Vom Naturrecht zum Vernunftrecht
Der Text beschreibt die historische und philosophische Entwicklung des Naturrechts und seine Rezeption in der Rechtswissenschaft. Hier ist eine vereinfachte Erklärung:
Naturrecht vs. Positives Recht: Das Naturrecht gilt als eine übergeordnete, universelle Rechtsordnung, die unabhängig von menschlicher Gesetzgebung existiert. Es unterscheidet sich vom positiven Recht, welches von Menschen gesetzt und kodifiziert wird.
Historische Bedeutung: Früher wurde das Naturrecht als zentrale Domäne der Rechtsphilosophie angesehen, da man glaubte, dass es zeitlos und kulturelle Grenzen überschreitend sei und somit die reine Vernunft verkörpere, die Philosophie für rechtliche Fragen heranzieht.
Moderne Skepsis: Heutzutage betrachten Juristen das Konzept des Naturrechts oft mit Skepsis oder Ablehnung. Das liegt daran, dass positives Recht, obwohl es durch menschliche Setzung entsteht, als unabhängig geltend betrachtet werden muss.
Griechische Sophistik: In der Antike wurde der Gegensatz zwischen natürlichem Recht (fúsei) und gesetztem Recht (thései) entwickelt. Die Natur wurde dabei als kritische Instanz gegen staatliches Recht genutzt.
Nachkriegszeit und Naturrecht: Nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte das Naturrecht eine kurze Wiederbelebung, besonders in Deutschland. Die Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus, bei dem positive Gesetze verbrecherische Inhalte hatten, führten zu einem Rückgriff auf überpositive Normen, die eine Rechtsordnung vor Unrecht schützen sollten.
Gustav Radbruch: Der Rechtsphilosoph Gustav Radbruch prägte den Begriff „gesetzliches Unrecht“, um zu betonen, dass es Kriterien für Recht und Unrecht gibt, die nicht aus dem positiven Recht stammen. Radbruch kritisierte, dass der Rechtspositivismus die Juristen gegen willkürliche und verbrecherische Gesetze wehrlos gemacht habe.
Gefahren des Naturrechts: Radbruch erkannte, dass die Infragestellung des positiven Rechts durch übergesetzliches Recht die Rechtssicherheit gefährden könnte. Dennoch sah er dies als ein letztes Mittel, um sich von einem positiven Recht zu distanzieren, das grundlegende Rechtsprinzipien verletzt.
Max Weber: Weber sah das Naturrecht als übergeordnete Normen, die unabhängig vom positiven Recht gelten und dessen Legitimität begründen. Gleichzeitig warnte er vor "Rechtspropheten", die mit Berufung auf solche Normen die bestehende Rechtsordnung destabilisieren könnten, ohne eine legitime Alternative anzubieten.
Kritik und Fortentwicklung: Die Renaissance des Naturrechts nach dem Zweiten Weltkrieg hielt nicht lange an, da die Kritik am Naturrecht, die seit Kant und durch die historische Rechtsschule sowie den Rechtspositivismus geäußert wurde, wieder stärker wurde. Dennoch versuchten einige Autoren, das Naturrecht weiterzuentwickeln.
Zusammengefasst geht es in dem Text um die historische Bedeutung des Naturrechts, seine Herausforderungen und Kritiken in der modernen Rechtswissenschaft sowie die Versuche, es trotz dieser Kritiken weiterzuentwickeln.
Aristoteles und die Begründung des Naturrechts
Entweder-Oder von Gesetztem und Natürlichem Recht
Aufhebung des Gegensatzes: Aristoteles führte das Naturrecht aus dem strikten Gegensatz zum gesetzten Recht heraus, indem er es nicht als abstrakte, ideale Norm jenseits des menschlichen Lebens sah.
Naturrecht in der Praxis
Praktische Anwendung: Laut Aristoteles folgen Menschen dem Naturrecht in ihrem täglichen Leben. Naturrechtsbestimmungen sind keine bloßen Sollenssätze, die auf Positivierung warten, sondern sie sind bereits in der menschlichen Praxis verankert.
Beispiele: Menschen stehlen, betrügen oder morden meistens nicht, oft ohne bewusst darüber nachzudenken, was zeigt, dass diese Prinzipien vor aller Moral existieren.
Unterschiede zum positiven Recht
Beständigkeit und Universalität: Naturrecht bleibt „in den überwiegenden Fällen und über die längere Zeit hin“ gültig. Es ist räumlich und zeitlich universell gültig, wie z.B. die Ehe und das Prinzip der Tauschgerechtigkeit.
Unabhängigkeit von Zustimmung: Naturrecht ist unabhängig von der aktuellen Zustimmung oder Nichtzustimmung der Menschen. Es existiert als natürliche Ordnung, die nicht zur Disposition steht, ähnlich wie die Tatsache, dass die meisten Menschen Rechts- oder Linkshänder sind.
Variabilität und Ausdruck der menschlichen Natur
Variationen und Gebrauch: Naturrechtsnormen können in verschiedenen Formen und Verwirklichungen zur Geltung gebracht werden, z.B. das Zusammenleben in Staaten.
Soziale Natur des Menschen: Die Naturrechtsprinzipien sind Ausdruck der soziablen Natur des Menschen (zøıon politikón). Aristoteles sieht diese Prinzipien als Manifestation der menschlichen Gemeinschaftsorientierung.
Fortführung in der Neuzeit
Neubegründung des Naturrechts: Pufendorf baute auf Aristoteles’ Ideen auf und begründete das Naturrecht neu durch das Sozialitätsprinzip, jedoch nicht als Ausdruck der menschlichen Natur, sondern als Abhilfe gegen die natürliche Schwäche des Menschen.
„Imbezillität“ des Menschen: Pufendorf sah das Naturrecht als Mittel, um die natürliche Schwäche und Unvollkommenheit des Menschen zu überwinden.
Aristoteles’ Beitrag: Er führte das Naturrecht aus dem Gegensatz zum positiven Recht heraus und sah es als bereits in der Praxis der Menschen verankert.
Unabhängigkeit und Beständigkeit: Naturrecht ist unabhängig von menschlicher Zustimmung und zeigt sich in universellen, beständigen Prinzipien.
Weiterentwicklung durch Pufendorf: In der Neuzeit wurde das Naturrecht durch das Sozialitätsprinzip neu begründet, um menschliche Schwächen zu kompensieren, nicht nur als Ausdruck der menschlichen Natur.
Die Stoa und die Begründung des rechts aus der allgemeinen Natur
Aristoteles und Pufendorf: Die Begründung des Naturrechts aus der menschlichen Natur ist eine mögliche Auffassung. Aristoteles und Pufendorf vertreten diese Sicht, aber es gibt auch andere Ansätze.
Frühere Philosophien: Philosophen wie Anaximander, Heraklit und die Pythagoreer verankerten das Recht in der allgemeinen Natur und deren immanenten Rechtsprinzipien.
Naturgemäßes Leben: Die Stoa berief sich auf Heraklit und betonte das Prinzip des "naturgemäßen" oder "stimmigen Lebens". Die Natur, die hier gemeint ist, ist der logisch geordnete Kosmos, gestaltet durch den Logos.
Kosmopolitismus: Der Mensch soll sich als Teil dieses Kosmos verstehen und danach handeln. Dies führt zu einer kritischen Distanz gegenüber positiven Rechtsordnungen und manchmal zu revolutionären Naturrechtsideen.
Ciceros Beitrag: Cicero vereinte die römische Jurisprudenz mit den griechischen Naturrechtstraditionen, insbesondere der Stoa. Er bezeichnete das oberste Gesetz, die “lex vera”, als in der Natur verwurzelt.
Naturrecht und Rechtsordnung: Die Rechtsordnung ist der Naturordnung eingeschrieben. Staaten müssen ihre Gesetze an dieser Naturordnung messen lassen.
Ulpian's Definition: Ulpian definierte das Naturrecht als das, was die Natur allen Lebewesen gelehrt hat. Dieses Recht gehört nicht nur dem Menschengeschlecht, sondern allen Lebewesen. Steht in Einleitung des "„Corpus iuris civilis“ von Kaiser Justinian 6. Jh. n. Chr.
Beispiele und christliche Interpretation: Beispiele wie die Brutpflege bei Tieren zeigen, dass Naturrecht präreflexiv ist. Christliche Autoren wie Augustinus sahen es als Ausdruck göttlicher Providenz.
Ius gentium: Das Völkerrecht gilt bei allen Völkern und setzt vernünftiges Handeln voraus. Prinzipien wie "Schädige niemanden", "Verträge sind zu halten" und die "Goldene Regel" sind interkulturell gültig und verständlich.
Augustinus' Perspektive: Augustinus argumentierte, dass das Natur- oder Vernunftrecht angesichts des Bösen in der Welt nicht ausreiche und staatliches positives Recht notwendig sei.
Vielfalt der Naturrechtsbegründungen: Es gibt verschiedene Begründungen und Auffassungen des Naturrechts, von der menschlichen Natur über kosmologische Prinzipien bis hin zu universellen moralischen Regeln.
Praktische Bedeutung: Diese unterschiedlichen Ansätze zeigen die breite Anwendbarkeit und die tiefe Verankerung des Naturrechts in verschiedenen philosophischen und rechtlichen Traditionen.
Augustinus, Thomas und die Begründung des Rechts im Willen Gottes
Augustinus' Ansatz: Augustinus ersetzt die traditionelle Naturrechtsbegründung (basierend auf der Natur des Menschen oder der allgemeinen Natur) durch eine transzendente Rechtsbegründung. Diese basiert auf der Gesetzgebung oder dem Willen Gottes, wobei Gott als souveräner Gesetzgeber auftritt.
Kontroverse zwischen Ockham und Thomas von Aquin:
Ockham: Ausgehend von der "potentia Dei absoluta" (absoluten Macht Gottes) argumentiert er, dass etwas gut ist, weil Gott es will.
Thomas von Aquin: Gott will etwas, weil es gut ist. Bei ihm reguliert die Erkenntnis Gottes seinen Willen, nicht umgekehrt.
Thomas von Aquins Vorstellung:
Universum als communitas perfecta: Ein vollkommener Staat, regiert durch das ewige Gesetz Gottes (lex aeterna).
Ewiges Gesetz und Gottes Erkenntnis: Die Welt wird nach einem ewigen Plan regiert, nicht nach ad-hoc-Entscheidungen.
Spezifische Neigungen: Menschen haben spezifische Neigungen (inclinationes) zu Tätigkeiten und Zielen, die auf das Gute hinweisen und das Schlechte meiden.
Praktische Vernunft: Diese Neigungen verweisen auf die "dictamina rationis practicae" (Anweisungen der praktischen Vernunft).
Thomas von Aquin: "Das Naturgesetz ist nichts anderes als die Teilhabe am ewigen Gesetz in einem vernunftbegabten Geschöpf."
Selbsterhaltung, Fortpflanzung, Wahrheitssuche, Gemeinschaft: Diese sind Ausdruck der natürlichen Neigungen des Menschen.
Vermeidung von Nichtwissen und Beleidigungen: Ebenfalls Teil des Naturgesetzes.
Einzelfälle und Allgemeinheit der Naturrechtsnormen: Naturrechtsnormen sind oft zu allgemein und bedürfen der Spezifizierung durch positives Recht (lex humana).
Anwendung durch menschliche Vernunft: Positives Recht wendet Naturgesetze auf konkrete Einzelfälle an und variiert je nach Kultur und Zeit.
Allgemein verbindliches Schlussverfahren: Erkennt, was aus dem Naturgesetz allgemein folgt, wie z.B. dass Gesetzesübertreter zur Rechenschaft gezogen werden müssen.
Spezifizierung durch positives Recht: Bestimmt die konkrete Form der Sanktion oder Strafe.
Übereinstimmung mit Religion und Vernunft: Gesetze müssen praktisch vernünftig sein, den Menschen entsprechen und an die Umstände angepasst sein.
Förderung des Gemeinwohls: Gesetze sollen dem bonum commune (Gemeinnutz) dienen, nicht individuellen Interessen.
Integration in den universalen Ordnungszusammenhang: Menschliches Handeln, ob natürlich oder willentlich, ist in den göttlichen Plan integriert.
Gottes sanfte Führung: Gott hält alle Dinge "sanft" in der Bahn, sodass natürliche Gesetze uns dazu anhalten, das Beste für das Ganze zu tun.
Die Rationalisierung des Naturrechts in der frühen Neuzeit
Schule von Salamanca und Francisco de Vitoria:
Die Schule von Salamanca, mit Francisco de Vitoria als führendem Denker, entwickelte in der frühen Neuzeit entscheidende Naturrechtsprinzipien.
Vitoria, geboren 1492 (das Jahr der Entdeckung Amerikas durch Kolumbus), sah die Begegnung mit den neuen Kulturen Amerikas als Anwendungsfälle für das Naturrecht.
Naturrecht und Kolonialismus:
Wären die spanischen Seefahrer auf unbewohntes Land gestoßen, hätte das Naturrechtsprinzip des "terra nullius" gegolten, wonach der erste Okkupant der rechtmäßige Besitzer ist.
Da die Spanier jedoch auf bewohnte Gebiete trafen, mussten sie sich mit Menschen und Staaten auseinandersetzen, zu denen keine bestehenden Rechtsverhältnisse bestanden.
Diese Situation forderte die Primärkonstitution von Rechtlichkeit in den zwischenmenschlichen Beziehungen heraus.
Europäische Rechtskonstruktionen versuchten, Kolonisation zu rechtfertigen, indem sie den Kaiser oder Papst als Oberherr der Welt erklärten.
De Vitorias Einspruch:
De Vitoria argumentierte, dass die neu entdeckten Völker in Staaten leben, die staatliche Gewalt ausüben und diese Gewalt dem Naturrecht entspricht und von Gott kommt.
Europäische Mächte dürften nur dann Gewalt anwenden, wenn ihre Rechte von den indigenen Völkern verletzt würden (z.B. Verweigerung des Handels).
Neues Völkerrecht:
De Vitoria legte den Grundstein für ein neues Völkerrecht, das das alte "jus gentium" (das natürliche Recht, das sich bei allen Völkern zeigte) ablöste.
Das neue Völkerrecht regelte die Beziehungen zwischen den Völkern und führte zur Idee der nationalstaatlichen Souveränität.
Diese Beziehungen erforderten eine Rechtsförmigkeit, die aus dem Konsens aller Erdbewohner abgeleitet wurde.
Naturrecht als übergreifende Rechtsidee:
Naturrecht ermöglichte eine Rechtskommunikation auch in Verhältnissen ohne Souverän und ohne greifbare rechtliche Verbindlichkeiten.
Es argumentierte aus der Idee der stoischen "Kosmopolis" (Weltstaat) oder der thomanischen "communitas universi" (universelle Gemeinschaft) unter einem gemeinsamen Prinzip.
Auch ohne "lex humana" (menschliches Gesetz) konnte das Naturrecht minimalstandards wahren.
Neue "terra incognita":
Auch ohne neue Kontinente gibt es immer wieder unerschlossene Gebiete wie die Gentechnik und Biomedizin, wo Rechtsförmigkeit notwendig ist.
In Kriegsfällen wird das bestehende Recht oft durch das Recht des Stärkeren ersetzt. Naturrechtler wie Hugo Grotius zeigten, dass auch in solchen Situationen die Stimme des Rechts nicht verstummen sollte.
Hugo Grotius' Beitrag:
In "De jure belli ac pacis" (1625) definierte Grotius Bedingungen für den "gerechten Krieg" und betonte das "Recht im Krieg" (ius in bello), das inzwischen in internationalen Konventionen verankert ist.
Grotius argumentierte, dass Kriege nur zur Selbstverteidigung und zur Erhaltung des Rechtszustands gerechtfertigt sind.
Er betonte, dass Kriege auf einen Friedensschluss abzielen sollten, der keine neuen Kriegsgründe enthält.
Immanuel Kant:
Kant sah das Friedensgebot als naturrechtliches Prinzip und argumentierte für einen Völkerbund, der den Frieden sichert.
Er betonte, dass die Natur durch den "wechselseitigen Eigennutz" der Staaten auf friedliche Interessenausgleiche hinwirkt.
Kants Idee des "ewigen Friedens" ist, dass Staaten durch ihre Eigeninteressen gezwungen werden, ihre Beziehungen zu pazifizieren.
Entwicklung zum Vernunftrecht:
Das Naturrecht entwickelte sich zum Vernunftrecht, wobei Kant betonte, dass das Recht positiv und empirisch sein müsse.
Vernunftrecht basiert auf den Bedingungen, unter denen sich praktische Vernunft selbst erhalten kann.
Kants ethisches Prinzip, der kategorische Imperativ, wurde auf das Recht angewendet, um die Freiheit unter empirischen Bedingungen zu bewahren.
Vernunftrecht und Positives Recht:
Kant sah keinen Gegensatz zwischen überpositivem und positivem Recht, sondern eine Einheit.
Recht muss positiv (gesetzlich) werden, um praktisch wirksam zu sein.
19. Jahrhundert und der Positive Rechtsbegriff:
Im 19. Jahrhundert setzte sich ein rein positiver Rechtsbegriff durch, der die naturrechtlichen Grundlagen verdrängte.
Hans Kelsen betrachtete das Recht als eine abstrakte Sollensordnung, unabhängig von seinem Inhalt.
Diese Entwicklung verließ den Boden der europäischen Natur- und Vernunftrechtslehre.
Der Text beschreibt die historische Entwicklung des Naturrechts und seine Anwendung auf internationale Beziehungen und neue Herausforderungen.
Er erklärt, wie das Naturrecht sich zum Vernunftrecht entwickelte und die philosophischen Debatten, die zur modernen Rechtsauffassung führten.
Der Text zeigt die Bedeutung des Naturrechts in der rechtlichen Anerkennung zwischen Staaten und in Situationen ohne bestehende Rechtsverhältnisse.
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