Übergesetzlicher entschuldigender Notstand
=> Allgemeines
Von Rspr. und Lit. Anerkannt
= „entschuldigende Pflichtenkollision“
Notwendigkeit der Anerkennung, weil der § 35 StGB durch die abschließende Aufzählung des geschützten Personenkreises stark eingeschränkt ist
Grundkonstellation: Um ein bedrohtes Rechtsgut zu retten, gibt der Täter ein anderes gleichwertiges Rechtsgut auf bzw. opfert es
=> Schema
Notstandslage
Übelverringerung
Grenzen
Subjektive Merkmale
Gegenwärtige Lebensgefahr
Nicht ausreichend: Gefahr für Leib oder Freiheit
Grund: Ausnahmecharakter
Keine Rechtfertigung durch § 34 StGB möglich, da es Leben gegen Leben steht
Keine Entschuldigung durch § 35 I StGB möglich, da die Tat nicht zugunsten einer dort genannten Person erfolgt
Str. Voraussetzung:
e.A.: Erfordernis wird abgelehnt
a.A.: Zumindest Gleichwertigkeit der geschützten Interessen erforderlich
h.M.: Überverringerung erforderlich
Arg.: Ausnahmecharakter
Das vom Täter angerichtete Übel muss bei einer ethischen Gesamtbetrachtung gegenüber dem durch die Tat verhinderten das wesentlich geringere Übel sein.
=> P.: Darf die Gefahr auf gänzlich Unbeteiligte abgewälzt werden, die mit den gefährdeten Personen keine Schicksalsgemeinschaft bilden
h.M.: (+)
Arg.: Gewissenskonflikt besteht für den Täter unabhängig davon, ob im Ergebnis Unbeteiligte betroffen werden
a.A.: (-)
Arg.: Ohne diese Einschränkung ist der Ausnahmefall des übergesetzlichen entschuldigenden Notstandes kaum noch eingrenzbar
Nicht anders abwendbar
Handlung muss in jeder Hinsicht das einzige Mittel sein, um noch Schlimmeres zu verhindern
= sog. Quantitativer Lebensnotstand
Unzumutbarkeit entspr. § 35 I 2 StGB
Nicht normierter Entschuldigungsgrund muss zumindest denselben Schranken entsprechen wie der gesetzlich geregelte Fall des entschuldigenden Notstandes nach § 35 I StGB
Der Täter muss in Kenntnis aller Umstände und aus Gewissensnot heraus mit Gefahrabwendungswillen handeln.
BGH: Täter muss eine gewissenhafte Prüfung der Notstandssituation vornehmen
=> Bsp.: Gleis durch Erdrutsch verschüttet. Ein Zug mit hunderten Insaßen droht ungebremst hineinzufahren. Zugführer kann nicht rechtzeitig gewarnt werden. Bahnwärter T leitet den Zug auf ein Nebengleis um, wo wie er weiß, Arbeiter A auf den Gleisen tätig ist, den er ebenfalls nicht rechtzeitig warnen kann
Obj. TB (+)
Subj. TB: Dolus eventualis
§ 32 StGB: (-) ➔ kein gegenwärtiger rechtswidriger Angriff des A
§ 34 StGB: (-) ➔ keine Abwägung Leben gegen Leben
§ 35 StGB: (-) ➔ Zuginsassen gehören nicht zum geschützten Personenkreis
Übergesetzlicher entschuldigender Notstand?
Gegenwärtige Lebensgefahr für die Zuginsassen, die nicht anders abwendbar ist
Erforderliche Überverringerung in quantitativer Hinsicht ➔ statt 100 Zuginsassen stirbt nur der A
Aber: Gefahr wird auf einen Unbeteiligten und nicht auf eine in einer Art Schicksalsgemeisnchaft stehende Person abgewälzt
h.M.: Übergesetzlicher entschuldigender Notstand dennoch (+)
Gefahrabwendungswille (+)
Übergesetzlicher entschuldigender Notstand (+)
Handeln auf Anordnung oder Befehl (str.)
Str., ob Handeln auf eine dienstliche Weisung einen übergesetzlichen Entschuldigungsgrund darstellt
Verbindliche Weisung:
Bildet für den Untergebenen i.R. seiner Befolgungspflicht bereits einen Rechtfertigungsgrund
Problematisch: Rechtswidrige Weisung
Rechtfertigung i.d.R. (-)
In Ausnahmefällen auch hier Rechtfertigung
z.B. bei einer Weisung im militärischen Bereich
Grund: Trotz der Rechtswidrigkeit besteht weiter der Befolgungsdruck für den Untergebenen
Problematisch: gegen eine solche Handlung ist dann keine Notwehr möglich
=> Bei einer unverbindlichen Weisung
Unverbindlich ist eine Weisung dann, wenn durch ihre Ausführung eine Straftat begangen, die Menschenwürde verletzt oder gegen allg. anerkannte Regeln des Völkerrechts verstoßen würde.
h.M: Keine Rechtfertigung
e.A.: Unverbindliche Weisung kann einen eigenen Entschuldigungsgrund darstellen, wenn der Untergebene die Unverbindlichkeit nicht erkannt hat und diese für ihn auch nicht erkennbar war
a.A.: Keine Notwendigkeit für einen eigenständigen Entschuldigungsgrund
Arg.: Konstellationen sind über die allg. Irrtumsregeln lösbar
Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens (str.)
Die Unzumutbarkeit normgemäßen Verhaltens entschuldigt den Täter, wenn ihm bzw. einem Durchschnittsmenschen nach den konkreten Umständen des Falles ein anderes, normgerechtes Verhalten nicht zugemutet werden kann
h.M.: Ist nicht generell als übergesetzlicher Entschuldigungsgrund anzuerkennen
Arg.: Schon beim übergesetzlichen entschuldigenden Notstand Bedenken wegen Uferlosigkeit, weil die Gefahr auf möglicherweise Unbeteiligte abgewälzt wird
Hier erst recht Uferlosigkeit
Würde zu Rechtsunsicherheit führen
Entschuldigungsgrund ist bei Fahrlässigkeitsdelikten anwendbar
Str., ob der Entschuldigungsgrund beim vorsätzlichen unechten Unterlassungsdelikt anwendbar ist
Glaubens- und Gewissensfreiheit, Art. 4 I GG (str.)
Entschuldigungsgrund aus Art. 4 I GG, wenn der Täter in einen Konflikt zwischen der Rechtsüberzeugung der Gesellschaft und seiner eignen Glaubensüberzeugung gerät
h.M.: Lehnt Entschuldigungsgrund ab
Arg.: Anerkennung wäre mit einer extremen Subjektivierung verbunden
Arg.: Rechtsordnung kann die Geltung ihrer Normen nicht von der Billigung durch Einzelne abhängig machen
Ziviler Ungehorsam als Entschuldigungsgrund (str.)
Zuerst als Rechtfertigungsgrund ansprechen und ablehnen
Entschuldigende Wirkung?
(-): Billigenswerte Motive mindern zwar das verwirklichte Unrecht, schließen aber Schuld nicht aus
Absichten des Täter können höchstens strafmildernd berücksichtigt werden oder bei nur geringfügigen oder kurzzeitigen Rechtsgutbeeinträchtigungen zu einer Einstellung des Verfahrens nach §§ 153 f. StPO führen
Unrechtsbewusstsein
h.M.: Selbstständiges Schuldelement
Erforderlich ist die Einsicht des Täters, dass sein Verhalten rechtlich verboten ist, nicht aber die Kenntnis der Strafvorschrift bzw. der Strafbarkeit des Verhaltens
Wer wissentlich und willentlich einen Unrechtstatbestand verwirklicht, ohne eine rechtfertigende Sachlage anzunehmen, weiß als Schuldfähiger i.d.R., dass er Unrecht tut ➔ deshalb Indizwirkung
h.M.: Es genügt, wenn der Täter bei dem ihm zumutbaren Einsatz seiner Erkenntniskräfte und Wertvorstellungen die Einsicht in das Unrecht der Tat gewinnen kann
= sog. Potentielles Unrechtsbewusstsein
In der Klausur spielt das Unrechtsbewusstsein i.d.R. nur i.R.d. Verbotsirrtums gem. § 17 StGB eine Rolle
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