Gerichte als politische Akteure
Rechtsstaatlichkeit stellt sicher, dass Entscheidungen politischer Entscheidungsträger der Kontrolle unabhängiger Gerichte unterstellt sind
Aber: richterliche Entscheidungen des Gerichtshofs immer auch in einem politischen Kontext zu sehen (Sichtweise Supranationalismus bzw. Institutionalismus):
Europäischer Gerichtshof
• Ein/e Richter_in pro Mitgliedsstaat
• Ernannt durch einstimmigen Beschluss der Regierungen für 6 Jahre (Wiederernennung möglich); alle drei Jahre Hälfte der Richter neu ernannt
• Unabhängig
• Generalanwält_innen machen nach mündlicher
Verhandlung Vorschlag für ein Urteil
• Entscheidungen mit einfacher Mehrheit: abweichende Meinungen werden nicht aufgezeichnet
Durchsetzung von EU Recht und Implementierung
• Mitgliedsstaaten sind für korrekte Umsetzung von EU Richtlinien verantwortlich.
• Kommission überwacht die Umsetzung von EU Recht (als Hüterin der Verträge).
• Möglichkeit eines „Vertragsverletzungsverfahrens“: Kommission im Zusammenspiel mit Gerichtshof
Mögliche Probleme bei Umsetzung von EU Richtlinien
•Fehlende Mitteilung des Mitgliedsstaates
•Unvollständige oder inkorrekte Umsetzung in nationales Recht
•Inkorrekte Implementierung nationaler Gesetzgebung
Vertragsverletzungsgefahr
Vertragsverletzung
• Kommission schickt Deutschland 2014 eine begründete Stellungnahme: keine ausreichende Umweltprüfung, dadurch Verletzung der Fauna-Flora-Habitat Richtlinie zum Naturschutz.
• Problem: Mit Nutzung von Elbwasser zur Kühlung wurden auch bedrohte Fischarten getötet.
• Deutschland weigerte sich, alternative Kühlungsprozesse zu prüfen (Kühltürme statt Elbwasser).
• Vertragsverletzungsverfahren: Kommission verklagt Deutschland vor dem EuGH.
Mögliche Gründe für inkorrekte Umsetzung
• Ineffizienz nationaler Bürokratie?
• Aber: Vertragsverletzungsverfahren erfolgen erst nach Prüfung durch Kommission. Ermessensspielraum. Strategisches Verhalten der Kommission und des Gerichtshofs gegenüber bestimmten Mitgliedsländern?
• Institutionalismus: Supranationale Akteure berücksichtigen Präferenzen der Mitgliedsländer
• Schwieriger für Kommission und für Gerichtshof gegen einzelne Mitgliedsstaaten zu entscheiden, wenn alle anderen MS diesen unterstützen
Rechtskontrolle der Tätigkeit der EU Organe
• Nichtigkeitsklage: Kläger beantragt Nichtigerklärung einer Handlung eines EU Organs
• Klagen können von den Mitgliedstaaten, den Organen selbst und von jeder natürlichen oder juristischen Person erhoben werden
Auslegung des Rechts: Vorabentscheidungsverfahren
• Wichtigstes Verfahren vor dem EuGH: Mehrheit der Urteile des EuGH
• Nationale Gerichte haben die Möglichkeit, dem EuGH direkt (z.B. an den nationalen Verfassungsgerichten vorbei) Fragen zur Vereinbarkeit von nationalem Recht mit europäischem Recht vorzulegen
Auswirkungen von Vorabentscheidungsverfahren
• In der Praxis sind die Vorabentscheidungen sehr spezifisch und werden umgesetzt: regionale Gerichte können sich so national profilieren
• Signifikant für die Entwicklung von EU Recht und Konstitutionalisierung der EU (mehr als internationale Organisation)
Konstitutionalisierung der EU durch rechtliche Entscheidungen
1.Unmittelbare Anwendbarkeit
• Van Gend en Loos gegen die Steuerbehörden der Niederlande.
• Das Unternehmen wollte Formaldehyd aus Westdeutschland einführen und wurde mit einem Einfuhrzoll belegt.
• Das Unternehmen sah einen Verstoß gegen den Vertrag von Rom, aber die Steuerbehörde argumentierte, dass der Vertrag von Rom keine individuellen Rechte für Personen oder Unternehmen vorsehen.
• Das mit den Fällen befasste nationale Gericht ersuchte den EuGH um eine Entscheidung, und der EuGH stellte eindeutig fest, dass die Verträge den Bürgern und Unternehmen sehr wohl direkte Rechte verleihen.
2.Vorrang von EU Recht
• Der italienische Staatsbürger Herr Costa besaß Aktien eines Elektrounternehmens Edisonvolta, das später verstaatlicht wurde. Der Fall ist als Costa vs ENEL bekannt.
• Herr Costa, der die Verstaatlichung von Unternehmen ablehnte, argumentierte vor einem italienischen Gericht, dass dies gegen den Vertrag von Rom verstoße. Das italienische Verfassungsgericht argumentierte, dass sich Herr Costa nicht auf den Vertrag von Rom berufen könne, da dieser zeitlich vor dem Gesetz zur Verstaatlichung liegt.
• Der EuGH entscheidet:
• DerVertragvonRomerlaubteseinzelnenBürgernnicht, gegen die Verstaatlichung des Energiesektors zu klagen, dies kann nur die Kommission tun. ABER
• DerVertragvonRomhätteVorrangvordem italienischen Recht gehabt, auch wenn dieses nach dem Vertrag verfasst wurde.
Bedeutung für die EU Integration
• Die unmittelbare Wirkung und der Vorrang des EU-Rechts sind die Grundpfeiler der EU-Rechtsstruktur. Sie sind jedoch nicht in den Verträgen verankert.
• Sie verwandelten eine internationale Organisation in ein föderales politisches System.
• Aus dem Urteil des EuGH:
"Aus all diesen Erwägungen folgt, dass das aus dem Vertrag stammende Recht, eine eigenständige Rechtsquelle, wegen seines besonderen und originären Charakters nicht durch innerstaatliche Rechtsvorschriften, wie auch immer sie ausgestaltet sein mögen, außer Kraft gesetzt werden kann, ohne dass es seinen Charakter als Gemeinschaftsrecht verliert und ohne dass die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt wird."
Politikwissenschaftliche Erklärungsansätze für EuGH
= Intergouvernementalismus, Supranationalismus, Institutionalismus
Intergouvernementalismus: Gerichtshof als Agent der Mitgliedsstaaten
• MS akzeptieren Urteile, so lange diese in ihrem politischen und wirtschaftlichen Interesse sind
• Beispiel: Deutschland akzeptiert Cassis de Dijon Urteil (Verwirklichung des Binnenmarktes schreitet voran, obwohl ein kleiner Sektor der Wirtschaft negativ vom Urteil betroffen ist)
• MS ignorieren Urteile, die nicht ihren Interessen entsprechen
Supranationalismus: Gerichtshof als Motor der Integration
• Gerichtshof muss sich auf pro-europäische Kläger verlassen (z.B. multinationale Firmen)
• Subnationale Gerichte als Alliierte des Gerichtshofs: Vorabentscheidungsverfahren um eigene Rolle im nationalen politischen Prozess zu stärken
• Aber: keine konsistente pro-europäischen Urteile
Institutionalismus: Aktivismus des Gerichtshof
Prinzipal-Agenten Logik.
Gerichtshof sollte mehr Handlungsspielraum haben, wenn Mitgliedsstaaten selbst im Rat blockiert sind (viele Vetospieler, Konflikte zwischen den Mitgliedsstaaten, Einstimmigkeit).
Krise der europäischen Rechtsordnung?
Wer entscheidet über die Grenzen der Kompetenz der EU?
Zum ersten Mal wurde eine Handlung einer EU Institution (EZB) vom Bundesverfassungsgericht für nichtig, aber vom EuGH für legal erklärt
BVerfG behauptet, dass jede Handlung, die seiner Ansicht nach außerhalb der Zuständigkeit der EU (ultra vires) liegt, als in Deutschland nicht anwendbar erachtet werden kann
Problem: keine europäische Rechtsordnung, wenn alle nationalen Gerichte EU Entscheidungen für nichtig erklären können
Wie könnten Mitgliedsstaaten stattdessen reagieren?
Nationale Gerichte könnten an eigenes Mitgliedsland appellieren, im Rahmen des EU Gesetzgebungsprozess darauf hinzuwirken das betreffende EU Gesetz zu ändern
Nationale Verfassungen anpassen Exit
Entscheidung könnte andere nationale Gerichte dazu ermutigen, Autorität des EuGH anzufechten (Polen? Ungarn?)
Fazit
• Drei wichtige Verfahren vor dem EuGH: Vertragsverletzungsverfahren, Rechtskontrolle, Vorabentscheidungsverfahren
• Vor allem Vorabentscheidungsverfahren entscheidend für Entwicklung der EU hinzu politischem System: Etablierung von unmittelbarer Anwendbarkeit (van Gend en Loos) und Vorrang von EU Recht (Costa vs ENEL).
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