Wo können Sozialpsychologen beitragen?
Allgemein:
· Methoden zur Wirksamkeitsüberprüfung von Interventionen
· Campaigning für Ökologie oder Gesundheit: Methoden des wirksamen sozialen Einflusses
- Rolle sozialer Normen
- Naive Annahmen über sinnvolle Programme kritisch prüfen
· Gruppenprozesse optimieren
forensische Fragestellungen:
· Modelle sozialen Gedächtnisses und Schemata anwenden auf Forschung zu Augenzeugenberichten & Geständnissen
· Grundlagenforschung zu emotionalen, peripherphysiologischen und psychologischen Prozessen beim Lügen nutzbar machen zur Lügendetektion
Fehlerquellen des Augenzeugenberichts
1) Inakkurate Enkodierung der Information – verzerrte Wahrnehmung
- Ignorieren unerwarteter, schemainkonsistenter Information
-> das Gedächtnis funktioniert nicht wie ein unabhängiger, neutraler Speicher, der genau das wiedergibt, was erlebt wurde -> es funktioniert vielmehr sozial und rekonstruktiv
2) Probleme der Speicherung, schemakonsistente Veränderung gespeicherter Informationen
- Suggestive Vorbefragungen
-> Suggestivfragen: Fragen, die einen Sachverhalt schon unterstellen; Bsp.: „Wie schnell war Hr. Egloff, als er mit geklautem Geld aus der Bank gerannt ist?“
3) Inakkurate Dekodierung, Einflüsse beim Abruf
- Suggestivfragen
- Quellenkonfusion
4 Fehlerquellen bei der Wahrnehmung
· Schlechte Wahrnehmungsbedingungen
· Selektive und verzerrte Wahrnehmung (z.B. Stereotype, Erwartungen)
· Own-Race Bias (bessere Erkennungsleistung bei der eigenen Ethnizität)
-> perzeptuelle Expertise
· Waffenfokus
-> Gesicht desjenigen, der die Waffe gehalten hat, ist schwieriger zu erinnern als die Waffe
Erkennung von Gesichtern
Stereotypkonsistente Wahrnehmung
· Weapon-Identification-Task (Payne, 2001)
- Werkzeug oder Waffe? (Zuordnungsaufgabe)
-> höhere Wahrscheinlichkeit bei Priming mit schwarzem Gesicht, das Werkzeug für eine Waffe zu halten
-> die Gesichter aktivieren einen Stereotyp (Dinge werden stereotyp umgedeutet)
Waffenfokus
· Vorsicht: nicht verwechseln mit Waffeneffekt der Aggressionsforschung (Waffen als aggressive Hinweisreize: Berkowitz & LePage, 1974)
· Bei Bedrohungssituationen, in denen eine Waffe zur Anwendung kommt, zeigen die Opfer anschließend sehr schlechte Identifikationsleistungen bezüglich des Gesichts des Täters. Details der Waffe und der Hand werden hingegen sehr genau erinnert.
- Loftus, Loftus & Messo (1987): Darbietung über Dias
- Cutler, Penrod & Martens (1987): Darbietung per Video
- Maass & Köhnken (1989): Echte Bedrohungssituation: Spritze
Gedächtnis ist rekonstruktiv und sozial
· Rekonstruktives Gedächtnis
· Eine Erinnerung ist nie eine exakte Wiedergabe der Ereignisse, sondern eine Rekonstruktion.
· Erinnerungslücken werden mit plausiblen oder allgemein gespeicherten Informationen gefüllt. Hier können irreführende oder suggestive Fragen die Erinnerung verformen (z.B. Loftus et al., 1978)
· Quelle von veränderten Gedächtnisinhalten
· Rekonstruktives Gedächtnis ist ein inhärent soziales Gedächtnis, weil es häufig andere Menschen sind, die im Rahmen von Befragungen oder Therapien unser Gedächtnis verändern
- Therapiesitzungen sind ideale Bedingungen, um Gedächtnisinhalten zu verändern
Elizabeth Loftus
· Fragen und falsche Informationen führen zu verzerrten Erinnerungen oder sogar „Erinnerungen“ an nie erlebte Ereignisse
Loftus & Palmer, 1974
Loftus, Miller, & Burns, 1978
Stop- und Vorfahrt gewähren-Schild
-> Fehlantworten
- UV1: Stop-Schild
- UV2: Vorfahrt gewähren-Schild
-> Suggestivfragen
- 50% wäre geraten
- 75% korrekte Angaben ohne Fehlinformation sind ziemlich wenig -> Was kann man überhaupt von Zeugen erwarten?
- mit Fehlinformation: Orientierung an der Frage (und weniger an der eigentlichen Erinnerung)
Exkurs: Recovered Memories
- E. Loftus ist als Sachverständige aufgetreten: Kann es falsche Erinnerungen geben?
Problem von „aufgedeckten“ Erinnerungen
· Therapiesetting erfüllt alle Merkmale, die als Risikofaktoren für suggestive Falscherinnerungen identifiziert wurden
- Belohnung von Falschaussagen (Aufmerksamkeit)
- Therapie als Sinnsuche – Attribution auf vergangenen Missbrauch liefert schlüssige Erklärung für Leiden auslösendes „So-Sein“
- Aktive Ermunterung von Konfabulationen (freies Assoziieren, Traumdeutung,…)
-> freies Assoziieren: Zensur im Kopf ausschalten
-> starke Aktivierung von Inhalten visueller Art
Empirischer Beitrag von Loftus
Lost-in-the-Mall-Study
· Erinnerungen können implementiert werden durch Suggestivfragen
· Lost-in-the-Mall-Studie
- Probanden werden zu ihrer Kindheit befragt und mit tatsächlich Geschehenem konfrontiert, sowie der (falschen) Aussage, sie seien als Kind verloren gegangen
- Befund: Probanden erinnern sich lebhaft an Ereignis
· Kritik:
- Unethisch
- jedes Kind war mal in der Mall verloren (-> interne Validität: die Eltern erinnern sich vielleicht nur nicht)
Replik auf Kritiker
1) Unmögliche Ereignisse (z.B. Spanos et al., 1999)
-> Bugs Bunny (Warner Brothers) in Disneyland
2) Besonders bizarre Ereignisse (z.B. Berkowitz et al., 2008)
-> von Lupo abgeschleckt werden
3) Experimentelle Erzeugung verhaltensrelevanter „Erinnerungen“ (z.B. Bernstein & Loftus, 2009)
-> Bsp.: falsche Erinnerung implementieren, dass Proband sich als Kind von Erdbeeren übergeben hat und beobacheten, inwiedern er/sie später Erdbeeren meiden (Buffet)
Erkenntnistheoretisches Problem
Zuverlässigkeit von Augenzeugen
· Probleme
1. Augenzeugenberichten wird von der Polizei und vor Gericht viel Gewicht beigemessen
2. Augenzeugenberichte sind eher unzuverlässig
3. Die subjektive Sicherheit von Augenzeugenberichten zeigt nur einen sehr schwachen Zusammenhang mit ihrer Zuverlässigkeit
- insgesamt (r ~ .20)
- Personenerkennung bei Gegenüberstellungen (r ~ .25)
- aber: Korrelation ist umso höher, je leichter die Frage
Zuverlässigkeit von Gegenüberstellungen
· Identifizierungen bei Gegenüberstellungen sind genauer wenn sie schnell (innerhalb von 10-12s) erfolgen
- Abgleich mit Erinnerung schneller, wenn eine Person im line-up übereinstimmt
- Aber: idealer cut-off variiert stark über Studien
- Korrekte Nichterkennung nicht schneller als inkorrekte Erkennung aufgrund schwacher Erinnerung
- Bei hoher Erkennungsgeschwindigkeit und Erkennungssicherheit kann Genauigkeit der Identifizierung bis 90% betragen
-> je schneller, desto genauer
Methodische Probleme von Identifizierungen (Busey & Loftus, 2007)
· Unähnliche Personen reduzieren die funktionale Anzahl von „Füllitems“ (Statisten)
· In Helligkeit, Größe oder Gesichtsausdruck abweichende Fotos suggerieren, dass es sich um den Schuldigen handelt
· Beeinflussung durch den Untersucher, wenn der Beschuldigte bekannt ist, z.B. Nicken
· Unbewusste Übertragung: Zeuge erkennt Verdächtigen wieder, der aber nicht am Tatort gesehen wurde
-> Quellengedächntiskonfusion (man hat jmd. woanders als am Tatort gesehen)
Falsche Identifizierungen
· Relative Judgement Theory:
- Wenn der Verdächtige bei der Gegenüberstellung nicht anwesend ist, wird die nächst-ähnliche „Füllperson“ gewählt
· Untersuchung von Wells (1993)
- 54% Zeugen, die den anwesenden Schuldigen erkannt hätten, wählen Füller, wenn der Schuldige nicht im line-up war
- 21% keine Identifizierung bei Anwesenheit des Schuldigen stieg nur auf 32% bei Abwesenheit
Verbesserung von Gegenüberstellungen
Empfehlungen von Wells et al. (1998)
· Untersucher weiß nicht, wer der Verdächtige ist (Doppelblind-Versuch)
· Dem Zeugen wird gesagt, dass der Untersucher nicht weiß, wer der Verdächtige ist
· Die „Füller“ haben keine hervorstechenden Merkmale und entsprechen gleich stark der Beschreibung von Tatzeugen
· Klare Erfassung der Entscheidung durch den Zeugen vor feedback
1. Sequenzielle Gegenüberstellung
- es wird nacheinander immer nur eine Person gezeigt
2. Dual Line-up
- 1. Line-up ohne und 2. Line-up mit Verdächtigem
-> alle, die meinen, im 1. Line-up schon den Verdächtigen zu erkennen, fliegen direkt raus
-> in Wells Studie blieben 31% der Zeugen für das 2. Line-up übrig
3. Sequenzielle Gegenüberstellung per Video
- adäquatere Auswahl von Füllern (o. Distraktoren)
- billiger und logistisch einfacher
Relevanz inkorrekter Augenzeugenberichte
The innocence project
· Seit 1992, 349 (heute wahrscheinlich ca. 400) Fälle von fälschlich Verurteilten, deren Unschuld später zweifelsfrei durch DNA-Evidenz nachgewiesen wurde
· 70% Angehörige ethnischer Minderheiten (vor allem African-Americans)
Gründe für falsche Verurteilungen
Verwirrend: Falsche Geständnisse
· Das Ziel polizeilicher Verhöre ist ein Geständnis
· In GB gestehen etwa 60% aller Verdächtigen im Polizeiverhör
· Falsche Geständnisse entstehen
- spontan
- auf Druck/Wunsch von Dritten (z.B. Bandenmitglieder)
- durch Verhörtechniken der Polizei
Typen von Geständnissen
Kassin & Kiechel (1996)
· Freiwillig falsches Geständnis
- Verdächtiger ist persönlich motiviert, ohne Druck von außen
· Falsches Geständnis auf Grund von Zwang (Coerced-compliant false confession)
- Verdächtiger gesteht, um stressvoller Situation zu entgehen, sich angebotene Vorteile zu sichern, oder angedrohte negative Konsequenzen des Nicht-Gestehens zu vermeiden
· Erzwungen-internalisiertes falsches Geständnis
- Verdächtiger wird von der Polizei überzeugt, die Tat begangen zu haben, obwohl er sich nicht daran erinnert
Falsche Geständnisse im Labor
Experiment von Kassin & Kiechel (1996)
· Vp tippt Zahlen auf PC, wird instruiert nicht die ALT-Taste zu drücken. PC hängt sich auf, Vp wird beschuldigt, ALT-Taste gedrückt zu haben (was nicht stimmt)
· Unabhängige Variablen
- hohe/niedrige Diktiergeschwindigkeit
-> bestimmt, wie gut die Probanden es mitbekommen haben können, die ALT-Taste gedrückt zu haben
- Zeuge bestätigt/bestätigt nicht Drücken der ALT-Taste
· Abhängige Variablen
- „Gestehen“ der Tat durch Unterschrift (compliance)
- Glaube, die Tat wirklich begangen zu haben (internalization)
- Konfabulieren von Einzelheiten zur Tat (confabulation)
-> Details dazuerfinden
Ergebnisse von Kassin & Kiechel (1996)
- Strafe: 20$ VP-Geld verlieren
Können wir Lügner entdecken? a) Pinocchio-Modell
- Veränderungen an der Physiologie
b) Das Stress/Emotions-Modell
c) das Kognitions-Modell
- es fehlt an kognitiver Kapazität, um das Verhalten zu kontrollieren
Analyse des Verhaltens
· Wie untersucht man diese Frage empirisch?
- 10-30 Videoaufnahmen von Personen die Lügen oder die Wahrheit sagen
- Probanden entscheiden, ob Wahrheit oder Lüge
-> Ergebnis über viele Studien hinweg: 54% Treffer (kaum über Ratewahrscheinlichkeit) -> trotzdem signifikant von 50% unterschieden
· Können Polizisten Lügner identifizieren?
- Nicht besser als Laien, auf Zufallsniveau
- Polizisten überschätzen ihre Fähigkeit Lügen zu erkennen
· Kritik: Bei Laborexperimenten gibt es keine negativen Konsequenzen, wenn man als Lügner ertappt wird
Realistische Studie mit Polizisten
· Studie von Vrij & Mann (2001)
- Untersuchungen von Pressekonferenzen in GB, in denen Angehörige um Hilfe bei der Suche nach vermissten Personen bitten
- Angehörige wurden später selber als Mörder überführt oder nicht
· Ergebnis: holländische Polizisten konnten Lügner nicht erkennen (50% Treffer) -> exakt auf Zufallsniveau
· Vielleicht achten Probanden nicht auf die richtigen Verhaltensmerkmale
· Gibt es Verhaltensmerkmale, die intentionale Lügen von wahren Aussagen unterscheiden?
Verhaltensmerkmale der Täuschung
· Meta-analysen (z.B. Vrij, 2000; Sporer & Schwandt, 2006; Zuckerman & Driver, 1985)
- wenig Evidenz für Verhaltensindikatoren von Täuschung
- Widersprüchliche Befunde
- geringe Effektstärken
-> Ergebnisse sprechen gegen Pinocchio-Modell
· Aber:
- Gibt es Experten (wegen der 54%), die Täuschung doch im Verhalten erkennen können?
Gibt es echte Experten für die Erkennung von Täuschung?
Polygraphie („Lügendetektion“)
· Nutzung periphärphysiologischer Erregungsmuster (Hautleitfähigkeit, Herzrate, Blutdruck, Atemfrequenz, etc.)
· Zwei wichtige Verfahren
- Kontrollfragentechnik
- Tatwissenstechnik
Kontrollfragentechnik
· Verfahren zielt auf direkte Überprüfung der Verneinung des Tatvorwurfs durch den Beschuldigten
· Vorgabe von mindestens drei Paare von unspezifischen Kontrollfragen und konkret auf den Tatvorwurf gerichtete relevante Fragen
· Annahme: unschuldige Personen reagieren physiologisch stärker auf die Lügen evozierende Kontrollfragen, schuldige Personen stärker auf relevante Fragen
· Diagnose: Täuschung, keine Täuschung, unentscheidbar
· Physiologisches Aktivierungssystem: Defensivreaktion
Empirische Bewährung und Kritik der KFT
- Unhaltbarkeit der Grundannahmen des Verfahrens
- Völliges Fehlen einer psychologischen Theorie (psychodiagnostisch, physiologisch, etc.)
- Hohe Trefferquote bei Schuldigen, aber viele Unschuldige werden zu Unrecht für schuldig gehalten (falsch positive)
- Schwere methodische Mängel der Validierungsstudien (insbesondere Unterschätzung falsch negativer und falsch positiver Diagnosen bei Verwendung von Geständnissen als Validierungskriterium)
Tatwissenstechnik
· Verfahren zielt auf indirekte Überprüfung ob der Proband als Täter in Frage kommt
· Annahme: Täter besitzt spezifisches Wissen über den Tatort und die Umstände der Tat, Unschuldige nicht
· Proband wird mit einer Reihe von Items konfrontiert, die für den Unbeteiligten gleichwertig sind. Für den Täter sind jedoch tatbezogene Stimuli herausgehoben („Welche Farbe hatte die Unterwäsche des Vergewaltigungsopfers
- a) gelb, b) blau, c) weiss, d) schwarz, e) rot, f) grau?“)
· Wenn Proband bei mehreren Fragen systematisch auf tatbezogene Stimuli reagiert, sinkt die Zufallswahrscheinlichkeit positiver Reaktionen sehr schnell (bei 5 Fragen mit 5 Antworten weit unter 0,1%)
· Physiologisches Aktivierungssystem: Orientierungsreaktion
Empirische Bewährung und Kritik der TWT
· Empirische Bewährung und Kritik
- Hohe Trefferquote bei Unschuldigen
- Aber niedrigere Trefferquote bei Schuldigen (wenige Studien)
- Aber viele kritische Argumente gegen Kontrollfragetechnik gelten auch hier (Bias bei Validierungsstudien, Verzerrung; z.B. Fiedler, 2003)
Überblick der Fehlerarten
Aktuelle Rechtsprechung zur Polygraphie
· Grundsatzurteil des BGH 1998 (gestützt auf mehrere psychologische Sachverständige) stellt fest, dass die Kontrollfragentechnik und der Tatwissenstest unzulässige Beweismittel im Hauptverfahren darstellen.
-> Angeklagte erhalten in DE volle Transparenz im Bezug auf die Informationen zur Tat, was den Tatwissentest unbrauchbar macht
· Tatwissenstest könnte aber z.B. bei der polizeilichen Ermittlung verwendet werden
- (wird allerdings in D kaum angewendet (aber in Japan))
Fazit
· Menschliche Wahrnehmung ist selektiv und verzerrt, menschliches Gedächtnis kein passiver Speicher des Wahrgenommenen
· Subjektiv eindeutige Erinnerungen müssen nicht erlebnisbasiert sein
· Die Identifikation von Verdächtigen durch Augenzeugen ist fehleranfällig, wird aber belastbarer mit Implementation, die Einflüsse des Durchführers und des Ratens minimiert
· Auch Geständnisse können falsch sein
· Beschuldigte selber liefern auch nur unzureichend Informationen, Lügen an sich sind nicht zu erkennen, die Peripherphysiologie liefern zwar valide Ergebnisse, ist aber aus verschiedenen Gründen umstritten und NICHT vor Gericht zugelassen
„Es gibt nichts Praktischeres als eine gute Theorie“ (Kurt Lewin, Kant, Leibniz, Einstein, Todor Karman)
- Theorien befähigen zur Erklärung allgemeiner Gesetzmäßigkeiten
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