Zwei-Wege-Modell des Wortlesens (Dual-Route-Modell nach Coltheart, 1978)
Scheerer-Neumann, 1989
Top-Down: Annahme eines inneren Lexikons, das in der visuellen Analyse des gedruckten Wortes sofort aktiviert wird
Bottom-Up: Der indirekte Weg der visuellen Analyse führt demgegenüber über GPK oder Silbenstrukturen zur Wortsynthese
heute: beide Wege interagieren miteinander (außer am Anfang)
-> Lesefehler: zu schnelle Reaktion auf die Aktivierung eines lexikalischen Eintrags, der im Anschluss an eine Buchstabensequenz quasi automatisch produziert wurde
Top-Down-Prozess
= direkt-lexikalischer Weg
= sinnerfassendes Lesen; Dekodieren
direkter Zugriff auf inneres/mentales Lexikon mit allen relevanten Informationen (Schreibweise, Aussprache, Bedeutung, Funktion des Wortes im Satzkontext), welches nicht visuell sondern kognitiv gesteuert ist
nur geübte Leser verfügen über ein mentales Lexikon
Inneres Lexikon wird in der visuellen Analyse des gedruckten Wortes sofort aktiviert
wichtige Bedeutung für sinnerfassendes Lesen und Entschlüsselung von Wortbedeutungen
Leser hat bereits Sequenzierungsstrategien der Worterfassung bzw. ganze Wortmuster abgespeichert (Silben, Morpheme, Endungen, Signalgruppen) -> Basis für Identifikationsprozess
auswendig lernen bringt nichts -> Einzelwort muss bewusst wahrgenommen und mit der entsprechenden Bedeutung belegt sein, damit es als visuell-semantisch-phonologischer Code abgespeichert werden kann => “Speicherung von übergeordneten Sprech-Schreibmustern” (Mann et al., 2001)
Bottom-Up Prozess (McClelland/Rummelhart, 1981)
= indirekter-phonologischer Weg
typisch für Leseanfänger
Wort wird auf der Ebene der optisch wahrgenommenen Buchstaben sukzessive entschlüsselt (rekodiert)
Graphem-Phonem-Zuordnung -> Wahrnehmung von Buchstaben -> Worterkennung
auch bei geübten Lesern bei unbekannten Wörtern z.B.
Ablauf eines Leseprozesses bei Leseanfängern
Erlesen eines Wortes, indem halblaut Buchstabe für Buchstabe (bzw. Laute) aneinander gereiht werden, aber noch keine Vorstellung, wie das Wort heißen könnte
Probeartikulationen, aber kein sinnvolles Wort entsteht
Korrekte Aussprache, da Wort verstanden (bereits in Wortschatz)
Studie: Satzkontext (Ferstl/Flores d’Arcais, 1999)
-> Können Wörter, die im Satzkontext angeboten werden, schneller gelesen werden als isoliert angebotene Wörter?
Ja, eine Unterstützung der Wortidentifikation trat ein, wenn aufgrund eines starken Kontexteinflusses die Worterwartung hoch war und gleichzeitig auch eine hohe Worthäufigkeit vorlag
Wortüberlegenheitseffekt
sinnvolle Wörter werden schneller erkannt als sog. Pseudowörter (Wörter, die es nicht wirklich gibt, aber in ihrer Struktur Buchstabenfolgen aufweisen, die für deutsche Wörter typisch sind und daher auch korrekt gelesen werden können, z.B. “gerwofen”)
Oberflächen-/Tiefendyslexie
Oberflächendyslexie: Zuordnung von Buchstaben und Lauten gelingt, aber nicht das Lesen von Wörtern -> nicht-lexikalische Verarbeitung ist weitgehend unbeeinträchtigt, Wortsinnverstehen ist gestört
Tiefendyslexie: es werden semantisch ähnliche Wörter produziert, es kommt zu Lesefehlern, die in der lexikalischen Ersetzung von Wörtern bestehen (z.B. Strumpf durch Socke)
Lesespezifische und unspezifische Teilkomponenten des Leseprozesses (Schründer-Lenzen, 2013)
Schwierigkeiten auf der ersten Ebene des Lesseprozesses
bereits hier Differenzen zw. guten und schwachen Lesern
schwache: Lernentwicklung langsamer & Vollzug des basalen Erlesens langsamern, brauchen mehr Zeit, um GPK zu leisten oder Silben zu einem Wort zusammenzufügen und sinnerfassend zu lesen; legen Aufmerksamkeit auf einzelne Buchstaben anstatt auf Wort als Ganzes
nicht alle Kinder, die zu Beginn Probleme mit dem Lesen haben, werden auch längerfristig zu schwachen Lesern!
Richtwert: Die Drei-Monats-Marke (vgl. Klicpera/Gasteiger-Klicpera, 1995)
Leseanfänger, die innerhalb der ersten 2-3 Monate Leseunterricht, die Lesesynthese verstehen, nehmen i.d.R. eine problemlose weitere Lernentwicklung.
Leseanfänger, die auch am Ende des Schuljahres unbekannte Wörter noch nicht ohne fremde Hilfestellung erlesen können, sind in ihrer weiteren Leseentwicklung gefährdet. Bei diesen SuS werden in den ersten Monaten schon Behaltensprobleme deutlich, d.h. sie können sich die ersten 6-8 Buchstaben nicht merken und speichern auch die im Unterricht häufig gelesenen Wörter nicht fehlerfrei ab.
lautes Lesen (Vorlesen) für Leseanfäger wichtig -> Artikulation abhören und zu Sinnhypothesen über das erlesene Wort kommen
leises Lesen erst dann möglich wenn Leser ein inneres Sprechen (Lippenbewegungen) vollziehen kann
=> Lesen gelingt nicht auf Anhieb richtig, sondern braucht ein artikulatorisches und gedankliches Probierverhalten
schwache: produzieren Wortvorformen, die häufig weniger Ähnlichkeit mit dem Zielwort haben + ihr Korrekturverhalten zeigt insbesondere Probleme der Vernetzung von Rekodier- und Dekodierstrategien (Verbindung von wortanalytischen Prozessen zu semantisch-syntaktischen Informationen ist erschwert); Sinnentnahme wird dadurch verhindert, dass die Aufmerksamkeit fehlt
Lesen verlangt nicht nur Aufmerksamkeit sondern ein verbales KZG, um die visuellen und phonologischen Infos während des Erlesens zwischenspeichern zu können
gute Leser gehen produktiv mit ihren Lesefehlern um (Modifikation der Wortvorform führt zu einer schrittweisen Annäherung an das Zielwort)
schwache Leser entfernen sich mit ihrem Korrekturverhalten weiter von ihrem Ziel bzw. machen weite Umwege
May (1986): Lesesituation entwickelt sich für schwache Leseanfäger zu Problemsituation (negative Emotionen wie Ärger, Angst, Depressionen) => 3 Reaktionsmuster:
Resignation (Stille, Abwarten)
Ausweichmanöver (Raten)
Kompensationsstrategien (Schmarn machen, Erzählen von anderen Dingen)
Schwierigkeiten auf der zweiten Ebene des Leseprozesses
Zugriff auf inneres Lexikon entscheidend
Aufbau eines Sichtwortschatzes für schwache SuS langsam; diese lassen sich auch durch leichte Veränderungen der Wortegestalt irritieren
gute Leser: achten während des Aufbaus ihres inneren Lexikons auf orthographische Regularitäten
schwache konzentrieren sich eher auf irrelevante Oberflächeninformationen
=> Anstatt einem visuellen Wahrnehmungsdefizit liegt kognitives Strategiedefizit vor (Redundanzen unserer Sprache wie Morpheme, Silben werden nicht als Organisationsprinzip der Codierung aufgegriffen)
-> fehlende Sensitivität von Wortbildungsregeln
Lesestrategie schwacher Leser ist meist an der Ausnützung eines direkten Zugriffs auf das “innere Lexikon” orientiert
Leseleistung zw. schwachen und starken unterscheidet sich weniger wenn es sich um häufige Wörter handelt
-> Schwache Leser sind mehr angewiesen auf Vertrautheit mit den zu lesenden Wörtern als gute Leser
solange SuS nur einzelne Buchstaben unverbunden nebeneinander sieht und nicht mental verbinden kann, können die Wörter nicht im inneren Lexikon gespeichert werden
keinen Sinn weitere Buchstaben anzubieten, solange SuS nicht sinnerfassend liest
erst wenn kognitive Klammer (Wortbedeutung), parallel abspeicherbar ist, kann das erlesene Wort zum Aufbau des inneren Lexikons beitragen (in Fibeln: Schlüsselwortverfahren)
-> an Schlüsselwörtern wird zuerst das Leseprinzip erlernt, bevor weitere Buchstaben eingeführt werden
Unterstützungsmöglichkeiten (2. Ebene) (Mann u.a., 2001): Sichtwortschatz aufbauen
Erarbeitung eines beschränkten Buchstabenbestandes (7-8 Buchstaben), so lange üben, bis Lesesynthese vollzogen werden kann
Anhäufung von Buchstaben vermeiden, da ohne Lesesynthese die Speicherung eines visuell-semantisch-phonologischen Codes nicht möglich ist. Damit würde auch die Basisvoraussetzung für den Aufbau eines inneren Lexikons fehlen
Schwierigkeiten auf der dritten Ebene des Leseprozesses
= Verstehen von Sinnzusammenhängen auf Satz- und Textebene
häufig Ausweichstrategie/Hilfe für schwache Leser wenn Einzelwortkodierung zu lange dauert
je stärker Vorhersagbarkeit bestimmter Wortfolgen, umso größer Leistungszuwachs bei leseschwachen Kindern
Voraussetzungen/Abhängigkeiten:
Zugriff auf Wortsinn setzt Hörverständnis voraus (Wortschatz entscheidend -> zentraler Aspekt des Unterschieds zw. guten und schwachen SuS (Seigneuric/Ehrlich, 2005)
grammatische Kenntnisse; Prädikat-Argument-Strukturen
Vorwissen
kognitiv-linguistische Kenntnisse
Inferenzbildung (implizite, verborgene Infos müssen erkannt werden, um Schlussfolgerungen aus dem Gelesenen zu ziehen
=> auf der dritten Ebene treten Probleme kaum auf
Rahmenbedingungen des Lesens (Marx, 2007)
starke: korrigieren selbst produzierte Fehler meist eigenständig
schwache: Probleme in der Spezifik der Lernaufgabe, Sprachstand, allgemeine kognitive Entwicklung (Intelligenz), Gedächtnisleistung, soziale Herkunft
-> bedingen ein Niveau von Hörverständnis auf Wort-, Satz- und Textebene (Text kann nur dann sinnerfassend gelesen werden, wenn er auch mündlich verstanden werden würde)
Unspezifische Teilkomponenten des Leseprozesses
Zwei-Wege-Modell des Rechtschreibens (in Anlehnung an Augst/Dehn, 1998)
Schreibanfänger müssen sich durch Phonem-Graphem-Struktur langsam ein inneres Lexikon aufbauen: -> indirekter Weg über Sprechen & Hören -> lautorientierte Verschriftung
Abschreiben = Königsweg zum Einprägen von korrekten Schreibungen, aber: nicht nur Fehler ausbessern, sondern Wortschreibungen im Gedächtnis einprägen
Üben & wdh. Abschreiben heute: bewusst gesteuerter Prozess, indem wortspezifisches Üben zum Aufbau von schriftsprachlichem Strukturwissen und Rechtschreibregeln führen soll -> “kognitive Zusätze” (Mann, 2001)
-> Wörter werden zu Modellwörtern für Grundregelwortschatz
-> Verknüpfung von Grundwortschatz & Grundregelwortschatz -> Orientierungswortschatz (Naumann, 1999)
Entwicklungsstufen des Schriftspracherwerbs: Basismodell (Frith, 1985)
3 Stufen: Lernprozess der Kinder in qualitativ unterschiedlichen Zugriffsweisen
jede Phase wird sowohl beim Lesen als auch beim Schreiben durchlaufen, wobei der Eintritt in die nächste Stufe im Verlauf wechselt
Lesen und Rechtschreiblernen sind sich gegenseitig unterstützende Prozesse
Logografische Stufe
Buchstaben haben nur Signalcharakter (cues) für die Worterkennung
werden nicht in ihrem Lautcharakter entschlüsselt
K erkennen Wörter wieder, die in ihrem Umfeld häufig vorkommen und emotional bedeutsam sind (K erkennt zB M für McDonalds)
Naiv-ganzheitliche Worterfassung anhand einiger optisch herausstechender Gestaltungsmerkmale (Coca-Cola)
Visuelle Gedächtnisstützen (Wasser erinnert an Wellen, aber auch in Tasse -> fehlerträchtig) -> look-and-say-strategy
nicht buchstabenorientierte Relation zw. dem ganzheitlichen Schriftzeichen und seiner Bedeutung
Buchstaben abgemalt, keine Buchstabenkenntnis
=> Schriftkultur beginnt nicht erst in der Schule, sondern schon davor
Alphabetische Stufe
eignen sich GPK und GPK der Wortschreibung an
können weitestgehend lautgetreue Wörter “erlesen” und lautorientiert schreiben
nicht mehr nur Wahrnehmung als Logo sondern die bis dahin wahrgenommenen Schriftbilder werden als Aneinanderreihung einzelner Buchstaben wahrgenommen, denen jeweils verschiedene lautliche Repräsentationen entsprechen
eigene Artikulation abhörbar (Welche Laute höre ich?)
besonders auffällige werden verschriftlicht:
MZ für Maus (Skelettschreibweise)
FT für Pferd (Skelettschreibweise)
FATA für Vater (phonologisch vollständig)
Lesen noch mühsam, Kinder lesen Buchstabe für Buchstabe -> auflautierend
Rekodieren von links nach rechts, Pobleme, das ganze Wort zu sagen
neue Wörter erlesbar, aber langsam und einzellautgetreu -> Wortsinn schwer erkennbar
Orthographische Stufe
Kinder entwickeln größere Verarbeitungseinheiten der Worterfassung und lösen sich von sequentiellem Vorgehen
können direkt auf ein inneres Lexikon der Worterfassung zugreifen und schreiben orthographisch korrekt
keine Orientierung mehr an einzelnen Buchstaben sondern an immer wiederkehrenden Buchstabenkombinationen
auf einen Blick erfasst und mit entsprechenden Lautkombinationen wiedergegeben
simultane Erfassung größerer Struktureinheiten
Ausbau, Automatisierung und Integration der Strategien und Verarbeitungsmechanismen der ersten zwei Stufen
Wörter auf einen Blick erkannt und semantisch entschlüsselt -> Lexikalische Lesestrategie
Sinnentnahme einfacher, da Vergrößerung des inneren Lexikons
Schwelle für normgerechte Rechtschreibung, Überwindung des “Schreiben wie du sprichst” durch Erarbeitung grundlegend orthographischer Regelmäßigkeiten
Mehrstufenmodelle von Scheerer-Neumann (1998, 2008)
Das Stufenmodell der Rechtschreibentwicklung (Scheerer-Neumann, 2008)
Mehrstufenmodell
Mehrstufenmodell von Valtin (1997)
soll LK diagnostische Hilfestellung anbieten, mit der Fehler den einzelnen Entwicklungsphasen zugeordnet werden können
Kritik (Günther, 1995): Stufen werden nicht streng hintereinander durchlaufen sondern bezeichnen parallel praktizierte Zugriffsweisen der Kinder
dominante Strategie ist auch von der Sachstruktur beeinflusst: häufig vorkommende Wörter werden schnell nach der orthographischen Strategie geschrieben; unvertraute, neue Wörter werden zunächst alphabetisch gelesen und geschrieben
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