Anfänge der Wertethik
Unterschied zwischen „Wertethik“ und traditioneller Ethik:
Obwohl im heutigen Sprachgebrauch „Werte und Normen“ gängige Begriffe in der Ethik sind, ist jedoch eine echte „Wertethik“ eine relativ späte Entwicklung.
Reaktion auf Kants Formalismus:
Die Wertethik entstand im 19. Jahrhundert und kann als Reaktion auf Kants „Formalismus“ verstanden werden.
Rudolf Hermann Lotze und die teleologische Ordnung:
Rudolf Hermann Lotze war einer der ersten expliziten Wertethiker.
Für Lotze sind „Werte“ Teil einer teleologischen Gesamtordnung des menschlichen Bewusstseins, das nach dem „Guten“ und „Wertvollen“ strebt.
Einfluss der Ökonomie auf die Wertethik:
Die Wertethik trat zu einer Zeit auf, als die Ökonomie begann, eine zentrale Rolle als (politische) Leitwissenschaft zu übernehmen.
Der Begriff „Wert“ in der Wertethik hat eine enge Verbindung zu ökonomischen Konzepten, was sich auch bei den verwnadten Begriffen „value“, „valeur“ und „valor“ zeigt.
Dies weist darauf hin, dass die Idee des Wertes in der Ethik von ökonomischen Vorstellungen beeinflusst ist.
Zur Vorgeschichte des Wertbegriffs bei Kant
Keine Werte aus der Natur: Kant betont, dass Werte keine natürlichen Tatsachen sind. Das bedeutet, sie können nicht direkt aus der Natur oder den Objekten in der Welt abgeleitet werden.
Bewusster Begriff von Zwecken: Werte setzen einen bewussten Begriff von Zwecken voraus und somit auch praktische Vernunft. Ohne Vernunft, die Zwecke definiert, gibt es keine Werte.
Zitat Kant: Wenn die Welt nur aus leblosen oder vernunftlosen Wesen bestehen würde, hätte sie keinen Wert, weil kein Wesen existiert, das einen Begriff von Wert hat.
Mensch als Naturwesen: Als Teil der Natur hat der Mensch keinen besonderen Wert über andere Tiere hinaus. Der Mensch als „animal rationale“ hat nur einen gemeinen Wert (pretium vulgare).
Keine absoluten Endzwecke: Selbst wenn vernünftige Wesen existieren, die den Wert des Daseins aber nur in Relation zur Natur (zu ihrem Wohlbefinden) setzen, gibt es noch keinen absoluten Endzweck.
Menschlicher Wert durch Freiheit: Der besondere Wert des Menschen ergibt sich aus dem, was er in voller Freiheit tut, unabhängig von natürlichen Gegebenheiten. Der Mensch gibt seinem Dasein als Person einen absoluten Wert durch seine freie und vernunftgeleitete Handlungsweise.
Würde als zentraler Wert: Kant erklärt, dass der Mensch als Person (homo noumenon) einen unbedingten, absoluten Wert besitzt. Dieser Wert beruht auf der Fähigkeit des Menschen zur moralischen Autonomie und praktischen Vernunft. Der Mensch ist nicht bloß ein Mittel zu anderen Zwecken, sondern ein Zweck an sich selbst.
Wert durch Gesetzgebung: Nach Kant erhält der Mensch seinen absoluten Wert durch die Teilnahme an der „allgemeinen Gesetzgebung“. Der Mensch ist Teil des „Reiches der Zwecke“ und hat durch seine Fähigkeit zur autonomen Gesetzgebung einen besonderen Wert. Werte werden durch das Gesetz bestimmt, und die Gesetzgebung selbst hat eine unvergleichbare Würde.
Gesetz und Pflicht: Der moralische Wert einer Handlung ergibt sich nach Kant allein aus der „Vorstellung des Gesetzes an sich selbst“.
Das bedeutet, dass der Wert einer Handlung darin besteht, dass sie aus dem Bewusstsein und der Anerkennung eines moralischen Gesetzes heraus erfolgt. Der Wert ist daher nicht durch äußere Faktoren wie den erwarteten Nutzen bestimmt, sondern durch die Entscheidung, das Gesetz selbst zu achten und zu befolgen.
Einfluss auf den moralischen Wert: Neigungen oder Affekte können den moralischen Wert einer Handlung beeinträchtigen oder sogar vernichten. Wenn eine Handlung nicht aus Pflicht (das moralische Gesetz einzuhalten) geschieht, sondern durch persönliche Neigungen oder emotionale Zustände beeinflusst wird, verliert sie ihren moralischen Wert.
Bildung des moralischen Sinns: Kant hebt hervor, dass der moralische Wert des Menschen durch eine spezifische Art der Bildung entwickelt wird. Diese Bildung setzt bei einer allgemeinen kulturellen Bildung der emotionalen Kräfte ein und reicht über pragmatische oder schloastisch-mechanische Bildung hinaus, hin zu einer moralischen Bildung, die auf die Sittlichkeit abzielt.
Wert des Menschen: Durch diese moralische Bildung gewinnt der Mensch einen „Wert in Ansehung des ganzen menschlichen Geschlechts“.
Unbedingter Wert der Philosophie: Kant stellt fest, dass die Philosophie eine besondere Rolle einnimmt. Während andere Wissenschaften oder Doktrinen nur bedingten Wert haben können, weil sie als Werkzeuge für bestimmte Zwecke dienen, hat die Philosophie als „Weisheitslehre“ einen „unbedingten Wert“. Dies liegt daran, dass die Philosophie sich mit dem Endzweck der menschlichen Vernunft beschäftigt, dem alle anderen Zwecke nachstehen oder untergeordnet werden müssen.
Wertlehren seit dem 19. Jahrhundert
Neukantianismus: Diese philosophische Bewegung entwickelte explizite Werttheorien und Wertethiken, prominent vertreten durch Philosophen wie Alois Riehl, Wilhelm Windelband, Heinrich Rickert und Bruno Bauch.
Hiatus der Spähren: Diese Denker folgen Kants Auffassung, dass es eine unüberbrückbare Kluft (Hiatus) zwischen der theoretischen Tatsachensphäre und der praktischen Wertsphäre gibt. Das bedeutet, dass Fakten und Werte grundsätzlich verschieden sind und nur durch reflektierende Urteilskraft verbunden werden können.
Werte als praktische Zwecksetzungen: Im Einklang mit Kant verstehen diese Philosophen Werte als Funktionen praktischer Zwecksetzungen, die durch praktische Vernunft begründet und verantwortet werden müssen.
Umwertung aller Werte: Nietzsche revolutionierte die Werttheorie, indem er behauptete, dass Werte keine stabilen oder ewigen Wahrheiten sind. Stattdessen sind sie das Ergebnis von Wertsetzungen, also Ausdruck eines „Willens zur Macht“ sind.
Werte und Macht: Werte reflektieren den Willen zur Macht einer bestimmten Zeit. Wenn die bestehenden Werte nicht mehr dem vitalen Willen zur Macht entsprechen, ist es notwendig, sie durch neue Werte zu ersetzen.
Philosoph als Gesetzgeber: Nietzsche sieht den Philosophen als Gesetzgeber der Zukunft, der die Aufgabe der Wertsetzung übernimmt.
Nihilismus: Nietzsche erklärt den Nihilismus als die Einsicht, dass „an sich“ nichts einen Wert hat. Werte sind nur temporäre Setzungen, die im Wettbewerb der „Werte“ und der dahinterstehenden Willen stehen.
Kritik an Kant: Max Scheler entwickelt, insbesondere in seinem Werk Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik, eine Ethik, die im Gegensatz zu Kant steht.
(Während Kant eine strikte Trennung zwischen theoretischen Tatsachen und praktischen Werten vornimmt, sucht Scheler nach einer objektiveren Grundlage für Werte.)
Phänomenologischer Ansatz: Scheler verwendet die Methodik der Phänomenologie von Edmund Husserl. Er versucht, durch "eidetische Reduktion" das Wesen der Werte freizulegen, um einen objektiven Kern zu finden, der überindividuell gültig ist.
Werthierarchien: Scheler unterscheidet verschiedene "Werthöhen" oder "Ränge" der Werte, wobei Faktoren wie Dauerhaftigkeit und Unabhängigkeit des, die Werte innehabenden, fühlenden Subjekts eine Rolle spielen.
Diese Werte spiegeln eine stabile Rangordnung wider, die von angenehmen/unangenehmen Werten bis zu heiligen/unheiligen Werten reicht.
Historische Variation der Werte: Trotz historischer Variationen in der Wertschätzung bleibt für Scheler das Reich der Werte unabhängig von unseren Zugängen zu ihm. Die Vielfalt und Unabgeschlossenheit der historischen Ethosformen sind notwendig, um den Wertkosmos adäquat zu erleben.
Personalismus: Für Scheler haben Werte ihren Sitz und ihre Begründung im persönlichen Bezug. Werte manifestieren sich erst im Lebensvollzug der Person, die sich an ihnen zu ihren höheren Möglichkeiten erheben kann.
Synthese von Kant und Nietzsche: Hartmann, der vom Neukantianismus zum kritischen Realismus wechselte, versucht eine Synthese zwischen der Kantischen Absolutheit ethischer Maßstäbe und der reichen Fülle des ethischen Kosmos, wie ihn Nietzsche erblickt hat.
Subjektunabhängige Werte: Werte sind für Hartmann wie für Scheler zunächst subjektunabhängig gültige Wesenheiten, die ein "Ansichsein" besitzen. Dieses "Ansichsein" ist ideal und ähnelt mathematischen Objekten durch Merkmale wie Allgemeinheit und Notwendigkeit.
Wertfühlen und Wertblindheit: Werte werden "gefühlt", aber es gibt auch "Wertblindheit" – das Unvermögen, bestimmte Werte zu erkennen.
Bsp.: Besonderheit eines Beethoven-Streichquartetts oder unberüherter Landschaft nicht schätzen/erkennen kann
Diese Wertblindheit ist ein subjektiver Mangel, der keinen Einwand gegen die Werteordnung bilden kann.
Wertblindheit stellt ein Problem für die Ethik dar, da es schwierig ist, allgemeine Verbindlichkeiten und universale Normen zu begründen, wenn nicht alle Menschen dieselben Werte fühlen.
Evidenztheoretisches Problem: Evidenzen sind unmittelbare Gewissheiten, die auf grund ihrer Unmittelbarkeit nicht einfach mitteilbar sind. Dies erschwert die Vermittlung und Begründung von Werten in einer universellen Ethik.
Lösung: Pädagischer Weg + Hoffen, dass andere Menschen, die Evidenzen übernehmen, die für einen selbst als gegeben feststehen
Offenes Wertsystem: Hartmanns Wertsystem ist "offen" und kennt keinen "obersten Wert".
Kritik des wertethischen Ansatzes
Evidenztheoretische Problematik: Wertphilosophien, insbesondere die wertphänomenologische Denkweise von Max Scheler, stützen sich evidenztheoretisch auf Wertintuitionen“oder subjektive Einsichten in Werte. Diese Intuitionen sind problematisch, weil sie am Ende Züge des „Wertglaubens“ annehmen. Das bedeutet, dass die Wahrnehmung von Werten subjektiv und nicht unbedingt objektiv verankert ist.
Martin Heidegger's Kritik: Heidegger argumentiert, dass Werten immer eine subjektive Dimension innewohnt. Alles Werten ist letztlich subjektiv, da es immer nur das Seiende aus der Perspektive des subjektiven Wertes betrachtet. Diese Subjektivität macht es schwierig, objektive Werte zu beweisen, weil der Wert immer durch das Subjektive gefiltert wird. Heidegger kritisiert die Bemühungen, die Objektivität von Werten zu beweisen, als problematisch, weil sie die Subjektivität nicht ausreichend berücksichtigt.
Nietzsche's Einfluss: Friedrich Nietzsche argumentiert, dass Werte nicht stabil oder ewig sind, sondern immer durch den „Willen zur Macht“ geprägt sind. Werte sind demnach nicht konstant, sondern können sich ändern, wenn sich der Wille zur Macht verändert. Dies führt zu der Möglichkeit, dass „Wertegemeinschaften“ ihre Werte ständig ändern können, was zu Konflikten führen kann. Zum Beispiel könnten Gruppen, die unterschiedliche Werte vertreten, gegeneinander kämpfen, um ihre eigenen Werte durchzusetzen.
Carl Schmitt's Perspektive: Schmitt hebt hervor, dass Werte nach Aktualisierung lechzen. Werte sind nicht an sich existent, sondern immer auf die Verwirklichung und Durchsetzung in der Welt angewiesen. Dies bedeutet, dass Werte ständig durch Handlungen und Machtverhältnisse aktualisiert und verändert werden.
Ökonomismus: Der ökonomische Wertbegriff, besonders in der Grenznutzenlehre, betrachtet Werte als subjektiv und wandelbar. Dies spiegelt sich in der ökonomischen Praxis wider, in der der Wert von Dingen oft durch ihre Nützlichkeit auf dem Markt bestimmt wird.
Gefahr der ökonomischen Auslegung: Ein Problem für die Wertethik entsteht, wenn ethische Werte durch ökonomische Kriterien interpretiert werden. Zum Beispiel wird der Wert der Bildung oft nach ihrer Nützlichkeit für den Arbeitsmarkt bemessen, statt nach den idealen oder autonomen Zielen, die Bildung anstreben sollte. Ähnlich können Werte wie „Selbstbestimmung“ und „Persönlichkeitsentfaltung“ in einem ökonomischen Kontext reduziert werden, was die ursprüngliche Bedeutung und Tiefe dieser Werte untergräbt.
Kritik der reduzierten Werte: Wenn Werte nur nach ihrem wirtschaftlichen Nutzen bewertet werden, wird die umfassende Bedeutung, die Werte in einem ethischen oder philosophischen Sinne haben, oft nicht berücksichtigt. Werte werden so auf ihren Beitrag zur ökonomischen Effizienz reduziert, was eine einseitige und eingeschränkte Sichtweise darstellt.
Notwendigkeit der Reflexion: Der Text schließt mit der Feststellung, dass die Philosophie weiterhin kritisch reflektieren muss, um ein Bewusstsein für die Probleme und Einschränkungen im Umgang mit Werten zu schaffen. Auch wenn die Diskussion über Werte in der Philosophie an Bedeutung verlieren könnte, bleibt sie in anderen Disziplinen wie der Ökonomie oder Politikwissenschaft relevant. Die philosophische Reflexion sollte dazu beitragen, die Probleme und Herausforderungen im Umgang mit Werten zu klären und zu adressieren.
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