘ ausgeübt werden [kann], insofern sie ‚frei‘ sind“, und zweitens muss sich „vor den Machtbeziehungen [...] ein ganzes Feld möglicher Antworten, Reaktionen, Wirkungen und Erfindungen öffnen“ (Foucault 2005). Für Foucault bestimmt sich die Macht von A nicht darin, B dazu zu zwingen etwas zu tun bzw. ihn/sie daran zu hindern, das zu tun, was er/sie sonst getan hätte, da Macht weniger mit dem Vermögen individueller Subjekte als mit sozialen Verhältnissen oder der Konstitution von „Möglichkeitsfeldern“ (vgl. ebd.: 286) zu tun hat.
-Von Macht spricht Foucault daher nicht nur, wenn Handlungsspielräume eingeschränkt und begrenzt werden (das Repressionsmodell), sondern auch, wenn umgekehrt Handlungsoptionen und -potentiale erst geschaffen werden. Wenn die Handlungen von A das Feld möglichen Handelns von B verändert haben, dann können wir sagen, dass A Macht über B ausgeübt hat
-Auf dieser allgemeinen Ebene von Macht zu sprechen, impliziert keine normative Wertung. Von Machtziehungen als strategischen Spielen zu sprechen, bedeutet weder, diese zu verurteilen noch sie für akzeptabel zu erachten oder gutzuheißen. Ebenso wenig impliziert der Hinweis auf die Existenz von Machtbeziehungen, dass es sich um ein Handeln gegen die Interessen der anderen Partei handelt. Dies kann, muss aber nicht der Fall sein.
-Denn es gibt viele mögliche Arten, wie Akteure das Handeln anderer bestimmen können. Dazu gehört das Erteilen moralischer Ratschläge und der gewaltsame Zwang, die Überzeugung durch rationale Argumente ebenso wie die ideologische Manipulation, pädagogische Techniken oder ökonomische Ausbeutung. Nur gegen einige dieser strategischen Beziehungen dürften von ‚den Betroffenen’ Einwände zu erheben sein: gegen diejenigen, die sich zu festgefügten Asymmetrien und institutionalisierten Ungleichheiten verhärtet haben (Patton 1998).
-Daher sind Foucault zufolge Machtverhältnisse nicht per se inakzeptabel, sondern „gefährlich“ (2005: 465), da permanent die Möglichkeit besteht, dass sie sich zu Herrschaftszuständen verfestigen. Aus diesem Grund kommt der Analyse der Regierungstechnologien eine wichtige kritische Bedeutung zu, da durch sie festgelegt wird, wie offen oder fixiert die strategischen Spiele ablaufen, ob sie sich zu Herrschaftszuständen verhärten oder die Möglichkeit von „Praktiken der Freiheit“
„Während sich die Theorie der politischen Macht als Institution gewöhnlich auf ein juristisch konzipiertes Rechtssubjekt bezieht, so scheint mir, dass der Analyse der Gouvernementalität […] eine Ethik zugrunden liegen muß, die durch die Beziehung seiner selbst zu sich definiert ist. Und das heißt ganz einfach, daß im Rahmen des Analysetyps, den ich Ihnen seit geraumer Zeit hier darzulegen versuche, Machtverhältnisse / Gouvernementalität / Regierung-seiner-selbst-und-der-anderen / Beziehung-seiner-selbst-zu-sich, daß all das eine Kette, ein Raster, bildet und daß die Frage der Politik und die Frage der Ethik um diese Begriffe herum anzusiedeln sind.“
-Wiederum ist wichtig zu beachten, dass diese „theoretische Verschiebung“ (Foucault 1986) selbst politischen Interessen folgt und die historische Rekonstruktion eng an einen zeitdiagnostischen Befund rückgebunden ist. Foucault nimmt an, dass Kämpfe gegen Formen von Subjektivierung seit den 1960er Jahren zunehmend wichtiger werden. In den zahlreichen gesellschaftlichen Oppositionen zwischen Männern und Frauen, in den Auseinandersetzungen um Gesundheit und Krankheit, Vernunft und Wahnsinn wie in den ökologischen Bewegungen, den Friedensgruppen oder sexuellen Minderheiten zeige sich eine „Krise im westlichen Verständnis der Subjektivität“ .
-Das Charakteristikum dieser Art von Kämpfen bestehe darin, dass sie sich gegen eine Technologie wenden, die „Individuen in Kategorien einteilt, ihnen ihre Individualität zuweist, sie an ihre Identität bindet und ihnen das Gesetz einer Wahrheit auferlegt, die sie in sich selbst und die anderen in ihnen zu erkennen haben“. Für Foucault besteht die Eigenart von Regierung darin, dass sie eine Form der Macht etabliert, die Individuen nicht direkt unterwirft, sondern sie durch die Produktion von ‚Wahrheit’ anleitet und führt. Ihr Zwang ist umso subtiler, je mehr er hinter der Gesetzmäßigkeit dieser Wahrheiten und der Notwendigkeit ihrer Imperative zurücktreten kann, ihre Willkür umso unsichtbarer, je mehr sie lediglich jene ‚normale’ Verhaltensformen oder Handlungsziele einfordert, die mit diesen Wahrheiten übereinstimmen
-Ende der siebziger Jahre gab es im damals sozialliberal regierten Deutschland eine nicht nur wissenschaftlich, sondern auch publizistisch geführte Debatte über das „Modell Deutschland“. Linke Kritiker des „Weltökonomen“ Helmut Schmidt, der die Regierung führte, hielten ihm vor, dass die allgemein als erfolgreich angesehene Wirtschaftspolitik seiner Regierung zwar der Mehrheit der Deutschen zugutekäme – doch um den Preis, dass sich zwischen dieser Mehrheit und einer nicht unerheblichen Minderheit der Bevölkerung eine immer schwerer zu überwindende Kluft auftue.
—>Das Schlagwort von der „Zweidrittel-Gesellschaft“ machte die Runde. Ein Drittel der Gesellschaftsmitglieder sei nicht nur aktuell vom Wohlstand ausgeschlossen, sondern könne sich auch immer weniger Hoffnungen darauf machen, zumindest längerfristig den Anschluss an die begünstigten Zwei Drittel zu finden. Die bundesrepublikanische Gesellschaft werde also dauerhaft gespalten, wenn nicht energische wirtschafts- und sozialpolitische Gegenmaßnahmen eingeleitet würden.
-Als dann Anfang der achtziger Jahre die Christdemokraten mit den Liberalen die Regierung stellten, erwarteten die Kritiker des „Modells Deutschland“ eine weitere Verschärfung dieser Tendenzen. In Großbritannien wütete bereits Margret Thatchers Kampf gegen den Wohlfahrtsstaat und die Gewerkschaften; und auch in Frankreich gelangten die Konservativen bald an die Macht. Eine der wichtigsten Manifestationen dieses Vorgangs war der wirtschaftspolitische Paradigmenwechsel vom Keynesianismus zum Neoliberalismus. Wirtschaftspolitik verstand sich nicht länger als Instanz, die die Marktkräfte auch im Sinne anderer gesellschaftlicher Gesichtspunkte regulieren müsse. Sondern „Deregulierung“, eine Entfesselung der zu lange schon wohlfahrtsstaatlich gebremsten Dynamiken sich globalisierender Märkte, schien das Gebot der Stunde
-Hinsichtlich jenes Drittels der Gesellschaft, das in Gefahr stand, den Anschluss zu verlieren, fand die neue konservative Sicht der Dinge zwei Sprachregelungen, zwischen denen sich je nach Anlass flexibel wechseln ließ. Auf der einen Seite hieß es, dieses Drittel habe es nicht besser verdient. Denn es bestehe größtenteils aus denjenigen, die nicht über genügend Leistungsbereitschaft verfügten, um in dieser Gesellschaft etwas zu werden. Wenn sich Leistung – wie einer der Slogans forderte – „wieder lohnen“ müsse, bedeute das im Umkehrschluss eben, dass Leistungsschwache nicht viel mehr als das Existenzminimum erwarten dürften.
- Neben dieser unbarmherzig abweisenden Legitimationsrhetorik des Neoliberalismus stand auf der anderen Seite eine freundlichere, allerdings vage Zukunftsverheißung. Auf lange Sicht könne auch das heute abgespaltene Drittel der Bevölkerung von jenem enormen Wirtschaftsaufschwung, den die „Deregulierung“ einleite, nur profitieren. Das Tal der Tränen, das die vom wohlfahrtsstaatlichen Paternalismus Verwöhnten erst einmal durchschreiten müssten, führe in eine lichtere Zukunft auch für die, die noch im Dunkeln stehen.
-Für Frankreich legten Pierre Bourdieu und sein großes Forschungsteam Anfang der neunziger Jahre eine Bilanz der neoliberalen Demontage des Wohlfahrtsstaates vor – eindeutig betitelt: „Das Elend der Welt“. Kein Ende des Tals der Tränen in Sicht! Ganz im Gegenteil steht noch Schlimmeres zu befürchten.
-Die Forschergruppe präsentiert ihr umfangreiches empirisches Material über diejenigen, die die Leidtragenden dessen sind, was Bourdieu die „neoliberale Invasion“ bzw. „Heimsuchung“ nennt, nicht in einer strengen analytischen Ordnung. Die Darstellungsform ähnelt vielmehr einer Collage. Im Zentrum stehen Dokumente: Transkriptionen von Gesprächen, die die Forscher mit einer größeren Anzahl von Menschen über deren alltägliche Nöte geführt haben.
-Es geht den Forschern darum, „den einen, zentralen, beherrschenden, kurz: gleichsam göttlichen Standpunkt, den der Beobachter und sein Leser (jedenfalls solange, als er sich nicht selbst betroffen fühlt) so gern einnehmen, zugunsten der Pluralität der Perspektiven aufzugeben.“ Die Vielfältigkeit der Leiden, die der Neoliberalismus hervorgerufen hat und immer weiter hervorruft, soll dokumentiert, bis in die feinsten Verästelungen scheinbar höchst idiosynkratischer und banaler Alltagsprobleme verfolgt werden.
—>Dahinter steht allerdings alles andere als die Absicht, einem „subjektivistischen Relativismus“ zu huldigen. Wie sowohl Franz Schultheis (1997) als auch Eva Barlösius (1999) hervorheben, wollen Bourdieu und seine Mitarbeiter die Bedingtheit der Leiden durch die gesellschaftsstrukturellen Kontexte, in denen die Individuen stehen, herausarbeiten. Der Perspektivismus ist somit das Korrelat unterschiedlicher sozialer Positionen, von denen keine einen in irgendeinem Sinne bevorzugten Beobachtungsstandpunkt besitzt.
-Der Perspektivismus geht ferner auch darauf zurück, dass Verstehen das vorrangige Anliegen der Untersuchung ist. Die Forscher wollen sich zunächst einmal weitgehend einlassen auf die Situationsdeutungen, die die Befragten von sich aus erstellen, und möglichst zurückhaltend auf analytische Vorverständnisse rekurrieren. Die Menschen selbst sollen zu Wort kommen und nicht vertreten werden durch gegenüber der Fülle des Lebens notwendig – und beabsichtigt! – blasse soziologische Idealtypen
-Bourdieu und seine Mitarbeiter verfechten vielmehr das normative Postulat, dass der soziologische Gegenwartsdiagnostiker den Gesellschaftsmitgliedern dazu zu verhelfen habe, ihre Sicht der Dinge öffentlich zur Sprache bringen zu können – insbesondere den Benachteiligten und Beherrschten
-Wirft man – ohne damit die Anliegen gänzlich zu verwerfen, die hinter dem Perspektivismus liegen – dennoch einen distanzierteren Blick auf die empirischen Befunde, fällt auf, dass drei deutlich unterschiedene Arten von Blickwinkeln auf das „Elend der Welt“ vorgestellt werden:
• Erstens finden sich mannigfache Zeugnisse eines unmittelbaren Leidens. Sie stammen von Menschen, die selbst direkt vom „Elend der Welt“ betroffen sind – etwa von arbeitslos gewordenen Facharbeitern.
• Zweitens sind verschiedene Spielarten eines mittelbaren Leidens dokumentiert. Dies ergibt sich daraus, dass Menschen engere soziale Kontakte zu anderen Menschen unterhalten, die unmittelbar leiden. Ein Beispiel mittelbaren Leidens bieten Sozialarbeiter, die beruflich mit dem unmittelbaren Leiden zu tun haben.
• Drittens schließlich werden öffentliche Inszenierungen des Leidens vorgestellt: die einschlägige Berichterstattung in den Massenmedien.
-Jede dieser drei Arten von Blickwinkeln gliedert sich weiter in mehrere Unterarten auf, so dass insgesamt ein recht komplexes Tableau des Leidens entsteht.
-Diejenigen, die unmittelbar unter den Folgewirkungen des Neoliberalismus leiden, sind entweder bereits aus der „Arbeitsgesellschaft“ exkludiert oder sind stark davon bedroht, aus ihr exkludiert bzw. gar nicht erst in sie inkludiert zu werden. Sie lassen sich analytisch in vier Gruppen sortieren, die sich aus der Kombination des Alters und der Nationalität einer Person – beides dichotom schematisiert – ergeben:
• Gruppe 1: ältere Franzosen,
• Gruppe 2: ältere Einwanderer und Gastarbeiter,
• Gruppe 3: junge Franzosen und
• Gruppe 4: junge Einwanderer und Gastarbeiter
-In die Gruppe 1 – ältere Franzosen – gehören Arbeiter in Krisenbranchen und -regionen, etwa in der Stahlindustrie, Landwirte, die ihren Hof als Familienbetrieb führen, und kleine Geschäftsleute. Sie alle sind bedroht durch Arbeitslosigkeit bzw. den Zwang, ihren Hof oder ihr Geschäft aufgeben zu müssen. Teilweise ist die Drohung auch bereits wahr geworden. Als diejenigen, von denen diese Drohung ausgeht, gelten: jüngere Leiharbeiter, die von den Unternehmen zunehmend eingestellt wurden; die Landwirtschaftspolitik auf nationaler Ebene und EU-Ebene; und große Supermärkte und Handelsketten. Das Leiden betrifft den jeweiligen Menschen sowohl als Homo Oeconomicus als auch in seiner Identität. Ersteres ist offenkundig. Man steht in Gefahr, den eigenen Lebensunterhalt zu verlieren und anschließend vielleicht sogar noch mit Schulden belastet zu sein; und man darf, vor allem aufgrund des eigenen Alters, kaum hoffen, dass man, im Falle eines Verlustes des Arbeitsplatzes, Hofes oder Geschäfts, etwas Anderes auf gleichem Niveau wiederfindet
—> Perspektivlosigkeit und Zukunftspessimismus bestimmen die Stimmungslage. Gegenwehr erscheint unmöglich. Die gewerkschaftliche Solidarität, die die Arbeiter in der Streikkultur der siebziger Jahre noch gelernt hatten, ist zerbrochen; die Bauernproteste haben nie viel gebracht; und die Geschäftsleute sind traditionell nicht zu kollektiven Aktionen geneigt gewesen. Auch vom Staat erhofft man sich kaum noch Hilfe. Man ist verunsichert, ob man überhaupt noch das moralische Recht hat, an staatliche Stellen zu appellieren, einem in seiner schwierigen Lage beizustehen. Zwar empfindet man die eigene Lage als empörend; doch tief im Innersten nagt der Zweifel, ob man nicht vielleicht doch selbst schuld an der eigenen Misere ist.
-Die Gruppe 2 – ältere Emigranten und Gastarbeiter – sind Arbeitsmigranten, teilweise aus ehemaligen französischen Kolonien, die oft bereits jahrzehntelang in Frankreich leben. Sie sind als Arbeitnehmer in Krisenbranchen oder als kleine Geschäftsleute von einem ähnlichen Schicksal bedroht wie die älteren französischen Arbeitnehmer bzw. Geschäftsleute. Hinzu kommen aber noch zahlreiche Probleme der Ausgrenzung und Diskriminierung, die aus dem Status des nicht in Frankreich Gebürtigen herrühren. „Du solltest nicht hier sein, du bist hier überzählig, du bist hier fehl am Platz.“ Mit diesen Worten drückt ein alter algerischer Einwanderer die Haltung aus, die ihm Seiten der Franzosen inzwischen entgegenschlägt
—> Zwischen Gruppe 1 und Gruppe 2 existieren also ausgeprägte Konkurrenzbeziehungen, in denen letztere benachteiligt ist. Weiterhin spitzt sich das Leiden der älteren Emigranten und Gastarbeiter noch dadurch zu, dass sie kulturell entwurzelt sind.
—>Die Angehörigen dieser beiden Gruppen waren in die „Arbeitsgesellschaft“ inkludiert und sind dann herausgefallen; oder sie sind noch nicht exkludiert, aber befürchten, dass ihnen das bald widerfahren könnte
-Demgegenüber stehen die Angehörigen der Gruppen 3 und 4 – jüngere Franzosen bzw. Kinder von Emigranten und Gastarbeitern – zumeist vor der ungewissen Frage, ob sie es jemals schaffen werden, überhaupt erst einmal für eine gewisse Zeit in die „Arbeitsgesellschaft“ inkludiert zu werden. Ihre Alternative besteht darin, dass sie dauerhaft draußen bleiben, eine Existenz am Rande der Gesellschaft fristen, bis hin zur Kriminalität, Drogensucht und Obdachlosigkeit
-Für beide Gruppen von Jugendlichen gilt indes, dass die Schule nur noch als weitgehend wertlos angesehene Qualifikationen und Abschlüsse vermittelt. Die Bildungsexpansion seit den sechziger Jahren hat die höheren Abschlüsse inflationiert. Ebenso wertlos ist das „Erbe“, das die Jugendlichen von ihren Eltern erhalten – insbesondere, wenn diese zu den Gruppen 1 oder 2 gehören, was oft genug der Fall ist. Entsprechend geringschätzig und respektlos treten diese Jugendlichen ihren Eltern und Lehrern entgegen.
-Vom Alter her gesehen haben die Jugendlichen noch alle Chancen, in die „Arbeitsgesellschaft“ inkludiert zu werden. Sie haben ihr Leben noch vor sich – anders als die Angehörigen der Gruppen 1 und 2. Doch paradoxerweise verschärft das gerade die Erfahrungen des Versagens. Wer sich sagt und sagen lassen muss, dass es doch irgendwann bei ihm klappen muss, weil er doch noch nicht zum „alten Eisen“ gehört, leidet umso mehr darunter, wenn er permanent daran scheitert, eine Lehrstelle und einen festen Job zu finden.
- Nach einiger Zeit schlägt dies bei den meisten Jugendlichen in einen abgeklärten Fatalismus um. Sie können dann nicht länger enttäuscht werden, weil sie sich durch keinerlei Versprechungen mehr täuschen lassen. Dieser Fatalismus kann sich, gerade im Rahmen von Jugendbanden, auch in eine heroische Stilisierung des Rausgefallenseins hineinsteigern. Anders als die „dummen“, „gutgläubigen“ Eltern, die ihre Lage immer noch nicht fassen können, brüsten sich diese Jugendlichen manchmal geradezu mit ihrer desillusionierten Zukunftsperspektive. Dementsprechend ist ihr Alltag ein zielloses In-den-Tag-Leben, das durch ein Oszillieren zwischen langen Phasen gelangweilten Herumhängens und immer wieder aufflackernder „Action“, oft mit Vandalismus und Gewalt verbunden, bestimmt ist
-Bei denjenigen, die aufgrund von sozialen Kontakten zu unmittelbar Leidenden mittelbar leiden, lassen sich drei Gruppen unterscheiden:
• Gruppe 5: von Ausdrucksformen unmittelbaren Leidens negativ Betroffene, wie z.B. Ladenbesitzer oder Hausmeister in den „schlechteren“ Stadtvierteln;
• Gruppe 6: ehrenamtliche Interessenvertreter von unmittelbar leidenden Personen – u.a. Gewerkschaftsaktivisten oder Initiatorinnen von Frauenhäusern;
• und Gruppe 7: professionelle staatliche Betreuer von Personengruppen, die unmittelbar leiden – u.a. Sozialarbeiter, Polizisten, Richter, Lehrer
-Unter den Personen der Gruppe 5 kann es auf der einen Seite solche geben, die keinerlei Verständnis für die Lage der unmittelbar Leidenden aufbringen. Auf der anderen Seite kommt es aber durchaus vor, dass von solchen „Externalitäten“ des unmittelbaren Leidens negativ Betroffene dennoch den Gruppen 1-4 ein gewisses Maß an Verständnis entgegenbringen und dadurch eine tiefgreifend ambivalente Haltung einnehmen.
-Ladenbesitzer, bei denen insbesondere Jugendliche – also die Gruppen 3 und 4 – ständig klauen oder deren Läden sogar von Plünderungen und Brandstiftungen heimgesucht werden, sind möglicherweise in ihrer wirtschaftlichen Existenz bedroht. Ebenso sehen Hausmeister den Sinn ihrer Bemühungen, die Wohnblocks ordentlich und sauber zu halten, durch Nachlässigkeit und Vandalismus der Mieter – ebenfalls vor allem der Jugendlichen – beständig gefährdet. Hinzu kommt für Ladenbesitzer ebenso wie für Hausmeister die Bedrohung durch körperliche Gewalt.
-Trotz dieser massiven Probleme, die das unmittelbare Leiden der Gruppen 1-4 für die Gruppe 5 mit sich bringt, können Angehörige letzterer sich teilweise in die Situation der unmittelbar Leidenden hineinversetzen, was bis hin zum Mitgefühl geht. Entsprechend in sich zerrissen kann das mittelbare Leiden der Gruppe 5 sein
-Die Gruppe 6 – ehrenamtliche Interessenvertreter der unmittelbar Leidenden – zeigt nicht nur Verständnis für diese, sondern sieht ihre Aufgabe gerade darin, für sie einzutreten. Die Identität der ehrenamtlichen Interessenvertreter ist von einer Identifikation mit den unmittelbar Leidenden geprägt. Oft gehörten oder gehören die ehrenamtlichen Interessenvertreter zugleich selbst zu den unmittelbar Leidenden. So sind die Gewerkschaftsaktivisten selbst Arbeiter und ebenso wie diese von verschlechterten Arbeitsbedingungen und Arbeitsplatzverlust bedroht, gehören also gleichzeitig den Gruppen 1 und 6 an; und die zu Wort kommende Initiatorin eines Frauenhauses kannte seit ihrer Kindheit männliche Gewalt gegen Frauen
-Das mittelbare Leiden der ehrenamtlichen Interessenvertreter ergibt sich aus zweierlei: zum einen aus der Erfahrung, dass sie den unmittelbar Leidenden immer weniger zu helfen vermögen, und zum anderen daraus, dass die unmittelbar Leidenden selbst immer weniger kollektiven Widerstand gegen die Verschlechterung ihrer Lage zu leisten bereit sind. Beides hängt eng miteinander zusammen. So zerbricht die frühere Macht der Gewerkschaften, wenn die Solidarität der Arbeiter nachlässt; und diese lässt nach, weil die Gewerkschaften vielen Maßnahmen der Unternehmen tatenlos zusehen müssen.
-Wenn dann noch interne Streitereien über den richtigen Kurs des Interessenkampfes hinzukommen, wie sie die Initiatorin eines Frauenhauses berichtet, stellt sich ein Gefühl großer Ohnmacht ein. Die tiefe Wut über die Lage der unmittelbar Leidenden kann sich nicht länger in Kampfmaßnahmen umsetzen, sondern zerfrisst die Interessenvertreter innerlich
-Sehr ähnlich ist schließlich auch das mittelbare Leiden der Gruppe 7 beschaffen. Den professionellen staatlichen Betreuern der unmittelbar Leidenden ist „Inklusionsarbeit“ als mehr oder weniger gewichtiger Bestandteil ihrer Berufstätigkeit aufgetragen; und sie fassen diesen Auftrag mehrheitlich auch als persönliche Verpflichtung auf
-Doch auch diese „Inklusionsarbeiter“ kämpfen, wie die ehrenamtlichen Interessenvertreter, an zwei Fronten: in der einen Richtung gegen starke Tendenzen zu einer resignativen Selbstaufgabe ihrer Klientel, und in der anderen Richtung gegen die sich rapide verschlechternden politischen und organisatorischen Rahmenbedingungen der eigenen Arbeit. Diese beiden Antipoden der „Inklusionsarbeiter“ unterstützen einander ebenso gegenseitig, wie es im Zweifrontenkrieg der Gewerkschaftsaktivisten der Fall ist.
-Der Abbau des Sozialstaates und des Bildungswesens bestärkt auf Seiten der Exklusionsgefährdeten und Exkludierten den Eindruck, dass niemand sich mehr um sie kümmere und sie hilflos ihrem Schicksal überlassen seien; und die sich daraus ergebende Lethargie bestätigt jene, die schon immer gewusst haben, dass individuelle Trägheit und mangelnde Selbstverantwortung die eigentlichen Ursachen des Elends dieser Personengruppen darstellen, wogegen sozialstaatliche Anstrengungen machtlos und folglich verschwendet seien. Die „Inklusionsarbeiter“ wissen aufgrund hautnaher eigener Erfahrungen sehr genau, dass der Neoliberalismus sich hier fortwährend durch eine „self-fulfilling prophecy“ bestätigt, können aber angesichts dessen öffentlicher Meinungsführerschaft weder überzeugend dagegen argumentieren noch handelnd wirksam dagegenhalten
-Bourdieu (1998: 12-21) fasst das Elend dieser professionellen staatlichen Betreuer des unmittelbaren Leidens in der einprägsamen Formel von der „linken“ und der „rechten Hand des Staates“. Die „Inklusionsarbeiter“ stellen die „linke Hand des Staates“ dar: die wohlfahrtsstaatlichen Aufgabenträger, die von der „rechten Hand“, dem Finanz- und Wirtschaftsministerium, nur noch unter dem Sammelbegriff der „sogenannten kostenverursachenden Ministerien“ rubriziert werden. Durch rigorose Zusammenstreichung der Ausgaben für Sozial-, Gesundheits-, Wohnungsbau- und Bildungspolitik wird der Staatshaushalt saniert und die Steuerbelastung der Unternehmen gesenkt – auf Kosten der Gruppen 1-4. Und die Gruppe 7 hat diesen neoliberalen Politikwechsel als Betreuer der Exkludierten und Exklusionsgefährdeten auszubaden
-Man sieht hieran, dass das mittelbare Leiden genau so intensiv sein kann wie das unmittelbare. Die Exklusion und Exklusionsgefährdung der Gruppen 1-4 zieht also noch sehr viel weitere Kreise. Das abgespaltene Drittel der „Arbeitsgesellschaft“ reißt auch seine Brückenköpfe zu den glücklicheren zwei Dritteln in sein Leiden hinein. Allerdings hat das mittelbare Leiden einen anderen Charakter. Es handelt sich nicht primär um eine ökonomische „Prekarität“, die dann zur Identitätsverunsicherung führt. Sondern letztere ist primär, und erstere fehlt entweder ganz oder ist zumindest weitaus schwächer ausgeprägt als beim unmittelbaren Leiden
-Wie sieht nun „die Sicht der Medien“ auf Exklusion und Exklusionsgefährdung aus? (75-86) Diese von den Journalisten – Gruppe 8 – produzierte Sicht ist durch die Kriterien der „Mediengerechtigkeit“ bestimmt, stellt also alles andere als eine objektive Abbildung der Verhältnisse dar. Das Neue, das Spektakuläre, die human-interest-Story werden hervorgehoben oder gar überhaupt erst konstruiert; Oberflächendramatik und Personalisierung dominieren, insbesondere im Fernsehen, während eine Aufarbeitung struktureller Hintergründe des Geschehens kaum erfolgt.
-Entsprechend diffus-schicksalhaft erscheint dem Fernsehzuschauer oder Zeitungsleser, was in den Wohnsilos der Vorstädte und in den heruntergekommenen Industrieregionen passiert. Die Medien stilisieren Arbeitslosigkeit, Lehrstellenmangel, Jugendgewalt, Vandalismus, zerrüttete Familienverhältnisse, Ausländerfeindlichkeit u. ä. zu „Symptomen einer allgemeinen Gesellschaftskrise“ (82), gegen die sich ebenso wenig tun lässt wie gegen ein Erdbeben; und genau wie derartige Naturkatastrophen ein Land von Zeit zu Zeit mit einer im Verborgenen wirkenden Unentrinnbarkeit heimsuchen, ist es eben – so suggerieren die Medien – auch mit Exklusion. Alle – Nicht-Betroffene wie Betroffene – haben sich damit abzufinden; und wer dies nicht tut, muss energisch zur Ordnung gerufen werden
-Entscheidend hierbei ist, dass die Gesellschaftsmitglieder diesen Berichten und Bildern der Massenmedien tagtäglich ausgesetzt sind. Die Medien „produzieren kollektiv eine gesellschaftliche Repräsentation, die sich fortpflanzt, auch wenn sie von der Realität ziemlich weit entfernt ist“. Für die Exklusionsgefährdeten und Exkludierten bedeutet das, dass ihr Leiden ohne Stimme bleibt. Sie finden sich in der Berichterstattung der Massenmedien nicht wieder. Selbst dort, wo Menschen aus den Gruppen 1-4 zu Wort kommen, werden sie dabei so in Szene gesetzt, dass sie die Botschaft der Medien und nicht ihre eigene transportieren – was die größte Enttäuschung hervorruft, weil die naive Hoffnung bestand und geweckt wurde, sich „authentisch“ präsentieren zu können.
-Stattdessen fabrizieren die Medien daraus eine Inauthentizität, die allerdings immer wieder höchst authentisch wirkt. Die anderen Gesellschaftsmitglieder werden auf diese Weise von den Massenmedien in ihren, ja ohnehin fast nur durch diese erzeugten, Stereotypen bestätigt. Dabei changieren Stereotype des Abscheus und solche des Bedauerns
-Vorstellbar wäre freilich auch ein aufklärerischer Journalismus, der sich tatsächlich und nicht bloß scheinbar als Sprachrohr der Leidensbetroffenen versteht und dabei vor allem auch die gesellschaftsstrukturellen Hintergründe ihrer Schicksale herausarbeitet. Bourdieu weist allerdings darauf hin, dass auch die Journalisten zunehmend in den Sog jenes „prekarisierten Habitus“ (Bourdieu 1998: 112) geraten, den die Exklusionsgefährdeten annehmen mussten.
—> Die Kommerzialisierung der Massenmedien und die verschärfte Konkurrenz um Quoten und Auflagenhöhen unterwerfen die Journalisten Arbeitsbedingungen, unter denen anstelle einer aufklärerischen eine am oberflächlichen Massengeschmack ausgerichtete Berichterstattung floriert – gewissermaßen nach dem Motto: Wer als Journalist nicht selbst zu den Exkludierten gehören will, stelle die Exklusion tunlichst als mediengerechte Naturkatastrophe anstatt als Konsequenz gesellschaftlicher, also von Menschen gemachter und auch veränderbarer Kräfte dar!
-Ein Gesamtüberblick über das geschilderte Tableau des Leidens kann das Gefüge der Relationen zwischen den verschiedenen Gruppen so zusammenfassen:
• Die Gruppen 1 und 2 konkurrieren miteinander, ebenso wie die Gruppen 3 und 4 – wobei die Gruppen 1 und 3, also die Franzosen, gegenüber den Nicht-Franzosen die besseren Karten haben. Dies bleibt aber letzten Endes auch für die Bevorteilten ein strategischer Nachteil, weil die Kräfte der Gegenwehr auf diese Weise zersplittert werden.
• Eine eben solche Zersplitterung kennzeichnet auch das Verhältnis zwischen 1 und 2 auf der einen, 3 und 4 auf der anderen Seite, also den Alten und den Jungen. Die Generationen erkennen ihre gemeinsamen Interessen ebenso wenig wie Franzosen und Nicht-Franzosen. Stattdessen verachten die Jungen die Alten dafür, wie sie brav zur Schlachtbank trotten, und die Alten beklagen, dass die Jungen ihre Chancen nicht nutzen – die freilich aus Sicht der Jungen gar nicht existieren.
• Die Gruppen 6 und 7 entfremden sich zunehmend von den Gruppen 1-4. Damit verlieren diese eine wichtige Unterstützung bei der kollektiven bzw. individuellen Bewältigung ihres Leidens. Die Interessenvertreter und die „Inklusionsarbeiter“ resignieren immer mehr. Die gleiche Entfremdung gilt für die Gruppe 8, die nolens volens in ihrer Berichterstattung die Interessen der Gruppen 1-4 – und auch die der Gruppen 6 und 7 – „verrät“.
• Schließlich rutscht auch die Gruppe 5 in einen sich zuspitzenden Konflikt mit den Gruppen 1-4 hinein.
-Könnte man einen strategischen Planer dieser Konstellation des Leidens unterstellen, müsste man von geschickten Schachzügen des „divide et impera“ sprechen. Dies ist aber allenfalls partiell und episodisch der Fall. Die strukturelle Dynamik dessen, was der Neoliberalismus auslöst und vorantreibt, ist der „anonyme Stratege“ dieses Spiels. Allseitige Zersplitterung der Gegenkräfte ist das Resultat dieser „neoliberalen Heimsuchung“, das ihr die Sache natürlich nur umso leichter macht.
-Bourdieu (1998) hat sich mit dieser Frage vor allem in einer Reihe von „Wortmeldungen“ in öffentlichen Debatten auseinandergesetzt. Für ihn geht es beim Neoliberalismus um die „Rückkehr zu einer Art des Raubkapitalismus“. Er versteht darunter den Vorgang einer „fortschreitenden Zerstörung eines zivilisatorischen Modells ..., das auf einer zumindest teilweisen Zähmung der archaischen Kräfte des Marktes beruht“.
-Hierbei sind drei Arten von gesellschaftlichen Akteuren die Drahtzieher. Als erstes sind die Unternehmen, insbesondere die international operierenden Großunternehmen zu nennen. Vor allem die Banken in den Aufsichtsräten predigen das „Projekt ... der shareholders, denen es nur noch um maximale Renditen geht“. Dies geschieht „unter dem Deckmantel der endlos beschworenen Notwendigkeit, die Unternehmenskosten zu senken“ . „Globalisierung“ ist dafür das Zauberwort, das Fügsamkeit mit vorgeblichen „Sachzwängen“ nahelegt. Es ist „eine Vorstellung, die gesellschaftliche Macht besitzt, die Glauben auf sich zieht. Sie ist die entscheidende Waffe der Kämpfe gegen die Errungenschaften des welfare state: die europäischen Arbeiter, wird gesagt, müssen sich dem Wettbewerb mit den Arbeitern auf der ganzen Welt stellen.“
-Bei der Durchsetzung dieser neoliberalen Handlungsmaximen gehen die Unternehmen eine enge Verbindung mit der „rechten Hand des Staates“, also den Wirtschafts- und Finanzpolitikern, ein. Diese haben die „Aufhebung der Errungenschaften des welfare state“ umzusetzen, wobei hier der angeführte „Sachzwang“ vor allem heißt: Sanierung der Staatsfinanzen.
—>Der Wohlfahrtsstaat habe über seine Verhältnisse gelebt und müsse deshalb nun energisch zurückgefahren werden. Die Evidenz der öffentlichen Verschuldung ist ein scheinbar unzweideutiger Beweis für diese Notwendigkeit. Legitimatorisch unterstützt werden Unternehmen und staatliche Wirtschafts- und Finanzpolitiker durch die Dominanz der neoliberalen Kräfte in den Wirtschaftswissenschaften. Bourdieu verweist hierzu insbesondere auch auf die „Tyrannei der ‚Experten‘ vom Typ Weltbank oder internationaler Währungsfonds, die ohne jede Diskussion die Gesetze des neuen Leviathan, nämlich der ‚Finanzmärkte‘, durchsetzen“
-Bourdieu diagnostiziert also insgesamt einen tiefen Bruch in der europäischen Gesellschaftsentwicklung. Etwa hundert Jahre, seit den achtziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts, wurde in harten Kämpfen der Wohlfahrtsstaat als Korrektiv der kapitalistischen Marktdynamiken geschaffen und ausgebaut
-Diese wohlfahrtsstaatliche Inklusion steht seit Beginn der achtziger Jahre für einen größeren Teil der Gesellschaftsmitglieder wieder in Frage. Das Rad der Geschichte hat sich in dieser Hinsicht offenbar rückwärts gedreht, wirtschaftlicher und technologischer Fortschritt geht mit sozialen Rückschritten einher
-Wo die immensen „sozialen Kosten“ des Neoliberalismus liegen, benennt Bourdieu sehr klar: „Was wird auf lange Sicht dabei auflaufen, gerechnet in Entlassungen, Krankheiten, Selbstmorden, Alkoholismus, Drogenkonsum, familiärer Gewalt?“ Diese Kosten sind in einer gesellschaftlichen Gesamtrechnung den Unternehmensgewinnen entgegenzuhalten. Die Unternehmen freilich rechnen nur letztere.
-Wo sieht Bourdieu noch soziale Kräfte, die sich dem Neoliberalismus entgegenstemmen können? Er betont, dass die Demontage des Wohlfahrtsstaates nicht unvermeidbar ist, sondern sich lediglich mit einem „Schein der Unausweichlichkeit“ bemäntele, und setzt dem Neoliberalismus die „Utopie“ eines „europäischen Sozialstaats“ entgegen. Worauf es für ihn also vor allem ankommt, ist eine Wiedererstarkung der „linken Hand des Staates“: „Angesichts des gegenwärtigen Zustandes müssen sich die Kämpfe der Intellektuellen, der Gewerkschaften, der Verbände vor allem gegen den Niedergang des Staates richten.“
—>Damit sind auch diejenigen benannt, die soziale Träger seiner „Utopie“ sein können: linke Intellektuelle und Gewerkschaften sowie die Sozialverbände. Auch soziale Bewegungen wie die französische Arbeitslosenbewegung bezieht er in dieses Lager der Verteidiger des Wohlfahrtsstaats ein. Entsprechend der Internationalisierung des Kapitals plädiert Bourdieu für eine Internationalisierung des Widerstands gegen den Neoliberalismus
-Niklas Luhmann hat in keinem einzigen seiner zahlreichen Werke eine gebündelte soziologische Gegenwartsdiagnose vorgelegt. Gegenwartsdiagnostische Ideen finden sich bei ihm immer wieder in abstraktere gesellschaftstheoretische Überlegungen oder auch in die Betrachtung einzelner gesellschaftlicher Teilsysteme eingestreut.
-Die folgende Zusammenstellung seiner gegenwartsdiagnostischen Aussagen legt daher als Rahmen Luhmanns (1997) gesellschaftstheoretisches Hauptwerk zugrunde, weil sich dort – wenn auch wiederum an vielen Stellen verstreut – alle wesentlichen Einsichten auffinden lassen
-Für Luhmann wird die moderne Gesellschaft durch die Form ihrer Differenzierung bestimmt. Anknüpfend an eine seit Herbert Spencer in der Soziologie verankerte Tradition differenzierungstheoretischen Denkens charakterisiert Luhmann die Moderne als eine funktional differenzierte Gesellschaft. Das bedeutet, dass die moderne Gesellschaft als Ganzes aus ungleichartigen, aber gleichrangigen Teilen zusammengesetzt ist. Diese Teile sind für den Systemtheoretiker Luhmann gesellschaftliche Teilsysteme. Die moderne Gesellschaft stellt demnach ein Ensemble von etwa
einem Dutzend Teilsystemen dar: Wirtschaft, Politik, Recht, Militär, Wissenschaft, Kunst, Religion, Massenmedien, Erziehung, Gesundheitswesen, Sport, Familie und Intimbeziehungen. Dass die Teilsysteme ungleichartig sind, bedeutet: Jedes weist eine andere, nur ihm zukommende funktionale Spezialisierung des in ihm stattfindenden sozialen Geschehens auf. Wirtschaftliches Handeln ist etwas ganz Anderes als politisches oder künstlerisches. Sowohl die Sinnbezüge im Handlungsvollzug als auch der funktionale Sinn des Handlungsergebnisses unterscheiden sich markant zwischen den Teilsystemen – und zwar nicht nur für einen soziologischen Beobachter, sondern für das Handeln selbst. Der soziologische Beobachter rekonstruiert nur die von und in den Teilsystemen konstruierten Unterscheidungen. So steht beim politischen Handeln letztlich die Erhaltung von Macht im Zentrum der Aufmerksamkeit, und dies findet seinen Niederschlag in kollektiv bindenden Entscheidungen; beim künstlerischen Handeln dreht sich hingegen alles um das originelle Schöne, das sich in Kunstwerken manifestiert.
-Alle Teilsysteme leisten aufgrund ihrer funktionalen Spezialisierung einen anderen Beitrag zur gesamtgesellschaftlichen Reproduktion. Gleichrangig sind sie für Luhmann deshalb, weil alle gleichermaßen unverzichtbar für die Reproduktion der modernen Gesellschaft sind und auch keines dabei durch ein anderes ersetzt werden kann. Die Wirtschaft dürfte genauso wenig ausfallen wie die Massenmedien oder das Gesundheitswesen; und ein Ausfall des Gesundheitswesens könnte nicht durch vermehrte Leistungen der Massenmedien oder irgendeines anderen Teilsystems kompensiert werden. Ob es jenseits dieser primären Gleichrangigkeit im Sinne von Unentbehrlichkeit jedes der Teilsysteme sekundäre Ungleichrangigkeiten der Art gibt, dass beispielsweise vielleicht die Wirtschaft das, was gesamtgesellschaftlich passiert oder nicht passiert, stärker prägt als etwa die Kunst, ist eine andere Frage, die Luhmann kaum einmal anspricht. Viele andere Gesellschaftsbeobachter gehen ja davon aus, dass die moderne Gesellschaft von der Wirtschaft oder der Politik oder auch der Wissenschaft ‚beherrscht’ werde. Darin sieht Luhmann eine unzulässige Übertragung von Vorstellungen, die in stratifizierten, also nach Schichten oder Ständen differenzierten Gesellschaften gültig waren, auf die moderne Gesellschaft
-Für die Moderne behauptet Luhmann hingegen: „In funktional differenzierten Gesellschaften gilt eher die umgekehrte Ordnung: das System mit der höchsten Versagensquote dominiert, weil der Ausfall von spezifischen Funktionsbedingungen nirgendwo kompensiert werden kann und überall zu gravierenden Anpassungen zwingt.“ (769) Nicht Stärke, sondern chronisches Kränkeln zwingt den anderen Teilsystemen den eigenen Willen auf; und diese müssen sich nicht unterwerfen, sondern haben Rücksicht zu nehmen. Welche Teilsysteme es sind, die der modernen Gesellschaft auf diese Weise besonders ihren Stempel aufdrücken, sagt Luhmann allerdings nirgends.
-Dies hat schon vor Luhmann Max Weber betont, der die Entstehung der modernen Gesellschaft als allmähliche Ausdifferenzierung von ‚Wertsphären’ – die Luhmanns Teilsystemen entsprechen – sah, was eben nicht nach dem Muster der Arbeitsteilung zu verstehen ist, sondern als spannungsreiches Neben- und Gegeneinander. Was z. B. wirtschaftlich nützlich ist, ist nicht unbedingt auch politisch opportun oder künstlerisch wertvoll. Jede dieser ‚Wertsphären’ tendiert zur Selbstverabsolutierung und zur entsprechenden Gleichgültigkeit gegenüber den Belangen anderer ‚Wertsphären’. Das wäre solange problemlos, wie sie beziehungslos nebeneinander wirkten. Sie wirken aber in der Weise zusammen, dass oft genug ein und dasselbe gesellschaftliche Ereignis dem Zugriff mehrerer ‚Wertsphären’ unterliegt. Das Kunstwerk kostet Geld oder ist darüber hinaus politisch anstößig, und politische Machtkalküle durchkreuzen wirtschaftliche Investitionspläne
-Genau diese Sichtweise funktionaler Differenzierung findet sich, in nochmals radikalisierter Form, bei Luhmann. Funktionale Differenzierung ist die Herausbildung von „globalen Zugriffsweisen“ auf die Welt (Türk 1995: 173). Die Ausdifferenzierung der Teilsysteme erfolgt demzufolge als Kultivierung, Vereinseitigung und schließlich Verabsolutierung von Weltsichten, bis diese sich in Form jeweils hochgradig spezialisierter, selbstreferentiell angelegter binärer Codes etabliert haben: etwa ‚zahlen’/‚nicht-zahlen’ als „distinction directrice“ (Luhmann 1986 c) des Wirtschaftssystems oder ‚Recht’/‚Unrecht‘ als Pendant beim Rechtssystem. Diese gegeneinander propagierten, also nicht wie bei einer Arbeitsteilung säuberlich aufeinander abgestimmten Leitdifferenzen gesellschaftlicher Kommunikation konstituieren keine überschneidungsfreien Zuständigkeitsbereiche, sondern eine polykontexturale Gesellschaft. Jedes soziale Ereignis in der modernen Gesellschaft – einschließlich bloß vorgestellter möglicher Ereignisse – hat eine Mehrzahl gesellschaftlich relevanter sinnhafter Bedeutungen, je nachdem, im Kontext welcher teilsystemischen Leitdifferenz es betrachtet wird. Ein Zugunglück beispielsweise lässt sich nicht der alleinigen Zuständigkeit eines bestimmten Teilsystems zuordnen, um so gleichsam unsichtbar, nämlich bedeutungslos – im doppelten Sinne des Wortes – für die übrigen Teilsysteme zu bleiben. Sondern das Zugunglück stellt sich als rechtliches, wirtschaftliches, politisches, massenmediales, wissenschaftlich-technisches, medizinisches, gegebenenfalls auch militärisches, pädagogisches oder künstlerisches Geschehen dar – und jedes Mal ganz anders!
-Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist damit nicht eine einzige, sondern so oft und so oft anders vorhanden, wie es divergierende teilsystemische Perspektiven auf sie gibt. Das Zugunglück passiert als Gegenstand von Kommunikation – und nur so wird es für Luhmann jenseits physikalisch-chemischer und biologischer Vorgänge gesellschaftlich relevant – nicht einmal, sondern eben ein halbes Dutzend bis ein Dutzend Mal. Man kann Luhmanns Sicht allen Ernstes so auf den Punkt bringen, dass funktionale Differenzierung die Gesellschaft vervielfacht. Die Gesellschaft aus der Sicht der Wirtschaft ist eine völlig andere als die(-selbe?!) Gesellschaft aus der Sicht der Politik oder aus der Sicht des Gesundheitssystems usw. Luhmann (1986a: 216) bringt es so auf den Punkt: „die Einheit der Gesellschaft ist dann nichts anderes als diese Differenz der Funktionssysteme; sie ist nichts Anderes als deren wechselseitige Autonomie und Unsubstituierbarkeit.“
-Dadurch, dass teilsystemische Kommunikationen sich im Orientierungsrahmen des jeweiligen binären Codes bewegen, sind die Teilsysteme als Kommunikationszusammenhänge selbstreferentiell geschlossen. Die beiden Pole eines binären Codes bilden somit Sinngrenzen. Sie markieren den Sinnhorizont eines Teilsystems, der den dortigen Akteuren vorgibt, um was es geht, sodass etwa ein Fußballspieler während eines Spiels weiß, dass er sich darum bemühen muss, die gegnerische Mannschaft zu besiegen – und nicht etwa religiös zu missionieren oder politisch zu agitieren
-Teilsysteme bleiben durch eine harte, kommunikativ unüberschreitbare Grenze geschieden; sie verstehen einander in dem Sinne nicht, dass keines die konstitutive evaluative Orientierung des anderen, die im binären Code zum Ausdruck kommt, zu schätzen weiß.
-Dieses Beispiel demonstriert also zum einen die selbstreferentielle Geschlossenheit der ausdifferenzierten Teilsysteme. Zum anderen zeigt es aber auch, dass es natürlich mannigfache fremdreferentielle Einwirkungen in die Teilsysteme gibt, diese also zugleich umweltoffen sind. Um mehr als punktuell zu wirken, müssen Irritationen von außen in die jeweilige Programmstruktur der Teilsysteme eingehen. Programme sind Spezifizierungen der hochabstrakten Codes: Regeln, wie die Codes zu verstehen sind – im Sport u. a. die Wettkampfregeln, in der Wirtschaft Investitionskalküle, in der Wissenschaft wissenschaftliche Theorien und Methodologien. Dies sind Beispiele für selbstreferentielle Programmelemente.
-Die Programmstruktur der Teilsysteme ist aber auch offen für von außen hereingetragene Elemente. So unterliegt etwa die wissenschaftliche Forschung rechtlichen Beschränkungen, politischen Fördermaßnahmen oder medizinischen Nutzenerwägungen. Fremdreferentielle Programmelemente können also die Selbstreferentialität der teilsystemischen Kommunikation kanalisieren, was sowohl restriktiv wie orientierend und bestärkend wirken kann. Kanalisierung bedeutet dabei wohlgemerkt nicht, dass der Code außer Kraft gesetzt wird. Auch die Erkenntnisse einer wirtschaftlich instrumentalisierten Forschung – siehe die Industrieforschung – müssen sich an ‚wahr’/‚unwahr’-Kriterien messen lassen, gerade auch, um wirtschaftlich verwendbar zu sein
-Wenn die moderne Gesellschaft als polykontexturale keine substantiell fassbare Einheit mehr darstellt und man somit strenggenommen auch nicht mehr von teilsystemischen Funktionen für das Ganze sprechen kann, heißt das also keineswegs, dass die gesellschaftlichen Teilsysteme in ihrer je eigenen Welt gänzlich unabhängig voneinander operieren. Sie sind im Gegenteil vielfältig strukturell gekoppelt. Die strukturellen Kopplungen sind kontingente Produkte teilsystemischer Ko-Evolution – z. B. die Steuerfinanzierung der Politik als strukturelle Kopplung mit der Wirtschaft oder die Mitfinanzierung bestimmter Felder der Hochschulforschung durch Unternehmen.
-Hier ist allerdings nochmals hervorzuheben, dass strukturelle Kopplungen mit Indifferenz für die Selbstreferentialität des jeweils anderen Teilsystems einhergehen. Wenn z. B. die Politik ein anderes Teilsystem durch Gesetzgebung steuert, könnte man dies ja als gezielte Einflussnahme mit der Absicht, die Funktionsfähigkeit des anderen Teilsystems zu stärken, deuten. So wird es alltagsweltlich auch getan. Differenzierungstheoretisch gesehen geht es bei so etwas aber immer nur darum, dass der politische Kommunikationszusammenhang seinen eigenen Code, also die Steigerung legitimer Macht, im Sinn hat. So wollen etwa Politiker wiedergewählt werden – und das ‚Gemeinwohl’ im Sinne der Reproduktionsfähigkeit aller übrigen Teilsysteme interessiert sie nur insoweit, wie eine gemeinwohlorientierte politische Entscheidung ihnen für die Wiederwahl nützt.
-Die Auswirkungen des eigenen Operierens in anderen Teilsystemen liegen also stets jenseits des Sinnhorizonts eines Teilsystems. Dadurch, dass die moderne Gesellschaft ein dichtes Netz derartiger struktureller Kopplungen zwischen ihren Teilsystemen aufweist, wird für Luhmann gesellschaftliche Systemintegration hauptsächlich gewährleistet. Systemintegration meint dabei nicht mehr als eine „Vermeidung des Umstands, dass die Operationen eines Teilsystems in einem anderen Teilsystem zu unlösbaren Problemen führen.“ (Luhmann 1977: 242)
-Diese Probleme können von zweierlei Art sein. Zum einen können Teilsysteme Leistungen, von denen andere abhängen, nicht in der erforderlichen Quantität oder Qualität produzieren. Beispielsweise könnte das Erziehungssystem zu wenige Akademiker, gemessen am Bedarf der Wirtschaft, produzieren, oder nur Akademiker solcher Fachrichtungen, mit denen die Wirtschaft nichts anfangen kann. Zum anderen können Teilsysteme anderen negative Externalitäten bereiten – wenn etwa das Gesundheitssystem in seinem Finanzbedarf so unersättlich ist, dass andere Teilsysteme deshalb zu kurz kommen.
-Beide Arten von Problemen sind als chronische Schwächen in der Selbstreferentialität der binären Codes angelegt; und die moderne Gesellschaft muss zufrieden sein, wenn dafür gesorgt ist, dass beides nirgends allzu lange zu weit getrieben wird. Auch eine Garantie dafür, dass die gesellschaftliche Systemintegration so auf Dauer aufrechterhalten bleibt, gibt es nicht
-Wenn man die Dynamik der modernen Gesellschaft, wie Luhmann es tut, primär als Ko-Evolution strukturell gekoppelter Teilsysteme auf der Basis der jeweils binär codierten, selbstreferentiell geschlossenen teilsystemischen Kommunikationszusammenhänge ansieht, liegt es nur nahe, sich erst einmal um die Frage der gesellschaftlichen Systemintegration zu kümmern. Diese Frage aber ist, für Luhmann jedenfalls, keine besonders besorgniserregende. Für das von dieser Differenzierungsform hervorgerufene gesellschaftliche Integrationsproblem, das sich direkt in der gesellschaftlichen Kommunikation selbst manifestiert, stehen gewissermaßen Problemlösungen bereit.
- Als sehr viel problematischer schätzt Luhmann hingegen Folgeprobleme funktionaler Differenzierung ein, die in Umwelten des Gesellschaftssystems eintreten und dann auf dieses zurückwirken können. Die eine dieser Umwelten ist die Natur im Sinne aller physikalischen, chemischen und biologischen Systeme und Zusammenhänge, deren Funktionieren von der Gesellschaft vorausgesetzt wird, aber auch mehr oder weniger nachhaltig gestört werden kann.
- Die andere Umwelt sind die einzelnen Gesellschaftsmitglieder als Personen, also als psychische Systeme. Sie müssen im Sinne gesellschaftlicher Erwartungsstrukturen funktionieren, was sich nicht in bloßer Konformität erschöpft, sondern oftmals auch anspruchsvolle kognitive und motivationale Leistungen der situativen Feinregulierung sozialer Ordnung einschließt. Auch diese Funktionstüchtigkeit des gesellschaftlichen Personals kann gesellschaftlich untergraben werden.
-Natur und Personen: In diesen beiden Richtungen – eine ältere Terminologie hätte von „äußerer“ und „innerer Natur“ der Gesellschaft gesprochen – bietet die funktionale Differenzierung offene Flanken, weil sie dort Probleme schafft oder zumindest verschärft, die die gesellschaftliche Reproduktionsfähigkeit längerfristig untergraben könnten.
- Luhmann geht dabei davon aus, dass es gerade die erfolgreiche Durchsetzung dieser Differenzierungsform ist, die heutzutage deren Kehrseite umso stärker zum Vorschein kommen lässt. Er spricht vom „Altwerden“ der funktionalen Differenzierung, wodurch „die volle Last negativer Konsequenzen ... a
-ihm zufolge werden in der modernen Gesellschaft frühere Arten einer subjektiv bedeutungsvollen Selbstbeschreibung von Personen durch Ansprüche ersetzt, die die Person an die Leistungsproduktionen der verschiedenen gesellschaftlichen Teilsysteme adressiert. Jede Selbstbeschreibung, überhaupt jede Beschreibung, setzt eine zugrundeliegende Differenz voraus.
- Wenn das aus externen Sinnvorgaben freigesetzte moderne Individuum, auf sein „Ich“ zurückgeworfen, „in den Seeleninnenräumen“ (Luhmann 1987) auch nur ins Leere stößt, also keine für die Fixierung des „Ichs“ erforderliche Differenzerfahrung machen kann, sucht es diese Differenz im Verhältnis zur Gesellschaft: „Im Geltendmachen eines Anspruchs orientiert es sich an einer Differenz zwischen dem, was momentan besteht, und dem, was sein soll, hergestellt werden soll, erreicht werden soll; und es kann sich mit seinem Anspruch identifizieren.“
- „Identifizieren“ ist hier im doppelten Sinne gemeint: Die Person stimmt mit dem Anspruch überein – und zwar deshalb, weil sie sich selbst über diesen Anspruch bestimmt.
-Der moderne Individualismus läuft so größtenteils auf einen Anspruchsindividualismus hinaus; dieser beschwört dann jedoch die Gefahr von „Anspruchsinflationen“ herauf (Luhmann 1983).
-Der Grund hierfür sind die binären Codes der Teilsysteme, die keinerlei Stoppregeln enthalten, sondern im Gegenteil geradezu dazu animieren, eine immer weitergehende Perfektionierung der teilsystemischen Leistungen für wünschenswert zu halten und zu verlangen: „Wenn einmal ein Teilsystem der Gesellschaft im Hinblick auf eine bestimmte Funktion ausdifferenziert ist, findet sich in diesem System kein Anhaltspunkt mehr für Argumente gegen die bestmögliche Erfüllung der Funktion.“ (Luhmann 1983) Luhmann sieht diesen „Steigerungszusammenhang ... von Aussichten, die die Funktionssysteme eröffnen, und von Anspruchshaltungen der Individuen“, folgendermaßen:
„Es scheint, dass die Ausdifferenzierung spezifischer Funktionssysteme dazu führt, dass auf sie gerichtete Ansprüche provoziert werden, die, da sie die Funktion in Anspruch nehmen, nicht abgewiesen werden können. Funktionsautonomie und Anspruch verzahnen sich ineinander, begründen sich wechselseitig, steigern sich im Bezug aufeinander und gehen dabei eine Symbiose ein, der gegenüber es keine rationalen Kriterien des richtigen Maßes mehr gibt.“ (Luhmann 1987
-Die funktionale Differenzierung der Gesellschaft induziert also nicht bloß Ansprüche auf Seiten ihrer Mitglieder, sondern forciert auch eine fortwährende Selbstüberbietung der Ansprüche – als da sind: Konsumchancen beim Wirtschaftssystem, Bildungschancen beim Erziehungssystem, medizinische Versorgung beim Gesundheitssystem
-„Selbstverwirklichung“ durch Inklusion ins Publikum der teilsystemischen Leistungsproduktionen ist dann die semantische Klammer, die all das zusammenhält. Immer mehr von all dem, und für alle, ist die Dynamik, die so induziert wird – zunächst als Forderungen, die dann aber real eingelöst werden müssen, wenn nicht Unzufriedenheit und Protest aufkommen sollen.
- Diese Problematik wird durch den Tatbestand ungleicher Soziallagen der Personen noch intensiviert. Zwar schafft funktionale Differenzierung nach Luhmanns Einschätzung keine sozialen Ungleichheiten, verschärft sie auch nicht unbedingt, beseitigt diesen durch andere Faktoren erzeugten Stachel von Unzufriedenheit aber auch nicht, aus dem dann unter bestimmten Bedingungen individuelle Devianz oder kollektive Rebellion entstehen können.
-Der soziale Vergleich mit anderen, die – auf bestimmte Teilsysteme oder auf die Gesamtheit der Teilsysteme bezogen – über mehr Optionen der Lebensführung verfügen, kann Anspruchsspiralen in Gang halten. Wenn die Bessergestellten angesichts dessen nichts abgeben, also eine Umverteilung empfangener teilsystemischer Leistungen vermeiden wollen, bleibt vor allem eine Steigerung der teilsystemischen Leistungsproduktionen übrig, um Verteilungsko
-Also: „Man kann Unterschiede in den Lebensbedingungen nicht ignorieren, aber sie werden als Problem auf Zeit bezogen.“ Denn man „bemüht ... sich um Wachstum in der Annahme, dass ein quantitatives Mehr bessere Verteilungen ermöglichen würde“. Eine solche Konfliktentschärfung durch Wachstum ist die Antwort auf die ‚Anspruchsinflationen’, die der Wohlfahrtsstaat und die ‚Überflussgesellschaft’ gefunden haben.
- Die Frage, die sich Luhmann stellt, ist aber, ob diese Antwort genügt, und vor allem, ob sie immer weiter gültig bleiben kann. In mindestens drei Hinsichten ist hier Skepsis angesagt:
• Erstens sind bestimmte teilsystemische Leistungen nicht beliebig vermehrbar, sondern stellen im Sinne Fred Hirschs (1976) „positionale Güter“ dar. Das gilt etwa für Bildungszertifikate. Wenn immer mehr Personen Hochschulabschlüsse erwerben, werden diese immer wertloser auf dem Arbeitsmarkt. Damit wird die Unzufriedenheit nur vorübergehend beseitigt und taucht bald in anderer Form wieder
• Die teilsystemischen Leistungsproduktionen können an „Grenzen des Wachstums“ stoßen, wie sie sich insbesondere als Finanzknappheit manifestieren können. So hat die „Kostenexplosion“ im Gesundheitssystem dazu geführt, dass bestimmte medizinische Leistungen rationiert werden. Luhmann sieht hier sogar gewisse Chancen: „‚Mehr Geld‘ ist der kategorische Optativ dieser Gesellschaft, gerade weil alle Erhaltungs- und Steigerungsansprüche damit in Gang gehalten werden können; und ‚weniger Geld‘ ist zugleich das einzige Regulativ, das ... die Grenzen des Erreichbaren ... repräsentiert.“ Aber Unzufriedenheit ruft dies natürlich hervor – und die ist riskant.
• Oder die „Grenzen des Wachstums“ werden – etwa aus Angst vor den Folgen verbreiteter Unzufriedenheiten – einfach ignoriert. Das kann dann allerdings zu einer Problemverschiebung in Richtung Natur führen. Das eklatanteste Beispiel dafür gibt das Wirtschaftssystem ab. Um die Nachfrage von Seiten der Konsumenten zu befriedigen und deren Lebensstandard nicht zu gefährden, wird – siehe etwa das Wachstum des Verbrauchs nicht erneuerbarer Energien – die natürliche Umwelt der Gesellschaft so ausgebeutet, dass womöglich die mittelfristige Reproduktionsfähigkeit der Gesellschaft aufs Spiel gesetzt wird.
-Das Bisherige zeigt, dass die Inklusion der Personen in die funktional differenzierte Gesellschaft gewisse Probleme – zunächst für die Personen, dann aber auch für die Gesellschaft – aufwerfen kann. Die andere Seite dessen, was die funktional differenzierte Gesellschaft den Personen und darüber wiederum sich selbst bescheren kann, sind Exklusionsverkettungen.
-Sie kommen entweder dann zum Tragen, wenn der Wohlfahrtsstaat seine ‚Grenzen des Wachstums’ erreicht hat, oder dann, wenn er gar nicht existiert. In besonders eklatanter Form findet sich dies in vielen Ländern der Dritten Welt, etwa in Gestalt von Elendsvierteln. Aber auch die Ghettos nordamerikanischer Großstädte oder heruntergekommene Arbeiterviertel in industriellen Krisenregionen Europas sind Orte der Exklusion bzw. zumindest der starken Exklusionsgefährdung.
-Exklusion bedeutet, dass eine Person keine Teilhabe an den Leistungen hat, die ein bestimmtes Teilsystem seinem Publikum gewährt. Die betreffende Person gehört somit nicht zum Publikum. Wichtig ist, dass Exklusion sich zumeist nicht auf ein einziges Teilsystem beschränkt, sondern Kettenreaktionen hervorruft – wie Luhmann an brasilianischen Favelas erläutert
„Denn die faktische Ausschließung aus einem Funktionssystem – keine Arbeit, kein Geldeinkommen, kein Ausweis, keine stabilen Intimbeziehungen, kein Zugang zu Verträgen und zu gerichtlichem Rechtsschutz, keine Möglichkeit, politische Wahlkampagnen von Karnevalsveranstaltungen zu unterscheiden, Analphabetentum und medizinische wie auch ernährungsmäßige Unterversorgung – beschränkt das, was in anderen Systemen erreichbar ist, und definiert mehr oder weniger große Teile der Bevölkerung, die häufig dann auch wohnmäßig separiert und damit unsichtbar gemacht werden.“
-Zwar gab es auch in vormodernen Gesellschaften Formen der Exklusion, wenn man an Bettler oder fahrendes Volk denkt. Doch Luhmann betont: „Schon rein quantitativ haben die Exklusionsprobleme heute ein anderes Gewicht. Sie haben auch eine andere Struktur. Sie sind direkte Folgen der funktionalen Differenzierung des Gesellschaftssystems“ – u. a. deshalb, weil „Mehrfachabhängigkeit von Funktionssystemen den Exklusionseffekt verstärkt.“
-Luhmann weist darauf hin, „dass die Variable Inklusion/Exklusion in manchen Regionen des Erdballs drauf und dran ist, in die Rolle einer Meta-Differenz einzurücken und die Codes der Funktionssysteme zu mediatisieren.“
-Funktionale Differenzierung würde also als primäre Differenzierungsform der modernen Gesellschaft zumindest räumlich eingeschränkt, indem die teilsystemübergreifende Differenz inkludiert/exkludiert den teilsystemischen Codes vorgeschaltet wird. Nur wer jeweils inkludiert ist, kann überhaupt auf Recht, Zahlungsmittel, politische Macht usw. zugreifen. Das heißt aber nichts Anderes als: Funktionale Differenzierung ist eben nicht das weltweit dominierende Differenzierungsprinzip. In größeren Teilen der Weltgesellschaft hat es die Mehrheit der Bevölkerung nie erreicht; und selbst dort, wo die funktionale Differenzierung ein hohes Inklusionsniveau realisiert hat, gibt es Exklusion – vielleicht sogar wieder in zunehmendem Maß
-Aus diesen Exklusionsphänomenen erwächst ein gravierendes Problem gesellschaftlicher Ordnung. Denn angesichts des heute propagierten „Postulats einer Vollinklusion aller Menschen“ in alle Teilsysteme gibt es kaum noch normativ legitimierte Verweigerungen der Teilhabe -so wie im letzten Jahrhundert die Arbeiter nicht wählen oder die Frauen keine Hochschulen besuchen durften. Genau deshalb rufen die faktischen Teilhabeverweigerungen große Unzufriedenheiten hervor, sind potentieller Explosivstoff für die gesellschaftliche Ordnung. Individuelle und kollektive Gewalt kann aus Exklusionserfahrungen hervorgehen nicht zuletzt deshalb, weil Menschen im Exklusionsbereich, wie Luhmann beobachtet, sich fast nur als Körper und mittels ihres Körpers gesellschaftliche Beachtung verschaffen können
-Wechselt man nun zur Betrachtung des Naturverhältnisses der modernen Gesellschaft über, findet man ein ähnliches Muster wie beim Exklusionsproblem. Viele Teilsysteme tragen durch ihre jeweilige Indifferenz gegenüber den Folgen ihres Operierens für die natürliche Umwelt dazu bei, dass auch aus dieser Richtung die Reproduktionsfähigkeit der modernen Gesellschaft gefährdet werden kann.
-Anders als viele andere Beiträge zur Ökologiedebatte stellt Luhmann allerdings zunächst klar, dass Naturzerstörung oder -gefährdung überhaupt erst und nur dann gesellschaftlich relevant ist, wenn es ein Kommunikationsereignis ist: „Es mögen Fische sterben oder Menschen, das Baden in Seen oder Flüssen mag Krankheiten erzeugen, es mag kein Öl mehr aus den Pumpen kommen und die Durchschnittstemperaturen mögen sinken oder steigen: solange darüber nicht kommuniziert wird, hat dies keine gesellschaftlichen Auswirkungen.“
-Man mag einwenden, dass gesellschaftliche Auswirkungen auch latent, sozusagen ‚hinter dem Rücken’ der Kommunikation eintreten können – im Extremfall bei einer großen ökologischen Katastrophe, die organische und darüber auch psychische Systeme, also Menschen, als Träger von Kommunikationen massenhaft vernichtet. Entscheidender ist Luhmanns Schlussfolgerung, dass die gesellschaftlichen Auswirkungen ökologischer Externalitäten gesellschaftlichen Operierens nur so beobachtet und behandelt werden, wie es den binären Codes der verschiedenen Teilsysteme entspricht: „Was immer an Umweltverschmutzungen auftritt, kann nur nach Maßgabe des einen oder des anderen Codes wirkungsvoll behandelt werden“
-So wird etwa die Wirtschaft nur unter dem Gesichtspunkt der Zahlungsfähigkeit auf die natürliche – ebenso wie auf ihre gesellschaftliche oder psychische – Umwelt aufmerksam. Und das hieß lange Zeit, und heißt auch heute noch überwiegend: Es ist kostengünstiger, sich nicht um die Erfordernisse der Natur und die längerfristigen gesellschaftlichen – auch: wirtschaftlichen – Anforderungen an die Natur zu kümmern. Oder das Beispiel Wissenschaft: Dieses gesellschaftliche Teilsystem trägt, weniger durch unmittelbare Erkenntnis neuer Wahrheiten als vielmehr durch darauf basierende technische Anwendungen in anderen Gesellschaftsbereichen, zu den ökologischen Externalitäten der modernen Gesellschaft bei. Luhmann stellt daher fest: „Die Fähigkeit, technisch Mögliches abzulehnen, gewinnt in dieser Situation zunehmend an Bedeutung.
-Luhmanns Generalformel für ein derartiges Ausblenden der Belange der Natur durch die verschiedenen Teilsysteme lautet, dass die funktional differenzierte Gesellschaft „angesichts ökologischer Gefährdungen zu wenig Resonanz aufbringt.“ Er hält auch eine häufig anzutreffende, geradezu schon reflexartig eingeübte Reaktionsweise darauf für wenig hilfreich: „Die verbreitete Neigung, in dieser Lage ‚Verantwortung‘ anzumahnen, kann nur als Verzweiflungsgeste beobachtet werden.“
-Man könnte, Luhmanns Überlegungen zu „Anspruchsinflationen“ aufgreifend, noch weitergehen und derartige moralische Appelle geradezu als gesellschaftlichen Selbstbetrug werten. Denn schließlich gehen die ökologischen Probleme in ganz erheblichem, vielleicht sogar überwiegendem Maße darauf zurück, dass insbesondere das Wirtschaftssystem per Inklusion geweckte Ansprüche der Personen bereitwilligst bedient. Wenn weltweit die vorherrschende Form des Umgangs mit Ungleichheit, also Verteilungskonflikten, in wirtschaftlichem Wachstum besteht, um Umverteilung zu vermeiden, stößt das früher oder später an ‚Grenzen des Wachstums’: Immer mehr verlangen immer mehr, und es ist immer weniger da.
-Hat man sich damit die drei Hauptfronten vergegenwärtigt, an denen für Luhmann Selbstgefährdungen der funktional differenzierten Gesellschaft auftreten können, und zwar nicht als zufällige Unfälle, sondern – um einen Ausdruck Charles Perrows aufzugreifen – als ‚normal accidents’, also als strukturell angelegte Probleme, kann man sich dann fragen, welche Arten der Bewältigung dieser Probleme gesellschaftlich vorgesehen sind.
-Hier denkt man, einer weitverbreiteten Haltung folgend, zunächst einmal an politische Gesellschaftssteuerung – was aber von Luhmann vehement abgelehnt wird. Denn für ihn ist politische Gesellschaftssteuerung erstens ein Ding der Unmöglichkeit, versteht man darunter die gezielte Intervention in andere Teilsysteme. Wenn sowohl die Politik als auch die anderen zu steuernden Teilsysteme selbstreferentiell geschlossene Kommunikationszusammenhänge sind, ist das, was als politische Gesellschaftssteuerung deklariert wird, nichts als eine entsprechend angelegte Selbstbeobachtung der Politik.
-Die Politik begreift sich als gesellschaftliche Steuerungsinstanz – aber das ist, so könnte man sagen, lediglich ihre eigene Lebenslüge und damit ein selbstgeschaffenes Problem, weil die Politik so aller meistens zu registrieren hat, dass ihre entsprechend deklarierten Bemühungen scheitern.
-Zwar hat ihr selbstreferentielles Operieren aufgrund struktureller Kopplungen z. B. mit der Wissenschaft durchaus Wirkungen dort; aber diese sind für beide Seiten erratisch: für die Wissenschaft, weil sie aus dem binären Code der Politik hervorgehen und nicht dem der Wissenschaft entsprechen, und für die Politik, weil die strukturellen Kopplungen aus den politischen Kommunikationen so verformte Effekte hervorbringen, damit diese in den Kommunikationszusammenhang der Wissenschaft passen, aber dann nicht länger als Realisierung der ursprünglichen politischen Gestaltungsabsichten gelten können.
-Doch selbst wenn Luhmann politische Gesellschaftssteuerung als möglich erschiene, wäre sie für ihn zweitens unnötig und womöglich gar schädlich. Er behauptet lapidar: „Fürs Überleben genügt Evolution.“ (Luhmann 1984: 645) ‚Überleben’, also eine dauerhafte Reproduktionsfähigkeit der modernen Gesellschaft, ist bereits hyperkomplex, weil es über vielfältigste strukturelle Kopplungen ineinander verschlungene teilsystemische Reproduktionsvorgänge umfasst. Jedes besserwisserische Bemühen eines gezielten Eingriffes verstrickt sich für Luhmann unrettbar in einer „Logik des Misslingens“
-Gerade der moderne Wohlfahrtsstaat vermag allerdings, wie nicht nur Luhmann bemerkt hat, kaum die Finger davon zu lassen, sich in alle möglichen gesellschaftlichen Problemkomplexe einzumischen. Der Wohlfahrtsstaat mutet sich selbst eine „Gesamtverantwortung der Politik für die Gesellschaft“ zu – und scheitert regelmäßig daran: „Das Gesamtbild ... lässt sich als Selbstüberforderung des politischen Systems charakterisieren.“ (Luhmann 1981: 143, 152, Hervorh. weggel.) Luhmann empfiehlt der Politik daher, von ihrem ‚expansiven’ Politikverständnis abzugehen und zu einem ‚restriktiven’ umzuschwenken, das sich auf Regulierung gesellschaftlicher Konfliktlagen durch kollektiv bindende Entscheidungen zurückzieht, ohne damit Steuerungsansprüche zu verbinden. Dies ist, klar erkennbar, ein Rückzug ins Staatsverständnis des 19. Jahrhunderts. Egal, für wie realistisch man solchen Rat hält: Wird er befolgt, fällt die Politik als Instanz zur Bewältigung der dargestellten Folgeprobleme funktionaler Differenzierung aus.
-Eine zweite Adresse, von woher oftmals Problembewältigung erhofft wird, sind soziale Bewegungen – von der Ökologie- über die Friedens- und Frauen- bis hin zur vielfältigen Bürgerinitiativbewegung. Luhmann hat sich mit dieser Vorstellung insbesondere angesichts der ökologischen Probleme beschäftigt.Seine Einschätzung fällt höchst ambivalent aus. Auf der einen Seite erkennt er an, dass die diversen Protestbewegungen ganz zu Recht auf die vorhandenen und drohenden Folgeprobleme funktionaler Differenzierung hinweisen. Gäbe es nicht die Ökologiebewegung, wüsste außerhalb einiger Expertenzirkel niemand etwas über ökologische Probleme. Auf der anderen Seite vermisst Luhmann jedoch an den neuen sozialen Bewegungen jeden Ansatz einer adäquaten Beschreibung der modernen Gesellschaft: „Den neuen sozialen Bewegungen fehlt Theorie. ... Vorherrschend findet man daher eine recht schlichte und konkrete Fixierung von Zielen und Postulaten, eine entsprechende Unterscheidung von Anhängern und Gegnern und eine entsprechende moralische Bewertung.“
-Für Protestkommunikation eignen sich generell ‚zwiespältige Themen’ besonders gut – und „zwei von ihnen haben, weil sehr allgemein, besondere Prominenz erreicht“: „Die eine ist die Sonde der internen Gleichheit, die, wenn in die Gesellschaft eingeführt, Ungleichheiten sichtbar macht. Die andere ist die Sonde des externen Gleichgewichts, die, wenn eingeführt, die gesamte Gesellschaft als im ökologischen Ungleichgewicht erweist.“
-Mehr als Empörung über Ungleichheiten oder Panik angesichts von ökologischen Gefahren erzeugen die sozialen Bewegungen nach Luhmanns Eindruck allerdings nicht. Wenn die Empörung zu ‚Anspruchsinflationen’ führt, wirkt sie nur problemverschärfend. Wenn sie Exklusion skandalisiert, reicht sie ebenso wie die ‚Angstkommunikation’ der Ökologiebewegung allenfalls als Anfangsimpuls einer Problembewältigung aus. Letztlich macht Luhmann die Aporie der neuen sozialen Bewegungen darin aus, dass sie zu radikal sind. Ihr gemeinsamer Nenner ist der „Protest gegen die funktionale Differenzierung des Gesellschaftssystems“. Dem setzt Luhmann entgegen
„Für funktionale Differenzierung gibt es aber keine Alternative – es sei denn, man wollte auf eine segmentäre Differenzierung (von Wohngemeinschaften?) oder auf eine politbürokratische Hierarchisierung der Gesellschaft zurück. Die Alternativen sind also ohne Alternative. Sie können sich in kleinen oder großen Dingen (etwa in Fragen der Energieversorgung) Alternativen ausdenken und sie zur Wahl stellen; aber das ist nichts Besonderes, das tut das ‚System’ sowieso.“
Die Differenzierungsform der modernen Gesellschaft ist somit für Luhmann (1994: 197) ein kognitives und evaluatives Apriori ihrer Selbstthematisierung: „wir können uns nicht vorstellen, wie die Bevölkerungsmengen, das Lebensniveau, also die Errungenschaften der Moderne gehalten werden könnten, wenn wir funktionale Differenzierung aufgäben. Da hat man kein anderes Modell in Sicht.“ Nur als katastrophaler evolutionärer Rückfall wäre eine Alternative vorstellbar. Dies ist natürlich eine Befangenheit im Gegebenen, wie Luhmann mit einem historischen Vergleich selbst klarmacht: „Die Adelsgesellschaften des Mittelalters oder der frühen Neuzeit konnten sich auch nicht vorstellen, wie es Ordnung geben könnte ohne Hierarchie. Hierarchie war gleichbedeutend mit Ordnung.“ Die Selbstbeobachtung der Moderne kann ihre Befangenheit durch solche Vergleiche allerdings nur abstrakt einräumen, ohne dadurch über sie hinwegzukommen.
-Wenn also etwas Anderes als funktionale Differenzierung für uns – im doppelten Sinne des Wortes – undenkbar ist: Könnte man dann nicht vielleicht darauf vertrauen, dass diese Differenzierungsform selbst ihre eigenen Folgeprobleme angeht? Diese Art der Problembewältigung hat Luhmann bezüglich der Exklusionsproblematik zumindest angedacht. Ein mögliches Korrektiv, das er hierzu anspricht, wäre die Ausdifferenzierung eines neuen gesellschaftlichen Teilsystems, das sich der Exklusionskorrektur zuwenden würde. Weil sich keines der bisherigen Teilsysteme dafür zuständig fühlt, „wäre eher damit zu rechnen, dass sich ein neues, sekundäres Funktionssystem bildet, das sich mit den Exklusionsfolgen funktionaler Differenzierung befasst – sei es auf der Ebene der Sozialhilfe, sei es auf der Ebene der Entwicklungshilfe.“ Ähnlich könnte man zu den ökologischen Problemen der Frage nachgehen, ob vielleicht auch für diese Thematik ein Teilsystem im Werden begriffen ist, dessen Keimzellen bislang noch höchst verstreut sind – von Bürgerinitiativen und -aktionen über Greenpeace bis hin zu den sich herausbildenden politisch-wissenschaftlichwirtschaftlichen interorganisatorischen Netzwerken. Der binäre Code müsste auf der Linie ‚Nachhaltigkeit’/‚mangelnde Nachhaltigkeit’ liegen.
-Dies ist differenzierungstheoretisch zumindest konsequent gedacht – was natürlich erstens noch nichts über reale Chancen eines solchen Vorgangs besagt und zweitens offenlässt, ob diese neuen Teilsysteme – gesetzt, es gäbe sie – ihre Bezugsprobleme tatsächlich soweit in den Griff bekommen, dass die gesellschaftliche Reproduktionsfähigkeit gesichert ist. Ebenso wenig wie für die Erhaltung gesellschaftlicher Systemintegration lässt sich für die Bewältigung dieser anderen Probleme differenzierungstheoretisch irgendeine Art von Garantieerklärung liefern
-Giddens‘ Gegenwartsanalysen basieren auf der von ihm entworfenen und im soziologischen Diskurs viel beachteten „Theorie der Strukturierung“ (Giddens 1984). Mit diesem Ansatz bemüht er sich um eine Überwindung des scheinbaren Gegensatzes von subjektivistisch orientierten Handlungstheorien einerseits und objektivistisch ausgerichteten Strukturtheorien andererseits. Es ist für das weitere Verständnis hilfreich, einen Teil dieser theoretischen Fundierung einleitend darzustellen.
-Im Zentrum steht der Versuch, Gesellschaft als Strukturzusammenhang und zugleich akteurbezogen als Handlungskonsequenz – soziales Leben als einen permanenten Vorgang rekursiver Reproduktion – zu beschreiben. Die Begriffe Handlung und Struktur sind dabei ohne Überordnung eines der beiden ineinander verwoben: Strukturen erscheinen nicht als abstrakte Muster, die himmelsgleich über den Akteuren schweben, sondern sind Bedingungen und Resultate des Handelns.
-Strukturen sind, wie Giddens (1988: 290) es formuliert, „chronisch in das Handeln selbst eingebettet“, so dass von einer prinzipiellen „Dualität der Struktur“ ausgegangen werden muss: Es gibt keine Struktur, die nicht auf Handlungen zurückgeht und keine Handlungen ohne die Prägung durch Strukturen.
-Mit der These von der Dualität der Struktur erhebt Giddens den Anspruch auf eine Überwindung der vermeintlichen Gegenpole makro- und mikrosoziologischer Ansätze. Der Strukturbegriff als Pendant zum Terminus der Handlung verweist auf Regeln und Ressourcen in der (Re-)Produktion sozialer Systeme, die als institutionalisierte dauerhafte Gegebenheiten erst im Handeln der Akteure real werden. Dabei gilt: „Struktur darf nicht mit Zwang gleichgesetzt werden: sie schränkt Handeln nicht nur ein, sondern ermöglicht es auch.“ (Giddens 1984). Dieser ermöglichende und restriktive Charakter von Strukturen wird am Beispiel des Spracherwerbs verdeutlicht:
„Niemand ‚wählt‘ seine eigene Muttersprache, obwohl deren Aneignung so etwas wie die ‚Zustimmung‘ des Subjekts voraussetzt. Da jede Sprache das Denken (und Handeln) einschränkt, insofern sie nämlich auf einer Reihe geformter, regelgeleiteter Muster aufbaut, zieht der Prozess des Spracherwerbs dem Denken und Handeln gewisse Grenzen. Auf der anderen Seite freilich erweitert das Erlernen einer Sprache die kognitiven und praktischen Fähigkeiten eines Individuums ungemein.“ (Giddens 1984: 224)
-Die Kategorie des Handelns wird von Giddens unabhängig von dem Begriff der Zielorientierung oder des absichtsvollen Strebens eingeführt. Handeln bezieht sich statt auf die Intentionalität des Akteurs auf dessen praktisches Einwirkungs- und Veränderungsvermögen bezüglich seiner Umwelt: „Handeln ist, mit anderen Worten, nichts weiter als das ständige Eingreifen der Menschen in die natürliche und soziale Ereigniswelt.“ (Giddens 1988: 289)
-Ein wichtiges Element ist dabei das, was Giddens (1990: 52) das „reflexive Registrieren des Handelns“ nennt. Gemeint ist eine als Merkmal jeglichen menschlichen Handelns geltende Verbindung einer Handlung mit ihrer Begründung – die Entwicklung von „theoretischem Verständnis“ für die Gründe des Handelns. Dieses Wissen ist allerdings weniger theoretisch als ein praktisch veranlagtes Regelwissen: Man kann den Sinn oder Inhalt einer Regel unter Umständen nur diffus abstrakt formulieren, aber sie trotzdem in verschiedenen Kontexten präzise anwenden. Es herrscht eine Art „Quasi-Bewusstsein“ der Regeln vor. Die so erlangte reflexive Steuerung des Handelns bezieht sowohl die anderen Akteure als auch die sozialen Umstände mit ein, so dass Akteure insgesamt nicht als Erfüllungsmomente sozialer Strukturen begriffen werden können.
-Im Gegenteil gesteht Giddens den Akteuren Handlungsfähigkeiten und Kompetenzen zu, die ihnen ein Eingreifen in ihre soziale und materielle Umwelt und somit die aktive Teilnahme an der Produktion von Strukturen gestattet. Zusammenfassend beschreibt Giddens den Kern seiner Strukturierungstheorie folgendermaßen:
-„Die Begriffe ‚Struktur‘ und ‚Handeln‘ bezeichnen so die allein analytisch unterschiedenen Momente der Wirklichkeit strukturierter Handlungssysteme. Strukturen selbst existieren gar nicht als eigenständige Phänomene oder Praktiken menschlicher Individuen. Struktur wird immer nur wirklich in den konkreten Vollzügen der handlungspraktischen Strukturierung sozialer Systeme ...“
-Giddens' gesellschaftstheoretisches Ziel ist eine zeitdiagnostische Institutionenanalyse der Moderne, die deren Konsequenzen freilegt. Zunächst präzisiert Giddens seinen Untersuchungsgegenstand:
„Das Wort ‚Moderne‘ bezieht sich auf Arten sozialen Lebens oder der sozialen Organisation, die in Europa etwa seit dem siebzehnten Jahrhundert zum Vorschein gekommen sind und deren Einfluss seither mehr oder weniger weltweite Verbreitung gefunden hat. Diese Bestimmung bringt die Moderne mit einem Zeitabschnitt und einem geographischen Ausgangspunkt in Zusammenhang ...“ (Giddens 1990)
-Für Giddens (1990) machen drei Elemente die besondere Dynamik der Moderne aus:
1. Die Entkopplung von Raum und Zeit. Diese erste Komponente ist ein Basiselement seiner Sozialtheorie, da sich ihm das klassische soziologische Problem sozialer Ordnung als ein Problem der Handhabung des Verhältnisses von Raum und Zeit darstellt und auch die spannungsreiche Entwicklung der Moderne der raumzeitlichen Anlage moderner Institutionen geschuldet ist. Das vormoderne typische Verhältnis von Distanz und Zeit als miteinander korrelierende Maßeinheiten (je größer die Distanz, desto mehr Zeit wird zur Überwindung benötigt und vice versa) ist aufgebrochen.
2. Damit eng verbunden ist der von Giddens „Entbettung“ genannte Vorgang: „Unter Entbettung verstehe ich das ‚Herausheben‘ sozialer Beziehungen aus ortsgebundenen Interaktionszusammenhängen und ihre unbegrenzte Raum-Zeit-Spannen übergreifende Umstrukturierung.“ (Giddens 1990: 33) Die Entwicklung symbolischer Zeichen – frei flottierende, die spezifischen Merkmale ihrer Anwender ignorierende Austauschmedien wie z. B. Geld – und die Installierung von Expertensystemen sind dabei besondere Mechanismen der Entbettung, da sie außerordentlich dazu beitragen, soziale Beziehungen aus ihren unmittelbaren situativen Kontexten zu lösen.
3. Allerdings setzen diese Entbettungsmechanismen eine enorme Mobilisierung von Vertrauen voraus: „Vertrauen ist ein Mittel zur Ordnung sozialer Beziehungen in Zeit und Raum.“ (Giddens 1994b: 163)
-Diese drei Dynamiken wirken nun innerhalb von vier verschiedenen, einander wechselseitig beeinflussenden – typisch modernen – institutionellen Komplexen: Kapitalismus, Industrialismus, Überwachung und Kontrolle über Gewaltmittel (Giddens 1990).
-Vom Kapitalismus spricht Giddens als Warenproduktionssystem, das durch das Verhältnis von privatem Kapitalbesitz und besitzloser Lohnarbeit ein Klassensystem bildet. Der Einsatz unbelebter Quellen materieller Energie zur Güterfertigung steht im Mittelpunkt des den Industrialismus auszeichnenden Produktionsprozesses. Wichtig ist Giddens, dass kapitalistische Gesellschaften in einem nationalstaatlich organisierten Verwaltungssystem eingebettet sind:
„Eine derartige Konzentration der Verwaltung beruht ihrerseits auf der Entwicklung von Überwachungsfähigkeiten, die weit über die charakteristischen Möglichkeiten traditionaler Zivilisationen hinausgehen, und die Apparate der Überwachung bilden eine dritte institutionelle Dimension, die – ebenso wie Kapitalismus und Industrialismus – mit der Entstehung der Moderne verknüpft ist.“ (Giddens 1990)
-Davon unterschieden ist die vierte Dimension der Kontrolle über die Mittel zur Gewaltanwendung, die besonders in Form militärischer Macht auftritt. Obwohl auch für vormoderne Gesellschaften militärische Macht immer schon ein wichtiger Faktor war, konnten sie keine langfristige Unterstützung generieren: „Das erfolgreich wahrgenommene Monopol über die Mittel zur Gewaltanwendung innerhalb territorial genau feststehender Grenzen ist ein kennzeichnendes Merkmal des modernen Staats.“ (Giddens 1990)
-Das Besondere der zeitgenössischen Gesellschaft ist nun die extreme Steigerung der drei dynamischen Elemente der Moderne, was zu Transformationen ihrer vier institutionellen Dimensionen führt und damit insgesamt eine Radikalisierung der Moderne bewirkt. Die derzeitigen Verhältnisse sind in Giddens' Perspektive der modernen Dynamik geschuldet und gestatten keinen Wechsel in der Selbstbeschreibung der Gesellschaft: „Wir treten nicht in eine Periode der Postmoderne ein, sondern bewegen uns auf eine Zeit zu, in der sich die Konsequenzen der Moderne radikaler auswirken als bisher.“ (Giddens 1990)
-Besonders hervorzuheben ist dabei die Geschwindigkeit und Reichweite des Wandels sowie die Neuartigkeit der Gliederungsprinzipien moderner Institutionen, hervorgerufen durch die genannten dynamischen Elemente der Moderne. Die raumzeitliche Abstandgewinnung, die Entbettung und die Notwendigkeit der Vertrauensschöpfung werden in ihrer Radikalität mit dem Terminus der „Globalisierung“ (Giddens 1998) zusammenzfassen versucht
„Definieren lässt sich der Begriff der Globalisierung demnach im Sinne einer Intensivierung weltweiter sozialer Beziehungen, durch die entfernte Orte in solcher Weise miteinander verbunden werden, dass Ereignisse am einen Ort durch Vorgänge geprägt werden, die sich an einem viele Kilometer entfernten Ort abspielen, und umgekehrt.“ (Giddens 1990) „Worum es bei Globalisierung eigentlich geht, ist die Umwandlung von Raum und Zeit. Ich würde sie als Handeln auf Entfernung definieren und ihre Intensivierung in den letzten Jahren auf die Entwicklung von extrem schnellen globalen Kommunikations- und Massenverkehrsmitteln zurückführen.“
-Dieser Vorgang verändert die institutionellen Dimensionen der Moderne. Der nationalstaatlich gebundene Kapitalismus erweitert sich zu einer kapitalistischen Weltwirtschaft, in der sich global agierende Unternehmen zu vorherrschenden Handlungsinstanzen entfalten. Informationskontrolle und soziale Überwachung werden nun innerhalb eines internationalen Systems der Nationalstaaten vollzogen, das von Giddens als Teil des modernen reflexiven Registrierens begriffen wird, hier verstanden als Anerkennung der inner-territorialen Autonomie eines Staates durch andere Staaten. Jene Souveränitätsansprüche der Einzelstaaten und die Tendenz zur Zentralisierung innerhalb des Staatensystems gehen in dialektischer Weise miteinander einher.
-Der gleichen Dialektik unterliegt die Dimension militärischer Macht, die im Zuge der Globalisierung in den Rahmen einer militärischen Weltordnung gestellt wird. Die Abnahme der Wirksamkeit lokaler wirtschaftspolitischer Maßnahmen durch das Einsetzen globaler Arbeitsteilung transformiert letztlich den Industrialismus auf eine neue Stufe seines Fortgangs. Alle vier Globalisierungsaspekte müssen vor dem Hintergrund einer ständigen Leistungssteigerung von Kommunikationstechniken gesehen werden, die als wesentliches Reflexivitätselement den Motor einer kulturellen Globalisierung darstellen:
„Der springende Punkt ist hier nicht der, dass die Menschen zufällig über viele Ereignisse aus der ganzen Welt Bescheid wissen, von denen sie in früheren Zeiten nichts gehört hätten. Vielmehr geht es darum, dass die globale Ausweitung der Institutionen der Moderne unmöglich wäre ohne das von den ‚Nachrichten‘ repräsentierte gemeinsame Wissen.“
-Diese Dynamik der Moderne charakterisiert Giddens zusammenfassend in Anlehnung an die indische Mythologie mit dem Bild des „Dschagannath-Wagens“: „Dies ist eine nicht zu zügelnde und enorm leistungsstarke Maschine, die wir als Menschen kollektiv bis zu einem gewissen Grade steuern können, die sich aber zugleich drängend unserer Kontrolle zu entziehen droht und sich selbst zertrümmern könnte. ... Doch solange die Institutionen der Moderne Bestand haben, werden wir niemals imstande sein, die Route oder die Geschwindigkeit völlig unter Kontrolle zu kriegen.“
-Die Konsequenzen dieser Entwicklung beschreibt Giddens mit den Schlagworten der „Umformung von Zusammenhängen sozialer Erfahrung“, der „posttraditionalen Sozialordnung“ sowie der „Ausdehnung sozialer Reflexivität“. Umformung von Zusammenhängen sozialer Erfahrung meint – in enger Anlehnung an die erwähnten Globalisierungstendenzen – die Beeinflussung des Handelns aufgrund von irgendwo auf der Welt stattfindenden Ereignissen, die bis in die Intimsphäre persönlicher Existenz einwirken:
„Die Globalisierung schafft nicht nur umfassende Systeme, sondern gestaltet auch die lokalen und sogar persönlichen Kontexte der gesellschaftlichen Erfahrung um. Immer stärker werden unsere Alltagsaktivitäten von Ereignissen beeinflusst, die sich auf der anderen Seite der Welt abspielen. Umgekehrt sind lokale Lebensstile global folgenreich geworden. So wirkt sich meine Entscheidung für den Kauf eines bestimmten Kleidungsstücks nicht nur auf die internationale Arbeitsteilung aus, sondern auch auf die Ökosysteme der Erde.“
-Eine posttraditionale Sozialordnung lässt die prinzipielle Geltung von Traditionen – verstanden als Problemlösungs-Autorität im Sinne einer ‚formelhaften Wahrheit’ – nicht mehr unhinterfragt, sondern zieht sie permanent in das Licht diskursiver Begründung (Giddens 1996). Traditionen werden in der Moderne nicht völlig obsolet, erhalten aber einen anderen Stellenwert: Sie existieren entweder als stets zu rechtfertigende Werte innerhalb einer dialogischen Kultur oder in Form von Fundamentalismen. Auch Natur als eine das soziale Handeln strukturierende, relativ unveränderliche Gegebenheit kann in diesem Sinne als Tradition verstanden werden, die in Auflösung begriffen ist. Fortpflanzung etwa kann im Zeitalter von In-vitro-Fertilisation, Leihmutterschaft und genetischer Wunschkindformung kaum noch als natürlich etikettiert werden.
-In einer solchen posttraditionalen Gesellschaft muss der einzelne zudem die Komplexität der auf ihn einströmenden Informationen filtern und aufgrund dieses Selektionsprozesses Handlungsentscheidungen treffen: Die soziale Reflexivität dehnt sich aus – als Voraussetzung und Ergebnis der posttraditionalen Gesellschaft:
„Das Voranschreiten der sozialen Reflexivität bedeutet, dass den einzelnen gar keine andere Entscheidung bleibt, als Entscheidungen zu treffen; und durch diese Entscheidungen wird bestimmt, wer sie sind. Die Menschen müssen zur Sicherung eines kohärenten Gefühls der Ichidentität ‚ihre eigene Lebensgeschichte entwerfen‘. Das aber ist ohne Interaktion mit anderen ausgeschlossen, und eben dieser Umstand schafft neue Solidaritätsbeziehungen
-Ein Teil dieser Veränderungen wird auch mit dem Terminus der ‚Individualisierung’ beschrieben.1 Gemeint ist damit nicht der Untergang kollektiver Moral zugunsten eines allgemeinen Egoismus. Eher entfernen sich moralische Anliegen von traditionellen Vorgaben und wenden sich auf globaler Ebene individuellen Interessenlagen zu, beispielsweise durch das Eintreten für subjektive ‚Menschen’-Rechte. Folglich ist Individualisierung nicht zwingend bedrohlich für die gemeinschaftliche Solidarität, wenn letztere nicht an bestimmte traditionelle Formen gebunden werden.
-Diese Veränderungen führen aus der Perspektive Giddens' (1990: 156) zu einem spezifisch modernen Risikoprofil, das in vier Punkten skizziert werden kann:
1. Globalisierung von Risiken im Sinne ihrer Verstärkung (Gefährdung der ganzen Menschheit durch Atomkrieg) und einer zunehmenden Zahl kontingenter Ereignisse (etwa durch Veränderungen globaler Arbeitsteilung),
2. durch die Gestaltung der Umwelt hervorgerufene Risiken (‚vergesellschaftete Natur’),
3. das Hervorbringen von institutionalisierten Risikoumwelten (z. B. Investitionsmärkte),
4. das Bewusstsein vom Risiko im Sinne des Wissens um die Fehlerhaftigkeit eigener Entscheidungen (im Gegensatz zur extern wirkenden Gefahr, die in der Vormoderne durch religiös-magisches Wissen noch in ‚Gewissheiten’ verwandelt werden konnte), das in der Öffentlichkeit immer weitere Verbreitung findet und zugleich ein Bewusstsein von den Grenzen des Expertenwissens schafft
-Dieses Risikoprofil ausführend identifiziert Giddens vier Kontexte konkreter Risiken im Anschluss an die vier transformierten institutionellen Dimensionen der Moderne: (1) die negative Beeinflussung der Ökosysteme; (2) die Ausbreitung der Armut; (3) die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen und (4) die Unterdrückung demokratischer Rechte:
Kapitalismus
Ökonomische Polarisierung
Ökologische Gefahren
Industrialismus
Überwachung
Verweigerung demokratischer Rechte
Gefahr eines großen Krieges
Mittel zur Gewaltanwendung
-Insgesamt unterscheidet sich das moderne Risikoprofil vom vormodernen vor allem hinsichtlich der Risikoverteilung und der Wahrnehmung der Risiken. Alleine die Geschichte der Lebensmittel-Skandale in den 90er Jahren verdeutlicht dies: Es ist für niemanden möglich, den Risiken der Aufnahme gesundheitsgefährdender Nahrung zu entgehen, weil man sich schließlich irgendwie ernähren muss, zugleich aber stets von den Medien vor Risiken des Essens und Trinkens gewarnt wird
-Besondere Bedeutung misst Giddens den Konsequenzen der modernen Entwicklung für die politische Kultur zu. Seine Diagnose lautet, dass der Sozialismus nicht nur in seiner sowjetkommunistischen Verfassung zusammengebrochen ist, sondern genauso wie der Konservatismus per se nicht mehr in seiner herkömmlichen Bedeutung begriffen werden kann.
-Beide gehen von einer prinzipiellen Möglichkeit staatlicher Gesellschaftssteuerung aus, die aber angesichts der Radikalisierung der Moderne obsolet geworden ist. Auch der Neoliberalismus stellt nur scheinbar eine Alternative dar, weil er nach Giddens in sich widersprüchlich fungiert: „Einerseits steht der Neoliberalismus feindlich zur Tradition – und ist in der Tat eine der Hauptkräfte, die die Tradition überall wegfegen, indem er den Marktkräften und einem aggressiven Individualismus Vorschub leistet. Andererseits ist er auf die Fortdauer von Tradition angewiesen, für seine Legitimität und seine Bindung an den Konservatismus – in den Bereichen der Nation, der Religion, der Geschlechterfragen und der Familie.“
-Giddens' Alternativ-Vorschlag einer radikalen Demokratie orientiert sich an einem Grundwerte bewahrenden und dem sozialistischen Denken verbundenen philosophischen Konservatismus. Anhand eines Sechs-Punkte-Programms (Giddens 1994) soll dieses Modell zur Entfaltung finden:
(1) Um Autonomie und gegenseitige Abhängigkeiten zu koordinieren, sollte ein „Berufszweig für die Reparatur beschädigter Solidarität“ (Giddens 1994a: 455) etabliert werden. Es geht hier nicht um die Reanimation einer Zivilgesellschaft, sondern vielmehr um eine angemessene Beurteilung des Individualismus im Prozess der Schöpfung von Solidarität. Als Beispiel dient Giddens der familiäre Bereich, in dem sichtbar sei, dass die der Enttraditionalisierung ausgesetzten Familien, in denen Frauen und Kinder im Gegensatz zu früheren Zeiten mit einer Vielzahl erworbener Rechte ausgestattet sind, nun vor allem aktives Vertrauen produzieren müssen
(2) Hohe Priorität genießt eine Lebenspolitik, die sich mit der Frage „Wie sollen wir leben?“ genau dort beschäftigt, wo Entscheidungen (statt Traditionen) notwendig geworden sind. Berufstätigkeit wird etwa nicht mehr als Schicksal begriffen, sondern erzwingt – ausgelöst durch die Emanzipationsbewegung der Frauen – individuelle Entscheidung, z. B. in der Berufswahl. Zugleich steht der Rang der Berufsarbeit in dieser Entscheidungsfindung in Konkurrenz zu anderen Werten des Lebens: Soll ich Karriere machen oder eine Familie gründen? Oder beides? Bin ich in meiner Berufswahl genauso mobil wie mein Partner? Usw
(3) Im Zusammenhang mit dem Verlust einer auf Traditionen beruhenden politischen Gesellschaftssteuerung steht die Konzeption ‚generativer’ oder ‚erfinderischer’ Politik (siehe auch Punkt fünf): „Generative Politik ist eine Politik, die Individuen und Gruppen im Kontext übergreifender sozialer Belange und Ziele die Möglichkeit einräumen will, Dinge geschehen zu lassen, anstatt dass sie ihnen geschehen.“ (Giddens 1994)
(4) Die Übertragung generativer Politik auf die Frage nach einer der Moderne angemessenen Demokratieform versucht Giddens durch die Forderung nach einer ‚dialogischen Demokratie’, die sowohl die Repräsentation von Interessen als auch die Bereitstellung eines Ortes zur diskursiven (nicht durch vorgegebene Machtformen geprägten) Konfliktaustragung betont. Dies gilt nicht nur für den politischen Raum, sondern kann auch den Bereich des persönlichen Lebens umfassen, etwa in Eltern-Kind- oder Freundschaftsbeziehungen.
(5) Im Rahmen dieser Veränderungen muss die Beschaffenheit des Wohlfahrtsstaates neu durchdacht werden, der nach Giddens ebenfalls an Traditionen (z. B. Geschlechterrollen) gebunden war, bürokratisch tendenziell zu unflexibel agierte und zudem das Problem der Armut nicht befriedigend zu lösen vermochte.
-Sozialstaatliche Institutionen widersprechen posttraditionalen Ordnungen durch die Betonung der maßgeblichen Rolle der Arbeit und stehen mit ihrer nationalstaatlichen Verankerung konträr zu den Globalisierungstendenzen.
-Generell sind die traditionalen Sicherungssysteme nur wenig erfolgreich im Umgang mit jenen von der Moderne selbst erzeugten Risiken, die aus einer unerhörten, diffusen, nicht auf einfache Kausalwirkungen reduzierbaren Komplexität resultieren. Giddens' Gegenvorschlag wird mit dem Begriff der positiven Wohlfahrt etikettiert, der verdeutlichen soll, dass es der modernen Entwicklung angemessener ist, soziale Sicherung weniger als ein erst nach dem ‚Unfall’ wirksam werdendes Auffang-Netz zu begreifen, denn als Teil einer auf sozialer Reflexivität aufbauenden Politik der Lebensführung, die eher auf (oftmals präventive) Ursachenbehandlung zielt.
-Derartige Verhütungsstrategien können in drei unterschiedlichen Ansätzen greifen, wobei immer von einer Selbsterzeugung des Risikos ausgegangen wird. Der primäre Schritt versucht über soziale Normierung (oder dessen Veränderung) einzuwirken. Rauchen etwa ist nicht mehr ‚in’, sondern ‚out’, weil sich die normative Bewertung des Rauchens gewandelt hat. Wo die Prävention versagt hat, greift der sekundäre Schritt in dem Versuch, die ungewollten Gewohnheiten zu ändern. Im Falle des Rauchens gehören dazu Therapien, Nikotin-Ersatzstoffe, Gespräche etc. Kann auch im zweiten Schritt kein Erfolg verbucht werden, geht es weiter:
„Tertiäre Verhütung bedeutet: auf die vom Rauchen hervorgerufenen Pathologien reagieren, sobald sie sich herausgebildet haben. Selbst hier ist es nicht vernünftig, die Sache nur als äußeres Risiko aufzufassen. Die Behandlung der physischen Auswirkungen des Rauchens muss darauf abgestimmt werden, dass die betreffenden Personen anschließend ihren Lebensstil ändern.“ (Giddens 1994)
-Das Prinzip der Sozialstaatlichkeit wird als Investition in Aktivität und nicht als Unterstützung von Passivität aufgefasst. Das leitende Prinzip moderner Wohlfahrt lautet nach Giddens (1998: 137) dementsprechend: „Investition in menschliches Kapital statt direkter Zahlungen. An die Stelle des Sozialstaates sollten wir den Sozialinvestitionsstaat setzen, der einen integralen Bestandteil einer Gesellschaft mit positiver Wohlfahrt bildet.“
(6) Zu guter Letzt verweist Giddens auf die Notwendigkeit einer gründlichen Auseinandersetzung mit der Rolle der Gewalt im Programm radikaler Politik. Diese Dringlichkeit ergibt sich schlicht als Folge aus der sich radikalisierenden Moderne, in der zunehmend verschiedene Interessen und Wertvorstellungen aufeinandertreffen. Die Mittel, solchen Divergenzen zu begegnen, sind: Absonderung (Vermeidung des Kontakts), Austritt (ähnlich wie die Absonderung mit höherer Betonung der Aktivität), Dialog (mit der Chance des gegenseitigen Kennenlernens und Verstehens) und Gewalt.
-Diese Rezepte beachtend könnten sich Giddens (1994) zufolge zu den äußerst risikoreichen Dimensionen der Moderne sozialpolitische Alternativen herausbilden:
Nachknappheitsökonomie
Humanisierte Natur
Dialogische Demokratie
Ausgehandelte Machtverhältnisse
-Dem Wandel vom Kapitalismus zu einer Nachknappheitsökonomie liegt eine Neubewertung der Lohnarbeit und der ökonomischen Belange zugrunde:
„Nachknappheit bedeutet nicht, dass überhaupt keine Knappheit existiert, denn auf jeden Fall wird es stets ‚positionelle‘ Güter geben. Tendenzen in Richtung einer Nachknappheitsökonomie kommen dort zum Vorschein, wo Akkumulationsprozesse weithin als Bedrohung oder Zerstörung positiv bewerteter Lebensweisen wahrgenommen werden, wo die Akkumulation im Hinblick auf ihre eigenen Ziele deutlich kontraproduktiv wird (d. h. wo ‚Überentwicklung‘ suboptimale wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Konsequenzen nach sich zieht) und wo im Bereich der Politik der Lebensführung Einzelpersonen oder Gruppen Entscheidungen über den Lebensstil treffen, durch die die Maximierung wirtschaftlicher Erträge begrenzt oder geradezu behindert wird.“
-Damit steht die Nachknappheitsökonomie in einem Spannungsverhältnis zu den Dimensionen Geschlecht, Familie und Generationen (Giddens 1994b: 229-235). Zudem ist sie eng mit der über den reinen Produktivismus hinausreichenden Vorstellung einer „vorsorgenden Nachsorge“ der positiven Wohlfahrt verbunden. Menschen werden etwa nicht mehr ab einem bestimmten Alter in den (sozialstaatlich konstruierten) Ruhestand geschickt, der als eine Form der Abhängigkeit das produktive Potential älterer Menschen verschüttet
„Schon das Wort ‚Pensionär‘ klingt nach Untauglichkeit und bezeichnet eigentlich eine unselbständige Person. Von den Sozialsystemen wird das Alter nicht als respekteinflößender Rang definiert, sondern als Ausschluss aus der vollen Zugehörigkeit zur Gesellschaft. Alter wird als etwas ‚Externes‘ behandelt, als etwas, das einem widerfährt, und nicht als eine aktiv aufgebaute und ausgehandelte Erscheinung.“ (Giddens 1994)
-In der Ökonomie der Nachknappheitsgesellschaft wird nun nach Bedingungen gesucht, die Fähigkeiten und Kompetenzen älterer Menschen nutzbar zu machen, und zugleich werden die Möglichkeiten des Ausstiegs variiert und potenziert: Bildungsurlaub, Erziehungsurlaub (für beide Elternteile), stufenweise Pensionierung, Ruhestand auf Probe usw. Auf diese Weise sollen die allgemeinen Abhängigkeiten in eine neue Herrschaft individueller Autonomie überführt werden. Mit diesem Begriff der Nachknappheit zielt Giddens insgesamt auf eine Weiterentwicklung des modernen Wertehorizontes in Richtung Postmaterialismus.
—>Diejenigen, die arbeitslos sind oder waren, gelten nun als ‚Vorbilder‘ für ein Leben außerhalb des Berufslebens (Giddens 1994); das gleiche gilt für arme Menschen: Sie führen vor, dass Glück und (wie bei der klassischen Vorstellung des Clochards) Freiheit keine ausschließliche Sache des Geldes sind, sondern vielmehr von den Akteuren selbst geschaffen werden:
-Humanisierung der Natur kann in einer posttraditionalen Gesellschaft, in der jedes ökologische System bereits sozial überformt ist, nicht ‚back to nature’ bedeuten: „Sich dem Problem der Humanisierung der Natur zu stellen heißt: von der Existenz einer ‚formbaren Natur‘ auszugehen, einer Natur, wie sie innerhalb der posttraditionalen Ordnung fungiert.“ (Giddens 1994)
-Bei der Bekämpfung der Umweltzerstörung tritt jede Vorstellung einer tiefen, von einer wahren Natur ausgehenden Ökologie das Erbe des Konservatismus im Sinne der Bewahrung der Vergangenheit an, denn die ‚natürliche Natur’ ist vergangen. Die Annahme eines naturnahen Lebens etwa, das sich harmonisch in die Natur einpasst, ist oftmals geprägt durch den historischen Hintergrund früher menschlicher Gemeinschaften – Jäger und Sammler.
-Unterschlagen wird dabei, dass dieses mit der Natur verwachsene, scheinbar harmonische Leben einerseits ebenfalls Naturbeherrschung (Ackerbau) voraussetzt, Umweltzerstörungen nach sich ziehen kann und andererseits häufig durch allerlei natürliche Gefahren bedroht wird. Für Giddens ist folglich jeder Versuch zum Scheitern verurteilt, allgemeine Werte aus der Natur abzuleiten. Ökologische Fragestellungen verweisen seiner Ansicht nach viel mehr auf Anstrengungen, mit der globalisierten Moderne zurecht zu kommen. Wichtig bleibt jedoch die Einsicht der bereits sozial ge- oder überformten Natur (weshalb besser von Umwelt gesprochen wird
-An die Ausbreitung sozialer Reflexivität schließt die Vorstellung dialogischer Demokratie an. Diese enthält nach Giddens weder eine bestimmte, im Dialog oder (im Gegensatz zu Habermas' herrschaftsfreiem Diskurs einer idealen Sprechsituation) im Sprechakt bereits angelegte Art der Demokratisierung noch ist sie auf die Herstellung von Konsens ausgerichtet: „Die dialogische Demokratie unterstellt lediglich, dass der öffentlich geführte Dialog ein Mittel bereitstellt, um im Verhältnis gegenseitiger Toleranz mit dem anderen im Nebeneinander zu leben.“ (Giddens)
-Diese Atmosphäre der Toleranz wird durch das Mittel des zwanglosen öffentlichen Dialogs beim Aufeinandertreffen autonomer Akteure hergestellt, die die Geltung der Authentizität des jeweils Anderen anerkennen und Ansichten sowie Ideen in einem wechselseitigen Prozess anhören und diskutieren (Giddens 1996). Dies wird, wie oben erwähnt, etwa an dem Beispiel der Elternautorität in posttraditionalen Gesellschaften deutlich: Weder den Eltern noch den Kindern gilt Elternautorität als soziale Tatsache, sondern sie wird zunehmend ausgehandelt. Im Idealfall kommt es nach Giddens in der Eltern-Kind-Beziehung zu einer „Demokratisierung der Gefühle“, die als frühzeitige Förderung einer formalen öffentlichen Demokratie – der dialogischen Demokratie – fungieren könnte.
-Die Frage nach der Struktur demokratischer Gesellschaften muss auch das Problem der Gewalt in Rechnung stellen. Alleine schon das Ziel der Befriedung – Bedeutungslosigkeit von Kriegen als politisches Mittel; Begrenzung sexueller Gewalt; Vermeidung ethnischer oder kultureller Konflikte usw. – verlangt die Integration der Gewaltproblematik in die politische Theorie.
-Giddens (1994) geht zunächst von einer gelungenen Befriedung innerhalb nationalstaatlicher Gebilde durch die Monopolisierung der Gewalt im Staat aus (historisch einhergehend mit der Industrialisierung). Die Möglichkeit des Einsatzes von Atomwaffen mit der Konsequenz einer Vernichtung menschlichen Lebens auf dem Planeten Erde bewirkte dann, dass Krieg nicht mehr eine Alternative politischer Diplomatie sein konnte, sondern selbst im Mittelpunkt diplomatischer Bemühungen stand: Der atomare Erstschlag musste verhindert werden.
—>. Entsprechend seiner Grundannahme von der Dualität der Struktur, in der sowohl Handlungsoptionen eröffnet als auch zugleich Handlungsgrenzen gesetzt werden, bricht er nicht mit der Moderne, sondern versucht gerade in ihr die Chancen für eine innovative Gesellschaftsgestaltung auszuloten: „Dies ist vielleicht das erste Zeitalter der Menschengeschichte, in dem allgemeingültige Werte tatsächlich etwas bewirken können, und keineswegs das Zeitalter, in dem solche Werte sich auflösen.“
-Warum haben wir womöglich kein gutes Leben? Es versteht sich, dass eine Antwort dieser Frage von der je spezifischen Perspektive einer Gesellschaftstheorie abhängig ist. Für Rosa ist die Antwort unmittelbar mit der Zeit verknüpft: „Die Frage danach, wie wir leben möchten, ist gleichbedeutend mit der Frage, wie wir unsere Zeit verbringen wollen“ (Rosa 2005).
-Man könnte dieser Frage nun mit dem Hinweis begegnen, dass wir in modernen und emanzipierten Zeiten dann doch glücklicher denn je sein müssten, insofern wir im Zuge der Individualisierung durch die Freisetzung aus traditionalen Bindungen und im Hinblick auf ethische Regeln und Sanktionen immer freier geworden sind (vgl. Beck 1986). Während dies zwar sicher richtig ist, werden moderne Menschen, so Rosas Beobachtung, „doch durch weitgehend unsichtbare, entpolitisierte, nicht diskutierte, untertheoretisierte und nicht artikulierte Zeitregime rigoros reguliert, beherrscht und unterdrückt“ (Rosa 2013).
-Die Analyse von Zeitstrukturen ist für Rosa dabei deshalb so unerlässlich für soziologische Gesellschaftstheorie, weil sie es erlaubt, die Mikro-Perspektive individueller Handlungen und die Makro-Perspektive großer gesellschaftlicher Zusammenhänge zu verbinden, „da unsere Handlungen und Orientierungen mit den ‚systematischen Imperativen’ moderner kapitalistischer Gesellschaften vermittels zeitlicher Normen, Deadlines und Regeln koordiniert und kompatibel gemacht werden“ (Rosa 2013).
—>Zeitstrukturen bilden also den zentralen Ort, an dem sich individuelle Lebensentwürfe und systemische Erfordernisse verknüpfen. Zugleich sind diese Zeitstrukturen in modernen Gesellschaften aber systematischen Veränderungen unterworfen, die Rosa unter dem Sammelbegriff der sozialen Beschleunigung zu fassen versucht.
-Rosa definiert Beschleunigung in Anlehnung an die Physik „als Mengenzunahme pro Zeiteinheit (bzw., logisch gleichbedeutend, als Reduktion des Zeitquantums pro feststehendem Mengenquantum)“ (Rosa . Als Menge kann dabei alles Mögliche gefasst werden, etwa die Anzahl an E-Mails, die Anzahl an Lebensabschnittsgefährten oder auch das Bruttosozialprodukt einer Volkswirtschaft.
-Die Kernthese seines Buchs „Beschleunigung“ (2005) ist, dass sich moderne Gesellschaften von vormodernen Gesellschaften dadurch unterscheiden, dass sie sich nur durch Beschleunigung zu erhalten vermögen. Das heißt keineswegs, dass sich in vormodernen Gesellschaften nichts beschleunigt hätte und das heißt ebenfalls nicht, dass sich in modernen Gesellschaften einfach alles beschleunigen würde, wie es einige kulturelle Zeitzeugnisse zuweilen nahelegen. Aber moderne Gesellschaften sind strukturell darauf angewiesen, sich zu beschleunigen. Das bedeutet, dass „die Eigenlogik der Dynamisierung [...] inzwischen selbst zu einem strukturellen Zwang geworden ist“ (Rosa 2016: 673).
-Demgegenüber haben sich vormoderne Gesellschaften nach Rosa eher adaptiv stabilisiert. Das heißt also abermals nicht, dass sie sich gar nicht verändert hätten, aber Veränderungen folgten eher als Reaktionen auf die Umwelt, nicht als innerer Zwang. Angetrieben von ökonomischen, kulturellen und strukturellen Prozessen hat sich daraus eine Dynamik entwickelt, aus der es kaum ein Entrinnen zu geben scheint.
-Ökonomisch wurde der Zusammenhang von Produktion und Bedarfsdeckung aufgelöst. Stattdessen galt es im Kapitalismus, Profite zu erwirtschaften. Man denke hier völlig zurecht an Marx' Formel G-W-G', womit er die Veränderung der kapitalistischen Marktbeziehungen beschreibt. So hatte das Geld ursprünglich nur eine Vermittlungsfunktion im Austauschprozess von Waren gleichen Werts (W-G-W), wobei dieser Austausch der Bedürfnisbefriedigung diente.
—>Dies hat sich zu einem Kreislauf der Schöpfung von Mehrwert gewandelt, in dem Geld zu Kapital wird und es nun darauf ankommt, aus Geld über die Ware mehr Geld (G-W-G') zu erwirtschaften. Die Zirkulation des Geldes wird auf diese Weise zum Selbstzweck (vgl. Marx 1962). Mit der Kapitalverwertungslogik hat sich aber auch eine „Kommodifizierung der Zeit“ (Rosa 2005: 258) ereignet. Zeit ist buchstäblich Geld! Denn wer mehr in kürzerer Zeit produziert, kann mehr Profit erwirtschaften. Wer früher auf neue Ideen kommt, kann diese zuerst vermarkten. Wenn man die Zirkulationsgeschwindigkeit der Waren erhöht, kann man mehr handeln usw.
-Ebenso ist aber auch die Vorstellung des Lebens nach dem Tod weggefallen und so wurde es umso wichtiger das Leben auszukosten, was sich der Idee nach durch eine „beschleunigte Auskostung der Weltoptionen“ (Rosa 2005) erreichen lässt. Gerhard Schulze hat diesen Zusammenhang als „Seinssteigerung durch Habens-Steigerung“ (Schulze 1997) beschrieben. Die Angst hingegen ist, „in einer Welt wachsender Kontingenzen unwiderruflich ‚abgehängt’ zu werden“ (Rosa 2005: 285).
-Strukturell ermöglicht und erfordert die funktionale Differenzierung Beschleunigungsprozesse. Mit diesem Begriff beschreiben Systemtheoretiker den Prozess, in dem die Gesellschaft sich in Subsysteme – wie z. B. die Ökonomie, die Wissenschaft oder das Recht – aufteilt, die selbstreferentiell je eigene Funktionen erfüllen (vgl. Luhmann 1997).
-Rosa interpretiert dies abermals zeitlich „als ein Mechanismus zur Steigerung der Geschwindigkeit von Herstellungs- und Entwicklungsprozessen aller Art …, weil jeweils funktions- oder systemfremde Gesichtspunkte und Hemmungen ausgeschaltet werden“ (Rosa 2005). Die funktionale Differenzierung stellt demnach einerseits eine Reaktion auf Zeitprobleme dar, indem sie Funktionssysteme wie die Ökonomie oder die Wissenschaft von Erfordernissen anderer Systeme entlastet.
-Andererseits führt dies jedoch auch zu einer „Verknappung von Zeit“ (Rosa 2005), da funktionale Differenzierung die Komplexität steigert. Das Anwachsen der Komplexität führt selbst wieder zu einer Steigerung der Selektionserfordernisse. Auf diese Weise erzwingt sie eine „Temporalisierung von Komplexität: Nicht realisierte Möglichkeiten werden für die Zukunft ‚aufgehoben’ und für eine mögliche zukünftige Aktualisierung offengehalten“
-Durch dieses Abschieben von Optionenüber schüssen in die Zukunft kommt es zu einer Paradoxie, da die Strategie des Aufschiebens als Bearbeitung von Steigerungsfolgen selbst zu einer Erhöhung der zukünftigen Komplexität führt und so die Bearbeitungsschwierigkeiten in der Zukunft weiter verschärft
-Flankiert wurden diese Entwicklungen von der Herausbildung klassischer Institutionen, die sich ebenfalls als maßgebliche Antreiber der Beschleunigung ausgezeichnet haben. Die Etablierung von Nationalstaaten schuf durch „den systematischen Ausbau der Infrastruktur und die Herstellung von Rechts- und Handelssicherheit durch die Eroberung des Gewalt- und (Steuer-)Monopols nach innen sowie die Gewährung relativ verlässlichen Schutzes nach außen“ (Rosa 2005) grundlegende Voraussetzungen.
- Es entstand eine Berechenbarkeit und Planungssicherheit, die die zielgerichtete Beschleunigung erst ermöglichte. So machen es z. B. erst stabile Erwartungshorizonte für Unternehmen rational, große Investitionen zu tätigen und so langfristig weiteres Wachstum und weitere Beschleunigung hervorzubringen. Darin zeigt sich, dass eine Entschleunigung der Beschleunigung nicht grundsätzlich entgegensteht, sondern bestimmte Entschleunigungstendenzen für weitere Beschleunigungsprozesse durchaus funktional sein können
-Der Staat hat darüber hinaus die moderne Bürokratie geschaffen, „ein hocheffizientes Entscheidungs- und Implementationsinstrumentarium, das an Schnelligkeit und Zuverlässigkeit jedem älteren System bei weitem überlegen war“ (Rosa 2005: 312). Zudem lässt sich in der territorialen Expansion eine der Hauptursachen für die Weiterentwicklung des Transport- und Kommunikationswesens ausmachen. Das Militär, das nun aufgrund der Beherrschung geschlossener Territorien dazu gezwungen war, Räume dynamisch und flexibel verteidigen zu können, musste eine dichte Infrastruktur und bewegliche militärische Einheiten ausbilden. Dies hatte nicht nur technische Beschleunigung zur Folge: In der Kaserne „wird die neuzeitliche Zeitdisziplin dem menschlichen Körper mehr oder minder gewaltsam ‚eingeschrieben’“
-Kulturell stoßen wir auf die von Weber herausgestellte innerweltliche Askese im Zuge der Protestantischen Ethik (vgl. Weber 1934), die die Form „einer strikten und peniblen Zeitdisziplin“ (Rosa 2005: 282) annahm und so der kapitalistischen Zeitökonomie eine kulturelle Komplementarität lieferte. Einerseits beinhaltete dies eine Verheißung, denn an dem durch die zeiteffiziente Lebensführung ermöglichten beruflichen und materiellen Erfolg konnte man das Seelenheil gleichsam ablesen. Andererseits war damit eine Grundangst verbunden, denn ein „Asketisch-disziplinierter Aktivismus diente dem (calvinistischen) Protestanten gleichsam als Katalysator für die sich infolge der Wirkung der Prädestinationslehre und des Fortfalls kirchlich-sakramentalen Heils, insbesondere in der Beichte, aufstauenden Angstpotenziale“ (Rosa 2005).
—>Im weiteren Verlauf der gesellschaftlichen Entwicklung werden die religiösen Begründungsmuster zwar schwächer, jedoch hat sich dieses Triebmuster von Angst und Verheißung in den sozialen Wettbewerb verlagert und bleibt als motivationale Grundlage des Beschleunigungsprozesses erhalten. Die Verheißung lautet nun Reichtum, der dem Menschen alle Optionen erlaubt und Kontingenzen handhabbar macht.
-Unter technischer Beschleunigung versteht Rosa „die intentionale, technische und vor allem technologische (d. h. maschinelle) Beschleunigung zielgerichteter Vorgänge. Paradigmatisch hierfür sind Prozesse des Transports, der Kommunikation und der Produktion (von Gütern und Dienstleistungen)“ (Rosa 2005). Man denke dabei zum Beispiel an die Eisenbahn, die für damalige Verhältnisse undenkbar schnell war, an die sich Menschen sogar zunächst gewöhnen mussten, insofern ihnen beim Blick aus dem Fenster häufig übel wurde
-Das Maß für technische Beschleunigung ist die „Ermittlung der Menge an Gütern und Personen, die pro Zeiteinheit bewegt werden, und ihrer durchschnittlichen Fortbewegungsgeschwindigkeit“ (Rosa 2005). Mit der Beschleunigung des Transports und der Kommunikation kommt es zu einer Raumschrumpfung. Aufgrund der drastisch verkürzten Transportzeiten scheint die Welt radikal geschrumpft zu sein – Rosa spricht von einem Sechzigstel der Größe seit der industriellen Revolution (vgl. Rosa 2005). Der Raum verliert seinen Vorrang gegenüber der Zeit, die Entfernung eines Fluges wird gleichsam nur noch über Stunden, nicht über Distanzen angegeben. Die elektronische Informationsübermittlung ist demgegenüber sogar weitgehend ortsunabhängig.
- Die technische Beschleunigung ist „die materielle Basis und eine Ermöglichungsbedingung für die Vielfalt an sozialen Beschleunigungsprozessen“ (Rosa 2005). Sie ist die „Beschleunigung in der Gesellschaft“
-Die Beschleunigung des sozialen Wandels bezieht sich auf das Tempo, mit dem sich Praxisformen und Handlungsorientierungen einerseits und Assoziationsstrukturen und Beziehungsmuster andererseits verändern. „Postuliert wird dabei, dass sich die Veränderungsraten selbst verändern, d. h. beschleunigen.“ (Rosa 2005)
-Während es bei der technischen Beschleunigung um eine Schrumpfung des Raumes geht, handelt es sich hier um eine Gegenwartsschrumpfung: „die generelle Abnahme der Zeitdauer, für die Erwartungssicherheit hinsichtlich der Stabilität von Handlungsbedingungen herrscht“ (Rosa 2005). Gegenwart in dem hier verfolgten Sinne kann man also als das, was gerade Geltung hat, beschreiben. Zentral ist hierbei die These, dass sich die Geschwindigkeit des Wandels von einem vormodern intergenerationalen Tempo, über ein modern generationales Tempo hin zu einem spätmodern intragenerationalen Tempo beschleunigt. Rosa demonstriert das an den Veränderungen gesellschaftlicher Basisinstitutionen, wie zum Beispiel dem Beruf. In vormodernen Gesellschaften wurden Berufe demnach über Generationen vom Vater an den Sohn weitergegeben.
-In der Moderne ändert sich dies insofern, als dass Berufsstrukturen sich tendenziell mit der Generation verändern. Der Nachwuchs hat die Wahl, seinen Beruf frei zu wählen, kann aber damit rechnen, ihn in der Regel für den Rest seines Lebens beizubehalten. Der Beruf wird zum Identitätsprojekt. Mittlerweile hat ein Beschäftigungsverhältnis eher selten über die Dauer eines Lebens Bestand, immer öfter wird sogar nicht nur der Arbeitgeber, sondern das Berufsfeld gewechselt – und das nicht nur einmalig im Leben. Berufsstrukturen wechseln also schneller als Generationen
-Dies hat zur Folge, dass Subjekte angesichts der rasanten Veränderungsgeschwindigkeit kaum mehr Erwartungssicherheit haben. Zugleich droht ihnen der Verlust ihrer Anschlussvoraussetzungen in der Zukunft, wenn sie nicht permanent versuchen, sich den ständig verändernden Bedingungen anzupassen. Rosa verbildlicht dies mit dem Begriff „Slippery-Slopes“: die Wahrnehmung „gleichsam in allen Lebensbereichen auf einem rutschigen Abhang oder auf ‚Rolltreppen nach unten’ zu stehen“ (Rosa 2005).
-Weitere Symptome erkennt Rosa in einem notorischen Offenhalten von Optionen und Aufschieben von Entscheidungen, da es schwierig wird, Relevanzen vorherzusagen sowie in Gefühlen von Angst und Zeitdruck. Wir können also die Beschleunigung des sozialen Wandels zusammengefasst definieren „als Steigerung der Verfallsraten von handlungsorientierenden Erfahrungen und Erwartungen und als Verkürzung der für die jeweiligen Funktions-, Wert- und Handlungssphären als Gegenwart zu bestimmenden Zeiträume“ (Rosa 2005). Damit handelt es sich hierbei um die „Beschleunigung der Gesellschaft
-Die letzte Beschleunigungskategorie steht in einem paradoxen Verhältnis zur technischen Beschleunigung. Denn bei all den zeitsparenden Technologien müssten wir doch mehr Zeit als je zuvor zu unserer freien Verfügung haben. Jedoch ist nach Rosa das Gegenteil der Fall, es kommt zu einer Beschleunigung des Lebenstempos, definiert als „Steigerung der Handlungs- und/oder Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit“ (Rosa 2005). Sie manifestiert sich in einem notorischen Gefühl der Zeitknappheit, das vielen Menschen anlastet. Rosa unterscheidet hier objektive und subjektive Faktoren.
- Objektiv ist damit eine „Verkürzung oder Verdichtung von Handlungsepisoden“ (Rosa 2005) gemeint, die sich etwa durch eine Erhöhung der Handlungsgeschwindigkeit, eine Eliminierung von Pausen und Leerzeiten oder aber durch eine Überlagerung von Handlungsepisoden (Multitasking) erreichen lässt. So zeigen diverse Zeitbudgetstudien , dass z. B. weniger Zeit für das Essen oder den Schlaf aufgebracht wird. Häufig werden Tätigkeiten miteinander verbunden, wenn etwa das Kochen und die Hausarbeit gleichzeitig bewältigt werden
-Subjektiv ist das Gefühl der Zeitnot und Getriebenheit allgegenwärtig. Zeit wird als Ressource betrachtet, die es möglichst gut auszunutzen gilt. Selbst Freizeitaktivitäten – und Freizeit haben wir formal mehr als je zuvor, obwohl Studienteilnehmer das gegenteilige Gefühl zum Ausdruck bringen – werden immer häufiger als unerlässlich und verpflichtend dargestellt.
-Ursachen dafür liegen angesichts der Optionenvielfalt zum einen in dem Wunsch, nichts verpassen und deshalb schneller leben zu wollen. Zum anderen sehen wir uns einem mit dem Begriff „Slippery-Slopes“ bereits angesprochenen Anpassungszwang ausgesetzt: „Das ‚objektive Geschehen’ vollzieht sich rascher, als es im je eigenen Handeln und Erleben reaktiv verarbeitet werden kann. Darin liegt der strukturelle Beschleunigungszwang der Moderne; er hat zur Folge, dass Subjekte schneller leben müssen.“
-Warum aber erreichen technische Beschleunigungen nicht den erwünschten Effekt einer Entschleunigung des Lebenstempos? Die technische Beschleunigung würde nur zu einer Entschleunigung führen, wenn die betroffenen Mengen konstant bleiben würden. Wir würden tatsächlich Zeit sparen, wenn wir zwar Waschmaschinen hätten, aber wie früher nur einmal im Monat unsere Kleidung wechseln würden. Stattdessen wechseln wir nun aber jeden Tag die Kleidung. Auch der E-Mail-Verkehr ist im Gegensatz zum Briefverkehr rasant angestiegen.
—>Kurz: die Mengensteigerungen überwiegen die technischen Beschleunigungsgewinne deutlich. Der daraus resultierende Wunsch nach weiterer technischer Beschleunigung deutet nun aber schon den Beschleunigungszirkel an, durch den diese drei Beschleunigungsvarianten sich gegenseitig antreiben und gleichsam wie ein Teufelskreis unentrinnbar scheinen.
-Die drei eben beschriebenen Prozesse der technischen Beschleunigung, der Beschleunigung des sozialen Wandels sowie der Beschleunigung des Lebenstempos verstärken sich nach Rosa gegenseitig, wodurch ein Beschleunigungszirkel erzeugt wird: „Beschleunigung innerhalb dieses Zirkels erzeugt daher stets und unvermeidlich mehr Beschleunigung, sie wird zu einem sich selbst verstärkenden ‚Feedback-System’.“ (Rosa 2005)
-Wir haben bereits gesehen, dass die Dynamik der Beschleunigung nicht monokausal auf technische Innovationen zurückgeführt werden kann. Ganz im Gegenteil tut sich nach Rosa sogar eine Paradoxie auf, wenn man annehmen wollte, dass aus technischer Beschleunigung die Beschleunigung des Lebenstempos folgen würde. Die Beschleunigung des Lebenstempos ruft, so führt Rosa weiter aus, umgekehrt aber den Wunsch nach einer technischen Beschleunigung hervor. Denn die Einführung neuer Technologien kann „als soziale Antwort auf das Problem der Zeitknappheit begriffen werden“ .
-Solche Innovationen in Bereichen des Transports, der Kommunikation oder der Produktion bringen aber „beinahe unweigerlich eine ganze Reihe von Veränderungen in sozialen Praktiken, Kommunikationsstrukturen und Lebensformen mit sich“. Denn sie wirken sich oft nicht nur in quantitativer Hinsicht als Veränderung der benötigten Zeitressourcen aus, sondern führen in qualitativer Hinsicht zu einer „Veränderung unseres Verhältnisses zu Raum und Zeit, zur Objektwelt und zur Sozialwelt und damit zu einem Wandel der Lebensform“ (Rosa 2005)
-Technische Beschleunigung tendiert also dazu, sich mit einer Beschleunigung des sozialen Wandels zu verschränken. Die sich so weiter verschärfende Gegenwartsschrumpfung, im Sinne einer immer kürzeren Geltungskonstanz, provoziert dann unter Bedingungen des Wettbewerbs weitere Beschleunigung im Bereich des Lebenstempos, denn es droht das ‚Abgehängt werden’ vom sozialen Wandel: „Es gibt keinen Punkt des Gleichgewichts, denn stillzustehen bedeutet zurückzufallen“ (Rosa 2013). Dieses Problem der „Slippery Slopes“ verschärft sich durch die steigende Komplexität, da es dadurch immer schwieriger wird, einzuschätzen, welche Optionen gewählt werden sollten.
-Mit diesem Akzelerationszirkel wird dann aber auch deutlich, wie individuelle und kollektive Rationalitäten auseinanderfallen können: „Was aus einer mikrosozialen Perspektive wie die Lösung des Problems der Zeitknappheit erscheint – die technische Beschleunigung zielgerichteter Vorgänge erweist sich auf der makrosozialen Ebene als ein wesentliches Element seiner Ursache.“ (Rosa 2005) So wird Zeit in spätmodernen Gesellschaften plötzlich zum Luxus, denn Langsamkeit und vorübergehende Nicht-Erreichbarkeit können sich nur noch wenige leisten, wenn sie nicht abgehängt werden wollen. Damit kommen wir schon auf die Folgen zu sprechen, die der fortwährende, sich radikalisierende Prozess der Beschleunigung auf die individuelle Lebensführung und das Funktionieren sozialer Systeme in der Spätmoderne hat
-Identitätsmuster hängen maßgeblich von den Zeitstrukturen ab. In der Identität müssen „notwendigerweise Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft verknüpft werden ..., weil der Sinn dafür, wer man ist, sich nicht von der Deutung dessen, wer man war und sein wird oder zukünftig sein möchte trennen lässt“ (Rosa 2005). Wir haben oben im Abschnitt zur Beschleunigung des sozialen Wandels bereits gesehen, dass diese Art der Identitätsarbeit zunächst von der Beschleunigung erst ermöglicht wurde.
-Wer man ist, war in traditionalen Gesellschaften noch maßgeblich von außen vordefiniert. Insofern die Frage nach der Identität überhaupt gestellt wurde, haben Tradition und Religion die Frage nach dem Platz im Weltgefüge präjudiziert, während die gesellschaftliche Stellung den Platz in der sozialen Ordnung
-Dies ändert sich mit der Individualisierung in der klassischen Moderne, durch die das Subjekt von solchen traditionalen Bindungen und Konventionen befreit wird. Es ist nun das Individuum selbst, das Verantwortung für seine Lebensgestaltung trägt. Beruf, Ehepartner, Wohnort, Religionsgemeinschaft, politische Überzeugung und viele weitere Parameter sind nun mehr und mehr wählbar, die eigene Identität wird damit zu einem reflexiven Projekt.
-Dies geht notwendigerweise mit einer „Verzeitlichung des Lebens“ einher: „Wenn die Verantwortung für das, was aus dem je eigenen Leben wird, für die Lebensführung und für die Verfolgung des konstitutiven Identitätsprojekts beim Individuum selbst liegt, so ist dieses gezwungen, für seine Zukunft vorzusorgen und alternative Zukunftsmöglichkeiten auszuloten.“ (Rosa 2005) Das Leben entfaltet sich so erst im Vollzug und wird zu einem zeitlichen Projekt. Dies setzt die Planbarkeit der Zukunft innerhalb bestimmter Grenzen voraus, was durch die Etablierung institutionalisierter Lebenslaufregime gewährleistet wurde. Die Identität wurde narrativ als Fortschrittsgeschichte rekonstruiert, die sich an der Konzeption der Normalbiografie orientierte
-Diese Normalbiografie teilt das Leben in einen Ablauf spezifischer Lebensphasen, wie z. B. den Ablauf von Ausbildung, Beruf und Rente. Während es sich bei vormodernen Identitäten also um substanzielle Identitäten a priori handelt, ermöglichen die Wahlmöglichkeiten unter Bedingungen einer notwendigen Stabilität der Lebenslaufregime eine stabile Identität a posteriori. Die Geschwindigkeit des sozialen Wandels ist an dieser Stelle von einem intergenerationalen zu einem generationalen Tempo übergegangen. Jeder Generation stellt sich das Identitätsprojekt als Aufgabe erneut
-Mit dem jüngsten Beschleunigungsschub ändert sich dieses Verhältnis abermals, denn der soziale Wandel erreicht nach Rosa ein intragenerationales Tempo und geht dadurch mit einem zweiten Individualisierungsschub einher: „Individualisierung meint auch in ihrer spätmodernen Form die Steigerung von Wahlmöglichkeiten und Kontingenzen in Bezug auf die Gestaltung der eigenen Biografie, wobei diese Steigerung nun vor allem die Form einer freieren Kombinierbarkeit und einer leichteren Revidierbarkeit der Identitätsbausteine annimmt.“ (Rosa 2005)
-Diese Kombinierbarkeit und Revidierbarkeit betrifft sowohl zentrale Dimensionen wie Beruf, Familie, Wohnort und Religion als auch periphere Bereiche wie Vereine, Geldanlagen, Telefongesellschaften, Versicherungen usw. Das heißt zwar nicht, dass all diese Parameter ständig geändert werden müssen, aber selbst dort, wo von derartigen Entscheidungsmöglichkeiten kein Gebrauch gemacht wird oder gar alte Muster verfolgt werden, ist das Bewusstsein um die Kontingenz dieser Auslassungen gestiegen
-Damit passiert etwas, das der Verzeitlichung des Lebens der klassischen Moderne diametral entgegengesetzt ist und diese wieder zurücknimmt, nämlich die Verzeitlichung der Zeit: „Verzeitlichung der Zeit meint, dass über Dauer, Sequenz, Rhythmus und Tempo von Handlungen, Ereignissen und Bindungen erst im Vollzug, und das heißt: in der Zeit selbst entschieden wird, sie folgen keinem vordefinierten Zeitplan mehr.“ (Rosa 2005)
-Berufliche wie auch familiäre Sequenzen werden entsprechend immer weniger an das biologische Alter gekoppelt. Auf eine Ausbildungsphase mit anschließendem Berufseinstieg kann jederzeit das Ausscheiden aus dem Erwerbsleben folgen – gegebenenfalls im Schulterschluss mit einer Neuorientierung und erneuten Ausbildung. Mit der Verzeitlichung der Zeit geht ebenfalls eine Flexibilisierung des Alltags einher. Vormals definierte Zeitfenster für verschiedene Aktivitäten wie Arbeiten, Einkaufen, Freunde treffen usw. werden zunehmend entgrenzt,
-Es entsteht eine situative Logik der Lebensführung, die sich unmittelbar identitätsprägend auswirkt. Auch wenn Rosa hier lediglich einen Idealtyp beschreibt und diese extreme Form der Flexibilität keinesfalls die meisten oder gar alle Gesellschaftsmitglieder betrifft, so manifestiert sich hier doch ein gesellschaftliches Leitbild bzw. eine neue Tendenz der Identitätsbildung
-Stabile, auf Kontinuität ausgelegte Identitäten werden also kaum möglich. Das bedeutet nun nicht, dass Identität, definiert „als die – teilweise reflektierte, teilweise in Handlungsvollzügen, in den Präferenzen und Distinktionen des Habitus einfach gelebte – Antwort auf die Frage danach, wer man ist“ (Rosa 2012), gar nicht mehr ausgebildet wird. Vielmehr bilden Individuen unter diesen Bedingungen tendenziell situative Identitäten, in denen „die Gewichtung, Relationierung und Ausdehnung von Identitätsmerkmalen“ (Rosa 2012) von Situation zu Situation geändert werden. Auf diese Weise können sie sich in wechselnden Kontexten immer neu orientieren und so ein Mindestmaß an Handlungsfähigkeit bewahren.
—>Es werden in diesem Identitätsmodell allerdings nicht alle Identitätsmerkmale ständig verändert, sondern einige rudimentäre Eigenschaften werden über eine Vielzahl von Situationen konstant gehalten, so dass zumindest ein punktueller Zusammenhang hergestellt werden kann, ohne jedoch diesen Kern definieren zu können (vgl. Rosa 2012: 258).
-Diese „rudimentäre übersituationale Einheit“ (Rosa 2012: 258) wird durch vier Faktoren gewährleistet.
Erstens werden den situativen Kontexten narrative Muster entnommen, die die Herstellung zumindest minimaler Zusammenhänge unterschiedlicher Episoden und Sinnprovinzen zulässt.
Zweitens sind Subjekte durch eine habitualisierte Kontinuität geprägt. Unter Habitus hat Pierre Bourdieu inkorporierte Umgangsformen, Vorlieben, Gewohnheiten oder Formen des Sozialverhaltens verstanden (vgl. Bourdieu 1979).
Drittens können ‚geliebte Objekte’ Reorganisationsperioden zu überbrücken helfen. Dies sind solche Objekte, zu denen Subjekte Beziehungen aufbauen.
Viertens legen jüngere sozialpsychologische Untersuchungen nach Rosa nahe, dass es möglicherweise „ein gleichsam ›angeborenes‹, prädikatsloses ›Kernselbst‹ , das ihnen die Aufrechterhaltung eines Identitätsgefühles unter Umständen sogar bei vollständiger situativer Diskontinuität erlaubt
—>Es lässt sich zusammenfassen, dass die Prozesse der Individualisierung und Beschleunigung durch die immense Kontingenzsteigerung auf Kontinuität ausgelegte Identitäten zunehmend prekär erscheinen lassen. Die Optionenvermehrung – einstmals „das zentrale Instrument zur Erweiterung von Autonomiespielräumen“ – wird nun zum Problem, da sie nun selbst als blindlaufender Zwang die individuelle Bestimmung über die eigene Lebensführung untergräbt. Die Zukunft lässt sich kaum noch planen und so werden der Tendenz nach vermehrt situative Identitäten ausgebildet.
-Die Kehrseite dieser Zeiterfahrung bildet dann aber eine paradoxe Erscheinung, wenn nämlich die Verzeitlichung der Zeit mit dem „Verlust der Wahrnehmung einer gerichteten Bewegung des Selbst oder des Lebens durch die Zeit, und daher der Verlust der Entwicklungsperspektive“ (Rosa 2005) einhergeht. Dies erklärt die Wahrnehmung, dass alles immer schneller und kontingenter zu werden scheint, sich am Ende aber doch nichts von Bedeutung ändert. Als Pathologien solcher Zeiterfahrungen und damit der Spätmoderne macht Rosa dann auch den Anstieg an Depressions- und Burnout-Erkrankungen aus, die er als Pathologien der Zeit interpretiert
-Ähnlich, wie die Identität mit der klassischen Moderne zu einem wählbaren Projekt wurde und mit der Spätmoderne prekär wird, verhält es sich auch mit dem politischen Projekt der Moderne. Denn diesem politischen Projekt und der damit zusammenhängenden Idee der demokratischen Gestaltung liegt die Überzeugung zugrunde, dass Gesellschaft als Projekt in der Zeit gestaltet werden kann. Damit sind jedoch spezifische Voraussetzungen verbunden, die in der klassischen Moderne fraglos erschienen
„Die Erwartungen nämlich, dass die Zukunft anders sein wird als die Vergangenheit, dass die gesellschaftliche Entwicklung in dieser Zukunft zu verstehen und politisch-demokratisch zu steuern oder zu gestalten ist und dass die normativen Maßstäbe oder Zielvorgaben für diese Gestaltung entweder schon bereitstehen oder zumindest im Modus der kollektiven politischen Übereinkunft – wenngleich revisionsoffen – festgelegt werden können.“ (Rosa 2005)
-Parallel zur Verzeitlichung des Lebens sprechen wir hier also von einer Verzeitlichung der Geschichte, die zu einem gerichteten Verlauf aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geformt wird und so gleichsam als Fortschrittsgeschichte erscheint. Rosa beruft sich auf Koselleck (1989), wenn er beschreibt, wie von vormodernen Gesellschaften geschichtliche Zeit als eher statisch erfahren wurde. Geschichten waren zwar vielfältig, schienen sich aber zu wiederholen, so dass aus den Fehlern vergangener Zeiten gelernt werden konnte
-Wieder ist es der Wandel von einem intergenerationalen zu einem generationalen Tempo des sozialen Wandels, dass auch in der Geschichtserfahrung ein „Auseinandertreten von Erfahrungsraum und Erwartungshorizont“ (Rosa 2005: 398) ermöglicht und somit die Erwartung weckt, dass die Zukunft anders als die Vergangenheit sein wird und so auch die Qualität der Gegenwart als ein zu steuerndes Projekt ermöglicht. Diese Auffassung der politisch steuerbaren Geschichte ist entsprechend mit der Annahme verbunden, dass die Politik genügend Zeit hat, Entscheidungen zu treffen, dass sie also mit gesellschaftlichen Entwicklungen synchron ist.
-Dafür muss der Steuerungsrahmen einerseits stabil genug sein, um für andere Funktionssphären eine gewisse Erwartungssicherheit zu gewährleisten. Andererseits muss er aber flexibel bleiben, um gegenüber der Veränderung von Bedarfslagen reaktionsfähig zu sein. Diese Dynamik wird zum Beispiel durch begrenzte Legislaturperioden hergestellt, die auf der einen Seite lange genug sein sollen, um politische Programme umsetzen zu können, auf der anderen Seite durch ihre Begrenzung politischen Stillstand oder irreversible Verhältnisse verhindern
-Das Problem dabei ist nun, dass dieser Gestaltungsanspruch nur innerhalb bestimmter Geschwindigkeitsgrenzen plausibel erscheint. Im Zuge des jüngsten Beschleunigungsschubes in Richtung eines intragenerationalen sozialen Wandels, der den Übergang zur Spätmoderne markiert, wird die Annahme der politischen Synchronisation jedoch bestenfalls fragwürdig:
-Die Paradoxie besteht darin, dass das Verhältnis von Zeitressourcen und Zeitbedarf kontinuierlich auseinanderfällt. Die Beschleunigung anderer sozialer Systeme bewirkt, dass die Zeitressourcen für politische Entscheidungen kontinuierlich abnehmen, denn die Politik müsste entweder mit dem immer schnelleren Wandlungstempo anderer Systeme mithalten oder aber auf diese anderen Systeme verzögernd einwirken, was mit beträchtlichen Kosten einhergehen würde. Es steigen aber nicht nur die Innovationsraten, sondern auch die Zahl der Bereiche, die einer Regulierung
bedürfen: „Es gibt bekanntlich von der Abfallentsorgung über den Urlaub bis zum Geschlechtsverkehr keinen Bereich des menschlichen Lebens mehr, der nicht Gegenstand politischer Auseinandersetzung wäre.“
-Es kommt also auch in diesem Bereich zu einer Gegenwartsschrumpfung, insofern die immer schnellere Veränderung der Hintergrundbedingungen die politische Planung zunehmend erschwert. Entsprechend steigt der Planungsbedarf, während die Möglichkeit des Planbaren abnimmt. Zugleich steigt der Planungsbedarf aber auch deshalb, weil sich im Zuge der Globalisierung und der heutigen technischen Innovationen die Reichweite politischer Entscheidungen sowohl räumlich über die Welt als auch zeitlich in die Zukunft hinein deutlich erhöht. Man denke etwa an Diskurse über Gentechnik, deren langfristige Folgen kaum absehbar sind. Letztlich gerät sogar die demokratische Willensbildung selbst unter Druck. Nach Rosa schwindet der gesellschaftliche Wertekonsens, da sich im Zuge der Individualisierung stabile Milieus zunehmend auflösen. Die so entstehenden Unklarheiten über soziale Zugehörigkeiten und politische Präferenzen erschweren somit die Artikulation und Aushandlung kollektiver Interessen
-Die Folge ist eine situative Politik, die je nach situativer Lage nur kurzfristig operieren kann. Große Gestaltungsentwürfe verschwinden. Provisorische Lösungen werden immer häufiger. Im Zeitalter der sozialen Medien und dem damit verbundenen Kampf um Aufmerksamkeit treten Bilder und Symbole an die Stelle von begründeten Argumenten. Politik steht „in der Gefahr, schließlich auf eine Frage der besseren Marketingstrategie reduziert zu werden“ . Wichtige Entscheidungen werden derweil in andere Funktionssysteme verlagert, etwa das Recht, oder der Selbstregulation überlassen, wenn etwa die Ökonomie immer weiter dereguliert wird oder Individuen an ihre ethische Eigenverantwortung erinnert werden.
-Situative Politik zeichnet sich also parallel zu situativen Identitäten durch tendenziell an situativen Lagen orientierten kurzfristigen Operationen aus. Es kommt auch hier zu einer Verzeitlichung der Zeit. Der Politik bleibt angesichts der Beschleunigung und Kontingenz nichts Anderes übrig, als von einer Situation zur nächsten zu driften. Über das weitere Vorgehen kann nur in der Zeit entschieden werden. Dies wiederum ist parallel zur individuellen Entzeitlichung des Lebens mit einer Entzeitlichung der Geschichte verbunden: „Geschichte wird nicht länger als ein gerichteter, politisch beschleunigbarer (oder auch zu verzögernder), dynamischer Prozess erfahren, sondern sie nimmt wieder die Form eines nahezu ‚statischen’ Raumes von nach- und nebeneinander sich abspielenden Geschichten an
-Damit ist eine Erfahrung der Paralyse verbunden, die Rosa mit dem Begriff „rasender Stillstand“ verbildlicht. Es kommt demzufolge zu einem Verblassen der Bedeutsamkeit selbst turbulenter geschichtlicher Ereignisse, da sie nicht mehr als „Elemente einer bedeutungsvollen historischen Entwicklungskette“ (Rosa 2005: 422) erscheinen. Obgleich sich gesellschaftliche Verhältnisse also ständig in Bewegung befinden, ändert sich doch nichts an den zentralen Strukturen, die die Beschleunigungsdynamik unaufhaltsam vorantreiben. Es scheint entsprechend nichts mehr zu entscheiden zu geben, insofern der Sachzwang die erforderlichen Entscheidungen vorgibt. Die geschichtliche Entwicklung lässt sich nicht mehr als Fortschrittsgeschichte erzählen, sondern nur noch als richtungsloser Drift. Das Projekt der Gestaltung sozialen Wandels durch autonome politische Steuerung scheint gescheitert zu sein. Damit ist ein immenser Legitimationsverlust des politischen Systems verbunden, wie auch Colin Crouch in seinen Ausführungen zur Postdemokratie betont
-es geht Rosa nun aber um eine Soziologie der Weltbeziehungen, nicht mehr ausschließlich um Zeitstrukturen. Unter Weltbeziehungen ist „die Art und Weise, in der wir als Subjekte Welt erfahren und in der wir zur Welt Stellung nehmen“ (Rosa 2016: 19), zu verstehen. Welt ist dabei alles, was einem Subjekt begegnen kann, sie bildet den Horizont, in dem sich Ereignisse abspielen und Dinge befinden (vgl. Rosa 2016: 65). Solche Weltbeziehungen sind von kollektiven Verhältnissen abhängig, insofern sie in Praktiken und Institutionen herausgebildet werden und im Denken und Handeln der Individuen tief verankert sind In diesem Sinne lässt sich die bisher beschriebene Krise der Spätmoderne als eine Krise der Weltbeziehungen reformulieren, d. h. die institutionellen und kulturellen Bezugnahmen auf die Welt sind in die Krise geraten. Sie äußert sich als eine „umfassende Krise der Resonanzverhältnisse, als ein strukturell verursachtes Weltverstummen“
-Rosa leitet seinen Resonanzbegriff vom physikalischen Resonanzbegriff ab, demnach Resonanz „eine spezifische Beziehung zwischen zwei schwingungsfähigen Körpern [beschreibt; E. N.], bei der die Schwingungen des einen Körpers die ‚Eigentätigkeit’ (beziehungsweise die Eigenschwingung) des anderen anregt“ . Wichtig ist dabei, dass die Körper nicht so miteinander verbunden sind, dass die Bewegung des einen Körpers die des anderen mechanisch erzwingt. Vielmehr muss die Eigenfrequenz des anderen Körpers angeregt werden.
-Als relationaler Begriff beschreibt Resonanz also eine Beziehung, in der zwei Elemente durch ein Medium bzw. einen Resonanzraum einander so berühren, dass sie sich gegenseitig antworten, zugleich aber eine eigene Stimme bewahren. Resonanz ist in diesem Sinne also kein Echo, denn einem Echo würde die eigene Stimme fehlen, insofern es nur quasi mechanisch zurückgibt, was gerufen wurde, ohne selbst zu antworten. Hier wird deutlich, dass eine der Voraussetzungen von Resonanzbeziehungen in der Unverfügbarkeit der beteiligten Elemente liegt.
-Resonanz ist demzufolge ebenso kein Gefühlszustand, weshalb beispielsweise ein mit einer negativen Emotion der Trauer besetzter Film Resonanz auslösen kann. Resonanz als Beziehungsmodus beschreibt für das Subjekt vielmehr eine Art des Bezogenseins auf die Welt, „in der sich Subjekt und Welt gegenseitig berühren und zugleich transformieren“ (Rosa 2016: 298). Dazu müssen beide Elemente hinreichend offen sein, um sich berühren zu können, andererseits aber auch hinreichend geschlossen, um weiterhin über eine eigene Stimme zu verfügen.
-Resonanz tritt letztlich nur dort ein, wo starke Wertungen berührt werden, das heißt wo etwas berührt wird, das intrinsisch als gut qualifiziert wird: „In Resonanzmomenten stimmen Sein und Sollen tendenziell überein“ . Starke Wertungen geben demnach Hinweise darauf, was es wert ist, verfolgt zu werden und was nicht, was gut und was böse ist, was richtig und was falsch ist. Zudem erfordert Resonanz eine Selbstwirksamkeitserwartung, da man ohne sie nicht von sich erwarten kann, etwas tatsächlich berühren und transformieren zu können.
-Dieser Resonanzbegriff ist für Rosa grundlegend anthropologisch, insofern Resonanzbeziehungen zur Konstitution des Menschen zwingend dazugehören. Denn schon die Körperlichkeit des Menschen in seinen basalen Tätigkeiten wie dem Atmen, Essen, Trinken, Gehen, Schlafen, Lachen, Weinen oder Lieben ist nach Rosa von Resonanzbeziehungen durchzogen. Den Gegenbegriff zur Resonanz stellt der Begriff der Entfremdung, d. h. eine Beziehung, „in der Subjekt und Welt einander indifferent oder feindlich (repulsiv) und mithin innerlich unverbunden gegenüberstehen. [...] Entfremdung definiert damit einen Zustand, in dem die ‚Weltanverwandlung’ misslingt, so dass die Welt stets kalt, starr, abweisend und nichtresponsiv erscheint“
-Die Frage nach dem guten Leben beantwortet Rosa entsprechend mit der Frage nach stabilen Resonanzbeziehungen. Dabei unterscheidet er drei Formen bzw. Achsen: horizontal, diagonal und vertikal.
Unter horizontalen Resonanzbeziehungen versteht Rosa solche unter Menschen, d. h. Freundschafts- und Liebesbeziehungen, aber auch die Politik.
Diagonale Resonanzachsen werden zu Dingen aufgebaut, wie sie etwa zu Werkstoffen in der Arbeit oder Bildungsinhalten aufgebaut werden können.
Vertikale Resonanzachsen betreffen letztlich die Welt selbst, wenn die Welt etwa als Natur, als Geschichte oder durch Religion in ihrer Totalität erfahren wird.
- Nun gibt es, wie Rosa betont, kein direktes Kausalverhältnis, aus dem unmittelbar folgen würde, dass Beschleunigung eine Resonanzkrise verursachen würde. Denn auf der einen Seite können stillstehende Verhältnisse enorme Entfremdungserfahrungen verursachen. So dürfte für einen Obdachlosen die Tatsache, dass sich an seinem Zustand nichts ändert, keineswegs eine Quelle von Resonanz darstellen. Auf der anderen Seite machten Dynamisierungsprozesse resonante Weltbeziehungen vielfach erst möglich. Zwar bevorzugt oder erzwingt die beschleunigte Moderne tendenziell kalte, instrumentelle Bezugnahmen, jedoch sind diese nicht per se schlecht.
-Denn einerseits ist eine gewisse Ressourcenlage Voraussetzung für Resonanz, denn unerreichbare Weltausschnitte können prinzipiell nicht anverwandelt werden. Und die Ressourcenlagen vieler Menschen haben sich mit der Moderne gesteigert, wie auch Beck mit der These des Fahrstuhleffekts postuliert: „Es gibt – bei allen sich neu einpendelnden oder durchgehaltenen Ungleichheiten – ein kollektives Mehr an Einkommen, Bildung, Mobilität, Recht, Wissenschaft, Massenkonsum.“
- Andererseits hat der steigerungsorientierte wissenschaftlich-technisch-ökonomische Institutionenkomplex, in dem „es um die unaufhörliche Vergrößerung der (kollektiven) Selbstwirksamkeit“ (Rosa 2016: 705) geht, viele Möglichkeiten der Weltanverwandlung erst hervorgebracht. Wie wir gesehen haben, gehört Selbstwirksamkeitserwartung zu den Voraussetzungen von Resonanzbeziehungen. Jedoch ist Selbstwirksamkeit und der damit verbundene nach außen gehende Affekt nur eine Seite der Resonanzbeziehung. Die andere Seite der Beziehung, das nach innen gehende emotionale Berührtwerden, ist in spätmodernen Gesellschaften in einer anderen, inkompatiblen Handlungssphäre davon getrennt. In solchen Resonanzoasen fehlt den Rezipienten nämlich das Vermögen, selbst etwas erreichen zu können und so Resonanz zu erzeugen
-Es kommt also zu einer Trennung der beiden Dimensionen einer Resonanzbeziehung. Auf der einen Seite wird in Resonanzoasen eine einseitige Rührung mit der gegenseitigen Berührung verwechselt. Auf der anderen Seite erzwingt der in der Moderne dominante Modus instrumenteller Weltbeziehungen eine Verdinglichung ungekannten Ausmaßes. Denn das Programm der Reichweitenvergrößerung und Verfügbarmachung beinhaltet zwar eine Resonanzverheißung, führt aber häufig zu einem Verstummen der Resonanz und damit zu einem Weltverlust (vgl. Rosa 2016: 711). Dies zeigt sich beispielsweise im Konsum. So sei die Verheißung im Kaufakt noch spürbar, wenn beim Erwerb von Tonträgern, Kleidern, Reisen usw. Glücksgefühle erzeugt werden. In der Konsumtion werden sie aber oft nicht eingelöst. Das Beziehungsbegehren wird im Konsum zu einem Objektbegehren verwandelt (vgl. Rosa 2016: 698). In den Praktiken, Reisen oder Feste mit Bildern oder Videos festzuhalten, manifestiert sich für Rosa entsprechend die Hoffnung, die Resonanzpotenziale für die Zukunft zu konservieren, was nicht viel mehr ist, als der „Versuch, Resonanzpotenzial wie Kapital zu akkumulieren“ . Die Strategie der instrumentellen Weltreichweitenvergrößerung führt für Rosa letztlich also zu einem Weltverlust und damit zu einem Verstummen der Resonanzachsen
-Aber nicht nur in Bezug auf die Welt, auch im Hinblick auf das Selbst, ist die dominierende Strategie der Reichweitenvergrößerung durch einen Verlust gekennzeichnet. Wenn Menschen etwa Aspekte ihrer Psyche oder ihres Körpers durch die Selbstvermessung zu kontrollieren versuchen, wenn sie mit Hilfe pharmazeutischer Mittel wie Ritalin oder Prozac ihre Stimmungslagen und Leistungen beeinflussen wollen, oder wenn nun digitale Plattformen wie Google oder Facebook die Aufgabe übernehmen, über eigene Präferenzen und Neigungen Auskunft zu geben und damit Teile der Identitätsarbeit abnehmen, dann sieht Rosa darin einmal mehr die Tendenz, durch Selbstwirksamkeit und Kontrolle ein dialogisches Erreichen zu verhindern: „Reichweitenvergrößerung verstanden als verdinglichende Beherrschung führt zu Weltverlust, der sich hier als Selbstverlust bemerkbar macht.“ (Rosa 2016: 716) Damit aber ist die Spätmoderne von tiefgreifenden Entfremdungserfahrungen gekennzeichnet
-Wir können zusammenfassen, dass die in der Moderne dominante Strategie der Weltreichweitenvergrößerung in seiner Radikalität und im Zusammenhang mit der sozialen Beschleunigung zu verhängnisvollen Krisen der institutionalisierten Weltbeziehungen führt.
-Erstens führt sie in eine durch die kapitalistische Landnahme verursachte Ökokrise, denn die Steigerung materieller Verhältnisse erfordert unmittelbar physische Energie, die heute zumeist weiterhin kohlenstoffbasiert ist .
-Zweitens führt sie, wie wir bereits gesehen haben, in eine Krise der Demokratie. Regierungen finden sich den Steigerungsimperativen ausgeliefert und antworten den Subjekten nicht mehr. Paradigmatisch ist die Rede von der Alternativlosigkeit, die immer häufiger in Stellung gebracht wird. Dies mündet in Politikverdrossenheit und auch der aktuelle Erfolg populistischer Parteien wird von Rosa entsprechend als Wunsch interpretiert, dass das politische System den Bürgern wieder antworten solle. Und drittens sind es die Subjekte, die psychische Energien in die Beschleunigung einbringen müssen: „Sie sind es letztlich, die Wachstum, Beschleunigung und Innovationen auf der einen Seite leisten und erbringen und auf der anderen Seite verarbeiten und ‚verbrauchen’ müssen“ (Rosa 2016: 710).
-Das unter dem Begriff der „Slippery Slopes“ beschriebene Gefühl, immer schneller laufen zu müssen, da sonst der Absturz droht, sorgt für eine existenzielle Grundangst, die verhindert, sich auf Resonanzbeziehungen einlassen zu können. Stattdessen werden Ressourcen angehäuft, mit denen sich das gute Leben irgendwann einmal in der Zukunft (vielleicht) realisieren lässt. Entsprechend sieht Rosa in der Zunahme an Symptomen wie Stress, Depression oder Burnout eine „Erschöpfungskrise im Steigerungsspiel ...: Gleichgültig, wie kreativ, aktiv und schnell wir in diesem Jahr sind, nächstes Jahr müssen wir uns steigern, lautet die Grundbefindlichkeit spätmoderner Subjekte fast überall auf der Welt.“
-Wie kann man diesen Krisen also begegnen? Hierzu braucht es nach Rosa einen grundlegenden Wandel auf allen Ebenen der Gesellschaft, wobei Weltbeziehungen zum Maßstab gemacht werden sollten und nicht die Vergrößerung von instrumentellen Reichweiten, die sich in dem Ruf nach Wachstum aller möglicher Ressourcenparameter manifestiert. Es bräuchte demzufolge einen Paradigmenwechsel zu einer Postwachstumsgesellschaft. Institutionell müsste der Kreislauf der dynamischen Stabilisierung gebrochen werden. Da bei der Bestimmung der Art und Qualität von Weltbeziehungen der ökonomische Steigerungsimperativ dominant ist, hält Rosa es für nötig, den Raum für Markt und Konkurrenz zu beschränken und politisch auszuweisen.
-Dazu braucht es „wirtschaftsdemokratische Institutionen, welche die Entscheidungen über Produktionsziele ebenso wie über Produktionsformen und -mittel an die Maßstäbe gelingenden Lebens zurückzubinden vermögen“. So müssten beispielsweise zentrale Infrastrukturen, wie das Gesundheitswesen oder die Energieversorgung, der Verwertungslogik entzogen werden, d. h. sie sollten nicht die Profitmaximierung zum Ziel haben, wie es die Privatisierung solcher Infrastrukturen erzwungen hat. Das alles bedeutet nicht, dass nun alles statisch werden solle, jedoch muss der Zwang zur dynamischen Stabilisierung aufgehoben werden.
-Individuen müssten allerdings genauso von dem Zwang zur Steigerung befreit werden, da die damit verbundene Angst und der Stress Resonanz blockieren. In dieser Hinsicht sympathisiert Rosa mit dem bedingungslosen Grundeinkommen. So argumentiert er, dass Subjekte sich erst dann auf die Suche nach Resonanzachsen machen können, wenn sie sich nicht mehr durch Angst und Konkurrenz in die Welt gestellt sehen: „Ressourcensicherung ohne den Zwang zur stetigen Ressourcenvermehrung scheint mir eine Voraussetzung für eine Neuorientierung auch der Lebensführung zu sein.“ Auch könnte durch ein derartiges Grundeinkommen die Arbeit als Sphäre persönlicher Entfaltung zurückgewonnen werden. Zudem benötigt der Aufbau von Resonanzbeziehungen Zeit. In diesem Sinne lässt sich komplementär zum Grundeinkommen auch die Forderung nach einer bedingungslosen Basis-Zeit formulieren – z. B. in Form einer radikalen Reduktion der Arbeitszeit
-Für die Politik fehlt Rosa ein konkreter Vorschlag, aber grundsätzlich müsste politisches Handeln „nicht von Motiven des Durchsetzens gegen andere und gegen die Welt, sondern von der Vision und Intention des kollektiven Gestaltens des Gemeinwesens bestimmt sein“. Es kann aber auch nicht nur an politischen Reformen liegen, die Spaltung zwischen instrumentellen und resonanten Beziehungen zu überwinden. Genauso bedarf es einer Umorientierung alltäglicher Handlungspraktiken, durch die Resonanzbeziehungen aus Sonderzonen befreit und in reproduktive Alltagspraktiken integriert
-Letztlich kann es nach Rosa aber leider keinen Masterplan geben, denn der Versuch des Entwurfs einer Blaupause „kommt letztlich selbst einem Akt der Resonanzverdinglichung gleich“ (Rosa 2016: 732; Herv. im Orig.). Daran offenbart sich zugleich die Schwäche des Resonanzkonzeptes. Denn der Resonanzbegriff lässt sich zwar aufgrund seiner Vagheit über Kontexte hinweg erstaunlich oft einbringen, diese Vagheit ist es aber auch, die konkrete Ableitungen äußerst schwer gestaltet. Entsprechend verwendet Rosa viele Seiten und Beispiele darauf, dem Leser ein Gefühl dafür zu geben, was er mit Resonanz meint und was nicht. Es kommt zuweilen das Gefühl auf, dass Rosa eine recht nostalgische Sicht resonanter Begegnungen verfolgt, auch wenn er konsequenterweise betont, dass die konkrete Ausgestaltung resonanter Beziehungen variabel ist. So sind es z. B. immer wieder Kontakte mit der Natur, Spaziergänge über Bergketten oder weitläufige Landschaften, die ihm als Beispiele für resonante Erfahrungen dienen. Am Ende räumt er letztlich ein: „Vielleicht impliziert die prinzipielle Unverfügbarkeit von Resonanz tatsächlich auch, dass man ihrer theoretisch niemals völlig und erschöpfend habhaft werden kann. Der Begriff wird dürr und beginnt sich zu entziehen, wenn man ihn philosophisch festzunageln versucht.“
-Auch ist die Resonanztheorie für Rosa grundlegend kapitalismuskritisch, insofern der steigerungsfixierte Kapitalismus einer Resonanzsensibilität als Handlungsorientierung stark entgegenzustehen scheint. In der Forderung, dass der aktuellen Ausprägung des sich unaufhaltsam beschleunigenden Kapitalismus etwas entgegenzusetzen ist, sind sich die Beteiligten des Postwachstumskollegs jedenfalls einig. Denn eines scheint sicher: Die Motoren der Beschleunigung und des immerwährenden Wachstums werden irgendwann zum Stillstand kommen. Die Frage ist dabei nur, ob dies als gelenkte Transformation hin zu einer Postwachstumsgesellschaft, oder aber als ökologische und/oder soziale Katastrophe passiert
-In der Diskussion um Postwachstumsgesellschaften lassen sich auch viele soziale Bewegungen verorten, wie z. B. Occupy, die spanischen ‚Indignados’ oder die französischen Konvivialisten, die ebenfalls nach neuen Wegen demokratischer Partizipation suchen (vgl. Rosa et al. 2017). Letztlich zeigt sich in diesen Aktivitäten aber auch eine veränderte Sicht auf den Auftrag, dem Soziolog*innen nachgehen sollen. Während sich viele Soziolog*innen als distanzierte Beobachter fassen, beinhalten der Entwurf einer Soziologie des guten Lebens ebenso wie die Schaffung einer Vision, die als Wegbereiter für Postwachstumsgesellschaften dienen könnte, eine aktivere Partizipation von Soziolog*innen an der gesellschaftlichen Entwicklung
-Die Studie über den neuen „Geist des Kapitalismus“ erregte trotz ihres Umfangs (von über 700 Seiten!) aus mehreren Gründen sofort große Aufmerksamkeit. Sie unternimmt eine soziologische Gesamtdiagnose der Gegenwartsgesellschaft, die eine verwirrende Vielfalt von Einzeltendenzen in einen Zusammenhang stellt, sie setzt mit dem Konzept der Rechtfertigungsordnungen (cités) ein sehr innovatives Untersuchungsinstrument ein und sie zielt mit ihrer Unterscheidung zwischen „Sozialkritik“ (in deren Zentrum Verteilungs- und Gerechtigkeitsfragen stehen) und „Künstlerkritik“ (der es primär um Entfremdungskritik und Selbstentfaltungsansprüche geht) ins Zentrum der Diskussion über die gesellschaftliche Funktion der Sozialwissenschaften und ihres emanzipatorisch-kritischen Anspruchs. Mit der Fokussierung auf die Rolle der Kritik für die Herausbildung eines „neuen Geistes des Kapitalismus“ traf die Studie von Boltanski und Chiapello bei vielen Lesern einen Nerv, machte sie doch klar, dass der moderne „post-fordistische“ Netzwerk-Kapitalismus sich nicht einfach einer rein innerökonomisch verlaufenden Entwicklungs- und Steigerungsdynamik verdankte. Die neue Gestalt des Netzwerk-Kapitalismus war nicht von ehernen Gesetzen der Verwertungslogik diktiert, sondern bildete in wesentlichen Hinsichten eine Reaktion wirtschaftlicher Akteure und sozialer Institutionen auf die Infragestellung des kapitalistischen Systems der Nachkriegszeit, der „trente glorieuses“, des „sozialdemokratischen Zeitalters“, des „Fordismus“, des „Korporatismus“ durch die in Frankreich als besonders einschneidend empfundene „68er-Bewegung“. Der Geist der Kritik, dem sich viele Gesellschaftswissenschaftler zumindest in der biografischen Rückschau verpflichtet fühlten, sollte – so schien es zumindest – mitverantwortlich sein für einen Kapitalismus, der im Zeichen der Globalisierung der Märkte, der Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit und des Abbaus bürokratischer Hemmnisse sowie der Artikulation von Freiheits- und Selbstverwirklichungsansprüchen die sozialen Sicherungssysteme und institutionalisierten Arbeitnehmerrechte in Frage stellte. Der ‚Geist der Kritik‘ bezieht sich hierzu auf Schlagworte, die vielfach aus dem Arsenal der 68er stammten: Im Namen der Kritik an Entfremdung, Verdinglichung, Unfreiheit und Bevormundung wurde eine neue gesellschaftliche Ordnung propagiert, die in der Sprache der sozialwissenschaftlichen und sozialphilosophischen Kapitalismuskritiker formuliert war, deren Begriffe okkupierte und damit die Kritik des Kapitalismus zu entschärfen versuchte
-Traditionell hatte die Soziologie nicht nur in Frankreich kritisch-anklagend auf die Zerstückelung von Arbeitsvollzügen im Sinne repetitiver Teilarbeit, auf Sinnverlust, In-Authentizität und Entfremdung in der Arbeitswelt verwiesen. Nunmehr sah sie sich zunehmend mit einer Situation konfrontiert, in der aus den Vorstandsetagen der Unternehmen zu hören war, man habe erkannt, dass Entfremdung in der Arbeit ein Produktivitätshemmnis darstelle, man nehme das Wissen der Produzenten nunmehr ernst und wolle das „Gold in den Köpfen“ als Wertschöpfungsressource nutzen. Durch eine Erweiterung von Aufgaben und Verantwortlichkeiten wolle man die sinnhafte Identifikation mit der eigenen Arbeit ermöglichen. Nunmehr sind Unternehmen nicht nur bereit, partizipative Arbeitsformen nicht nur zuzulassen, sie erklären sie geradezu zur neuen Norm (vgl. Kocyba/Vormbusch 2000), Hierarchien werden im Zuge des „lean-management“-Konzepts von den Unternehmensleitungen selbst in Frage gestellt, das mittlere Management, die direkten betrieblichen Vorgesetzten werden von Oben als „Lähm-Schicht“ desavouiert. Das Management setzt eine „Politik der offenen Tür“ Partizipation als Managementstrategie ein und erklärt dadurch die etablierten Formen der Mitbestimmung für überflüssig. Vermeintlich transparente Kennziffernsysteme sollen die ‚Willkürherrschaft‘ der Vorgesetzten durchbrechen und den Beschäftigten einen eigenen Einblick in die durch die marktliche Wettbewerbssituation des Unternehmens diktierten Bedingungen ermöglichen. Hier kann die Antwort ja schlecht lauten, dass man angesichts dieser Entwicklungen zur tayloristischen Arbeitsorganisation, d. h. zur Herrschaft der Rationalisierungsexperten, zur Stechuhr, zum Akkordsystem und zur fragmentierenden Zerlegung von Arbeitsprozessen, zur radikalen Trennung von Leitung, Arbeit und Kontrolle zurückwolle
-. Boltanski und Chiapello machen deutlich, dass die Kritik am Kapitalismus damit heute vor der Herausforderung steht, sich quasi neu zu erfinden. Die Kritik hatte in einer Weise Recht bekommen, die dazu führte, dass sie sich plötzlich als Wegbereiter einer neuen Ordnung begreifen musste, auch wenn diese neue Ordnung die Motive der Kritik ganz anders umsetzte als von den Aktivisten des Mai 1968 gefordert. Deutlich wurde zugleich, dass diese Situation sich nicht auf den Bereich der Arbeit und der Wirtschaft beschränkte, sondern auf vielfache Weise auch den Bereich sowohl des privaten Lebens als auch der öffentlichen Kommunikation betraf
-Boltanski und Chiapello unterschieden idealtypisch zwei Grundformen der Kritik am Kapitalismus, die sie als Sozialkritik und als Künstlerkritik bezeichnen. Beide finden sich historisch schon in der Kapitalismuskritik des 19. Jahrhunderts. So führen die Analysen von Marx sowohl Phänomene der Ausbeutung und der Verelendung – die im Zentrum der Sozialkritik stehen – als auch Phänomene von Entfremdung und Fetischismus – Ausgangspunkt der Künstlerkritik – auf Struktureigentümlichkeiten der kapitalistischen Produktionsweise zurück. Die Besonderheit der von Boltanski und Chiapello vorgeschlagenen Untersuchungsperspektive besteht nun darin, dass sie nicht nur von einer relativ losen Kopplung von Sozialkritik und Künstlerkritik ausgehen, sondern zeigen, dass beide Kritikformen in Widerstreit zueinander treten können. Ein Blick auf die Entwicklungsdynamik des Kapitalismus zeigt dabei, dass dieser vielfach nicht auf beide Kritikformen gleichzeitig zu reagieren im Stande ist. So verschwindet zum Beispiel durch die Institutionalisierung sozialstaatlicher Großbürokratien keineswegs der Sinnverlust und die Entfremdung in der Arbeit. Der Kapitalismus vermag aber beide Kritikformen gegeneinander auszuspielen, indem er z.B. im Namen einer pauschalisierenden Bürokratiekritik und unter Berufung auf Motive der Entfremdungskritik soziale Schutzrechte und Sicherungssysteme diskreditiert
-Provozierend für viele der materialistischen Theorietradition verpflichtete Forscher, die Überzeugungen, Deutungsmuster und Selbstdarstellungen der Handelnden eher als Ausdruck objektiver Prozesse und Interessenlagen zu begreifen suchen, ist weiterhin der Umstand, dass Boltanski und Chiapello davon überzeugt sind, dass der moderne Kapitalismus nicht nur – wie bei Max Weber – in seiner Konstitutionsphase durch normative Orientierungsmuster, also einen spezifisch kapitalistischen „Geist“ der Lebensführung überhaupt erst ermöglicht wurde, sondern – anders als Weber – überzeugt sind, dass Bestand und Funktionieren des Kapitalismus auch heute noch von einer – allerdings als wandelbar zu begreifenden und als konflikthafte Dynamik zu beschreibenden – normativen Grundlage abhängig ist. Dieser „Geist“ ist, wie Boltanski und Chiapello gegen die utilitaristische Tradition betonen, durch historisch jeweils verschiedene Kombinationen der Bezugnahme auf die Werte von personaler Autonomie und sozialer Sicherheit sowie eine normative Orientierung am Allgemeinwohl geprägt, die ihrerseits auf kritische Einwände gegen die Verabsolutierung kapitalistischen Erwerbsstrebens antworten. Im Einzelnen unterscheiden Boltanski und Chiapello zwischen einem ersten Geist des Kapitalismus, der bis zum Ende des 19. Jahrhunderts und in die Anfangsphase des 20. Jahrhunderts erstreckt und durch Paternalismus und die Sozialfigur des (kleinbetrieblichen) Unternehmers geprägt ist, einem zweiten Geist, der die Welt industrialisierter Massenproduktion und rationaler Unternehmensbürokratien regiert, und schließlich einem Geist der Flexibilität, Mobilität, Selbstverantwortung und Kreativität, der die Welt der Projektnetzwerke charakterisiert
-Anders als für viele Vertreter eines orthodoxen Marxismus ist der Kapitalismus für Boltanski und Chiapello kein System, dessen Logik sich ohne das Handeln der Menschen entfalten kann. Als gleichsam automatisches, vom Willen und Handeln der Menschen unabhängiges System ist der Kapitalismus nicht reproduktionsfähig. An sich ist der Kapitalismus (als ein System, das auf unbegrenzter Kapitalakkumulation mit formell friedlichen Mittel basiert) für Boltanski und Chiapello ein „absurdes System“ , da die konkreten Erscheinungsformen gesellschaftlichen Reichtums, an die sich Wünsche und Bedürfnisse der Menschen heften können, für ihn gar nicht von Interesse sind. Die besonderen Gebrauchswerte der Waren und Dienstleistungen stellen nicht selten gerade ein Hindernis dar für den Prozess der beständigen Umwandlung des Kapitals: „Die Loslösung des Kapitals von den materiellen Erscheinungsformen des Reichtums verleiht ihm etwa eigentümlich abstraktes“ (S. 39). Dem Kapitalismus fehlt damit eine anschauliche soziale Plausibilität, die für die alltägliche Mobilisierung und Motivierung einer breiten Masse von Beschäftigten für den kapitalistischen Akkumulationsprozess zwingend erforderlich ist.
-Ein reines Zwangsregime wäre hier weder effektiv noch effizient, Systemzwänge als solche wirken nur dann motivbildend, wenn sie von den Handelnden verinnerlicht werden. Es bedarf einer Ideologie, die das Engagement für den Kapitalismus und im Rahmen des Kapitalismus rechtfertigt, ihm Sinn und Plausibilität verleiht, also „Beteiligungsmotive“ (A. Hirschmann 1980) generiert. Ideologie meint hier nicht einfach falsches, illusionäres und von partikularen Interessen diktiertes Bewusstsein, sondern eine Gesamtheit institutionell verkörperter und im Handeln greifbarer Glaubenssätze: sie ist eher Sache des Tuns als des bloßen Meinens. Der Kapitalismus sieht sich dabei durchaus widerstreitenden Erwartungen gegenüber, etwa Forderung nach Autonomiewartung und nach Sicherheit, die er nicht gleichzeitig und vollständig umsetzen kann. Dennoch ist er gezwungen, ihm äußerlich, zunächst vielfach feindlich gegenüberstehende Kritik- und Rechtfertigungsmuster zu inkorporieren
-Der kapitalistische „Geist“, der in der Entwicklungsgeschichte des Kapitalismus wie in der soziologischen Kapitalismusanalyse charakteristische Wandlungsprozesse durchlaufen hat, besitzt für Boltanski und Chiapello eine spezifische Doppelfunktion, wenn er den kapitalistischen Akkumulationsprozess zugleich legitimiert und beschränkt: Nicht jeder Profit ist legitim, es geht durchaus um eine Zügelung und Lenkung der Geldgier. Die normative Legitimation des Kapitalismus bezieht diesen auch auf nicht wirtschaftliche Ziele wie Freiheit und Gerechtigkeit. Deren institutionelle Umsetzung im Arbeitsrecht oder in sozialen Sicherungssystemen macht deutlich, dass der Geist des Kapitalismus als institutionalisiertes Legitimationsmuster Gestalt annimmt, also nicht einfach als Form bloßer ideologischer Verschleierung begriffen werden kann.
-Das Konzept der Rechtfertigungsordnung (französisch „cité“, deutsch übersetzt als „Polis“) macht den spezifischen Ansatz der Forschergruppe um Luc Boltanski deutlich, Das zusammen mit Laurent Thévenot entwickelte Konzept der „cité“, der Rechtfertigungsordnung oder Rechtfertigungsgemeinschaft liegt auch der gemeinsam mit Ève Chiapello verfassten Studie zu Grunde. Dort unterscheiden die beiden analytisch zwei Formen der Kritik am Kapitalismus, in denen sich die Kritikmotive der sozialen Akteure bündeln und zwischen denen auch die sozialwissenschaftlichen Zeitdiagnosen changieren. Boltanski und Chiapello identifizieren dabei vier zentrale Motive der Kritik, die den Kapitalismus bei allen Änderungen im Detail von Anbeginn an begleiten: der Kapitalismus wird
1. als Quelle von Sinnverlust, Entfremdung und fehlender Authentizität begriffen,
2. als Ursache von Unterdrückung und Unfreiheit,
3. als Quelle von Armut, Ausbeutung und Ungleichheit sowie
4. als Ursache von Egoismus, Interessenspartikularismus und Opportunismus. Diese Kritik- bzw. Empörungsmotive sind jeweils nur schwer in einen gemeinsamen theoretischen und politischen Rahmen zu integrieren. Die Normen, auf die sie sich berufen, stehen nicht selten in Widerspruch zueinander und verbinden sich mit unterschiedlichen Akteursgruppen
-Der als „Künstlerkritik“ bezeichnete Typus der Kapitalismuskritik, der historisch in der Lebensform der Bohème des 19. Jahrhunderts wurzelt, richtet sich gleichermaßen gegen Sinnverlust, Kommerzialisierung, fehlende Authentizität, Unterordnung und Freiheitsverlust, basiert im Kern also auf den ersten beiden Kritikmotiven.
-Der als „Sozialkritik“ bezeichnete Typus der Kapitalismuskritik richtet sich demgegenüber in erster Linie gegen Armut, Verelendung, Ungerechtigkeit und Ungleichheit sowie gegen die Zerstörung sozialer Solidarität, basiert also auf den beiden anderen Kritikmotiven. Damit ist freilich nicht ausgeschlossen, dass beide Kritiktypen nicht doch bestimmte Verbindungen eingehen können. Das bekannteste Beispiel für eine Verknüpfung von Sozialkritik und Künstlerkritik bietet der Mai 68 in Frankreich, als Studenten und Arbeiter gemeinsam das herrschende System herausfordern.
-Für die Analyse von Boltanski und Chiapello bleibt indes die Beobachtung bestimmend, dass der Kapitalismus die Herausforderung des Mai, wie sie sich exemplarisch in der Parole „Die Phantasie an die Macht!“ artikulierte, in der Weise aufgenommen hat, dass er Künstlerkritik und Sozialkritik gegeneinander ausspielte. Im Ergebnis kamen zunächst die institutionalisierten Ergebnisse (bzw. erkämpften Konzessionen) der älteren Sozialkritik (Rentenversicherungssysteme, Tarifvertragsrecht und Arbeitnehmerschutzrechte, Beschäftigungssicherheit und kalkulierbare berufliche Karrieremuster) im Zuge der Reform des Sozialsystems und des Arbeitsrechts unter die Räder. Boltanski und Chiapello beschreiben diesen Prozess als „Dekonstruktion der Arbeitswelt“ und verweisen in diesem Zusammenhang auf die zunehmende Unsicherheit der Beschäftigungsverhältnisse, die Spaltung der Arbeitnehmerschaft, den Abbau des Arbeitnehmerschutzes und der Sozialstandards, den Bedeutungsverlust der Gewerkschaften und die Entwertung beruflicher Qualifikationen. Der vermeintlich erfolgreicheren Künstlerkritik wiederum kam mit der Erosion der konventionellen Sexualmoral und der traditionellen Familienstrukturen gleichsam ihr Gegner abhanden, so dass sie sich schließlich durch den eigenen „Erfolg“ selbst gelähmt sah (S. 506): was die herrschende gesellschaftliche Ordnung eigentlich radikal überwinden sollte, begann nun zur neuen Normalität zu werden
-Boltanski und Thévenot identifizieren zunächst sechs grundlegende Rechtfertigungsordnungen, auf deren Grundlage Kritik formuliert, aber auch entkräftet werden kann. Boltanski und Chiapello gehen in einem nächsten Schritt dann der Frage nach, ob die aktuelle Entwicklung des Kapitalismus nicht erfordert, noch eine weitere Rechtfertigungsordnung zu unterscheiden, die sich eben nicht auf eine der bereits etablierten Ordnungen zurückführen oder als Kombination aus bereits beschriebenen Rechtfertigungsordnungen begreifen lässt: die „projektbasierte Polis“. Die erste „cité“ („Polisform“ in der Übersetzung von Michael Tillmann) bezeichnen Boltanski und Thévenot als „cité inspirée“, als „Welt der Inspiration“ bzw. in der Übersetzung von „Der neue Geist des Kapitalismus“ als „erleuchtete Polis“
-Boltanski und Thévenot haben dabei in erster Linie nicht die Welt religiösen Virtuosentums vor Augen, die Verachtung der irdischen Welt durch frühchristliche Asketen und Eremiten also, sondern die Welt des schöpferischen Genies, der künstlerischen Exzentrik, des radikalen Autonomiestrebens, der Verachtung bürgerlicher Sekurität. Rationale Organisation, Bürokratie, etablierte Routinen verkörpern im Kontext dieser Polis verhasste Gegenentwürfe, zum Kapitalismus (und den kapitalistischen Organisationsformen?) weist diese Welt der Inspiration am ehesten über die Idee „schöpferischer Zerstörung“ (Joseph Schumpeter) Berührungspunkte auf. Die Analyse der „cité domestique“, des „häuslichen Gemeinwesens“ bzw. der „häuslichen Welt“ oder der „familienweltlichen Polis“ erläutert diese anhand eines posthum veröffentlichten Textes des Hofpredigers Jacques Bénigne Bossuet (1627-1704) aus der Zeit Ludwigs des XIV.: „La Politique tirée des propres paroles de l'Écriture Sainte“ („Die Politik, gezeichnet nach den eigenen Worten der Heiligen Schrift“). Charakteristisch für diesen Referenztext ist der Rekurs auf Tradition, Ehrgefühl, Takt und Anstand, Vertrauen, Erbe und Erziehung, so dass die familienweltliche Polis in gewissem Sinne eine Gegenwelt zur Welt der Inspiration, aber auch zur Welt der (öffentlichen) Meinung („cité de l’opionon“) sowie der „Reputationspolis“, in der der Rang einer Person nur von der Meinung Dritter abhängt, bildet.
-In der Reputationspolis geht es um mediale Aufmerksamkeit, Berühmt-Sein, die Wahrnehmung und Wertschätzung durch Andere. Es existiert eine Art Markt des Ruhmes und der Wertschätzung. Als Referenztext der „Reputationspolis“ fungiert der „Leviathan“ von Thomas Hobbes (1588- 1679). Dieser Welt des öffentlichen Ruhmes ist die „cité civique“, die „staatsbürgerliche Welt“ (die „bürgerweltliche Polis“) entgegengesetzt, deren Referenzautor Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) ist. In dessen „Gesellschaftsvertrag“ („contrat social“) geht es nicht um die Bewertung durch eine Vielzahl isolierter Einzelakteure, sondern um den kollektiven Gemeinwillen der Staatsbürger, sofern diese sich als Glieder eines einheitlichen Souveräns begreifen. Im vorliegenden Zusammenhang verdeutlichen Boltanski und Thévenot dies am Selbstverständnis der Gewerkschaften als Instrumenten des Gemeinwillens und ihrem Kampf der Gemeinschaft gegen die Partikularinteressen. Der Wert einer Person bemisst sich in dieser Welt daran, in welchem Maße sie den Allgemeinwillen zum Ausdruck bringt. Wenig überraschend ist, dass die „Welt des Marktes“ (die „marktwirtschaftliche Polis“) unter Verweis auf Adam Smith (1723-1790) erläutert wird. Es ist die Welt des Individualismus, der Konkurrenz, der Rivalität, von Freiheit, Offenheit und gleichzeitiger Distanz, der Bewährung durch wirtschaftlichen Erfolg. Ungewöhnlich ist nicht diese Erläuterung der „cité marchande“, sondern ihre scharfe Entgegensetzung zur „cité industrielle“, zur „industriellen Welt“. In der „industriellen Polis“ herrschen die Leitwerte Methode, Effizienz und Funktionieren. Es handelt sich um das Reich instrumenteller Rationalität, Normierung und Planung, von Leistung, Perfektion und Optimierung. Wird in der marxistischen Kapitalismuskritik in der Regel der innere Zusammenhang von wirtschaftlichem Wettbewerb und betrieblicher Rationalisierung der Arbeits-und Fertigungsprozesse betont, so ordnen Boltanski und Thévenot beiden Sphären jeweils eine eigene Wertordnung zu
—>Kritik am Kapitalismus kann – so Boltanski und Thévenot 1991 – im Rückgriff auf die in diesen sechs Welten bzw. Rechtfertigungsordnungen formulierten Wertprämissen formuliert werden: Ihm kann wahlweise fehlende Effizienz, Intransparenz, Partikularismus, Fremdbestimmtheit und Außenlenkung, Paternalismus oder Instabilität vorgeworfen werden. Dabei lassen sich sicher jeweils einzelne Kritikmotive miteinander verbinden, aber es ist gleichwohl erkennbar, dass sie nicht allesamt in dieselbe Richtung zielen. Auch die Verteidigung der kapitalistischen Akkumulationsdynamik erfolgt entlang derselben sechs Rechtfertigungslogiken
-n. Der Kapitalismus benötigt Folgebereitschaft und Engagement, und diese sind das Ergebnis des Wechselspiels von Kritik und Anti-Kritik, nicht der Entmoralisierung und Entpolitisierung gesellschaftlichen Handelns. Der Kapitalismus schöpft neue Stärke gerade daraus, dass er auf zentrale Elemente der Kritik reagiert und sich die ihr zu Grunde liegenden Werte erfolgreich einverleibt
-Der skizzierte Rahmen der sechs Rechtfertigungslogiken bildet den Hintergrund der Studie von Boltanski und Chiapello, die allerdings insofern zugleich darüber hinaus gehen, als sie zur Analyse des neuen Geistes des Kapitalismus nunmehr die Umrisse einer siebten „cité“, der „cité par projet“ (der „projektzentrierten Polis“) entwickeln
-Die Entstehung der projektbasierten Polis hängt eng zusammen mit der Entwicklung von projektbezogenen Organisationsstrukturen, in deren Rahmen netzwerkförmige Koordinationsformen, die sich weder auf klassisch-hierarchische Befehlsketten noch auf rein marktförmige Beziehungen reduzieren lassen, Bedeutung gewinnen. Gleichwohl kommt für Boltanski und Chiapello das ‚Netz‘ nicht als Basis einer eigenen „cité“, einer eigenen Polis, in Betracht. Im Rahmen einer reinen Vernetzungsoptik ist nämlich nicht bestimmbar, zwischen welchen Personen welche Art von normativer Beziehung, welche Art von Gerechtigkeitsrelation im Spiel ist.
-Die projektbasierte Polis verkörpert demgegenüber „ein System aus Zwängen und Vorgaben, die einer vernetzten Welt Schranken setzen.“ (S. 152) Positive Werte sind in diesem Zusammenhang Aktivität, Mobilität,Partnerschaftlichkeit, Selbstorganisation, Offenheit, Vertrauen, Neugier und Begeisterungsfähigkeit. Auch sind Projektnetzwerke zumeist temporärer Natur: Es ist in der Regel klar, wer einem bestimmten Projektnetzwerk angehört. Wichtiger als formale Leitungsfunktionen ist die Fähigkeit, Kontakte herzustellen
-Die Neuartigkeit der projektbasierten Polis besteht nicht zuletzt darin, dass sie zwar zahlreiche Berührungspunkte zu den klassischen Rechtfertigungsordnungen aufweist, sich in wichtiger Hinsicht aber jeweils davon unterscheidet. So teilt sie mit der „erleuchteten Polis“ (der „cité inspirée“) die Fokussierung auf den Wert der Kreativität, der Innovation, ohne indes deren elitäres Erwähltheitskonzept zu bestätigen. Im Vergleich zur marktwirtschaftlichen Polis, in der wirtschaftliche Transaktionen in der Regel punktuell erfolgen, unterstellen wir in Netzwerken eher relativ dauerhafter Kollaborations- und Austauschbeziehungen. Netzwerke sind anders als die Märkte der neoklassischen Ökonomie lokaler Natur und nicht auf Transparenz und Gleichgewichts-Preisbildung ausgerichtet.
-Während Märkte auf der Basis relativ unpersönlicher Distanzbeziehungen funktionieren, implizieren Netzwerke zumeist dauerhafte und lokal begrenzte und persönlich gefärbte Beziehungen. In der Marktwelt werden von den Beteiligten unabhängige Produkte gehandelt, während die Netzwelt Produkte kooperativ transformiert, ohne dass damit jeweils sofort Preisbildungsprozesse verknüpft sein müssen. Der Typus von Reputation, den der erfolgreiche Netzakteur erwirbt, fällt nicht mit der Form von öffentlicher Reputation zusammen, den die Celebrities der Medienwelt verkörpern.
-Mit der familienweltlichen Polis teilt die Projektpolis die Orientierung an nicht anonymen persönlichen Beziehungen, die im Falle der Projektnetzwerke allerdings durch Mobilität, Unabhängigkeit, aber auch Instabilität charakterisiert sind.
-Anders als die Menschen der industriellen Welt sind die Bewohner der Projektpolis durch die Fähigkeit zur Selbstorganisation, Lernbereitschaft, Offenheit für nicht standardisierte Aufgaben, neue Arbeitskontakte, Kommunikationskompetenz, die Fähigkeit, zuzuhören und mit Unterschieden offen umzugehen charakterisiert – zumindest idealtypisch. Dies ist hier vielfach wichtiger als Effizienz bei der Erreichung standardisierter Vorgaben.
-Hinzu kommt nach Auffassung von Boltanski und Chiapello ein verändertes Verhältnis zu Geld und Besitz, zur Ethik des Sparens und zu Nutzungsrechten anstelle von dauerhaften Eigentumsrechten. Die Trennung zwischen Privat- und Berufsleben verliert an Bedeutung, die Berufsmoral verändert sich, der Begriff der Arbeit wird tendenziell durch den der Aktivität abgelöst, in dem sich die Grenzen zwischen Berufstätigkeit und Privatleben verwischen (S. 209). Diese Entwicklungen haben einschneidende Folgen auch für das Leben außerhalb der Arbeitswelt. Boltanski und Chiapello empfinden es als letztlich verblüffend, dass diese Veränderungen nicht auf ernsthafte Proteste gestoßen sind
-Die Transformation des Kapitalismus hin zum projektbasierten Netzwerkkapitalismus begreifen Boltanski und Chiapello also nicht als Resultat einer primär innerökonomisch motivierten Umsteuerung, sondern als Reaktion auf eine tiefreichende (Legitimations-)Krise, die sich 1968 in der Verknüpfung von Sozial- und Künstlerkritik eruptiv bemerkbar machte, die im weiteren Verlauf jedoch die „Entwaffnung der Kritik“ zur Folge hatte. Im Laufe der 1970er Jahre wurden die Forderungen nach Autonomie zunehmend als neuer Wert der neuen Industrieordnung akzeptiert, die Arbeitnehmer tauschten durch diesen Politikwechsel in den Unternehmen Sicherheit gegen Autonomie ein. (S. 243) Die Arbeitgeber gewannen die Herrschaft im Unternehmen nicht durch den Ausbau der Hierarchie und die Stärkung der Macht der Vorgesetzten zurück. Im Gegenteil, entscheidend war der Abbau der traditionellen Kontrollformen. Die Forderung nach Autonomie und Eigenverantwortung, die bis dahin als subversiv betrachtet wurde, wurde durch neue Arbeits- und Projektformen endogenisiert. Kontrolle wurde durch Selbstkontrolle abgelöst. Kontrolle wurde damit wirkungsvoller, die Kontrollkosten wurden externalisiert
-Eine radikale Linke, für die die Mechanisierung der Welt und die Zerstörung von Lebensformen im Zentrum der Kritik standen, und die zugleich die Entfaltung und Förderung von Kreativität als zentrales Thema begriff, war nur allzu rasch fasziniert von der Idee eines freien Zusammenschlusses von Kreativen, die eine gemeinsame Passion verbindet und die sich gleichberechtigt zusammenfinden, um ein gemeinsames Projekt zu verfolgen. Der Anti-Etatismus der „Ultralinken“, der den Staat als reinen Herrschafts- und Repressionsapparat wahrnahm, übersah die Nähe der eigenen Staatskritik zu derjenigen des Liberalismus und in der Folge ihren eigenen Beitrag zur „Dekonstruktion der Arbeitswelt“ (S. 261 ff). Die Ausweitung unsicherer Beschäftigungsverhältnisse, die Spaltung der Arbeitnehmerschaft, der Abbau des Arbeitnehmerschutzes und der Sozialstandards, steigende Arbeitsbelastungen, die Verlagerung von Lohnkosten auf den Staat, dies alles sind Prozesse, die die 1981 in offizielle Ämter gelangten Kapitalismuskritiker zwar nicht initiiert haben, die aber gleichwohl als Ergebnis des neuen Geistes des Kapitalismus betrachtet werden können.
-Die Künstlerkritik wiederum wird Opfer ihres eigenen Erfolges. Die Forderungen nach Autonomie und Kreativität wurden in die neuen Unternehmensstrukturen integriert, ihre Emanzipationsforderungen, die in erster Linie in Abgrenzung zur bürgerlichen Moral im Bereich der persönlichen Lebensführung formuliert worden waren, verloren mit der Erosion der traditionellen bürgerlichen Moral ihre kritische Stoßrichtung. Die Vereinnahmung der Künstlerkritik durch den Kapitalismus führt indes nicht von selbst zu einer Neubelebung der Sozialkritik. Mit der Thematik der Ausgrenzung (vgl. S. 380 ff) steht zwar seit Mitte der 1980er Jahre erneut ein Thema der Sozialkritik auf der Agenda, ohne dass damit bereits zureichende Handlungsperspektiven oder auch nur ein gesellschaftstheoretischer Deutungsrahmen verknüpft wären, wie sie für das Thema der Ausbeutung spätestens seit Karl Marx zur Verfügung standen
-Unter der Überschrift „egoistisches Handeln in einer konnexionistischen Welt“ befassen sich Boltanski und Chiapello mit dem Problem des „Netzopportunisten“, einer Person also, die die Gelegenheiten, die sich für sie aus dem Zusammenwirken im Netz ergeben, einseitig für ihre individuellen Ziele nutzt und dabei skrupellos Vorteile aus der Kontrolle bestehender Informations- und Zugangsasymmetrien einsetzt. Wenn der „Netzopportunist“ (Tanja Bogusch [S. 109] schlägt die moralisch weniger aufgeladene Übersetzung „Netzwerkmacher“ vor) seine Position als unumgängliche Kontaktperson einsetzt, um für sich eine Monopolrente zu erzielen, dann lässt sich dies als „Ausbeutung“ innerhalb der Projektpolis kritisieren. Frei von bürokratischen Kontrollen kann der Netzopportunist gemeinsame Ressourcen zur Erzielung privater Profite nutzen. „Ausbeutung in einer konnexionistischen Welt“ (S. 397 ff) wird dann möglich, wenn ein Erfolg, der sich dem Zusammenspiel mehrerer Akteure verdankt, von einem Netzteilnehmer monopolisiert wird.
-Von besonderer Bedeutung in diesem Zusammenhang ist die unterschiedlich ausgeprägte Beweglichkeit (Mobilität) der einzelnen Netzteilnehmer und die unterschiedlich verteilte Möglichkeit, neue Kontakte zu knüpfen. In einer Welt, in der Kooperations- und Austauschprozesse so organisiert sind, dass Eigentums- und Verfügungsrechte „vorwettbewerblich“ zunächst ausgeklammert bleiben, kommt irgendwann dann doch der Zeitpunkt, an dem auch im Rahmen netzwerkförmiger Kooperationsbeziehungen Eigentumsrechte geltend gemacht und Preise ausgehandelt werden. Wer hier zu spät kommt, der steht – so könnte man sagen – in der Reise nach Jerusalem plötzlich ohne Stuhl da. Wer umgekehrt überhaupt nicht bereit ist zu kooperieren, Ressourcen einzubringen und zu teilen, der spielt von vornherein nicht mit. Für die Chancenverteilung im Spiel ist die Mobilität des jeweiligen Mitspielers entscheidend. Wer festklebt, hat bereits verloren. Dies gilt auch für die Welt der Finanztransaktionen. Entscheidend ist das jeweilige „Mobilitätsdifferential“ der einzelnen Player
-Boltanski und Chiapello stellen eine Reihe von Überlegungen an zur Frage der Netzgerechtigkeit, zur Entwicklung einer allgemeinen Ausbeutungsgrammatik und zur Reduzierung der Ausbeutung in der Netzwelt. Von besonderer Bedeutung ist hierbei die Frage eines neuen Rahmens der Leistungserfassung über die Möglichkeit, Netzen angesichts der rechtlichen Aufteilung von Unternehmen unter Beibehaltung einer einheitlichen Informationsstruktur einen rechtlichen Status über den eines reinen Vertragsnetzwerks hinaus zu geben und auf diese Weise den „Vertragsschleier“ (Teubner 1993) zu überwinden und die „Rückverfolgbarkeit des Projektweges“ sicher zu stellen. Netzgerechtigkeit erfordert die Möglichkeit, Leistungen und Verantwortlichkeit zuzuordnen und sie erfordert gleiche Mobilitätschancen. Hiervon sind wir weit entfernt
-Boltanski und Chiapello konstatieren darüber hinaus Selbstverwirklichungszwänge und neue Unterdrückungsformen: Arbeit wird zugleich autonomer und stärker fremdbestimmt (S. 463). Angesichts der Phänomene von Anomie in der Netzwelt schlagen sie eine an Durkheim anschließende Kritik am Freiheitsbegriff des Kapitalismus vor, der zufolge Freiheit nur dann real ist, wenn sie zugleich durch sozial institutionalisierte Normen begrenzt ist und auf dieser Grundlage eine Kritik an der ‚falschen Freiheit‘ des Kapitalismus ermöglicht (S. 469). Dies ist kein bloßes moralisches Räsonieren: Der Geist des Kapitalismus bedarf zum Zwecke der Mobilisierung einer moralischen Dimension. Kritik kann daher den Geist, unter bestimmten Bedingungen aber auch den Kapitalismus selbst verändern, ihre Funktion besteht darin, gleichzeitig zu stimulieren und zu begrenzen
-Das von Boltanski und Chiapello konstatierte Wiedererstarken des Kapitalismus geht in ihrer Sicht einher mit der Tendenz einer kapitalistischen Selbstgefährdung, die aus der Befreiung von der Verpflichtung auf das Allgemeinwohl resultiert (S. 549). Hierin drücken sich ökonomische Interessen aus, die die sozialmoralische Legitimationsbasis des Kapitalismus gefährden.
-Dies wiederum impliziert eine neue Rolle der Kritik. Das Wiedererstarken der Kritik vollzieht sich angesichts der Sprachlosigkeit der Sozialkritik nicht als Neubelebung klassischer marxistischer Kapitalismuskritik, sondern führt zu neuen Proteststrukturen und stützt sich in ihren originellsten Ausprägungen auf die Menschenrechtsbewegung „sowie eine Rechts- und Bürgerschaftsthematik, die zum Teil auf eine radikale angelsächsische Denkrichtung liberalistischer Prägung zurückgeht. Diese stellt weniger die Gleichheitsforderung in den Mittelpunkt als einen Imperativ der Nicht-Diskriminierung beim Zugang zu öffentlichen Gütern, die als grundlegend angesehen werden“
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