Kierkegaards Ansatz
Gefährdung des Individuums im Massenzeitalter:
“Einzelheit” des Einzelnen ist Ausgangspunkt seiner Übrlegungen.
Kierkegaard beobachtet, dass das Individuum in seiner “Einzelheit” im beginnenden Massenzeitalter zunehmend an Bedeutung verliert.
Der Einzelne existiert nur noch als Rolle, Maske oder Nummer im System, und die „Einzelheit“ des Individuums gilt es wiederherzustellen.
Ablehnung von Systemen und Lehrsätzen:
Kierkegaard möchte bewusst kein philosophisches „System“ hinterlassen oder „Lehrsätze“ produzieren, die andere einfach reproduzieren könnten.
Er will nicht „auf den Paragraphen gebracht werden“, also nicht in vorgefertigte Denkschubladen verschwinden.
Kritik an modernen Verschanzungen:
Kierkegaard glaubt, dass Lehrsätze und Systeme den modernen Menschen nur dazu dienen, sich hinter allgemeinen Thesen zu verstecken und sich somit nicht im Gewissen angesprochen zu fühlen.
Diese „Verschanzungen“ verhindern, dass der Einzelne wirklich existenziell als Individuum ins Spiel kommt.
Gewissen als Personzentrum:
Bei Kierkegaard ist das Gewissen das eigentliche Zentrum der Person, der Ort der radikalen Einzelheit.
Ein wahrhaft existenzielles Leben kann nur geführt werden, wenn man sich am Gewissen orientiert.
Verbindung zu anderen ethischen Begriffen:
Vo, Gewissen aus führen Querverbindungen zu anderen ethisches Begriffen.
Ernst: Kierkegaard sieht den Ernst als die eigentliche „Stimmung“ des Existierens.
Innerlichkeit: Diese Stimmung entspricht der Sammlung des Existierens und dem Rückzug aus der Verflüchtigung und dem Unwesen des Äußerlichen.
Glaube: Für Kierkegaard bedeutet Glaube die Vergewisserung des Einzelnen im Absoluten, ein Akt des Vertrauens und kein rational abgesichertes Wissen.
Sokratische Methode (Maieutik):
Kierkegaard nutzt die Methode des Sokrates, die geistige „Hebammenkunst“, um Menschen aus ihren Alltagsvorstellungen zu locken.
Er konfrontiert sie mit der Erkenntnis, dass sie über sich selbst und den tragenden Grund ihres Lebens in Wahrheit wenig wissen.
Wichtige psychologische Schriften:
Begriff Angst und Krankheit zum Tode: In diesen Werken analysiert Kierkegaard die „normalen“ Lebenswelten und deckt den Nihilismus der üblichen kollektiven und individuellen Orientierungen auf.
Diese Schriften haben auch für die Ethik eine wichtige Bedeutung, da sie tiefere Einsichten in die menschliche Existenz und deren Herausforderungen bieten.
Die drei “Stadien”
Drei Lebensstadien und Teleologie:
In den Werken “Entweder - Oder” und “Stadien auf dem Lebensweg” unterscheidet Kierkegaard drei Lebensstadien: das ästhetische, das ethische und das religiöse Stadium.
Diese Stadien sind Lebensentwürfe oder Perspektiven, aus denen Menschen ihre Existenz betrachten und gestalten können.
Teleologie: Die Stadien bei Kierkegaard sind nicht nur verschiedene Lebensentwürfe, sondern sie zeigen auch eine Entwicklungsrichtung, die auf ein höheres Ziel (Telos) hinweist.
Vergleich mit Aristoteles:
Aristoteles unterscheidet in seiner „Nikomachischen Ethik“ (NE) drei Lebensformen (griech. bioi): das Leben der Lust (hedonistisches Leben), das politische Leben (Leben der Ehre) und das kontemplative Leben (Leben der Weisheit).
Unterschiede zu Aristoteles:
Ethik als Stadium: Im Gegensatz zu Aristoteles, der drei verschiedene Formen des Ethos nebeneinanderstellt, betrachtet Kierkegaard das ethische Leben als ein Stadium unter anderen.
Hierarchie und Abfolge: Bei Kierkegaard tendieren die Stadien auf eine Abfolge hin, die im Leben durchlaufen werden kann, und zeigen eine Tendenz zur Höherentwicklung (Teleologie). Bei Aristoteles existieren die Lebensformen nebeneinander ohne eine solche Abfolge oder Entwicklungsrichtung.
Höchstes Stadium: Bei Kierkegaard ist das religiöse Stadium das höchste und bedeutendste, während Aristoteles die philosophische Schau (das kontemplative Leben) als höchstes Ziel betrachtet.
Leben des natürlichen Menschen: Im ästhetischen Stadium lebt der Mensch im Moment und sucht nach unmittelbarem Genuss und Vergnügen.
Unmittelbarkeit und Genuss: Menschen in diesem Stadium streben danach, ihre Lustfähigkeit zu kultivieren, ähnlich wie ein Epikureer, bleiben jedoch immer an die sinnlich-unmittelbare Gegenwart gebunden.
Verführung und Oberflächlichkeit: Ein Beispiel hierfür ist der „Verführer“ in Kierkegaards „Entweder-Oder“, der Frauen als Reiz- und Genussmittel betrachtet und feste Bindungen vermeidet, um weitere Genüsse nicht zu verlieren.
Kritik: Dieses Leben ist letztlich oberflächlich und unfähig, tiefe Erfüllung zu bieten, da es keine festen Werte oder Verpflichtungen kennt. Es gibt keinen Halt, weil dieses Lebens stets von der Unmittelbarkeit und den Voraussetzungen abhängig ist, deren es sich als reflektierter Hedonismus bedienen will. Aus diesem Grund muss der Ästhetitker zuletzt verzweifeln.
Ausgangspunkt: Die Verzweiflung des ästhetischen Lebens enthält die Aufforderung sich selbst zu wählen. Er wählt reines Selbstsein anstelle von sinnlicher “Besessenheit”.
Erkenntnis des Menschen: Der Mensch erkennt die sittliche Forderung der Idealität an.
Eröffnung der Wahlmöglichkeit: Diese erste Wahl, die Selbst-Wahl, begründet alles weitere Wählen, denn durch diese Wahl legt sich die Freiheit in Absolutität im Verhältnis zu mir zu Grunde. Gleichzeitig setzt der Mensch damit die absolute Differenz von Gut und Böse, nach welcher sich dann alles Handeln richtet.
Unendliche moralische Forderung: Menschen im ethischen Stadium streben danach, moralisch ideal zu handeln. Diese Forderung ist jedoch so hoch und unendlich, dass der Mensch sie nicht vollständig erfüllen kann.
Erkenntnis der eigenen Unzulänglichkeit: Je mehr das sittliche Bewusstsein eines Menschen wächst, desto klarer wird ihm, dass er diese unendliche moralische Forderung niemals vollständig realisieren kann. Das Unbedingte, das Ewige, lässt sich durch menschliches Handeln nicht vollkommen in die Welt bringen.
Bewusstsein der Schuld: Der ethisch denkende Mensch erkennt seine Verantwortung für die Folgen seines Handelns. Dieses Bewusstsein führt zur Erkenntnis der eigenen Schuld, der nicht realisierten Idealität und des versäumten Selbstseins.
Verzweiflung: Diese Einsicht führt zur Verzweiflung, weil der Mensch merkt, dass er trotz aller Anstrengungen die idealen moralischen Ziele nicht erreichen kann. Die innere Unruhe und das Gewissen, die schon im ästhetischen Stadium vorhanden waren, bleiben bestehen und verstärken sich.
Selbstrechtfertigung und Sünde: Das ethische Stadium bleibt in einer Art ständiger Selbstrechtfertigung stecken. Die tiefe Wirklichkeit der Sünde wird nicht erkannt und verstanden. Das ethische Handeln führt zu einer unendlichen Perfektibilität, ähnlich wie bei Kant, die jedoch nicht die Antwort auf die Frage der menschlichen Schuld ist.
Erkenntnis der Sünde: Das religiöse Stadium beginnt mit der tiefen Erkenntnis, dass die menschliche Realität durch Sünde geprägt ist und dass der Mensch diese Realität nicht aus eigener Kraft überwinden kann.
Beziehung zum Absoluten: Im religiösen Stadium öffnet sich der Mensch für eine Beziehung zu Gott, dem Absoluten. Nur durch diese Beziehung kann das Geschehene ungeschehen gemacht und Schuld vergeben werden.
Gewissheit der Ewigkeit: Der Mensch erfährt eine Gewissheit der Ewigkeit, die mitten in der Zeit präsent ist. Diese „Krisis der Zeit“ macht die Zeit transparent auf die Ewigkeit hin.
Der „Augenblick“: Kierkegaard beschreibt diesen Moment als den wahren „Augenblick“, in dem sich die Endlichkeit für die Unendlichkeit öffnet. Dies führt zu einer neuen geistigen Qualität und einer neuen Ethik.
Neue Ethik des Zeugen: Diese neue Ethik basiert auf der Schülerschaft gegenüber dem Absoluten. Der Mensch handelt nicht aus eigener Kraft, sondern aus der Kraft, die er vom Absoluten empfangen hat. Der „Zeuge“ spricht von einem empfangenen Selbst, das nicht durch eigene Anstrengungen, sondern durch göttliche Gnade ermöglicht wird.
Hauptthesen der Ethik Sören Kierkegaards
Radikales Freiheitsethos:
Kierkegaard vertritt eine Ethik, die auf radikaler Freiheit basiert.
Diese Ethik stützt sich nicht auf kollektive Einsichten oder Gewissheiten, wie Sitte oder gesellschaftliche Übereinkünfte (z.B. „overlapping consensus“ von John Rawls).
Ethik beginnt beim Individuum, das sich zu seiner Einzigartigkeit bekennt, ohne das Unbedingte und Ewige zu leugnen.
Selbstwahl als Antwort auf Verzweiflung:
Ethik bedeutet für Kierkegaard vor allem Selbstwahl.
Verzweiflung entsteht, wenn man sich nicht selbst wählt, sondern sich in äußere Umstände, Idole oder Kollektive verliert.
In der Selbstwahl findet man eine Basis der Idealität, von der aus man alles Äußere distanzieren und einen Raum für mögliches Selbstsein schaffen kann.
Vermittlung zwischen Innerem und Äußerem:
Die Verbindung zwischen innerem Selbst und äußerem Handeln erfolgt durch einen „Sprung“.
Dieser „Sprung“ ist ein Akt der Freiheit und verweist sowohl auf „Angst“ als auch auf „Glauben“ als Weisen, wirkliche Freiheit zu verwirklichen.
Erfahrungen von Schuld und Reue:
Die Ethik der Selbstwahl scheitert letztlich an den Erfahrungen von Schuld und Reue.
Diese Erfahrungen resultieren aus der Spannung zwischen der endlichen menschlichen Wahl und der unendlichen Forderung.
Ethik verweist auf die Gewissheit eines im Absoluten bereits „erwählten“ Selbst, das man sich nur im Glauben aneignen kann.
Die Ethik kann das Problem der Versöhnung stellen, aber nicht aus eigener Kraft lösen.
Religion hebt das Ethische und die Freiheit nicht auf.
Stattdessen geht es darum, das Ethische und die Freiheit im Absoluten zu verankern.
Das Absolute ist dabei nicht etwas, das das Individuum für sich wählt, sondern etwas, von dem das Individuum bereits erwählt ist.
Im 20. Jahrhundert haben Existenzphilosophen wie Karl Jaspers und Martin Heidegger (in seiner frühen Phase) an Kierkegaards Ideen angeschlossen.
Heideggers „Existenzialontologie“, insbesondere in seinem Werk „Sein und Zeit“, ist stark von Kierkegaard beeinflusst.
Auch der französische Existenzialismus mit Jean-Paul Sartre und Albert Camus zeigt Einflüsse von Kierkegaard, trotz ihrer unterschiedlichen (und teilweise nihilistischen) Ansätze.
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