Die Europäische Union (EU) existiert formal seit dem 1.11.1993. Sie ist aus der Europäischen Gemeinschaft (EG) hervorgegangen, die seit ihrer Gründung in den 50er-Jahren zum Kern der europäischen Einigungsbewegung wurde. Zunächst wurde mit der im April 1951 in Paris vereinbarten Europäischen Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS) ein gemeinsamer Markt und eine supranationale Organisation zur Regulierung des Kohle- und Stahlmarktes geschaffen. Die sechs Gründungsmitglieder waren Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande. Die Gemeinschaft wurde in dem Bewusstsein gegründet, „(...) dass Europa nur durch konkrete Leistungen, die zunächst eine tatsächliche Verbundenheit schaffen, und durch die Errichtung gemeinsamer Grundlagen für die wirtschaftliche Entwicklung aufgebaut werden kann“ (Präambel des EGKS Vertrages).
-Allgemein werden als Zielsetzung der europäischen Einigungsbestrebungen der 50er-Jahre die politische Aussöhnung, die Förderung des wirtschaftlichen Wiederaufbaus und die Stärkung Europas angesehen. Für Kohler-Koch war die Gründung der EGKS aber nicht nur eine sachnotwendige Reaktion der Europäer auf die besondere Situation der unmittelbaren Nachkriegszeit, sondern ein politischer Prozess, in dem die Leitideen des Wirtschaftsliberalismus Lösungen für konkrete politische Probleme aufzeigten
-Der nächste Schritt nach der EGKS war die Errichtung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) und der Europäischen Atomgemeinschaft (Euratom) durch die so genannten Römischen Verträge vom 25.3.1957. Mit diesen Gemeinschaften wurde die Zusammenarbeit der oben erwähnten Staaten im Bereich von Kohle und Stahl auf weitere Gebiete ausgedehnt. Insbesondere die EWG bildete dabei den Kern des europäischen Integrationsprozesses, der das Ziel hatte, zunächst eine Zollunion und dann einen gemeinsamen Markt für alle Wirtschaftsgüter und Dienstleistungen zu schaffen.
-Die Zollunion sollte durch die Abschaffung sämtlicher Zölle zwischen den beteiligten Ländern (was einer Freihandelszone entspricht) und die Errichtung eines gemeinsamen Außenzolls geschaffen werden. Ein gemeinsamer Markt beinhaltet über die Zollunion hinaus die Herstellung der vollen Freizügigkeit für Personen, Kapital, Güter und Dienstleistungen. In einer Wirtschafts- und Währungsunion kommt es zudem zu Absprachen über die nationalen Wirtschaftspolitiken und Vereinbarungen über eine gemeinsame Währung. Dies gelang zwei Jahre früher als ursprünglich vorgesehen, nämlich im Jahr 1968. 1967 waren die EWG, die EGKS und die Euratom zur EG zusammengeschlossen worden.
-Nach der Herstellung der Zollunion kam es in den 1970er Jahren zu einer Art Erstarrung (vgl. Kohler-Koch u.a. 2002, S. 58ff.). So wurde der Versuch der Mitgliedstaaten, eine Währungs- und Wirtschaftsunion und eine Politische Union noch in den 1970er-Jahren zu schaffen, stillschweigend beerdigt. Einerseits traten zwar immer mehr Länder der Europäischen Gemeinschaft bei, Großbritannien, Dänemark und Irland 1973, Griechenland 1981, Portugal und Spanien 1986.31 31 In Norwegen entschieden sich die Bürger sowohl 1973 als auch 1994 gegen eine Aufnahme in die EG bzw. EU, zuletzt mit 52,2% der Stimmen. Andererseits führte aber insbesondere der Beitritt Großbritanniens zu einem Dauerkonflikt um die Höhe des britischen Beitrags zum Gemeinschaftshaushalt, der erhebliche politische Kräfte band und erst 1984 beigelegt werden konnte. Vor allem aber stagnierte die Umsetzung des Gemeinsamen Marktes, weil mit der Aufhebung der Zölle und Abgaben im Warenverkehr zwischen den Mitgliedstaaten die sogenannten „nicht-tarifären Handelshemmnisse“ immer spürbarer wurden.
(„Unter nicht-tarifären Handelshemmnissen werden alle Faktoren verstanden, die den Austausch von Gütern und Dienstleistungen zwischen den Mitgliedstaaten erschweren oder verhindern, jedoch keine Zölle sind. Beispiele hierfür sind mengenmäßige Einfuhrbeschränkungen (Kontingente), nicht kompatible Industrienormen und Standards (z.B. für Elektrostecker oder Papierformate), oder nationale Gesundheitsschutz- und Umweltschutzvorschriften“)
-Vor diesem Hintergrund wurde das Binnenmarktprogramm lanciert, das die Schaffung eines Gemeinsamen Marktes für das Jahr 1992 vorsah. Eine wichtige Rolle spielte hier der Cecchini-Bericht (Cecchini 1988), weil er verbesserte Exportchancen, ein schnelleres Wachstum und mehr Arbeitsplätze durch eine stärkere Integration der Volkswirtschaften versprach. Der Kern des sogenannten „Neuen Ansatzes“ war das Prinzip der wechselseitigen Anerkennung.
-Die EU wird 1997 weiterentwickelt durch den Vertrag von Amsterdam, der die Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion zum 1.1.1999 vorsieht, mit der zugleich der Euro eingeführt und eine Konkretisierung der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik sowie der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit vorgenommen wird
Das Prinzip der wechselseitigen Anerkennung wurde zu einem Kernstück des Binnenmarktprogramms, welches 1985 von den Mitgliedstaaten verabschiedet wurde
„Vereinfacht gesprochen besagt das Prinzip, dass jeder Mitgliedstaat seinen Markt für Produkte anderer Mitgliedstaaten öffnen muss, solange sie im Einklang mit den entsprechenden Vorschriften des Erzeugerstaates in den Verkehr gebracht worden waren. Die wechselseitige Anerkennung nationaler Vorschriften war eine revolutionäre Neuorientierung, weil sie die langwierigen Verhandlungen um die Harmonisierung einzelstaatlicher Vorschriften überflüssig machte. Solange ein Produkt den Vorschriften des erzeugenden Mitgliedstaates entsprach, konnten sich die anderen Mitgliedstaaten nicht mehr darauf berufen, dass das betreffende Produkt mit ihren nationalen Vorschriften nicht vereinbar und somit nicht verkehrsfähig war.
-Die durch innerstaatliche Rechtsvorschriften entstehenden Handelshemmnisse mussten nur noch dann akzeptiert werden, wenn es hierfür ein ‚zwingendes Erfordernis‘ gab (z.B. den Schutz der Verbraucher oder der öffentlichen Gesundheit). Gleiches gilt für die Berufsqualifikationen bei der Niederlassungsfreiheit. (...) Der Nachteil dieses Verfahrens liegt offen auf der Hand: Es existiert nicht mehr eine einzige, für alle europäischen Produzenten verbindliche, Vorschrift, sondern eine Vielzahl national unterschiedlicher Regeln. Dies kann zu einem Problem werden, wenn einzelne Mitgliedstaaten über besonders laxe Regeln ihrer heimischen Industrie Wettbewerbsvorteile verschaffen wollen. Aus diesem Grund sah der ‚neue Ansatz‘ auch vor, dass europäische Mindeststandards erlassen werden konnten, sofern dies zur Vermeidung von Wettbewerbsverzerrungen oder zum Schutz von Verbrauchern und Umwelt notwendig war.
-Eine weitere Sicherheit gegenüber zu niedrigen Standards ist dadurch gegeben, dass die Mitgliedstaaten nationale Regelungen beibehalten können, wenn sie bestimmten Schutzzielen dienen (etwa dem Schutz der öffentlichen Sittlichkeit und Ordnung, der Verbraucher oder der Umwelt) und keine willkürlichen Diskriminierungen oder verschleierten Handelsbeschränkungen darstellen (Art. 30 EG-V)“ (Kohler-Koch u.a
-Diese Rücksichtnahme auf für einzelne Staaten wichtige Punkte führt nun nicht mehr zur Blockierung der EU-Politik insgesamt. Der gemeinsame Binnenmarkt und damit die Europäische Union wurde durch die Maastrichter Verträge vom 7.2.92 mit Wirkung zum 1.1.93 geschaffen. In ihnen ist die Schaffung einer Wirtschafts- und Währungsunion sowie einer Politischen Union als Dach vorgesehen.
Zudem einigten sich die Mitgliedstaaten darauf, in allen Fragen im Zusammenhang mit der Herstellung des Binnenmarktes künftig mit qualifizierter Mehrheit im Ministerrat abzustimmen. Dies bedeutete, dass ein Mitgliedstaat in Binnenmarktfragen von den anderen Mitgliedstaaten überstimmt und gleichwohl verpflichtet werden konnte, die beschlossenen Maßnahmen umzusetzen. Diese grundlegenden Veränderung der Gründungsverträge sind in der sogenannten Einheitlichen Europäischen Akte (EEA) festgehalten worden, die 1986 förmlich von den Mitgliedstaaten verabschiedet und 1987 in Kraft gesetzt wurde (ebd., S. 60f.). Ein weiterer Punkt für die Erklärung des beschleunigten Europäisierungsprozesses liegt in dem Prinzip der differenzierten Integration, welches es Gruppen von Mitgliedstaaten gestattet, bestimmte Politiken zu verfolgen, während andere Mitgliedstaaten dieser neuen Politik zunächst noch fernbleiben, wie z.B. beim Zeitpunkt der Einführung des Euro
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Die EU basiert nun auf drei Säulen:
• als erste Säule die bestehenden Verträge aus der Europäischen Gemeinschaft, das betrifft vor allem die Zollunion, den Binnenmarkt, die Gemeinsame Agrarpolitik, die Umweltpolitik, den Verbraucherschutz, die Zusammenarbeit im Bereich der Kernenergie und die Wirtschafts- und Währungsunion;
• als zweite Säule die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik sowie
• als dritte Säule die Pfeiler Inneres und Justiz (Asylpolitik, organisiertes Verbrechen, Rauschgift)
Die Aufgabenverteilung zwischen der Union und den Mitgliedstaaten erfolgt nach föderativen Grundsätzen, allerdings wird hierzu der Begriff der Subsidiarität in den Verträgen benutzt. Das Prinzip der Subsidiarität besagt, dass die Union nur tätig werden darf, wenn eine Aufgabe nicht hinreichend von den Mitgliedstaaten wahrgenommen werden kann (Notwendigkeitsklausel) und wenn die Union die Aufgabe besser erfüllen kann (Besserklausel). Zudem müssen die Maßnahmen nicht über das zur Erreichung der Ziele erforderliche Maß hinausgehen, also der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit soll berücksichtigt werden
-In Deutschland achten insbesondere die Länder auf die Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips. Sie haben zudem schon im Vertrag von Maastricht durchgesetzt, dass die Union in den Bereichen Gesundheitswesen, allgemeine und berufliche Bildung und auf dem Gebiet der Kultur nur ergänzend und koordinierend tätig werden darf
Überhaupt ist die Stellung der Länder über den Bundesrat durch den neuen Europaartikel im GG gestärkt worden, da der Bundesrat bei allen Maßnahmen, die die Länderkompetenzen betreffen, zu beteiligen ist und bei allen Maßnahmen, die Länderinteressen berühren, die Stellungnahme des Bundesrates zu berücksichtigen ist. Zudem wurde im Bundesrat eine Europakammer eingerichtet und im Bundestag ein Ausschuss für Angelegenheiten der Europäischen Union. Auch gibt es seit 1992 als ständige Einrichtung eine Europaministerkonferenz der Bundesländer. Mit der Änderung des Grundgesetzes im Rahmen der Föderalismuskommission I wird zudem die Wahrnehmung der Rechte der Bundesrepublik als Mitgliedstaat der EU im Bereich der ausschließlichen Gesetzgebung auf den Gebieten der schulischen Bildung, der Kultur und des Rundfunks vom Bund auf einen vom Bundesrat benannten Vertreter der Länder übertragen (§23 GG, vorher Soll-, jetzt Muss-Vorschrift).
Ab 1998 führte die EU Verhandlungen mit insgesamt zwölf weiteren Beitrittskandidaten. Im Prinzip steht die Mitgliedschaft in der EU allen europäischen Staaten offen. Voraussetzung ist jedoch eine demokratische Verfassung, eine marktwirtschaftliche Ordnung, die Achtung der Grundsätze der Freiheit, Demokratie, Menschenrechte und Grundfreiheiten sowie der Rechtsstaatlichkeit. Neue Mitgliedsstaaten müssen zudem in der Lage sein, den gemeinschaftlichen Besitzstand zu übernehmen, d.h. das Gemeinschaftsrecht ordnungsgemäß anzuwenden.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die EU zwar kein Staat im traditionellen Sinne ist (Staatsgebiet, Staatsvolk, Staatsgewalt), denn sie hat keine Gebietshoheit, keine eigene Verwaltung zur Umsetzung von Entscheidungen und kein Parlament als einziges Gesetzgebungsorgan, aber sie erfüllt spätestens seit Maastricht unstrittig Staatsaufgaben. In einigen Bereichen haben die Mitgliedstaaten der Europäischen Union Hoheitsrechte übertragen. Diese Maßnahmen schränken die Souveränität der Mitgliedsstaaten der Union ein. Die EU kann Recht setzen, das entweder die Parlamente und Regierungen der Mitgliedstaaten bindet und sie zur Umsetzung verpflichtet (Richtlinien) oder das unmittelbar gegenüber allen Bürgern der Mitgliedstaaten gilt (Verordnungen). Diese Konstruktion der EU, dass hier ein politisches Gebilde entsteht, welches kein Staat ist, aber auf der intensiven Zusammenarbeit zwischen Staaten beruht, hat dazu geführt, dass sich hierfür zunehmend der Begriff eines „staatlichen Mehrebenensystems“ oder wie Benz vorschlägt, eines „Mehrebenenstaates“ durchzusetzen scheint
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