Die Sozialpolitik mit ihren unterschiedlichen Regelungsfeldern (u. a. Verteilung von Einkommen und Vermögen, soziale Grundsicherung, Arbeitsmarkt und Beschäftigung, Gesundheit, Pflege, Familie, Alterssicherung) ist seit dem 19. Jahrhundert ein zentraler Tätigkeitsbereich des modernen Nationalstaates.
Dieser greift als Sozial- oder Wohlfahrtsstaat mit Instrumenten der regulativen sowie prozessorientiert regulierenden, (re-) distributiven und informationellen Politik ordnend, ausgleichend und steuernd in marktwirtschaftliche und gesellschaftliche Interaktion ein. Im Einzelnen zählen zu den spezifisch sozialpolitischen Instrumenten dabei: formale Regeln (gesetzliche Ge- und Verbote, formale soziale Rechte); finanzielle Leistungen (individuelle soziale Transferleistungen, Investitionen, z. B. in soziale Infrastruktur); Sachleistungen und soziale Dienstleistungen, die im regulativ festgelegten Bedarfsfall die soziale Situation von Einzelnen oder Gruppen verbessern sollen; staatliche Rahmenregelungen zur Organisation der Selbstverwaltung in einzelnen sozialpolitischen Feldern (z. B. Arbeitsmarktpolitik, Gesundheitspolitik); statistische Erhebungen, Berichtssysteme, Informations- und Aufklärungskampagnen mit dem Ziel, über soziale und gesundheitliche Risiken aufzuklären und zu individuellem oder kollektivem Präventionsverhalten anzuregen
Mit Hilfe dieser Mittel trifft die Sozialpolitik Maßnahmen, um den Schutz des Einzelnen oder gesellschaftlicher Gruppen vor bestimmten Lebensrisiken (Krankheit, Alter, Pflegebedürftigkeit etc.) zu gewährleisten, um die „Beschäftigungsfähigkeit“ und die „qualifikatorische Leistungsfähigkeit“ der Bevölkerung zu erhalten und zu fördern, um den „sozialen Frieden“ zu sichern (ebd.: 49) und um die soziale Integrationsfähigkeit der Gesellschaft zu erhalten und zu verbessern
In Deutschland nahm die staatliche Sozialpolitik, anknüpfend an die bis ins Mittelalter zurückreichenden Ansätze der überwiegend kirchlich und teils städtisch organisierten Hilfe für Bedürftige und Kranke, ihren Anfang im Kaiserreich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Hier stellen die Bismarcksche Sozialgesetzgebung und der Erlass des Gesetzes betreffend die Errichtung der Krankenversicherung für Arbeiter im Juni 1883 den Anfangspunkt dar. Die Weimarer Republik baute den Sozialstaat aus (z. B. durch Errichtung der Arbeitslosenversicherung 1927), nachdem bereits 1913 , noch zu Zeiten des Kaiserreichs, mit der Reichsversicherungsordnung (RVO) erstmals eine einheitliche gesetzliche Grundlage für das Tätigwerden des Sozialstaates auf unterschiedlichen Feldern (gesetzliche Kranken-, Unfall-, Rentenversicherung) geschaffen worden war. In der Bundesrepublik Deutschland bildete die Sozialpolitik von Beginn an einen zentralen staatlichen Tätigkeitsbereich. Die Mütter und Väter des Grundgesetzes schrieben die Sozialstaatlichkeit in Art. 20 (in Verbindung mit Art. 79 Abs. 3 GG) und Art. 28 als ein grundlegendes, unabänderliches Strukturprinzip fest.
Verwaltungsorganisatorisch schlug sich dies etwa darin nieder, dass die Sozialpolitik (meist in enger ausdrücklicher Verknüpfung mit ihrem Kerneingriffsfeld „Arbeit“) auf der Bundesebene vom Bestehen der Bundesrepublik an ein fester Bestandteil der staatlichen Ministerialbürokratie war
Im ersten Kabinett von Bundeskanzler Konrad Adenauer (CDU) waren ab 1949 zwei Ministerien für sozialpolitische Aufgaben zuständig (das Bundesministerium für Arbeit und das Bundesministerium für Wohnungsbau). Ein namentlich für „Soziales“ zuständiges Bundesministerium existiert seit 1957, zunächst als „Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung“, zwischenzeitlich (von 2002 bis 2005) als „Bundesministerium für Gesundheit und Soziale Sicherung“ und seit 2005 wiederum als „Bundesministerium für Arbeit und Soziales“. Außerdem zählten ab 1953 bis heute auch die Bereiche „Familie“ und „Gesundheit“ regelmäßig zu den ausdrücklichen Aufgabenbereichen der Bundeskabinette
Die Politikfeldanalyse ist eine vergleichsweise junge Teildisziplin der Politikwissenschaft, deren Wurzeln in der US-amerikanischen Policy-Forschung (Public Policy, Policy Analysis) liegen. Ihr Interesse gilt nicht vorrangig dem politischen Institutionensystem und politischen Strukturen (Polity). Auch gilt es nicht den Interaktionsprozessen zwischen politischen Akteuren (Politics). Vielmehr stellt die Politikfeldanalyse die Inhalte von Politik (Policies) in den Mittelpunkt wissenschaftlicher Untersuchung. Der Blick richtet sich zuallererst auf das materiell-inhaltliche Ergebnis (Output) politischer Entscheidungen, etwa in Form von Gesetzen oder Regelungen eines bestimmten Sachverhalts oder einer bestimmten Materie, wie z. B. die soziale Grundsicherung. Darüber hinaus blickt die Politikfeldanalyse auch auf die Wirkungen (Outcome) von Policies, z. B. darauf, ob bestimmte gesetzliche Regelungen oder Maßnahmen die (Re-) Integration von Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt verbessern. In den Worten eines der Begründer der Policy-Forschung, Thomas Dye, geht es darum, zu analysieren, „what governments do, why they do it, and what difference it makes“
Für die Policy-Forschung ist Wandel seither zu einem zentralen Untersuchungsgegenstand geworden, und dies gilt ganz besonders für die (vergleichende) Sozialpolitikforschung. Hier ist das Phänomen des Wandels mittlerweile angesichts des Um- oder auch des Rückbaus („rentrenchment“) des Wohlfahrtsstaates in praktisch allen „wohlhabenden“ („affluent“) westlichen Demokratien seit Ende der 1970er Jahre zum vorrangigen Erklärungsobjekt politikfeldanalytischer Studien erhoben worden
Grundsätzlich ist jede politische Entscheidung mit Wandel verbunden, insofern, als sie einen Zustand ohne Regelung beendet oder wieder herstellt, oder eine bestehende Regelung (manchmal auch nur symbolisch) inhaltlich verändert. Für die Untersuchung von Policy-Wandel ist diese Feststellung allerdings weder theoretisch noch analytischpraktisch befriedigend. Dabei ist gerade in der (vergleichenden) Wohlfahrtsstaats- und Sozialpolitikforschung bislang kontrovers, welches Phänomen genau eigentlich untersucht und erklärt werden soll, wenn es um „Wandel“ geht:
Einsparungen bei den Staats- und damit auch Sozialstaatsausgaben („cost containment“)?
Der Abbau bestimmter wohlfahrtsstaatlicher Leistungen und die Erhöhung des Drucks zur Erwerbsarbeit auf den Einzelnen („recommodification“)?
Die Veränderung bestimmter Instrumente wohlfahrtsstaatlicher Politik (sozialstaatliche Programme, finanzielle Transferleistungen etc.) im Lichte neuer sozialpolitischer Anforderungen („recalibration“)?
Die Etablierung völlig neuer Policies und Instrumente in Reaktion auf „neue soziale Risiken“ oder Herausforderungen des Wohlfahrtsstaates, wie z. B. ‚neue Armut‘ oder das gewandelte Bild der Familie oder gewandelte Geschlechterrollen?
Das Aufkommen neuer oder veränderter Ideen, z. B. ein neues Solidaritätsverständnis oder die Idee von mehr Eigenverantwortung des Einzelnen für seine soziale Lage?
Das Aufkommen eines neuen Verständnisses des Wohlfahrtsstaates, z. B. die Vorstellung, dass dieser nicht mehr vorwiegend auf soziale Risiken reagiert und soziale Rechte etabliert sowie durchsetzt, sondern in die Gesellschaft „investiert“, die Einzelnen „aktiviert“ und dabei gesellschaftliche Interaktion und privates Handeln reguliert? - Die Veränderung des „Wohlfahrtsmix“ i. S. der Übertragung von sozialstaatlichen Aufgaben an private, d. h. gemeinnützige oder kommerzielle Aufgabenträger?
Um sich dem Phänomen des Policy-Wandels in der Sozialpolitik als vielgestaltige abhängige Variable anzunähern ist es hilfreich, einen Blick auf entsprechende Analyse-Konzepte und Modelle der Politikfeldanalyse zu werfen. Seit Beginn der 1990er Jahre hat sich diese intensiver mit dem Phänomen auseinandergesetzt und dabei unterschiedliche Aspekte in den Vordergrund gerückt: - erstens die Eigenschaft von Policy-Wandel als Ergebnis politischer Entscheidungen und die Einstufung als mehr oder weniger radikal i.S. der Veränderung von Inhalten, Instrumenten und Zielen (Hall 1993), - zweitens den Charakter von Wandel als (plötzlichem, schlagartigem) Ereignis oder aber als (zeitlich gestrecktem) Prozess, und - drittens die Reichweite insbesondere auch von sozialpolitischen Reformentscheidungen, die von der endogenen Anpassung bestimmter einzelner Policies, z. B. familienpolitische Veränderungen aufgrund einer bestimmten Reform, bis hin zur strukturellen „Transformation“ des Wohlfahrtsstaates insgesamt reichen kann
Typologie des Wandels bei Peter Hall:
Die Frage, ab wann von radikalem Policy-Wandel die Rede sein kann und womit sich dieser erklären lässt, hat ab Beginn der 1990er Jahre insbesondere Peter Hall beschäftigt. In seinem Aufsatz „Policy Paradigms, Social Learning, and the State“ hat er 1993 drei Grundformen von Wandel unterschieden, auf die Politikfeldanalytiker auch heute noch häufig zurückgreifen:
erstens die inhaltliche Modifizierung oder Variation von bestimmten Regelungen im Hinblick auf bestimmte (Regelungs- oder Leistungs-) Niveaus als schwächste Form von Policy-Wandel (First Order Change),
zweitens das Aufstellen neuer Regeln und damit verbunden die Einführung neuer Politikinstrumente, oder aber das Austauschen von bestimmten Instrumenten (z. B. gesetzlichen Regelungen, finanziellen Leistungen oder Anreizen, prozeduralen Vorgaben für Akteure) durch andere (Second Order Change), und
drittens die Veränderung der grundlegenden Ideen und Leitbilder oder „Paradigmen“ zur Orientierung einer bestimmten Politik auf ein übergeordnetes Ziel (z. B. der Übergang zur Förderung privater Vorsorge fürs Alter anstelle des Ausbaus der öffentlichen Sicherungssysteme, um private anstelle von öffentlicher Sicherung zu erreichen) und damit verbunden die Neuordnung der zur Verfügung stehenden Politikinstrumente im Sinne des neuen Policy-Ziels (Third Order Change).
Wandel in der Institutionentheorie: Wolfgang Streeck und Kathleen Thelen entwarfen hierzu eine Klassifikation unterschiedlicher Formen der inkrementellen Policy-Veränderungen, die im Ergebnis allesamt zu radikalem Wandel im Sinne struktureller Reformen der Staatstätigkeit führen können (Streeck/Thelen 2005: 12-14). Insgesamt unterscheiden sie fünf Formen von Wandel:
- erstens „Displacement“, d. h., die allmähliche Ablösung ganzer feldspezifischer Institutionenarrangements durch andere Arrangements über den Mechanismus der (internationalen) Verbreitung (Diffusion) von neuen oder alternativen politischen Organisationsformen und Handlungspraktiken und ihre Übernahme durch politischen Beschluss;
- zweitens „Layering“, d. h., die Ergänzung von bestehenden Institutionensystemen durch eine ‚neue Schicht‘ von Regeln, die innerhalb des damit entstehenden Gesamtsystems früher oder später derart an Bedeutung gewinnen, dass die alten, vermeintlich unabänderlichen Regeln in ihrer tragenden Rolle de facto durch neue abgelöst werden;
- drittens „Drift“, d. h. die Veränderung oder das Aushöhlen von politischen Regelsystemen (Institutionen) aufgrund des Versäumnisses der darin handelnden Akteure, diese Systeme an sich wandelnde Umwelt einflüsse anzupassen indem sie sie in ihre Entscheidungen mit einbeziehen;
- viertens „Conversion“, d. h. die von den politischen Entscheidungsträgern bewusst angestrebte Anpassung von Regelsystemen im Hinblick auf geänderte politische Zielvorstellungen und Erwartungen, und - fünftens „Exhaustion“, d. h. das völlige ‚Absterben‘ von Regelsystemen aufgrund des Wegfallens des politischen Regelungsgrundes oder Policy-Problems
Drei Phasen des sozialpolitischen Wandels
Grundsätzlich lässt sich die Entwicklung des deutschen Sozialstaates nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges in drei Phasen einteilen:
- eine erste Phase der Expansion, die bis in die erste Hälfte der 1970er Jahre andauerte und insbesondere durch den Ausbau des für den deutschen „konservativen“ Wohlfahrtsstaat Bismarckscher Prägung charakteristischen Sozialversicherungssystems für Arbeiter und Angestellte sowie deren Familien gekennzeichnet war. Die Phase der Expansion des deutschen Sozialstaates während des konjunkturellen Aufschwungs in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg – auch als „goldenes Zeitalter des Wohlfahrtsstaates“ bezeichnet – neigte sich ab Mitte der 1970er Jahre ihrem Ende zu
- eine zweite Phase der Konsolidierung und des beginnenden Umbaus, die bis in die zweite Hälfte der 1990er Jahre andauerte, und
- schließlich eine dritte, noch anhaltende Phase des entschiedenen Um- und teilweisen Rückbaus, aber auch des erneuten selektiven Auf- oder Ausbaus des Sozialstaates
Für die Analyse von sozialpolitischen Entscheidungen und von Wandel im Bereich der Sozialpolitik stehen der Politikfeldanalyse eine Reihe unterschiedlicher Theorieansätze zur Verfügung. Vor allem greift sie auf die klassischen Ansätze der (vergleichenden) Staatstätigkeitsforschung zurück:
den Ansatz der sozioökonomischen Determination
- den Machtressourcenansatz
- die Parteiendifferenzhypothese - politisch-institutionalistische Ansätze, z. B. die Vetospieler-Theorie
- die Ansätze des Politikerbes und der Pfadabhängigkeit
- die Internationalisierungs- und Europäisierungshypothese
Daneben stehen Politikfeldanalytikern der Sozialpolitik auch diverse neuere, kombinierte Theorieansätze zur Verfügung. Diese sind seit den späten 1980er Jahren vor allem in der US-amerikanischen Policy-Forschung entwickelt worden. Hier werden die folgenden Ansätze vorgestellt:
- politisches Lernen und Policy-Transfer
- Akteurzentrierter Institutionalismus (AZI)
- Multiple Streams-Ansatz (MSA)
Die beiden letzteren sind faktorkombinierende Ansätze
Die Ansätze der vergleichenden Staatstätigkeitsforschung zeichnen sich insgesamt dadurch aus, dass sie das Zustandekommen von Politik-Entscheidungen und Policy-Wandel auf das Wirken jeweils eines zentralen erklärenden Faktors oder einer bestimmten unabhängigen Variablen zurückführen (z. B. die erfolgreiche Einflussnahme bestimmter gesellschaftlicher Interessengruppen auf die politischen Entscheidungsträger in Parlament und Regierung; die Durchsetzung parteipolitischer Präferenzen etc.). Darüber hinaus ist ihnen gemeinsam, dass sie zwar eine kausale Beziehung jeweils zwischen einem bestimmten strukturellen Aspekt und/oder Akteur des politischen Prozesses und einer bestimmten politischen Entscheidung, die dann als abhängige Variable der jeweiligen Untersuchung betrachtet wird, annehmen. Mit dem Prozess der Entscheidungsfindung selbst jedoch befassen sich Staatstätigkeitsforscher nicht. Sie konzentrieren sich also auf den Zusammenhang von bestimmten Bedingungen des politischen Entscheidens (Input) einerseits und das Politikergebnis (Output) andererseits, weshalb Studien, in denen diese Theorieansätze angewendet werden, nicht selten mit makro-quantitativen Analysemethoden arbeiten
Aus dem Blickwinkel des Ansatzes der sozioökonomischen Determination lässt sich die Staatstätigkeit auf die Veränderung bestimmter Rahmenbedingungen (z. B. wachsende Arbeitslosigkeit, demografischer Wandel etc.) staatlichen Handelns zurückführen. Gerade im Hinblick auf die Entstehung und den Wandel von Sozialpolitik und die Ausweitung des Sozialstaates genossen in den Staatswissenschaften derart funktionalistische Erklärungen schon früh Attraktivität. Die Staatstätigkeit stellt also aus dieser Theorieperspektive eine Reaktion des Staates oder der Regierung auf bestimmte, außerhalb des politischen Systems liegende Entscheidungs- oder Handlungsimpulse dar
Ein Problem bei der Verwendung des Erklärungsansatzes der sozio-ökonomischen Determination besteht darin, dass der Nachweis einer unmittelbaren Kausalität zwischen einem bestimmten Ereignis einerseits, wie etwa einer unerwartet schwachen wirtschaftlichen Konjunkturentwicklung oder rasch wachsender Arbeitslosigkeit, und dem Policy-Wandel andererseits im Sinne einer Ereignis-Reaktions-Kette nur schwer erbracht werden kann. Dieser Theorieansatz lässt die kausalen Mechanismen des beobachteten Wandels, also die Antwort auf die Frage über welche Prozesse und Zusammenhänge genau die sozioökonomischen Faktoren auf die Sozialpolitik wirken, weitgehend im Dunkeln
Daran schließt ein weiteres Problem des Ansatzes an, nämlich seine mangelhafte Erklärungskraft in Bezug auf die ausdifferenzierten Inhalte von Politiken. So kann damit – bei vergleichender Forschungsperspektive – zwar die Beobachtung, dass unterschiedliche Wohlfahrtsstaaten auf gleiche exogene Handlungsimpulse unterschiedlich reagieren, ggf. erklärt werden, jedoch hält der Ansatz der sozioökonomischen Determination kein Erklärungsangebot zum Verständnis gleicher oder ähnlicher Reaktionen unterschiedlicher Sozialstaaten oder auch unterschiedlicher Reaktionen gleicher Sozialstaaten bereit
Vertreter dieser sogenannten „New Politics of the Welfare State“-These (vgl. Hemerijck 2013) verweisen darauf, dass sich gerade in den westeuropäischen Ländern während der wirtschaftlichen Aufschwung-Phase in den drei Jahrzehnten nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges weitverzweigte soziale Sicherungssysteme ausgebildet hätten, die durch komplexe Entscheidungsarrangements und ein hohes Maß an Umverteilung gekennzeichnet sind. Diese teilten nicht nur zahlreichen gesellschaftlichen Gruppen z. T. besondere soziale Anspruchsrechte zu, sondern räumten auch mächtigen Interessengruppen in den einzelnen sozialen Sicherungszweigen traditionell verfestigte Einspruchsrechte („veto opportunities“, „decision points“; Immergut 1992: 63) ein. Somit laste das wohlfahrtsstaatliche Institutionensystem als schweres „Erbe“ auf jeglichen Ansätzen zur Reform, weshalb sich die Sozialpolitik auch unter starkem exogenem Anpassungsdruck nur schrittweise und „pfadabhängig“ evolutiv an frühere Policies anknüpfend wandele
Der Machtressourcenansatz wurzelt in der sozialwissenschaftlichen Erforschung der Genese des Wohlfahrtsstaates. Im Kern liegt ihm die Annahme zugrunde, dass Varianz zwischen verschiedenen Wohlfahrtsstaaten (z. B. im sozialen Sicherungsniveau) von den Konflikten der unterschiedlichen gesellschaftlichen Klassen innerhalb der nationalen Gesellschaften und von der Durchsetzungsfähigkeit bestimmter, an diese Klassen andockender organisierter Interessen in der permanenten Auseinandersetzung um politische Einflussnahme abhängt. Zu den wichtigsten Vertretern des Machtressourcenansatzes zählen Walter Korpi (1983, 1989) und Gøsta Esping-Andersen (1990). Mit seinem Verweis auf (kollektive) Akteure ist der Ansatz dazu geeignet, die Erklärungsdefizite der Schule der sozioökonomischen Determination auszugleichen, wie z. B. das mangelnde Vermögen zur Erklärung der Auswahl bestimmter Policy-Inhalte
Vertreter des Machtressourcenansatzes wollen Unterschiede zwischen bestimmten Gruppen oder Typen („Regime“) von ähnlichen Wohlfahrtsstaaten in Bezug auf das soziale Schutzniveau für den Einzelnen, die Eingriffstiefe und Ausdifferenzierung der sozialstaatlichen Tätigkeit und die ‚Leistungsfähigkeit‘ des Sozialstaates beim Ausgleich sozialer Ungleichheit zwischen sozialen Schichten erklären. Sie führen die Beobachtung derartiger Unterschiede im internationalen Vergleich von Wohlfahrtsstaaten auf die Durchsetzungsfähigkeit von bestimmten organisierten Gruppeninteressen untereinander und gegenüber dem Staat zurück.
Dabei steht der für die moderne Industriegesellschaft prägende Grundkonflikt zwischen Kapital und Arbeit oder zwischen Unternehmern/Arbeitgebern einerseits und gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmern andererseits im Mittelpunkt des ursprünglichen Ansatzes. Je durchsetzungsstärker die Arbeitnehmerseite – so lautet vereinfacht die ursprüngliche Kernthese des Machtressourcenansatzes –, desto ausgebauter ist der Sozialstaat, desto tiefer und ausdifferenzierter interveniert er in gesellschaftliches Handeln (z. B. durch das Erheben von Steuern und Beiträgen), desto ausgeprägter sind die sozialen (Schutz-) Rechte des Einzelnen, desto höher ist das Niveau der sozialen Leistungen für Einzelne und/oder bestimmte Gruppen und desto besser ist schließlich auch die ‚Leistungsbilanz‘ des Sozialstaates in Bezug auf Umverteilung und die Verringerung sozialer Ungleichheit. In Bezug auf diese Dimensionen (Verhältnis des Staates zu Markt und Familie, soziales Schutzniveau im jeweiligen Wohlfahrtsstaat, Leistungsfähigkeit des Wohlfahrtsstaates/Ausgleich sozialer Schichtunterschiede) unterschied insbesondere Esping-Andersen zwischen drei grundlegende Typen von Wohlfahrtsstaaten, dem liberalen, dem konservativ-korporatistischen und den sozialdemokratischen (1990). Der deutsche Wohlfahrtsstaat wurde in diesem Zusammenhang dem konservativ-korporatistischen Typus zugerechnet
Politikfeldanalytiker, die zur Erklärung von Sozialpolitik in Deutschland diesen Ansatz verwenden, können es nicht bei der Feststellung der Existenz von bestimmten sozialen Konfliktlinien innerhalb einer Gesellschaft und diesbezüglich organisierter Gruppeninteressen belassen. Der Machtressourcenansatz ist in seiner Anwendung voraussetzungsvoll insofern, als stets eine Reihe von Faktoren mitbedacht und überprüft werden muss. Hierzu zählen insbesondere die Gestalt des Parteiensystems, die jeweilige parlamentarische Stärke (Parlamentssitze) linker, konservativer, liberaler etc. Parteien, die ideologische, politisch-inhaltliche und ggf. auch personelle Nähe oder Distanz zwischen bestimmten Interessengruppen und der oder den Regierungspartei(en).
Darüber hinaus erscheint der ursprüngliche Fokus des Machtressourcenansatzes auf das Konfliktverhältnis von Arbeitgeberorganisationen und Gewerkschaften heute in mancherlei Hinsicht ‚zu eng‘ zur Erklärung der Sozialpolitik in Deutschland.
Erstens haben sich einzelne der für die Erklärungskraft des Ansatzes wichtigen Faktoren in der jüngeren Vergangenheit verändert (nachlassender gewerkschaftlicher Organisationsgrad, weitere Ausdifferenzierung der hierzulande traditionell bereits spartenmäßig untergliederten Gewerkschaftslandschaft, nachlassende Tarifbindung).
Zweitens scheint der Machtressourcenansatz, der sich gut zur Erklärung des Ausbaus des Sozialstaates eignete, nur bedingt zur Erklärung seines Um- oder auch Rückbaus geeignet zu sein. So ist angenommen worden, dass er eher den Nichtwandel von Politik und die Verteidigung von errungenen Arbeitnehmerrechten der Insider des Arbeitsmarktes erklären könne. Hingegen könnten (zumeist) weder sozialpolitische Maßnahmen zu (un-) gunsten der sog. Outsider (Arbeitslose, Arbeitnehmer in schwach oder nicht gewerkschaftlich organisierten Branchen) noch Policies in Bezug auf neue soziale Probleme erklärt werden .
Drittens hat der Arbeit-Kapital-Klassenkonflikt als Einflussfaktor in Bezug auf die Policies in den unterschiedlichen Bereichen des Sozialstaates traditionell ein unterschiedliches Gewicht entfaltet. Während arbeitsmarkt- oder rentenpolitische Entscheidungen hiermit vergleichsweise gut erklärt werden können, müssen z. B. bei der Erklärung von familien- oder gesundheitspolitischen Maßnahmen häufig weitere Konfliktlinien und/oder zusätzliche Faktoren herangezogen werden. Soll Sozialpolitik und ihr Wandel in ihren unterschiedlichen Regelungsfeldern mit Hilfe des Machtressourcenansatzes erklärt werden, erscheint eine Kombination mit anderen Erklärungsansätzen daher u. U. sinnvoll
Ähnlich wie der Machtressourcenansatz ist auch die Parteiendifferenztheorie oder Parteiendifferenzhypothese ursprünglich aus der Beschäftigung von Sozialwissenschaftlern mit dem Ausbau des demokratischen Wohlfahrtsstaates entstanden. Seine Wurzeln hat der Ansatz in der US-amerikanischen Policy-Forschung. Die Kernannahme des Ansatzes lautet: Die parteipolitische Zusammensetzung der Regierung macht einen Unterschied für die im jeweiligen Regierungszeitraum getroffenen politischen Entscheidungen oder Policies (in Form von Gesetzen und sonstigen Regelungen). Dies, so wird weiterhin angenommen, ist so, weil politische Parteien grundsätzlich nach Regierungsverantwortung streben, sich zugleich – auch aufgrund ihrer unterschiedlichen ideologischen Wurzeln – in ihren Programmen unterscheiden und aufgrund ihres ausgeprägten (Wieder-) Wahlinteresses nach einer gewonnenen Wahl – ganz im Sinne der Erwartungen ihrer Wählerschaft – bestrebt sind, ihr Parteiprogramm in politische Inhalte umzusetzen
Vertreter der Parteiendifferenzhypothese erklären Politikinhalte und Policy-Wandel also unter Verweis auf Unterschiede zwischen politischen Parteien im Hinblick auf ihre Programme, ihre (Stamm-) Wählerklientel und ihre ideologische Herkunft. In der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung sind die Annahmen dieses Erklärungsansatzes insbesondere von den Vertretern der „New Politics of the Welfare State“-These in Zweifel gezogen worden. So argumentierte z. B. Paul Pierson, dass unter den Vorzeichen fortgeschrittener Reifung und finanzieller Überlastung des Wohlfahrtsstaates sowohl linke als auch konservative oder liberale Parteien, wenn sie in der Regierungsverantwortung stehen, eine Strategie der blame avoidance verfolgten und anstelle der Interessen ihrer Wähler vor allem die Interessen der gesellschaftlich durchsetzungsstärksten Gruppen im Blick hätten.
Die Interessen letzterer (z. B. auf Bewahrung oder auch weiteren Ausbau von gruppenspezifischen sozialen Rechten und Leistungen) würden daher stärker berücksichtigt als die Interessen wenig durchsetzungsstarker, da z. B. nichtorganisierter oder stark heterogener Bevölkerungsgruppen (2001c). Wohlfahrtsstaatliche Reformpolitik wurde dementsprechend in den vergangenen zwei Jahrzehnten häufig als weitgehend losgelöst von Parteieffekten erklärt. Jüngst ist die Skepsis der vergleichenden Sozialstaatsforschung gegenüber der Parteiendifferenzhypothese allerdings einer neuen Aufmerksamkeit für den Erklärungsansatz gewichen. So weist z. B. Silja Häusermann darauf hin, dass Parteieffekte nicht unbedingt in Bezug auf die paradigmatische Ausrichtung ganzer Politikfelder, sehr wohl jedoch in Bezug auf die Variation oder das Fine-Tuning bestimmter einzelner Reformmaßnahmen in unterschiedlichen Wohlfahrtsstaaten erkennbar seien
Bei der Analyse von Sozialpolitik in Deutschland während der beiden hier im Mittelpunkt stehenden Phasen des Wandels seit Mitte der 1970er Jahre muss bei der Suche nach Parteieffekten auf politische Entscheidungen in den einzelnen sozialstaatlichen Regelungsfeldern ohnehin differenziert vorgegangen werden. So sind die Regierungen hierzulande seit 1949 stets Koalitionsregierungen gewesen. Einzelne Parteien konnten und können also in der Regel ihre Programme nicht ‚eins zu eins‘ durchsetzen. Vielmehr sind Kompromisse mit dem jeweiligen Koalitionspartner üblich. Dabei hat allerdings Manfred G. Schmidt die Vermutung der kompromissbedingten Abschwächung sozialpolitischer Ziele implizit in Frage gestellt. Für den deutschen Sozialstaat hat er vielmehr die These von der Existenz „zwei[er] Sozialstaatsparteien“ – CDU/CSU und SPD – „mit jeweils großem Wähleranhang in der Sozialstaatsklientel“ (Schmidt 2006: 111) aufgestellt und argumentiert, dass sich gerade in der Expansionsphase des Wohlfahrtsstaates beide Parteilager eine Art Wettbewerb um den Ausbau des sozialen Sicherungssystems geliefert hätten
Neben den politischen Parteien nehmen Politikfeldanalytiker sehr häufig Institutionen als mögliche Einflussgrößen auf politische Entscheidungen ins Visier. Politisch-institutionalistische Erklärungsansätze teilen die Ausgangsannahme, dass institutionelle Rahmenbedingungen des Handelns und Entscheidens von Regierungsakteuren eine Auswirkung auf die Staatstätigkeit haben. Als „Institutionen“ versteht man dabei nach der in der Politikwissenschaft heute verbreiteten Definition die mehr oder weniger komplexen Systeme formaler und informeller Regeln, die die „Handlungsverläufe“ und Interaktionen zwischen individuellen und kollektiven Akteuren beim Finden, Formulieren und Implementieren öffentlicher Aufgaben vorstrukturieren
Institutionen sind also die Regeln des ‚politischen Spiels‘. Sie teilen den Akteuren in jedem Stadium des politischen Prozesses bestimmte Einflussmöglichkeiten zu. Damit sind sie gerade für die Erklärung von Sozialpolitik und sozialpolitischen Wandel in Deutschland besonders wichtig, denn der deutsche Sozialstaat gilt als besonders stark ‚regelverhaftet‘. Allerdings sollten Institutionen nicht als deterministische Einflussgrößen verstanden werden, sondern eher als „Gelegenheitsstrukturen“: Sie ermöglichen oder begrenzen die tatsächliche Einflussnahme von Akteuren je nach den äußeren Umständen, der konkreten Handlungssituation, den gegebenen Interessen- und Akteurskonstellationen und können außerdem auch das Einwirken weiterer Einflussgrößen (z. B. sozioökonomische Rahmenbedingungen, parteipolitische Zugehörigkeit von Akteuren) auf den politischen Prozess vorstrukturieren und/oder filtern (vgl. Swank 2002).
Die politisch-institutionalistische Theorieschule insgesamt umfasst eine ganze Reihe von Ansätzen, die die Wirkungen unterschiedlichster institutioneller Einflussgrößen (Strukturmerkmale ganzer politische Systeme wie Föderalismus, Regelungen zur direktdemokratischen Entscheidungsfindung, pluralistische oder korporatistische Entscheidungsstrukturen, europäisch-national verflochtene Entscheidungsstrukturen etc.) untersuchen. Ein besonders einflussreicher Erklärungsansatz im deutschsprachigen Forschungskontext, insbesondere im Bereich der Sozialpolitik, ist die Vetospieler-Theorie
Mit seiner 1995 veröffentlichten Vetospieler-Theorie geht George Tsebelis von der Annahme aus, dass sich die Fähigkeit von Regierungen zum (radikalen) Politikwechsel oder zur Policy-Reform über die unterschiedlichen Möglichkeiten von sogenannten Vetospielern zur Einflussnahme auf die politische Entscheidungsfindung erklären lässt. Vetospieler sind dabei all diejenigen individuellen oder kollektiven Akteure, deren Zustimmung für den Wandel von Policies oder eine Veränderung des politisch-inhaltlichen Status quo notwendig ist.
Tsebelis unterscheidet grundsätzlich zwei Typen, erstens institutionelle Vetospieler („institutional veto players“) – sie beziehen ihre Veto- oder Einspruchsmacht aus ihrer formalen Verfasstheit und Verankerung innerhalb des politisch-administrativen Systems (z. B. Regierung, Parlamente, Verwaltungen, Verfassungsgericht etc.); und zweitens (partei-) politische Vetospieler („partisan veto players“) – sie beziehen ihre (nicht notwendig formale) Vetomacht aus ihrer Funktion als legitime Vertreter bestimmter Politikinteressen in einer bestimmten Entscheidungskonstellation und/oder -situation (z. B. Parteien) (ebd.: 302). Tsebelis zufolge hängt die Fähigkeit einer Regierung zur politisch-inhaltlichen Reform in einem bestimmten Staatstätigkeitsfeld davon ab,
wie viele Vetospieler mit unumgänglichen Einspruchsrechten es in einem bestimmten Politikfeld bzw. in einer bestimmten politischen Entscheidungskonstellation gibt. Die Annahme hierzu lautet: Je mehr Vetospieler, desto geringer die Wahrscheinlichkeit zum [radikalem] Politikwandel).
b) wie groß die inhaltliche Übereinstimmung (Kongruenz) zwischen den Positionen der einzelnen Vetospieler in bestimmten Sachfragen ist. Die Annahme lautet hier: Je größer die Schnittmenge der Übereinstimmung, desto höher die Wahrscheinlichkeit zu [radikaler] Reform).
c) wie geschlossen (Kohärenz) bestimmte kollektive Vetospieler im jeweiligen Feld (z. B. Parteien, Interessengruppen) ihre inhaltlichen Interessen im politischen Entscheidungsprozess gegenüber anderen Akteuren/Vetospielern vertreten können. Die Annahme lautet hier: Je geringer der – interessenbezogen und/oder normativ-begründete – innere Zusammenhalt von kollektiven Veto-Akteuren ist, desto geringer ist die Wahrscheinlichkeit zum (radikalen) Politikwechsel, insbesondere in einer Situation gleichzeitig starker inhaltlicher Inkongruenz zwischen allen Vetospielern
Die Vetospieler-Theorie eignet sich besonders dazu, die Interessenkonstellationen zwischen den institutionell verankerten Akteuren in bestimmten Entscheidungssituationen offen zu legen oder auch vorherzusagen. In der (vergleichenden) Sozialpolitikforschung wird die Theorie daher bevorzugt zur Analyse und Erklärung von Policies angewendet, die durch das Zusammenwirken von Akteuren mit institutionalisierten Einspruchsrechten in bekannten, komplexen Entscheidungsarrangements zustande kommen. Ein Anwendungsfeld der Vetospieler-Theorie ist z. B. die deutsche Gesundheitspolitik
Insgesamt sind politisch-institutionalistische Ansätze in Bezug auf ihre Anwendung in der Politikfeldanalyse mit einem gemeinsamen Makel behaftet: Sie sind schwach bei der Erklärung von Policy-Wandel. Der Grund für dieses Erklärungs- oder Analysedefizit ist einfach: Institutionen i. S. von Regelsystemen zeichnen sich grundsätzlich durch ihr Beharrungsvermögen aus. Sie verhindern Politikwandel daher eher als diesen zu befördern. Vor diesem Hintergrund hat die politisch-institutionalistisch argumentierende Policy-Forschung Institutionen häufig als ‚Orientierungsmarken‘ oder ‚Sicherheitsanker‘ für politische oder administrative Akteure dargestellt. Sind die Akteure mit neuen (exogenen) Handlungs- oder Entscheidungsanforderungen konfrontiert, so orientieren sie sich – den Erwartungen der politisch-institutionalistischen „Schule“ zufolge – in ihren Reaktionen an gegebenen Regeln und hergebrachten (Interaktions-) Routinen.
Grundsätzlich erwarten politisch-institutionalistisch argumentierende Policy-Forscher keinen abrupten, radikalen Wandel von Policies, sondern die schrittweise oder „inkrementelle“ Weiterentwicklung oder Anpassung der entsprechenden Institutionen an neue Rahmenbedingungen (vgl. Streeck/ Thelen 2005). Allenfalls unter der Einwirkung hohen externen Drucks oder Zwangs wird auch radikaler plötzlicher Wandel für möglich gehalten. In der vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung hat u. a. diese Sichtweise dazu beigetragen, dass sich während der 1990er Jahre insbesondere in Bezug auf den deutschen „konservativen korporatistischen“ Sozialstaat (Esping-Andersen 1990) die These einer geringen Reformfähigkeit oder gar eines „Reformstaus“ verbreitet hatte („frozen welfare state landscape“; Esping-Andersen 1996: 24). Diese These gilt angesichts der zahlreichen Veränderungen, die der deutsche Sozialstaat in seinen unterschiedlichen Regelungsfeldern seit dem Jahr 2000 erfahren hat, mittlerweile als überholt
Grundsätzlich geht dieser Ansatz in unterschiedlichen Varianten von der folgenden übergreifenden Annahme aus: Politik, die hier und heute gemacht wird, wird durch vergangene Policy-Entscheidungen und „ererbte“, also von den Vorgängerregierungen übernommene Politikinhalte, -verfahren und -strukturen beeinflusst (Rose 1990: 263). Gerade für die Analyse der Sozialpolitik und ihres Wandels in ihren einzelnen Regelungsfeldern ist diese Annahme von zentraler Bedeutung, denn die „ausgereiften“ (Pierson 2001c: 410) westeuropäischen Sozialstaaten blicken auf eine weit zurückreichende Geschichte und lange Tradition zurück. Dies gilt insbesondere auch für den deutschen Sozialstaat, der feldspezifisch komplexe Regelsysteme mit jeweils zahlreichen Vetospielern und einer noch größeren Zahl an Interessenträgern ausgebildet und einen besonders komplexen Korpus an Regeln und Instrumenten hervorgebracht hat. Die Regierungsakteure treffen Entscheidungen hier ganz überwiegend ausgehend von einem breit gefächerten „Erbe“ inhaltlicher Regelungen.
Die Annahme, dass politisch-zielbezogene und instrumentelle, verfahrensbezogene oder auch organisatorische Entscheidungen in der Vergangenheit sich auf gegenwärtige Policies auswirken, beruht auf unterschiedlichen Beobachtungen und theoretischen Überlegungen. Eine erste Überlegung lautet: Es kann grundsätzlich nicht davon ausgegangen werden, dass individuelle und daraus gebildete kollektive Akteure in politischen Handlungs- und Entscheidungssituationen zu vollständig informiertem und rein rationalem Handeln in der Lage sind . Akteure treten in politische Aktions- und Koordinationssituationen vielmehr unter den Voraussetzungen eingeschränkter Information und „begrenzter Rationalität“ („bounded rationality“; Simon 1972) ein. Sie stoßen bei ihren Entscheidungen an individuelle kognitive Grenzen, lassen unbewusst ihre normativen Vororientierungen und übernommenes Erfahrungswissen einfließen und sind zudem dem expliziten oder impliziten Einfluss ihrer sozialen Umgebung ausgesetzt.
Das Anknüpfen der eigenen Handlungsorientierungen an vorgefundene Inhalte, die Übernahme von Verfahrensroutinen ist in diesem Kontext eine Quelle von Sicherheit bei der Interaktion und Koordination mit anderen Akteuren. Durch das Festhalten an früheren Entscheidungen können zudem die u. U. hohen (politischen) Kosten vermieden werden, die mit jeder Entscheidung zum Politikwandel verbunden sind (‚Abstrafung‘ durch die Wähler, Widerstände von Interessengruppen, obstruktives Verhalten der Implementationsträger etc.).
Eine zweite Überlegung zur Begründung des Pfadabhängigkeits- und Politikerbe-Ansatzes lautet: Regierungen, insbesondere in gereiften Wohlfahrtsstaaten, sind beim Formulieren von (neuen) Policies von vorn herein bis zu einem gewissen Grad ‚vorbestimmt‘ (vgl. Zohlnhöfer 2008: 163). Denn mit dem Beschluss von bestimmten Politikinhalten in der Vergangenheit schufen Vorgängerregierungen zugleich auch bestimmte verbindliche Pflichten des Staates gegenüber den Bürgern oder gegenüber gesellschaftlichen Gruppen oder auch anderen Staaten. Diese können dann von den nachfolgenden Regierungen nicht ohne weiteres ignoriert oder gar beseitigt werden. Dies gilt insbesondere auch für soziale Rechte wie die staatliche Garantie der Pension von Beamten (vgl. Streeck/Mertens 2010) oder die Anwartschaft der einzelnen Arbeitnehmer auf die gesetzliche Rente im Alter, sofern Ansprüche durch entsprechende Beitragszahlungen in die soziale Rentenkasse erworben wurden
Increasing returns: Außerdem haben Regierungen mitunter ein Interesse daran, übernommene Policies nicht zu verändern. Dies ist etwa dann der Fall, wenn in der Gegenwart die ‚Rendite‘ aus politischen Investitionen anfällt, die von Vorgängerregierungen getätigt wurden. Ein Beispiel in diesem Zusammenhang könnte die positive Entwicklung der Beschäftigungszahlen in Deutschland während der Zeit der öffentlichen Finanzkrise 2008-2010 sein, die weitgehend mit der Regierungszeit der konservativ-liberalen Koalition unter Bundeskanzlerin Angela Merkel zusammenfiel. Dieser ‚Erfolg‘ ist z. T. auch auf die „Agenda“-Politik („Agenda 2010“) und die einschneidenden arbeitsmarktpolitischen Reformen der rot-grünen Bundesregierung unter Bundeskanzler Gerhard Schröder 1998-2005 zurückgeführt worden (vgl. FAZ 2013). Gerade in komplexen demokratischen Wohlfahrtsstaaten ist es unwahrscheinlich, dass neu gewählte Regierungen ein Interesse an der radikalen Veränderung von Politiken haben. Generell entspricht diese Annahme der Überlegung, wonach die Fortsetzung ererbter Politikinhalte Rationalisierungsgewinne hervorbringen kann. Je länger eine bestimmte Policy verfolgt wird, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass hier Handlungsroutinen entstanden sind und Institutionen geschaffen wurden, die sich nur um den Preis hoher Transaktionskosten abwandeln lassen. Paul Pierson spricht in diesem Zusammenhang von ansteigenden Gewinnen („increasing returns“) durch eingeübte Praxis und teils institutionalisierte Handlungsmuster
Allerdings darf dabei angenommen werden, dass die Veränderungsbereitschaft von Politikfeld zu Politikfeld variiert. Gerade unter Bedingungen hohen exogenen Anpassungsdrucks (vgl. „Ansatz der sozioökonomischen Determination“, „Internationalisierungs- und Europäisierungshypothese“) und bei gleichzeitig geringem zu erwartendem Widerstand von möglichen Interessenträgern kann Policy-Wandel mitunter als ‚lohnenswerter‘ erscheinen als das vermeintlich risikoärmere pfadabhängige Fortschreiben von in der Vergangenheit beschlossenen inhaltlichen Lösungen oder das Weiterverfolgen von etablierten Verfahrensweisen.
Wie weitgehend der Einfluss des Politikerbes und die Wirkungen übernommener Verfahrensweisen und Organisationsroutinen sind, kann insbesondere in Zeiten des Um- oder Rückbaus des Sozialstaates u. a. von den Eigenschaften und Zielen des jeweiligen Politikfelds abhängen. So weist Walter Korpi darauf hin, dass Sozialpolitiker in solchen sozialstaatlichen Umbauphasen vor dem Hintergrund hohen exogenen Anpassungsdrucks zur Beschneidung vor allem solcher sozialen Rechte und sozialpolitischen Leistungen bereit seien, deren Inanspruchnahme von individuellen Bedarfslagen abhängen (2006: 254). Gerade in den Politikfeldern, die sich weniger durch den Schutz individueller Anspruchsrechte auszeichnen, als vielmehr durch Programme, die dem Einzelnen im regulativ festgelegten Bedarfsfall spezifische soziale Hilfe- oder Unterstützungsleistungen zugänglich machen (z. B. Sozialhilfepolitik, Teile der Gesundheitspolitik), ließe sich der radikale Rückbau oder Rückzug (retrenchment) des Sozialstaates gegenwärtig besonders gut studieren
Vergangene Policy-Entscheidungen wirken also dem Ansatz der Pfadabhängigkeit und des Politikerbes zufolge immer auch als Weichenstellungen für gegenwärtige oder künftige Politikentscheidungen. Dabei lassen sich zwei Theorievarianten unterscheiden: eine erste, die stärker auf das Konzept der „Pfadabhängigkeit“ abstellt, und eine zweite, die enger mit der Idee von früheren Policies als gegenwärtiger politischer „Erblast“ verbunden ist. Vertreter der ersten Theorievariante, z. B. Pierson, sind grundsätzlich von der Wandlungsfähigkeit öffentlicher Politiken überzeugt, gehen dabei allerdings davon aus, dass Policy-Wandel selten radikal verläuft. Nach dieser Vorstellung beschreibt die Entwicklung öffentlicher Politiken vielmehr einen kontinuierlichen „Pfad“, der für die Akteure in einem Politikfeld im Rahmen von späteren Problembearbeitungsprozessen als historisch vorgegebene Orientierungsmarke wirkt
Pfadabhängigkeitsthese: Das Vergangene wirkt dabei keineswegs deterministisch auf das Gegenwärtige oder Zukünftige (dies würde Stillstand präjudizieren). Wichtig für die Pfadabhängigkeitsthese ist jedoch die Annahme, dass plötzliche Politikwechsel oder ‚Pfadsprünge‘ – z. B. ausgelöst durch „exogene Schocks“, wie etwa Finanz- oder Wirtschaftskrisen – eher die Ausnahme darstellen. Demgegenüber wird Policy-Wandel als inkrementeller, also schrittweiser Prozess betrachtet und eine hohe Stabilität bestimmter inhaltlicher Grundpositionen über Zeit unterstellt. Man könnte dies als institutionalistische Theorievariante bezeichnen: Die aus einem kontinuierlichen Entwicklungsprozess übernommenen und in seiner Verlängerung fortgeschriebenen Policies wirken, ähnlich wie Institutionen, handlungsstrukturierend auf das Verhalten gegenwärtiger Akteure. Dass auch pfadabhängiges Verhalten und die kontinuierlich kleinteilige („inkrementelle“) Anpassung von einzelnen Programmen oder Instrumenten einer bestimmten Policy über einen mittleren Zeitraum auf unterschiedlichen Wegen (vgl. Streeck/Thelen 2005) zu radikalem Wandel führen, ist in jüngerer Zeit gerade in Bezug auf den deutschen Sozialstaat und seine unterschiedlichen Regelungsfelder diskutiert worden
Erblast-Theorie: Eine zweite Theorievariante geht u. a. auf Richard Rose zurück. Er begreift die aus der Vergangenheit übernommenen Policies weniger als neutrales, grundsätzlich wandelbares Entscheidungserbe, sondern vielmehr als öffentlichen politischen Nachlass früherer Regierungen, der gegenwärtiges Entscheidungshandeln quasi alternativlos vorbestimmt: „When a group of politicians enters office, there is no choice: the inherited commitments of past governments must be accepted as givens.“ Dies könnte als akteursbezogene Theorievariante bezeichnet werden. Damit ist die Vorstellung verbunden, dass gegenwärtige Regierungen in ihrem Handeln durch die Entscheidungen der Vorgängerregierungen je nach Politikfeld mehr oder weniger stark determiniert und in ihrem politischen Handlungsspielraum daher weitgehend eingeschränkt sind. Tobias Ostheim und Manfred G. Schmidt verwenden in diesem Zusammenhang den Begriff der „Erblast“ (2007: 85). Allerdings erscheint die These der Erblast als leicht angreifbar. So ließe sich hier auch genau die gegenteilige Annahme formulieren, nämlich dass gegenwärtige Regierungen – in der Vermutung oder gar dem Wissen der deterministischen Wirkung ihres Tuns – politische Entscheidungen als ein strategisches Instrument einsetzen. Gegenwärtige Entscheidungsträger verfolgen u. U. das Ziel, ein in der Zukunft von künftigen Regierungen schwer revidierbares Politikerbe zu produzieren. Aus dieser Warte betrachtet kann die These des Politikerbes nicht nur zur Erklärung von weitreichendem Stillstand, sondern ebenso gut zum Ausgangspunkt für die Erklärung von unerwartetem Politikwandel genommen werden.
Die Darstellung der unterschiedlichen Interpretationsmöglichkeiten lässt die gute Anschlussfähigkeit des Ansatzes der Pfadabhängigkeit und des Politikerbes an weitere Ansätze, wie z. B. die Parteiendifferenzhypothese oder den Machtressourcenansatz, erkennen. Es ist generell eine Stärke des Ansatzes der Pfadabhängigkeit und des Politikerbes, dass er auf die Existenz einer Vorgeschichte der meisten Policies und die anzunehmende Rückwirkung auf gegenwärtige oder künftige Entscheidungen verweist. Dass das übernommene Politikerbe dabei nicht nur ein wandlungshemmender, sondern auch ein reformtreibender Faktor sein kann, wurde in der Politikfeldanalyse jedoch mitunter vernachlässigt. Gerade mit Blick auf den deutschen Sozialstaat ist dieser Hinweis allerdings wichtig. Manch jüngere Policy-Reform ist hier im Zeichen einer parteiübergreifenden Präferenz der Akteure für Liberalisierung und Einsparungen bewusst als neuer, von alten Pfaden wegführender Policy-Weg ausgewiesen worden. In der sozialwissenschaftlichen Diskussion blieb in dieser Hinsicht allerdings umstritten, ob wir es mit inkrementellen Anpassungen an gewandelte Rahmenbedingungen unter dem Eindruck starker institutioneller oder politisch-inhaltlicher Beharrungskräfte zu tun haben oder mit einem radikalen Um- und Rückbau des Sozialstaates. Um sich dieser Frage zu nähern, muss die Policy-Forschung in den einzelnen sozialpolitischen Feldern heute neben den institutionellen und inhaltlichen Ausgangsbedingungen sowie (dem Wandel von) Akteursinteressen (Parteien, Verbände/Interessengruppen etc.) innerhalb des Nationalstaates systematisch auch die internationalen Rahmen- oder Umweltbedingungen des politischen Handelns und Entscheidens berücksichtigen.
Eine Einflussgröße, die aus der Analyse nationaler Sozialpolitik und sozialpolitischen Wandels innerhalb der OECD und insbesondere der EU heute nicht mehr wegzudenken ist, ist die Internationalisierung und – innerhalb der EU – Europäisierung von Märkten sowie bestimmten staatlichen Aufgabenfeldern oder Politiken (etwa über die Verlagerung politischer Entscheidungskompetenzen aus der nationalstaatlichen in die inter- oder supranationale Politikarena). In der politikfeldanalytischen Theoriebildung vor allem im deutschsprachigen und kontinentaleuropäischen Forschungskontext werden Internationalisierung oder auch „Globalisierung“ (Schirm 2006) und Europäisierung häufig getrennt behandelt, auch wenn für beide Faktoren ähnliche Mechanismen der Einwirkung auf nationale Policies angenommen werden12 . Insgesamt lenken die Internationalisierungs- und die Europäisierungshypothese die Aufmerksamkeit der Policy-Forscher weg von endogenen Variablen der Erklärung der Staatstätigkeit hin zum globalen und/oder supranationalen Umfeld staatlichen Handelns und öffentlicher Politiken. Beiden Hypothesen liegt die übergeordnete Annahme zugrunde, dass Regierungshandeln im Nationalstaat vom Wandel der internationalen Beziehungen und Verflechtungskonstellationen zwischen nationalen Ökonomien oder Märkten, Staaten oder Politikarenen und Gesellschaften beeinflusst wird.
Internationalisierungshypothese: Vertreter der Internationalisierungshypothese argumentieren ähnlich wie Vertreter des Ansatzes der sozioökonomischen Determination und der politisch-institutionalistischen „Theorieschule“ .Mit dem Begriff der „Internationalisierung“ oder „Globalisierung“ bezeichnen sie zunächst weitgehend übereinstimmend die Öffnung nationaler Waren-, Dienstleistungs- und Finanzmärkte sowie die Intensivierung des grenzüberschreitenden globalen Aufkommens an Güterund Finanztransaktionen. Verbreitete Indikatoren für „Globalisierung“ sind das Außenhandelsvolumen eines Staates und die Höhe der privaten Auslandsinvestitionen (ebd.). Als zusätzliche, gegenüber den früher schon beobachteten internationalen Wirtschafts-, Handels- und Finanzverflechtungen neue Aspekte werden außerdem das Wachstum international operierender Konzerne und die rapide Zunahme der globalen Kommunikationsvernetzung sowie des Datenaustausches über das Internet betrachtet
Mittlerweile, seit Beginn der 1990er Jahre, thematisiert die Politikfeldanalyse vielfach Rückzugsreaktionen als Effekte von Internationalisierung oder Globalisierung auf die nationalen Wirtschafts- und Sozialpolitiken. Erwartet wird ein hoher Druck zur staatlichen Ausgabenbegrenzung, zum Rückbau des öffentlichen Sektors und zur Deregulierung nationaler Volkswirtschaften und dementsprechend auch Effekte des „Sozialabbaus“. Wichtig ist für die Anwendung der Internationalisierungshypothese bei der politikfeldanalytischen Untersuchung des Sozialstaates, dass Globalisierungseffekte nicht in jedem Feld der Sozialpolitik in gleicher Weise zu erwarten sind (Korpi 2006: 260). Entsprechende Einflüsse sind u. U. in der Verteilungs-, Arbeitsmarkt- und Alterssicherungspolitik bedeutsamer als in den Feldern der Gesundheits-, Pflege- oder Familienpolitik.
So spielt Globalisierung oder Internationalisierung für die Arbeitsmarkt- , Beschäftigungs- und auch die Tarifpolitik in Deutschland angesichts der traditionellen Exportstärke der deutschen Volkswirtschaft eine wichtige Rolle, weil der deutsche Arbeitsmarkt vor diesem Hintergrund direkt von der Güterabnahme auf ausländischen Märkten abhängig ist und weil er sich in unterschiedlichen Sektoren und Branchen in teils starker Konkurrenz zu ausländischen Arbeitsmärkten befindet. Und für die Alterssicherungspolitik hierzulande wird die Globalisierung oder Internationalisierung vor allem der Finanzmärkte in dem Maße immer wichtiger, wie die Einkommensabsicherung der Bürger im Alter von privaten Rentenversicherungen oder von privaten Geldanlagen abhängig wird
Richtet man den Blick angesichts der erwarteten Einflüsse der Europäischen Union (EU) (Europäisierungshypothese) auf die nationale Sozialpolitik, so nivellieren sich die feldspezifischen Abstufungen. Der Einfluss der EU wird mittlerweile für alle Felder der Sozialpolitik als hoch angenommen, auch wenn die Union in diesem Politikbereich insgesamt bis heute nur wenige ausdrückliche Zuständigkeiten (z. B. bei der Regelung der Arbeitnehmerfreizügigkeit) besitzt und insbesondere kaum verteilungspolitische (distributive) Kompetenzen (z. B. in der Agrar- und Regionalpolitik) sowie überhaupt keine Kompetenzen im Bereich der individuellen oder gruppenbezogenen Umverteilung (Redistribution) von Einkommen inne hat (Leibfried/Obinger 2008: 338-339). Der Begriff der „Europäisierung“ steht in der vergleichenden Staatstätigkeitsforschung für die (direkten oder indirekten) Effekte des europäischen Integrationsprozesses auf nationales (regionales, lokales) Regierungshandeln in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union (EU) (Radaelli 2004). Namentlich werden regelmäßig drei Mechanismen der Europäisierung unterschieden. Sie sind mit den Begriffen „positive Integration“, „negative Integration“ (Scharpf 1999; 2008) und „indirekte Effekte“ bezeichnet worden
Die „positive Integration“ steht für die EU-weit harmonisierte Regelung unterschiedlicher Materien in vormals nationalen Politik- oder Aufgabenfeldern dern. Die Europäisierung von Policies und politischer Entscheidungsfindung über den Mechanismus der positiven Integration findet insbesondere in denjenigen Politikfeldern statt, in denen die Mitgliedstaaten souveräne Entscheidungsrechte entweder ganz oder teilweise zugunsten der EU aufgegeben und entsprechende Regulierungskompetenzen auf die EU übertragen haben (Scharpf 1999, 2008). In diesem Sinne gänzlich „europäisierte“ Politikfelder sind beispielsweise die Agrarpolitik oder – innerhalb der Eurozone – die Geldpolitik. Die Sozialpolitik mit ihren einzelnen Regelungsfeldern zählt hingegen zu den am wenigsten von positiver Integration betroffenen und dementsprechend am wenigsten direkt europäisierten Politikbereichen. Dies liegt zum einen daran, dass die Wurzeln der nationalen Sozialstaaten in den meisten EU-Mitgliedstaaten bis ins 19. Jahrhundert und damit weit vor den Beginn des europäischen Integrationsprozesses zurückreichen. So hatten die westeuropäischen Gründungsmitglieder der ehemaligen Europäischen Gemeinschaften (EG) und heutigen EU zum Zeitpunkt des Abschlusses der Römischen Verträge im Jahr 1957 bereits weitgehend ausgeprägte Sozialstaaten. Zum anderen hängt der geringe Grad der positiven Integration im Bereich der Sozialpolitik insbesondere auch damit zusammen, dass die Hürden der Übertragung nationaler Kompetenzen auf die EU in diesem Politikbereich bis heute stets besonders hoch waren. Während der wirtschaftlichen Aufschwung- und wohlfahrtsstaatlichen Expansionsphase in den drei Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg war das Interesse der meisten Mitgliedstaaten an einer Vergemeinschaftung sozialpolitischer Kompetenzen schwach ausgeprägt. Dies hatte zunächst damit zu tun, dass die mitgliedstaatlichen Regierungen mit der Ausdifferenzierung der sozialen Schutz- und Teilhaberechte sowie Leistungen des Sozialstaates im nationalen Rahmen über eine verlässliche Quelle der umfassenden politischen Legitimation ihres Handelns verfügten.
Je weiter der Ausbau des Sozialstaates in den einzelnen Mitgliedstaaten dabei voranschritt, desto schwieriger wurde eine Harmonisierung allerdings objektiv betrachtet, denn die wohlfahrtsstaatlichen Systeme und Sicherungsniveaus innerhalb der EU wurden im Zuge dieses Ausbauprozesses immer unterschiedlicher, so dass eine Harmonisierung immer schwerer vorstellbar wurde. Seit dem Beginn der Um- und Rückbauphase der europäischen Sozialstaaten ab Mitte der 1970er Jahre wiederum haben die Regierungen vor allem der wirtschaftlich starken EU-Mitglieder, so auch Deutschlands, Ansätze zur „positiv“ regulierenden Harmonisierung sozialpolitischer Aufgaben abgewehrt. Sie fürchteten, von den Wählern, die mit ihren Steuern die zu erwartenden finanziellen Transfers in wirtschaftlich schwächere EU-Mitgliedstaaten hätten tragen müssen, dafür ‚abgestraft‘ zu werden (Leibfried/Obinger 2008: 338). Die Erweiterung der EG, die ab 1973 parallel zur ‚Dauerkrise‘ der europäischen Wohlfahrtsstaaten die ökonomischen und sozialen Unterschiede innerhalb der Gemeinschaft zunächst schrittweise und mit Inkrafttreten der EU-Osterweiterung im Jahr 2004 schlagartig vergrößerte, trug noch zusätzlich zu dieser bis in die Gegenwart anhaltenden Abwehrhaltung gegenüber einer gemeinschaftlichen Regulierung unterschiedlicher Aspekte der sozialen Sicherung bei
Offene Methode der Koordinierung: Regulierung unterschiedlicher Aspekte der sozialen Sicherung bei (ebd.). Angesichts der geringen Bereitschaft der nationalen Regierungen zur sozialpolitischen Vergemeinschaftung hat die Europäische Kommission seit Beginn der 1990er Jahre neue, nicht auf formaler Regelung (Verordnungen, Richtlinien) fußende Wege der zwischenstaatlichen Harmonisierung sozialpolitischer Inhalte gesucht. Der bekannteste Weg in diesem Zusammenhang ist die „Offene Methode der Koordinierung“ (OMK). Sie nahm ihren Ursprung 1993 im Bereich der europäischen Beschäftigungspolitik, fand mit dem Vertrag von Nizza 2003 Eingang ins europäische Vertragsrecht und erhielt mit dem Inkrafttreten des Vertrags von Lissabon im Jahr 2009 eine neue Regelungsgrundlage im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) (Art. 5, 6, 153 AEUV). Die OMK beruht auf der freiwilligen Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten und Koordination der mitgliedstaatlichen Politiken in zahlreichen unterschiedlichen Feldern wie der Beschäftigungspolitik, dem Sozialschutz sowie der sozialen Inklusion und Armutsbekämpfung, der Gesundheits- und Pflegepolitik, der Familien- und Bildungspolitik und auch der Renten-/Pensionspolitik. In diesen Feldern formuliert die Kommission gemeinsam mit Vertretern der zuständigen Ressorts der Mitgliedstaaten übergeordnete Policy-Ziele, deren Erreichen innerhalb eines festgelegten Zeitraums anhand bestimmter Indikatoren durch regelmäßige Berichterstattung etc. überprüft wird. Da der Erfolg der OMK also vom Wirken nicht-regulativer Integrationsinstrumente (wechselseitiger Erfahrungsaustausch; wechselseitige Fortschrittskontrolle [Benchmarking]; Erlernen ‚bester Praktiken‘) abhängt und dabei freiwillig ist, wurde der Einfluss dieses Europäisierungsmechanismus angezweifelt
Anders als die positive Integration führt die „negative Integration“ nicht über den Entwurf (neuer) europäischer Policies, sondern über den Abbau von nationalen Regulierungsschranken ökonomischen Handelns im gemeinsamen Binnenmarkt zur Europäisierung. Dieser Einflussmechanismus auf die nationale Staatstätigkeit war und ist für das Verständnis des Wandels der nationalen Sozialstaaten innerhalb der EU von besonderer und im Vergleich zur positiven Integration ungleich höherer Bedeutung. Vor allem die Europäische Kommission und der Europäische Gerichtshof (EuGH) haben diesem Europäisierungsmechanismus u. a. in Bezug auf einzelne „marktförmig durchsetzt[e]“ (Leibfried/Obinger 2008: 339) Regelungsfelder der nationalen Sozialpolitiken in der Vergangenheit Geltung verschafft. So hat der EuGH z. B. im Feld der Gesundheitspolitik unter Verweis auf die vier im EU-Recht verankerten Grundfreiheiten im einheitlichen Binnenmarkt (Freiheit des Warenverkehrs, Dienstleistungsfreiheit, Personenfreizügigkeit und Freiheit des Kapital- oder Zahlungsverkehrs) immer wieder wettbewerbsrechtlichen Bestimmungen der EU den Vorrang gegenüber sozialrechtlichen Regelungen der einzelnen Mitgliedstaaten erteilt (Rosenbrock/Gerlinger 2013). Und die Europäische Kommission drängt gerade in jüngerer Zeit für den Bereich der sozialen Dienstleistungen auf die Durchsetzung oder Einhaltung der beihilfe- und vergaberechtlichen Standards der EU
Zur positiven und negativen Integration kommt weiterhin der Europäisierungsmechanismus der „indirekten Effekte“ hinzu. Solche Effekte auf nationale Sozialpolitik gehen von bestimmten, dem Handeln der mitgliedstaatlichen Regierungen insgesamt übergeordneten europäischen Regelungen oder Standards aus. Das klassische Beispiel hierfür sind die Maastricht-Defizit-Kriterien (Art. 126 Abs. 2 AEUV in Verbindung mit Art. 1, Protokoll Nr. 12 zum AEUV: max. 3 % des BIP Nettoneuverschuldung pro Jahr; max. 60 % des BIP Gesamtverschuldung der mitgliedstaatlichen Haushalte). Diese sind auch die Grundlage für den Beitritt eines Mitgliedstaates zum Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakt (Euro-Währungsraum oder Eurozone). Die Maastricht-Kriterien wirken sich auf die öffentliche Haushaltswirtschaft der EU-Mitglieder auf allen Ebenen und in allen politischen Regelungsbereichen aus, betreffen also z. B. auch die Sozialbudgets oder die Haushalte der Sozialversicherungen.
Zu diesen drei seit längerem diskutierten Mechanismen der europäischen Einflussnahme auf nationale Sozialpolitik ist in jüngerer Zeit eine weitere, neue Triebfeder hinzugetreten, die als ‚intergouvernementale Selbstverpflichtung‘ bezeichnet werden könnte. In Reaktion auf die Staatsschuldenkrise einiger EU-Mitgliedstaaten seit 2010 reformierten die nationalen Regierungen innerhalb der Eurozone zwischen 2011 und 2013 die Regeln des im EU-Vertrag verankerten Europäischen Stabilitäts- und Wachstumspakts. Dabei schlossen sie einen intergouvernementalen Vertrag („Vertrag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion“ [SKS-Vertrag], kurz: EU-Fiskalpakt), der alle Unterzeichnerstaaten nicht nur auf die Einhaltung der Maastricht-Kriterien verpflichtet, sondern auch auf institutionelle Anpassungsmaßnahmen im Bereich der nationalen Haushaltspolitik, mit denen die Einhaltung dieser Kriterien gewährleistet werden soll. Zur Kontrolle und ggf. Sanktion der Fiskalpaktstaaten bedienen sich diese der Europäischen Kommission. Insbesondere macht der Fiskalpakt die ursprünglich von Deutschland ins deutsche Grundgesetz eingeführte ‚Schuldenbremse‘ zu einem Instrument der eigenständigen nationalstaatlichen Defizitkontrolle, zu dessen Übernahme sich alle Unterzeichnerstaaten verpflichteten. Der Sektor- und Policy-übergreifende indirekte Austeritätsdruck der Maastricht-Defizit-Kriterien u. a. auf die Sozialhaushalte der EU-Mitgliedstaaten wird damit für die Länder des EU-Fiskalpakts zur zwischenstaatlich sanktionierbaren Regel.
Betrachtet man die Internationalisierungs- und Europäisierungshypothese zusammenfassend, lässt sich festhalten, dass ein direkter kausaler Zusammenhang insbesondere zwischen internationalen Einflüssen einerseits und nationalem Policy-Wandel andererseits häufig schwer herzustellen ist. Auf ihrem Weg in nationale öffentliche Politiken, wie z. B. die Sozialpolitik, werden internationale Einflussfaktoren durch das Wirken der politischen Institutionen eines jeweiligen Staates und der Interessenvertretungsaktivitäten der Policy-Akteure im jeweiligen Feld gefiltert und dabei nicht selten abgemildert, manchmal aber auch verschärft (was in der Europäisierungsforschung als „gold-plating“ bezeichnet wird). Ein Grund für den Hang zur Abmilderung externer Vorgaben ist u. a. das routinierte, „pfadabhängige“ Festhalten von staatlichen und nicht-staatlichen Policy-Akteuren an bestimmten, aus der Vergangenheit „ererbten“ Policy-Inhalten sowie Policy-spezifischen Interaktionsverfahren und institutionellen Settings
Ansätze des politischen Lernens betonen die individuellen kognitiven Voraussetzungen politischen Handelns und Entscheidens und sehen hierin den primären Ansatzpunkt zur Erklärung von Politikwandel. Insbesondere ältere lerntheoretische Ansätze gehen dabei – ähnlich wie der MSA – von einem rationalistischen Menschen- und Akteursbild aus, sind in der Perspektive auf Akteursinteressen allerdings weniger gegenwartsfixiert als der MSA. Lerntheoretische Ansätze nehmen die Überlegung von Hugh Heclo ernst, dass Regierungen oder politisch Handelnde „not only ‚power’ […]; they also puzzle. Policy-making is a form of collective puzzlement on society‘s behalf: it entails both deciding and knowing“ (1974: 305), und dies u. U. über einen längeren Entwicklungszeitraum einer bestimmten Policy hinweg.
Ein wichtiger Vertreter dieser Ansätze ist Peter Hall, der seit den frühen 1990er Jahren das Ziel verfolgt, Policy-Wandel und – im engeren Sinn – den Wandel der Staatstätigkeit, ausgehend von der Annahme von Wissenstransfer- und „Lern“-Prozessen, zu erklären. In seinem Aufsatz „Policy Paradigms, Social Learning, and the State“ (1993) untersucht Hall den Wandel der britischen Wirtschaftspolitik im Übergang von den Labour-Regierungen der 1960er und frühen 1970er Jahre zur liberal-konservativen Regierung unter Premierministerin Margret Thatcher ab 1979.
In diesem Kontext erfuhr die britische Wirtschaftspolitik eine grundlegende Richtungsveränderung weg von einer keynesianischen Ausrichtung der Nachfrageorientierung und ausgeprägten öffentlichen Investitionen hin zur monetaristischen Ausrichtung einer angebotsorientierten, liberalisierenden und öffentliche Ausgaben begrenzenden Policy-Von ‚echtem‘ Wandel oder Politikwechsel („Policy change“) kann nach Hall erst dann die Rede sein, wenn die größte Reichweite der denkbaren Veränderung beobachtet wird, nämlich die Veränderung der grundlegenden Ideen, Leitbilder oder „Paradigmen“, die staatlichem Handeln in einem Politikfeld zugrunde liegen (vgl. Kap. 1.1). Insgesamt ist Wandel dabei Hall zufolge das Ergebnis eines Lernprozesses, der dann ausgelöst wird, wenn ‚die Politik‘, d. h. im Sinne Halls die politischen und administrativen Entscheidungsträger, innerhalb des Exekutivapparats einen äußeren Lernimpuls erfahren, etwa in Form von gesellschaftlichem und/oder durch Medien vermitteltem Druck zur Veränderung bestimmter Politiken (1993: 288f.). Wie Lernen unter diesen Voraussetzungen konkret erfolgt, bleibt bei Hall allerdings noch vage.
Die Konzeption von „Lernen“ als komplexe unabhängige Variable ist ein grundsätzliches Problem lerntheoretischer Ansätze. Letztlich findet Lernen ‚im Individuum‘ statt. Es handelt sich um einen individuellen Erkenntnisprozess, der zur Übernahme neuer inhaltlicher Orientierungen durch die entscheidungsrelevanten Akteure und darüber vermittelt ggf. zu Politikwandel führt. Dabei kann schwer nachgewiesen werden, ob der jeweilige Orientierungswandel einen Austausch kurzfristig entscheidungsbezogener Interessen oder aber eine dauerhafte Veränderung von Überzeugungen bedeutet. Unterschiedliche Vertreter lerntheoretischer Ansätze sind mit diesem Problem verschieden umgegangen
Richard Rose (1991; 1993) beispielsweise begreift Lernen als das freiwillige ‚Ziehen von Lehren‘ („Lesson-Drawing“) und beschreibt es als einen Prozess, bei dem Politiker oder politische Entscheidungsträger als rational interessenorientierte, konkret an ihrer Wiederwahl interessierte Akteure in Situationen von Unzufriedenheit mit dem Status quo in einem Politikfeld vermeintlich passende Politiklösungen aus anderen Ländern übernehmen. Rose unterscheidet dabei zwischen mehreren Stufen der Lösungs- oder Ideenübernahme:
1. Inspiration im Sinne der Aufnahme von Anregungen zur Weiterentwicklung eigener Policy-Ansätze,
2. Synthesebildung im Sinne der Übernahme einzelner, ganz bestimmter Handlungsanregungen,
3. Hybridbildung im Sinne der Vermischung des eigenen Handlungs-/Policy-Ansatzes mit den von außen ‚hereingeholten‘ Ansätzen,
4. Adaption im Sinne einer weitreichenden, wenn auch gewisse Abstriche machenden Übernahme externer Lösungen, und schließlich
5. Kopie im Sinne der vollständigen Übernahme der externen Lösungen David Dolowitz und David Marsh wiederum vertreten – ähnlich wie Rose – die Vorstellung, dass Lernen bedeutet, Wissen oder praktische Politikinhalte oder Instrumente aus exogenen politischen Systemen in ein bestimmtes System oder auch aus policy-exogenen Arenen in eine bestimmte Politikarena zu importieren oder zu transferieren (1996; 2000).
Im Gegensatz zu Rose fassen sie das Konzept des Lernens als einen Prozess, der nicht notwendig nur freiwillig verläuft, sondern auch durch die Ausübung von Zwang erfolgen kann. Das Akteursbild ist hier also ein weniger voluntaristischrationalistisches als bei Rose. Grundsätzlich begreifen Dolowitz und Marsh Lernen als Wissenstransfer, also einen auf das Individuum oder den individuellen Akteur bezogenen Prozess. Es braucht dazu einen „Sender“ (von Wissen, Information etc.) und einen „Empfänger“. Dabei geht es ihnen darum, eine möglichst genaue konzeptuelle Vorstellung von den Funktionsprinzipien der Wissensübertragung im politischen Prozess zu entwickeln. Demzufolge lässt sich der Lernprozess auf einem Kontinuum einordnen, das von der freiwilligen Übernahme von bestimmtem Wissen durch den Empfänger bis hin zur zwangsweisen Auferlegung der Kenntnisnahme neuer Informationen durch den Sender auf den Empfänger reicht
Hier zeigt sich die praktische Notwendigkeit, diesen lerntheoretischen Ansatz mit anderen Erklärungsansätzen der Politikfeldanalyse zu verkoppeln. Je nachdem, in welchem Verhältnis Sender und Empfänger zueinander stehen, über welche Machtressourcen sie verfügen und welche Interessen sie verfolgen, in welchem institutionellen Umfeld und innerhalb welcher Akteurkonstellation sie handeln und auch, welchen äußeren Zwängen oder (geänderten) Rahmenbedingungen sie unterliegen, erfolgt der Wissenstransfer mal mehr und mal weniger freiwillig
Ungeachtet der anwendungspraktischen Hürden, nämlich dass das Konzept des Lernens schwer greifbar ist und die Operationalisierung des Lernprozesses mit der erwarteten Folge des Policy-Wandels in politikfeldanalytischen Untersuchungen dementsprechend schwerfällt, erfreuen sich lerntheoretische Ansätze und Ansätze, die auf die Veränderung von auch kulturell vermittelten Ideen bei den politisch Handelnden abstellen, seit einiger Zeit wachsender Beliebtheit auch in der (vergleichenden) Untersuchung wohlfahrtsstaatlichen Wandels und sozialpolitischer Veränderungen. Das grundsätzliche Problem der Operationalisierung des „Lernens“ als Einflussfaktor sozialpolitischen Wandels wird dabei häufig über die Beobachtung von Veränderungen in den Diskursen von Schlüsselakteuren als Indikator für „Lernen“ gelöst (Sabatier/Weible 2007). Ein Beispiel hierfür ist etwa die lerntheoretisch argumentierende Untersuchung des Wandels der deutschen Arbeitsmarktpolitik 2002-2005. Insgesamt ist mit Blick auf lerntheoretische Ansätze wichtig festzuhalten, dass Lernen als ein zunächst individueller Vorgang an sich nichts erklärt, sondern dass er erst dann – und dies wird mit Blick auf Dolowitz‘ und Marshs Konzept des Lernens deutlich – erklärungskräftig werden kann, wenn alle im Einzelfall lernbegünstigenden oder -hemmenden Faktoren bei der Erklärung bestimmter Policy-Prozesse mitberücksichtigt werden
Bereits in der oben erläuterten Vetospieler-Theorie deutete sich die ab Beginn der 1990er Jahre in der Policy-Forschung angestrebte Blickwinkelerweiterung von unifaktoriellen hin zu faktorkombinierenden Erklärungsansätzen an. Renate Mayntz und Fritz W. Scharpf setzten diesen Anspruch der systematischen Verbindung mehrerer unterschiedlicher Erklärungsfaktoren zu einem Analyserahmen mit ihrem Entwurf des Akteurzentrierten Institutionalismus (AZI) um. Der AZI zeichnet sich durch eine grundlegende Skepsis gegenüber einem überzogen rationalistischen Akteurskonzept sowie das Unbehagen an einem allzu formalistischen Verständnis des Institutionenbegriffs aus. Außerdem basiert er auf der Erkenntnis, dass vorwiegend monokausale Theorien sich kaum dazu eignen, kollektives politisches Handeln in bestimmten Situationen zu analysieren. Er ist überdies ein Ansatz und keine Theorie, d. h. er lenkt die Aufmerksamkeit auf bestimmte Faktoren, die von Bedeutung sein könnten, und deren Zusammenspiel, im Gegensatz zu Theorien erlaubt er aber keine „Wenn-Dann“-Aussagen. Der AZI eignet sich daher besonders gut zur Analyse von komplexen Policies und Politikentscheidungen
Der AZI bezieht nicht nur das institutionelle Umfeld, in dem die betroffenen Akteure in einer konkreten Handlungs- und Entscheidungssituation interagieren („Arena“), in die Policy-Erklärung mit ein. Zusätzlich betont er auch die Bedeutung von „intervenierenden“ Variablen, die in der jeweiligen Situation zwischen dem Wirken institutioneller Rahmenbedingungen einerseits und dem kollektiven Handeln und Entscheiden der Akteure andererseits vermitteln: die spezifische Handlungssituation (Politikfeld, zeitlicher Kontext, Akteurkonstellation), die teils situationsgebundenen „Handlungsorientierungen“ der Akteure („Präferenzen“ und Normen), und die von den Akteuren wahrgenommenen, von außen einwirkenden Umweltbedingungen der jeweiligen Handlungssituation. Durch diese Perspektive auf die institutionell vorgeprägte, doch situationsbezogen spezifische Kombination von unterschiedlichen Einflussfaktoren des politischen Entscheidens ermöglicht der AZI die differenzierte Analyse und Erklärung auch von unerwarteten Politikergebnissen wie radikalem Policy-Wandel. Renate Mayntz und Fritz W. Scharpf haben den AZI zur Untersuchung von Policy-Wandel aufgrund von „gesellschaftliche[r] Selbstregelung“ in „staatsnahen Sektoren“ innerhalb des deutschen Wohlfahrtsstaates empfohlen. Dazu zählt u. a. auch die Gesundheitspolitik, wo wesentliche Policy-Entscheidungen im Rahmen institutionell ausdifferenzierter Arrangements der gesundheitspolitischen Selbstverwaltung (zwischen Ärzten, Krankenhäusern und Krankenkassen) im „Schatten der [staatlichen] Hierarchie“ getroffen werden. Der AZI ist ursprünglich in Bezug auf die politische Entscheidungsfindung in Deutschland entwickelt worden und findet in der Wohlfahrtsstaatsforschung nach wie vor auch zumeist Anwendung auf den deutschen Sozialstaat. Ein anderer faktorkombinierender Ansatz mit internationaler Reichweite ist der Multiple Streams-Ansatz.
Der Multiple Streams-Ansatz (MSA) wurde 1984 von dem US-amerikanischen Politikwissenschaftler John W. Kingdon entwickelt. Grundlegend nehmen die Vertreter des MSA – zu nennen ist neben Kingdon insbesondere auch Nikolaos Zahariadis (2007) – an, dass Policy-Wandel dann erfolgt, wenn sich im zeitlichen Entwicklungsprozess einer bestimmten Policy eine ‚gute Gelegenheit‘ zur Veränderung ergibt (z. B. in Form eines externen Schocks oder eines Regierungs- und zugleich politischen Machtwechsels), wobei dem Ansatz zufolge zum gleichen Zeitpunkt bestimmte Rahmenbedingungen zusammen kommen müssen und sich ein „politischer Unternehmer“ der Aufgabe der Veränderung aktiv annehmen muss.
Ursprünglich ging es Kingdon weniger um die Entwicklung eines allgemeinen Analyserahmens für Wandel. Vielmehr wollte er ein Modell zur Untersuchung seiner ganz konkret beobachteten Fälle der unerwarteten Policy-Reform in den Bereichen Gesundheits- und Verkehrspolitik entwerfen. Ziel dabei war es, erklären zu können, warum manche mitunter eher marginale Policy-Probleme thematisiert werden, es also auf die politische Agenda schaffen, während andere – auch wenn sie eine große Zahl von Menschen betreffen mögen – im Dunkeln bleiben und warum bestimmte Maßnahmen (Policies) in die Auswahl politischer Lösungen kommen und andere nicht . Zu diesem Zweck griff Kingdon auf das sogenannte Garbage Can-Modell („Mülleimermodell“) von Michael D. Cohen, James G. March und Johan P. Olsen (1972) zurück und verglich Regierungssysteme mit ‚organisierten Anarchien‘. Diese zeichnen sich dem MSA zufolge weniger durch ein Gebäude bestimmter formaler Regeln und Organisationsstrukturen aus, als vielmehr durch die Koexistenz von drei Strömen, die sich relativ unabhängig voneinander fortbewegen, dem Problem-Strom, dem Policy-Strom und dem Politics-Strom
Den Problem-Strom beschreibt Kingdon als das konkurrierende Nebeneinander einer ganzen Reihe von Problemen, die grundsätzlich alle auf die politische Agenda gelangen könnten. Dass es letztlich nur wenige Probleme oder – in einem konkreten Politikfeld – nur ein bestimmtes Problem auf die Agenda schafft, hängt dem MSA zufolge insbesondere mit der signifikanten Veränderung bestimmter sozioökonomischer Rahmenbedingungen oder eben Problem-Indikatoren öffentlicher Politik zusammen. So übersetzen z. B. statistische Angaben wie die Entwicklung der Arbeitslosenquote oder die Ergebnisse von Meinungsumfragen komplexe Materien in einfache Botschaften an politische Entscheidungsträger (Kingdon 2003: 90ff.), oder „focusing events“, wie z. B. die internationale Finanz- und Wirtschaftskrise, die 2008 mit dem Zusammenbruch der US-amerikanischen Investmentbank „Lehman Brothers“ einsetzte, lenken die öffentliche und darüber vermittelt die politische Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Problem (ebd.: 95ff.). Auslöser des Agenda Settings kann aber auch die (negative) Evaluation früherer Politikentscheidungen sein
Den Policy-Strom bezeichnet Kingdon auch als „politische Ursuppe“. Darin ‚schwimmen‘ zahlreiche denkbare Lösungen für unterschiedlichste Probleme, und dies zum Teil auch völlig unabhängig von der Existenz konkreter Probleme (ebd.: 88). Die potentiellen Lösungen wiederum werden produziert von Fachpolitikern, Bürokraten, Experten und Think-Tanks, so dass zu jeder Zeit ein kontingentes Angebot an (teils sehr unterschiedlichen) Policies existiert. Allerdings muss sich eine Policy durch bestimmte Eigenschaften auszeichnen, um im geeigneten Moment tatsächlich Eingang in den Politikformulierungsprozess zu finden. So muss sie für die Entscheidungsträger und in den Augen der öffentlichen Mehrheitsmeinung normativ akzeptabel sein; zudem muss sie technisch machbar sein, und es muss gewährleistet sein, dass der mit ihr verbundene Problemlösungsvorschlag ohne allzu große politische Widerstände implementiert werden kann
Der dritte Strom ist der politische Konflikt- oder Politics-Strom, der sich durch die im zeitlichen Kontext wandelbare Konfiguration aus der je vorherrschenden öffentlichen Meinung zu einem Problem („national mood“), der je gegebenen Einflussstärke von bestimmten gesellschaftlichen Interessenorganisationen, den je gegebenen politisch-parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen und der je aktuellen Verbreitung bestimmter politischer Ideologien auszeichnet (Kingdon 2003: 145ff.). Zu Policy-Wandel kommt es insbesondere dann, wenn zum selben Zeitpunkt ein bestimmtes Problem auf die politische Agenda gelangt, eine geeignete, prinzipiell durch- und umsetzbare Policy-Lösung zur Hand ist und sich Veränderungen im Politics-Strom ergeben, die die Durchsetzung der zum Problem passenden Lösung begünstigen (etwa durch Wahlen, öffentlichen Stimmungsumschwung oder den Druck mächtiger organisierter Interessen). Wandel ist allerdings keine ‚zwingende‘ Konsequenz dieser Konstellation. Vielmehr hängt es zusätzlich vom Tätigwerden eines politischen Unternehmers (Policy-Entrepreneur) ab, ob die drei Ströme tatsächlich und mit der Konsequenz von Wandel verkoppelt werden. Policy-Entrepreneure haben als wichtige Schlüsselakteure im politischen Prozess die zentrale Aufgabe, thematisierte Probleme mit bestimmten Lösungen zu verbinden (ebd.: 20). Und sie haben damit auch die Gelegenheit, „… to push their pet solutions, or to push attention to their special problems“ (ebd.: 165). Unter diesen Voraussetzungen oder in diesem „critical moment in time“ (Zahariadis 2007: 73) öffnet sich, so nehmen Kingdon, Zahariadis und die Vertreter des MSA an, ein „politische(s) Gelegenheitsfenster“ („policy window“) für Wandel.
Im Modell des MSA spielen Zufälle und Eigendynamiken innerhalb eines Politikfelds eine wichtige Rolle. Politik ist kein rationaler Prozess der geordneten, rational konsequent planbaren und schrittweisen Problemlösung, sondern vielmehr eine manchmal chaotische Kopplung von Problemen und Lösungen. Kingdons Fallstudien „don’t have the flavor of a rational, comprehensive approach to problem solving. Often the participants are not solving problems at all” (Kingdon 2003: 78). Nicht selten suchen sich die Lösungen ihre Probleme anstelle des umgekehrten Mechanismus (Kingdon 2003: 18), oder Politiker verfolgen mit bestimmten Policies andere Ziele als eine Problemlösung, z. B. das Ziel, sich selbst im Wahlkampf zu positionieren (Rüb 2009: 352). Mit einer solchen Sicht auf politische Prozesse verabschiedet man sich zwangsläufig von der ohnehin zweifelhaften Vorstellung, Politik sei vorrangig Problemlösung (vgl. Greven 2008; Mayntz 2001). Stattdessen werden „Staat und Regierung als Träger eines Gemeinwohls entmystifiziert, […] als einheitlich handelnde Akteure entzaubert“ und als konfligierende Einheiten erfasst
Dem ‚Ereignis‘ der politischen Entscheidungsfindung und ggf. des Policy-Wandels nimmt der MSA durch die Figur des politischen Unternehmers allerdings ein Stück weit das vermeintlich ‚Zufällige‘ (ebd.: 348). Hier liegt eine Schwäche des Ansatzes. Problematisch ist dabei nicht die auf das Wirken von Macht und Interessen verweisende akteurorientierte Perspektive, sondern das Faktum, dass der MSA das Rätsel des politischen Unternehmers, also die Quellen und Beschränkungen seiner Macht, nicht auflöst. Zudem spielen in der ursprünglichen Variante politische Institutionen keine Rolle. Es besteht somit die Gefahr, dem politischen Unternehmer eine ‚Allmachtsposition‘ im politischen Prozess zu unterstellen, die dieser gar nicht besitzt. Eine weitere Schwäche des MSA liegt im überstarken Gegenwartsbezug des Ansatzes. Dass Politiken – und dies gilt gerade auch für den Bereich der Sozialpolitik (vgl. oben „Politikerbe und Pfadabhängigkeit“) – mitunter eine lange zurückreichende Historie haben, berücksichtigt der MSA nicht. Macht man sich diese kritischen Punkte bewusst, so erscheint der Multiple Streams-Ansatz für die Analyse von Sozialpolitik und soziapolitischem Wandel durchaus attraktiv, weil er zahlreiche Faktoren in sich aufnimmt und dabei kein mechanistisches Politikverständnis zugrunde legt, sondern Politik als dynamisch-prozesshaft und konfliktgeladen beschreibt.
Eine zentrale Idee sozialpolitischen Handelns und ein wichtiger Orientierungspunkt der Organisation des Sozialstaates, seines spezifischen Instrumenten-Mixes und -Einsatzes und damit auch jeglicher sozialpolitischer Entscheidung ist die Idee der sozialen Gerechtigkeit. Neben dem Kernziel der Herstellung von sozialer Sicherheit ist ein weiteres wichtiges Ziel von Sozialpolitik die Herstellung und Verbesserung sozialer Gerechtigkeit innerhalb der Gesellschaft. Dies geschieht z. B. durch Umverteilung, also Re-Allokation des gesellschaftlichen Wohlstands, Allokation gemeinschaftlicher Ressourcen, Herstellung von individueller Autonomie, soziale Absicherung der Gesellschaftsmitglieder qua deren spezifischer Eigenschaften oder im Bedarfsfall etc. 13 Schon diese Aufzählung der Wege zur Herstellung von sozialer Gerechtigkeit zeigt, dass die Gerechtigkeitsvorstellungen, die staatlichem Handeln in unterschiedlichen Sozial- oder Wohlfahrtsstaaten traditionell zugrunde liegen, z. T. stark variieren. Mal geht es eher um die Herstellung von Gleichheit zwischen den Individuen, mal eher um Chancengleichheit, mal eher um den Ausgleich sozialer Nachteile für ganz bestimmte benachteiligte oder bedürftige Gruppen oder Einzelne und mal eher um die Absicherung größtmöglicher Freiheit des Individuums als Unterstützung für dessen eigenverantwortliche soziale Positionsentwicklung innerhalb der Gesellschaft. Keine dieser Orientierungen und „Erwartungshaltungen“ (Lessenich 2012: 103) bestimmt indes sozialstaatliches Handeln ganz. Stets findet sich in den unterschiedlichen Wohlfahrtsstaaten eine gewichtete Mischung dieser im Spannungsfeld zwischen Gleichheit, Sicherheit und Freiheit liegenden Grundorientierungen
Dem Sozialstaat bringen die Bürgerinnen und Bürger heute ganz unterschiedliche Erwartungen entgegen. Längst werden diese nicht mehr nur von bestimmten einzelnen Klassen oder sozialen Gruppen, wie z. B. der Arbeiterklasse, formuliert. Und mithin gehen das Spektrum der Erwartungen und folglich auch der Umfang der sozialpolitischen Aufgabenfelder, die Funktionen des Sozialstaates und die Ausdifferenzierung des sozialpolitischen Handelns des Staates über die Linderung von offener Armut und die staatliche Garantie einer minimalen Absicherung grundlegender arbeitsbezogener und allgemeiner Lebensrisiken weit hinaus. Lessenich weist darauf hin, dass Sozialpolitik bereits in den Anfängen des modernen Sozialstaates im Kaiserreich ab 1871 (vgl. Kap. 3) mehr umfasste als nur den Schutz einer kleinen Minderheit von sozial Ausgegrenzten und Bedürftigen (2012: 80). Der Aufbau und die Ausgestaltung der sozialen Sicherungssysteme in Deutschland erscheinen tatsächlich als ein „Mittelstandsprojekt“ (ebd.). Sozialpolitik kommt der großen Mehrheit der Bevölkerung zugute bzw. diese ist davon auf unterschiedlichste Art und Weise betroffen – das zeigt zunächst der Blick auf die Statistik
Angesichts dieser Zahlen ist das Spektrum der sozialpolitischen Aufgabenfelder und damit des sozialpolitischen Handelns des Staates erwartungsgemäß groß. Im Sozialbericht der Bundesregierung ist in diesem Zusammenhang umfassend von „Gesellschafts- und Sozialpolitik“ die Rede (Deutscher Bundestag 2013: 11). Hier wird die Bandbreite der Tätigkeiten und Aufgaben des bundesdeutschen Sozialstaates beschrieben. Sie reicht von den ‚klassischen‘ Feldern der Absicherung von Arbeitnehmerrisiken, des Arbeitsrechts und des Arbeitsschutzes, der Gesundheitspolitik, des Unfallschutzes und der Alterssicherungspolitik über die ‚neueren‘ Felder der aktiven Arbeitsmarktpolitik, der Kinder-, Jugend- und Familienpolitik, der Bildungspolitik, der Wohnungs- und Städtebaupolitik, der Sozialgerichtsbarkeit, der sozialen Entschädigungspolitik, der Berücksichtigung sozialer Aspekte in der Steuer- und Finanzpolitik und der Sozialhilfe bis hin zu den ‚jüngsten‘ Feldern der Pflegepolitik, der Migrations- und Integrationspolitik, der Gleichstellungspolitik und der Senioren- sowie der „Engagementpolitik
Funktionen der Sozialpolitik:
In diesen Feldern soll die Sozialpolitik jeweils ganz unterschiedliche Funktionen erfüllen. Dabei besteht der Zweck der Sozialpolitik keineswegs nur oder gar ausschließlich darin, soziale Probleme auf der individuellen Ebene, der Ebene sozialer Gruppen oder der Gesellschaft insgesamt zu lösen. Vielmehr liegen und lagen sozialstaatlichem Handeln neben dem sozialen Sicherungsziel stets weitere, außerhalb des Sozialen liegende Ziele zugrunde. Die Sozialpolitik wurde dementsprechend nicht nur in Deutschland, sondern vielerorts mit weiteren Funktionserwartungen in Verbindung gebracht. Grundsätzlich lassen sich drei große Funktionsbereiche unterscheiden: die soziale, die ökonomische und die politische Funktion von Sozialpolitik
Soziale Funktion: Im Zentrum der sozialen Funktion steht die Erwartung der Herstellung und Verbesserung der sozialen Integration der Gesellschaft. Dabei sind unterschiedliche Maßnahmen denkbar, die sich grob in folgende Bereiche ausdifferenzieren: Maßnahmen zur sozialen Absicherung der Arbeitnehmer gegen arbeitsbezogene Risiken (Unfall, Invalidität etc.) sowie zur Absicherung der Bevölkerung insgesamt gegen allgemeine Lebensrisiken (z. B. Krankheit, Alter, Pflegebedürftigkeit) und – damit verbunden – der materielle Ausgleich von Schäden, Nachteilen etc. im Falle des Risikoeintritts; der Schutz der Arbeitnehmer im Betrieb bzw. am Arbeitsplatz gegen Ausbeutung, unangemessene, z.B. gesundheitsbeeinträchtigende Arbeitsbedingungen und die staatliche Garantie des Rechtsweges für Arbeitnehmer (Arbeitsrecht); die Verbesserung der individuellen Lebenssituation des Einzelnen bei Vorliegen bestimmter Einschränkungen oder Nachteile (z. B. Behinderung etc.); die Organisation der sozialen Fürsorge für bestimmte Gruppen (z. B. Kinder, Jugendliche etc.) sowie die auf individueller Bedürftigkeitsprüfung beruhende Garantie der Teilhabe des Einzelnen am gesellschaftlichen Leben durch den Schutz vor Armut (in Deutschland über die Grundsicherung für Arbeitsuchende nach SGB II oder die Sozialhilfe für alte und behinderte Menschen nach SGB XII).
Maßnahmen im Sinne der sozialen Funktion können kollektiv (bei bestimmten Gruppen oder der Gesellschaft insgesamt) oder aber beim Individuum ansetzen. Und sie können im Sinne der im Sozialrecht heute gebräuchlichen Unterscheidung hier auf die Vorsorge (Sozialversicherung), die soziale Entschädigung oder Versorgung beim Vorliegen bestimmter individueller Schäden oder Nachteile (z. B. Kriegsopferentschädigung), die soziale Hilfe oder Fürsorge (z. B. Sozialhilfe, Grundsicherung für Arbeitslose, Jugendhilfe) oder die soziale Förderung zur Entfaltung der Person beim Vorliegen verminderter Chancen (z. B. Ausbildungsförderung, Arbeitsförderung, Familienleistungen, Wohngeld, Behindertenförderung) abzielen
Ökonomische Funktion: Im Mittelpunkt der ökonomischen Funktion steht die Erwartung, dass Sozialpolitik zur Stabilisierung der Volkswirtschaft beiträgt und gegebenenfalls, z. B. als Arbeitsmarktpolitik, wirtschaftliche Tätigkeit mit stimuliert. Auch hier sind wiederum unterschiedliche, individuell oder kollektiv ansetzende Maßnahmen denkbar: konjunkturpolitische Maßnahmen, die der wirtschaftlichen Produktion dienen und darüber zur Stabilisierung des Arbeitsmarktes beitragen (Investitionen in soziale Infrastruktur [z. B. Kindergärten, Schulen, Krankenhäuser], steuerliche Maßnahmen zugunsten von Unternehmen im Sozialbereich etc.); Maßnahmen zur Verbesserung der „Passförmigkeit“ des Arbeitsangebots der Arbeitnehmer und der Arbeitsnachfrage der Unternehmen (Bogedan/Bothfeld et al. 2012: 15) zur Stabilisierung des Arbeitsmarktes oder Erhöhung der Beschäftigung (z. B. durch Arbeitsvermittlung); Beitrag zum Erhalt eines hohen Qualifikationsniveaus der Arbeitnehmer (z. B. durch Regelungen zu Bildung, Ausbildung, Fort- und Weiterbildung); Beitrag zum Erhalt der Kaufkraft der Bürger und damit zur Sicherung einer guten Konjunkturlage (z. B. durch Regelungen zur Zahlung einer individuellen Lohnersatzleistung oder eines Subsistenzeinkommens)
Politische Funktion: Schließlich soll Sozialpolitik eine politische Funktion erfüllen. Sie soll zur Legitimierung des demokratischen Gemeinwesens und zur Stabilisierung der Demokratie beitragen. Dazu sollen beispielsweise dienen: Maßnahmen zur Herstellung des Ausgleichs zwischen Arbeits- und Kapitalinteressen (z. B. über die Mitbestimmung und das Betriebsverfassungsgesetz, die Garantie der Tarifautonomie etc.); Umverteilungsmaßnahmen zur Abmilderung von Ungleichheit zwischen bestimmten gesellschaftlichen Gruppen (arm/reich, jung/alt, erwerbstätig/arbeitslos, gesund/krank etc.); Maßnahmen, die dem Schutz der Menschenwürde und Menschlichkeit dienen (z. B. migrations- und integrationspolitische Maßnahmen; Schutzmaßnahmen zugunsten bestimmter Gruppen, wie z. B. Kinder, Jugendliche, und zur Durchsetzung ihrer Rechte); Maßnahmen, zur Herstellung oder Durchsetzung von Geschlechtergerechtigkeit.
Der rechtlichen Regelung des Sozialstaates sind bestimmte Prinzipien oder normative Grundanforderungen an staatliches, gesellschaftlich kollektives und individuelles Handeln vorgeschaltet. Für den Sozialstaat in Deutschland sind vor allem die drei miteinander zusammenhängenden Prinzipien der Solidarität, Subsidiarität und Eigenverantwortung wichtig (Becker-Neetz 2012: 3). Sie spiegeln sich an unterschiedlichen Stellen im deutschen Sozialrecht und verleihen dem Sozialstaat als Grundlage des sozialpolitischen Handelns eine ganz spezifische Prägung. Hinter dem Prinzip der Solidarität und der Forderung danach verbirgt sich die Idee der „gegenseitigen (Mit-) Verantwortung und (Mit-) Verpflichtung“ (Schubert/Klein 2011: 268) der Mitglieder einer bestimmten Gemeinschaft oder Gruppe füreinander und untereinander.
Mechanische und organische Solidarität:
Mit Blick auf die Natur dessen, was die Gemeinschafts- oder Gruppenmitglieder konkret verbindet, unterschied der französische Soziologe Émile Durkheim zwei Arten von Solidarität: erstens die mechanische Solidarität – sie ergibt sich aufgrund bestimmter geteilter Merkmale der Gruppenmitglieder (z. B. Zugehörigkeit zur Arbeiterschaft) – und zweitens die organische Solidarität – sie ergibt sich aufgrund bestimmter, von den (unterschiedlichen) Mitgliedern einer Gemeinschaft geteilter Interessen und der Erkenntnis des gegenseitigen Aufeinanderangewiesenseins in der arbeitsteiligen Gesellschaft (z. B. Interesse der Mitglieder einer Krankenkasse an sozialer Sicherheit und sozialem Ausgleich im Krankheitsfall). Im Laufe der Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland (vgl. Kap. 3) haben sich beide Arten von Solidarität ausgeprägt, wobei Manifestationen mechanischer Solidarität älter sind als solche organischer Solidarität. So findet das Prinzip der mechanischen Solidarität seinen Ausdruck bereits in den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Organisationen sozialer Selbsthilfe von Handwerkern und Handwerksgesellen (Handwerker- und Gesellenbünde) sowie im Knappschafts- (Bergleute) und Genossenschaftswesen bzw dem darüber früh ausgeprägten Hilfskassenwesen. Hier versprachen sich Angehörige des gleichen Berufsstandes durch ihre Mitgliedschaft in einer Kasse wechselseitig solidarische Hilfe (soziale Absicherung, z. B. durch finanzielle Leistungen)
Für das Solidaritätsprinzip, ebenfalls im Sinne einer mechanischen Solidarität der Arbeiter untereinander, steht ab der Zeit der Industrialisierung vor allem die Arbeiterbewegung mit den Gewerkschaften und den sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien. Das deutsche Kaiserreich hat sich dieses Prinzips ab 1883 beim Aufbau des Sozial- (versicherungs-)staates bedient und dabei den Übergang von der sozialen Sicherung auf Grundlage von Gruppensolidarität – beruhend auf dem „Kollektivbewußtsein“ (König 1984: 34) der Arbeiterklasse – hin zur sozialen Sicherung weiter Teile der Bevölkerung auf Basis einer organischen Solidarität – beruhend auf dem geteilten Interesse der einzelnen Gesellschaftsmitglieder (damals die lohnabhängige Bevölkerung) an sozialer Sicherheit sowie am Ausgleich von sozialen Schäden und Risiken – gestaltet.
Das vorrangige Ziel des Kaiserreichs und des ersten Reichskanzlers Otto von Bismarck war dabei keineswegs die breite soziale Absicherung der Bevölkerung. Vielmehr lagen der Einführung der Sozialversicherung zunächst „machtpolitische“ Motive verbunden mit einem „anti-sozialistischen bzw. -sozialdemokratischen Impuls“ sowie „antiliberale, antizivilgesellschaftliche“ und „antikatholische“ Überlegungen zugrunde (Lessenich 2012: 84- 85). Letztlich beförderte dieser Akt der Übernahme staatlicher Verantwortung für die soziale Sicherheit der Bevölkerung insgesamt allerdings vor allem die Sozialdemokratie. Diese ging politisch gestärkt aus der Auseinandersetzung mit der konstitutionellen Monarchie hervor, konnte sich als wichtige politische Kraft in Deutschland etablieren (Lampert/Althammer 2007: 65) und dem Solidarprinzip in der sozialpolitischen Entscheidungsfindung zunächst während der Weimarer Republik weitere Geltung verschaffen (z. B. durch die Ausweitung von Sozialversicherungsleistungen; vgl. Kap. 3). Dabei zog die SPD aus der frühen Erfahrung als bekämpfte politische Opposition den Schluss, dass es eines staatlichen Eingriffs bedarf, um das Machtungleichgewicht zwischen Kapital und Arbeit nicht zu groß werden zu lassen und die gerechte Entlohnung der arbeitenden, den Reichtum der Kapitalisten mehrenden Klasse sowie deren Absicherung gegen arbeitsbedingte Risikofälle effektiv zu gewährleisten
Dieser Eingriff besteht heute in zweierlei, zum einen in Umverteilung und zum anderen in der Regelung kollektiver Sicherungssysteme zum Aufbau eines kollektiven Vermögens für die soziale Absicherung und Versorgung der Gemeinschaftsmitglieder im Schadensfall. Ersterer Eingriffsart liegt die Idee der ausgleichenden Gerechtigkeit zugrunde. Sie wird hergestellt durch staatlich geregelte Umverteilung und damit die Übung von Solidarität zwischen den einzelnen (z. B. reichen und armen) Gesellschaftsmitgliedern (z. B. über fiskalische [Um-] Verteilungsmaßnahmen). Letztere Eingriffsart beruht auf der Idee der solidarischen Gerechtigkeit (ebd.: 139). Diese wird beispielsweise hergestellt durch wechselseitige Übung von Solidarität zwischen den Mitgliedern der Sozialkassen. Beidem liegt heute in erster Linie die Vorstellung der organischen Solidarität im Sinne des sozialen Ausgleichs zwischen den Staatsbürgern und der sozialen Absicherung als individuellem Bürgerrecht zugrunde.
Prinzip der Subsidiarität: Das Prinzip der Subsidiarität ist von dem der Solidarität nicht vollständig zu trennen – auch hier geht es um solidarische Hilfeleistungen der Mitglieder einer Gesellschaft oder bestimmten Gruppen untereinander. Dabei wurzelt das Subsidiaritätsprinzip in der katholischen Soziallehre. Es wurde von Papst Leo XIII. (1878-1903) in Auseinandersetzung mit der „Arbeiterfrage“ und den Rechten und Pflichten von Arbeitern und Kapitalisten in der päpstlichen Sozialenzyklika Rerum Novarum 1891 formuliert. Dem Subsidiaritätsprinzip zufolge soll die jeweils größere Einheit (z. B. Staat, Kommune, Gemeinschaft, Familie) erst dann und dort der jeweils kleineren, nachgeordneten Einheit (Kommune, Gemeinschaft, Familie, Einzelner) helfend zur Seite stehen, wenn diese sich nicht mehr selbst helfen kann. Dieser Gedanke trägt die päpstliche Enzyklika Rechnung, wobei darin entgegen den Überzeugungen der Arbeiterbewegung und der sozialistischen Idee ausdrücklich das Recht auf Privateigentum verteidigt wird und entgegen den frühliberalen Vorstellungen das Recht der arbeitenden Klasse auf angemessene Entlohnung und Schutz vor Ausbeutung betont wird
Unterstützende Hilfsleistung: Hilfeleistung – bezogen auf den Sozialstaat insbesondere öffentliche Hilfeleistung – ist vor diesem Hintergrund stets als ‚aushelfend‘ (von frz. subsidiaire: aushelfend, Hilfe leistend) gemeint, ohne dass die Eigenleistung des Individuums und Eigenverantwortung für sein soziales Fortkommen oder seinen Stand (ausgedrückt auch über Privatbesitz/Eigentum) damit völlig ausgeblendet würden. Man könnte in diesem Kontext von unterstützender oder „austeilender Gerechtigkeit“ sprechen. Innerhalb und außerhalb der katholischen Kirche ist das Subsidiaritätsprinzip immer wieder diskutiert worden. Einerseits steht es für die Anerkennung individueller Mündigkeit und Verantwortung durch die größere Gemeinschaft oder den Staat, andererseits ist in der modernen (post-) industriellen Gesellschaft häufig unklar, ab wann das Individuum überfordert ist und ab wann die Notwendigkeit der Hilfeleistung durch das größere Kollektiv eintritt. Fest steht allerdings, dass dies heute eher und häufiger geschieht als in vormodernen, stärker gemeinschafts- und familienbezogenen Gesellschaften.
Das Prinzip der Subsidiarität manifestiert sich im deutschen Sozialstaat beispielsweise im Sektor der sozialen Dienstleistungen. Letzterer beruht traditionell auf der Idee, dass nicht der Staat, sondern freigemeinnützige Wohlfahrtsträger und dann ggf. die Kommunen Hilfe organisieren und leisten sollten.. Wichtig ist, dass im deutschen Sozialstaat (im Unterschied zu Sozialstaaten anderen Typs, insbesondere den liberalen Wohlfahrtsstaaten; vgl. Kap. 2.5) Subsidiarität zwar eine zentrale Norm darstellt, der Einzelne jedoch ungeachtet dessen ein soziales Recht auf Hilfe beim Vorliegen entsprechender Voraussetzungen hat. Das freiwillige, auf mildtätiger Einsicht, Barmherzigkeit oder Gutmütigkeit einzelner Gesellschaftsmitglieder oder gesellschaftlicher Gruppen beruhende Hilfesystem, das die Idee der Subsidiarität früher verkörperte, ist im heutigen deutschen Sozialstaat also so nicht mehr gegeben. Vielmehr legt der Staat die Bedingungen fest, unter denen das Recht auf Hilfe greift, er garantiert die Hilfeleistung und definiert die Instrumente und Mittel, die dafür zur Verfügung stehen, auch wenn er die Aufgabe der Hilfeleistung vielfach an Dritte (z. B. die freien Trägerorganisationen der Wohlfahrtspflege) delegiert hat.
Prinzip der Eigenverantwortung: Das Prinzip der Eigenverantwortung schließlich wurzelt in den Theorien des Gesellschaftsvertrages, die im 17. und 18. Jahrhundert in unterschiedlichen Ausprägungen von den Vertragstheoretikern (Thomas Hobbes, John Locke, Jean-Jacques Rousseau, Immanuel Kant) formuliert und vertreten wurden (Boeckh/Huster et al. 2011: 137). Zentral ist hier die Idee, wonach die freien und gleichen, vernunftbegabten Individuen im vorstaatlichen Naturzustand untereinander (fiktiv) einen Vertrag geschlossen haben. Dieser erlaubt es ihnen, in eigener Verantwortung ihren persönlichen Angelegenheiten nachzugehen und ihre persönlichen Entwicklungsziele zu verfolgen, soweit und solange dies nicht die Freiheit der anderen individuellen Vertragspartner einschränkt oder gar schädigt, es ihnen gleichzutun (Benz 2008: 60). Dem Staat kommt dabei vor allem eine rechtsstaatlich ordnende, nicht eine sozialstaatlich intervenierende Funktion zu. Er hat aus dieser Sicht die Aufgabe, das eigenverantwortliche Handeln der Einzelnen im eigenen Sinne (Idee: „Jeder ist seines Glückes Schmied“) vor Übergriffen durch andere zu bewahren und die Freiheit der Einzelnen abzusichern, indem er die Einhaltung der (fiktiven) Vertragsregeln schützt. Hieraus gewinnt der Staat seine Legitimation, denn es entspricht – so die Vertragstheorien – dem Interesse der rationalen Einzelnen, der Bürger, dass es eine übergeordnete Ordnungsinstanz gibt, die kraft der ihr verliehenen Herrschaftsmacht Konflikte zwischen den Gesellschaftsmitgliedern verhindert oder beilegt.
Leistungsgerechtigkeit: Das Recht auf Eigentum und die staatliche Garantie desselben gegenüber allen Gesellschaftsmitgliedern wurde und wird als eine zentrale Manifestation des Prinzips der Eigenverantwortung betrachtet. Privates Eigentum wurde von den Vertragstheoretikern nicht nur als Ausdruck der bürgerlichen Emanzipation gegenüber dem herrschenden Adelsstand gesehen, sondern mit ihm wurde auch das Prinzip der Eigenverantwortung für das persönliche Glück oder den persönlichen Erfolg in der Gesellschaft in Verbindung gebracht (Boeckh/Huster et al. 2011: 137-138). Der Wohlfahrtsstaat, der Privateigentum garantiert, betont den Wert der Freiheit in Ergänzung oder als komplementäres Element zum Wert der Gleichheit (vgl. Frevel/Dietz 208: 47). Er stimmt darauf aufbauend gleichzeitig der Idee der Leistungsgerechtigkeit zu und enthält sich jeglicher Intervention, die die Entfaltung oder den Wert von Eigenleistung einengt oder schmälert (z. B. durch ‚gleichmachende‘ Umverteilung). Im deutschen Sozialstaat sind die Idee der Leistungsgerechtigkeit und das Prinzip der Eigenverantwortung zum einen im Grundgesetz angelegt. Hier ist in Art. 14 GG die Eigentumsgarantie niedergelegt. Allerdings legt das Grundgesetz zugleich eine soziale Bindung des Eigentums fest; „sein Gebrauch“ soll „dem Wohle der Allgemeinheit dienen“ (Art 14 Abs. 2 GG). Zum anderen findet sich beides im Sozialrecht, z. B. in den Regelungen zur gesetzlichen Rentenversicherung (Anwartschaft, Einkommenskopplung der Altersbezüge) oder auch der Arbeitslosenversicherung (Koppelung des ALG I an das letzte Einkommen). Das Prinzip ist dabei als komplementär zu den Prinzipien der Solidarität und der Subsidiarität zu sehe
Mit Hilfe von Instrumenten wird es dem Sozialstaat erst möglich, den an ihn herangetragenen Funktionserwartungen gerecht zu werden, das Handeln kollektiver und individueller Akteure zu beeinflussen, zu koordinieren oder zu korrigieren, „absichtsvoll“ auf „gesellschaftliche Prozesse“ einzuwirken (Braun/Giraud 2009: 159), auf die Lösung von Policy-Problemen hinzuwirken oder auch – je nach Regierung und Präferenzen der politischen Akteure – die Durchsetzung bestimmter Politikziele zu forcieren
Bei der Bildung von Instrumenten für die Erfüllung politikfeldspezifischer Aufgaben stehen dem demokratischen Rechts- und Wohlfahrtsstaat grundsätzlich vier zentrale Handlungsressourcen zur Verfügung: Rechtsetzungsmacht (aufgrund der Verfassung), Geld/finanzielle Ressourcen (über Steuereinnahmen), regierungsrelevante Information (aufgrund der Stellung der demokratisch gewählten Regierung als zentraler Akteur der politischen Herrschaftsausübung) und formale Organisation. Je nach Intensität des staatlichen Eingriffs unterscheiden Politikfeldanalytiker auf dieser Grundlage zwischen mindestens fünf Typen von Politikinstrumenten, die grundsätzlich auf den Sozialstaat bzw. die Sozialpolitik übertragen werden können
Staatliche Eigenproduktion von Gütern und Dienstleistungen: Hierbei handelt es sich um die direkteste Form der sozialstaatlichen Intervention. Der Staat betreibt dabei selbst soziale Einrichtungen (z. B. Krankenhäuser, in Deutschland etwa die Bundeswehr- und die Landeskrankenhäuser). Er tritt somit an die Stelle privater kollektiver oder korporativer Akteure16 , die er gegebenenfalls aus der Wohlfahrtsproduktion im entsprechenden Bereich oder ‚Marktsegment‘ völlig ausschließt.
Das für den Aufbau des sozialen Sicherungssystems in Deutschland wichtige Prinzip der Subsidiarität verhindert hierzulande staatliche Eigenproduktion sozialer Güter und Dienste in größerem Ausmaß. Traditionell treten nicht-staatliche Akteure (z. B. Wohlfahrtsverbände, Kirchen) oder in jüngerer Zeit verstärkt auch private kommerzielle Akteure (z. B. im Bereich der stationären und ambulanten Altenpflege) als primäre Träger der Aufgabenerbringung oder öffentlichen Wohlfahrtsproduktion auf. In manchen Bereichen genießen nicht-staatliche Akteure bei der Erbringung sozialer Aufgaben sogar einen im Sozialrecht vorgegebenen Vorrang vor öffentlichen Akteuren (z. B. im Gesundheitswesen, § 140 Abs. 2 SGB V, in der Kinder- und Jugendhilfe, § 4 Abs. 2 SGB VIII, in der Sozialhilfe § 75 Abs. 2 SGB XII). Nichtsdestotrotz liegt die Letztverantwortung für die jeweilige Aufgabe beim Staat selbst (oder bei den Kommunen). Er garantiert die Erfüllung der Aufgabe und tritt daher gegebenenfalls mit eigenen Einrichtungen auf, sofern die Aufgabenerbringung durch dritte, nicht-staatliche Akteure nicht sichergestellt werden kann.
Regulative Instrumente:
Sie charakterisieren sich durch ihre besonders hohe Eingriffsintensität. Wie im Fall der Eigenproduktion, handelt es sich hier um direkte Instrumente (Braun/Giraud 2009: 162), vornehmlich Gesetze oder rechtliche Regelungen. Durch autoritative Vorgaben (hierarchische Steuerung) gewährleistet der Staat hier individuelle soziale Rechte (z. B. auf Grundsicherung oder auf Sozialhilfe bei Vorliegen der entsprechenden gesetzlichen Voraussetzungen, auf Kindergeld etc.), und er garantiert Rechtsschutz für die Durchsetzung individueller Ansprüche auf soziale Leistungen gegenüber den dafür zuständigen staatlichen, halb- oder nicht-staatlichen Trägern (z. B. auf die gesetzliche Rente, das Arbeitslosengeld etc.). Außerdem beeinflusst oder steuert er durch entsprechende Vorgaben aktiv das Verhalten von nicht-staatlichen Akteuren, deren Mitwirkung bei der Herstellung von sozialem Schutz notwendig ist (z. B. Arbeitsrecht, Arbeitsschutzgesetze als Vorgaben für Arbeitgeber). Er erhöht dadurch die Wahrscheinlichkeit für eine Aufgabenerfüllung durch nicht- oder halbstaatliche Akteure. Letzteres schließt in aller Regel den Einsatz direkten oder indirekten Zwangs (Ge- und Verbote) ein.
Finanzielle Instrumente:
Bei dieser Art von Instrumenten ist die Eingriffsintensität nicht ganz so hoch wie bei den beiden erstgenannten. Instrumente dieses Typs befähigen den Staat teils zur direkten Intervention (fiskalische Verteilungs- und Umverteilungsinstrumente) und teils zum indirekten Eingriff in gesellschaftliche Interaktionsprozesse.
Erstens gewährt der Staat hier selbst direkt finanzielle soziale Leistungen, etwa der sozialen Förderung (z. B. Kindergeld).
Zweitens stellt er die Gesamtheit oder einen Teil der Mittel (in Form von Steuerzuschüssen) für individuelle finanzielle Sozialleistungen oder soziale Sachleistungen bereit, die durch halb- oder teilstaatliche Einrichtungen (z. B. die Sozialversicherungsträger, Krankenkassen/ Gesundheitsfonds, Bundesagentur für Arbeit) gewährt werden (z. B. Renten, Leistungen der ambulanten und stationären medizinischen Versorgung im Bereich der GKV, Arbeitslosengeld II).
Drittens setzt er positive oder negative finanzielle Anreize für Individuen oder korporative Akteure, um ihr Handeln auf „ökonomischem“ Wege, also durch das Auslösen eines Kosten-Nutzen-Kalküls beim jeweiligen Adressaten, in die gewünschte Richtung zu lenken (z. B. Elterngeld, Steuervergünstigungen für gemeinnützige Träger sozialer Dienstleistungen, Leistungskürzungen in der Arbeitslosenversicherung, Verhängung von Strafzahlungen, sog. „Zwangsgelder“, gegen Sozialversicherungsträger, z. B. die Krankenkassen). Wichtig ist es zu bedenken, dass finanzielle Instrumente unabhängig von ihrer konkreten Natur als direkte Leistung, Zuschuss oder Anreiz stets eine eigene rechtliche Basis haben.
Prozedurale Instrumente: Diese Instrumente zeichnen sich gegenüber den drei aufgezählten Instrumentenarten durch eine wiederum geringere Eingriffsintensität aus. Es handelt sich um indirekte Instrumente. Der Sozialstaat delegiert hierbei beispielsweise öffentliche Aufgaben an halb-, teil- oder nicht-staatliche oder nachgeordnete Akteure (z. B. Selbstverwaltung in der Sozialversicherung, Gebietskörperschaften) und steckt durch gesetzliche Regelung den Rahmen für gesellschaftliche oder auch partnerschaftliche staatlich-gesellschaftliche Interaktionsprozesse zur Wohlfahrtsproduktion ab (z. B. Regelungen betreffend die Gemeinsame Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen). Dabei schafft er nachgeordnete Entscheidungsarenen, die unter seiner Aufsicht stehen (z. B. der Gemeinsame Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen [G-BA]), und weist den zentralen Interessenakteuren im betroffenen Sektor (z. B. Kassenärztliche Vereinigungen, Verbände der Krankenkassen) Beteiligungsrechte sowie Entscheidungskompetenzen zur Mitwirkung in diesen Arenen zu.
Ziel dabei ist es, die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass die interaktionsbezogenen Voraussetzungen der Problembearbeitung oder -lösung in einem Politikbereich verbessert werden, eben weil der Staat nicht direkt in die Angelegenheiten der betroffenen korporativen Akteure eingreift und sie ‚steuert‘, sondern sie unter Androhung der direkten Intervention zu Verhandlungen und zur kooperativen Selbstregelung ihrer Angelegenheiten ‚zwingt‘ . Eine weitere Form der Steuerung durch den Einsatz prozeduraler Instrumente ist die staatliche Beeinflussung von Interaktionsprozessen innerhalb von gesellschaftlichen korporativen Akteuren oder Wirtschaftsunternehmen.
So regelt der Staat z. B. im Bereich der Sozialversicherung die Wahlverfahren zur sogenannten Sozialen Selbstverwaltung (Sozialwahlen) und weist den Gremien der Sozialen Selbstverwaltung (zusammengesetzt aus Arbeitgeber- und Versichertenvertretern, z. B. in der Gesetzlichen Rentenversicherung oder in der Gesetzlichen Krankenversicherung) Aufgaben und Entscheidungskompetenzen zu (vgl. Gerlinger 2014). Außerdem regelt er im Bereich des Arbeitsrechts die Rechte der Arbeitnehmer in Bezug auf deren innerbetriebliche Interessenvertretung (Betriebsverfassungsgesetz), weist hier ebenfalls Beteiligungs- und Aufsichtsrechte zu (Mitbestimmungsgesetz) und greift so – ebenfalls durch den arbeitsrechtlich sanktionierbaren Zwang zur Kooperation – indirekt in die unternehmerische Entscheidungsautonomie ein
Informationelle Instrumente: Hierbei handelt es sich um die „indirekteste“ Instrumentenart. Der Staat nutzt dabei die gezielte Verbreitung oder Herausgabe von Informationen oder auch öffentliche Aufklärungskampagnen, um Einfluss auf das Verhalten der Bürgerinnen und Bürger zu nehmen und individuelle oder soziale Verhaltensmuster zu verändern (z. B. Aids-Aufklärung, Kampagnen gegen das Rauchen). Es geht in diesem Zusammenhang weniger um soziale Absicherung vor bestimmten Risiken oder die Lösung bereits eingetretener sozialer Probleme, als vielmehr um die Verhinderung des Eintretens sozialer Schäden oder die Vorbeugung oder Prävention. Zentraler Mechanismus zur Verhaltenskoordination ist die individuelle Einsicht oder Erkenntnis alternativer, ‚besserer‘ Verhaltenslösungen. Dabei setzt der Sozialstaat auf die Eigenverantwortlichkeit und die Einsichts- oder Lernfähigkeit der Individuen
Erwartete Wirkung von Instrumenten:
Zum Verständnis der Instrumentenanwendung im Feld der Sozialpolitik ist es zunächst wichtig, sich die mit der Nutzung von Instrumenten verknüpfte soziale Funktionserwartung bzw. die erwartete Wirkung zu vergegenwärtigen: Geht es um Vorsorge durch die Sozialversicherung? Geht es um soziale Hilfe oder Fürsorge im Bedürftigkeitsfall? Geht es um die Verteilung kollektiv aufgebrachter finanzieller Mittel (Steuermittel), also um soziale Entschädigung durch Versorgung? Sollen bestimmte Gruppen aufgrund ihres Status oder ihrer spezifischen Leistungen für die Gemeinschaft (z. B. Familien) gefördert werden? Oder haben wir es mit weiteren, anderen Zielen, z. B. Verhaltensanreizen, Information, Prävention oder sozialpolitische Teilhabe, zu tun?
Instrumentenauswahl- und indikatoren: Je nach der erwarteten Wirkung ändert sich die Auswahl und Anwendung von Instrumenten. Politikinstrumente können daher als Indikatoren des Wandels des sozialstaatlichen Tätigwerdens und der Sozialpolitik in ihren einzelnen Aufgabenbereichen herangezogen werden. Mit Blick auf die einleitend genannte These des entschiedenen Umbaus („Transformation“) des Sozialstaates seit Ende der 1990er Jahre (vgl. Kap. 1.1) stellt sich hier u. a. die Frage, ob und wie sich der Instrumenten-Mix in den einzelnen Handlungsbereichen des Sozialstaates seither gewandelt hat und ob es gegebenenfalls zu einer Verschiebung weg von den ‚klassischen‘ sozialstaatlichen Instrumenten der Eigenproduktion, der sozialen Regulierung (insbesondere
Der föderale Staatsaufbau Deutschlands ist auch für den Aufbau des sozialen Sicherungssystems prägend. Dabei muss bei der vertikalen Ansicht des Systems der sozialen Sicherung festgehalten werden, dass die Europäische Union (EU) – wenngleich sie nach wie vor kaum eigene Kompetenzen im Feld der Sozialpolitik besitzt – mittlerweile einen einflussreichen Überbau hierüber bildet
Zunächst in der horizontalen Ansicht des sozialen Sicherungssystems hierzulande sind drei traditionelle Strukturierungsprinzipien wesentlich für dessen Gestaltung: die Prinzipien der Subsidiarität, der Selbstverwaltung und des Korporatismus.
Subsidiaritätsprinzip: Das Subsidiaritätsprinzip stellt nicht nur eine normative Grundanforderung an das sozialpolitische Handeln der staatlichen oder öffentlichen und nichtstaatlichen Akteure dar (vgl. Kap. 2.2), sondern es wirkt – im oben bereits erläuterten Sinn – zugleich als ein grundlegendes Organisationsprinzip der sozialen Sicherung. Auf der Basis dieses Prinzips liegt insbesondere die Implementation oder Umsetzung der Sozialpolitik, d. h. die Durchsetzung sozialpolitischer Regelungen und Rechte sowie die Erfüllung sozialpolitischer Aufgaben, weitgehend nicht in den Händen des Staates, sondern obliegt parastaatlichen, d. h. staatsähnlichen Organisationen (öffentliche Körperschaften, wie z. B. die Sozialversicherungsträger), gesellschaftlichen (Verbände, Vereine) bzw. privaten Akteuren (Sozialunternehmen), den Kommunen oder dekonzentrierten staatlichen Behörden. Der Staat übt hier vor allem eine Rahmen setzende und beaufsichtigende Funktion aus und agiert u. U. als ‚Ausfallbürge‘.
Selbstverwaltungsprinzip: Die Selbstverwaltung ist ein Kerngestaltungsprinzip der Sozialversicherung in Deutschland. Es hat seine Wurzeln in der Organisation der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Hilfskassen und Genossenschaften (vgl. Kap. 3). Die Träger der Sozialversicherung, d. h. die Arbeitgeber und die Versicherten (in der Regel die Arbeitnehmer), sind zugleich auch die gemeinsamen Träger der Sozialen Selbstverwaltung in den unterschiedlichen Sozialversicherungszweigen. Dies gilt grundsätzlich für die Renten-, Kranken- und Unfallversicherung. In der Arbeitslosenversicherung haben wir es mit einer staatlich-tarifpartnerschaftlichen (Arbeitgeber, Arbeitnehmer) Selbstverwaltungsorganisation („drittelparitätisch“) zu tun, und in der Sozialen Pflegeversicherung (SPV) gibt es aufgrund der organisatorischen Eingliederung der SPV in die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) keine eigene Selbstverwaltung. Kern des Selbstverwaltungsprinzips ist die Vorstellung, wonach der Staat den gesetzlichen Ordnungsrahmen für die Sozialversicherung schafft und ihren Trägern zugleich wesentliche Regelungs-, Verwaltungs- und Servicefunktionen überantwortet (ebd.)
Funktionale Selbstverwaltung: Bei der Selbstverwaltung in der Sozialversicherung spricht man auch von der „funktionalen Selbstverwaltung“ (vgl. Klenk 2008) im Gegensatz zur gebietskörperschaftlichen, z. B. kommunalen Selbstverwaltung. Insbesondere in der Gesetzlichen Krankenversicherung ist hier zwischen der Sozialen Selbstverwaltung und der Gemeinsamen Selbstverwaltung zu unterscheiden (vgl. Kap. 6). Die Soziale Selbstverwaltung ist die soeben beschriebene Selbstverwaltung der Sozialversicherung durch deren Träger bzw. Trägerorganisationen (Arbeitgeber und Versicherte). Mit dem Begriff der Gemeinsamen Selbstverwaltung wird hingegen die Delegation von Selbstregelungsaufgaben (z. B. im Bereich der medizinischen Versorgung die ärztliche Bedarfsplanung) vom Staat auf die Erbringer der medizinischen Dienstleistungen (Ärzte, Krankenhäuser) sowie die Finanzierungsträger (Krankenkassen) im Gesundheitswesen bezeichnet. Ihren institutionellen Ausdruck findet die Gemeinsame Selbstverwaltung im Gemeinsamen Bundesausschuss der Ärzte und Krankenkassen (G-BA). Der Hinweis auf die Gemeinsame Selbstverwaltung leitet schließlich über zum dritten grundlegenden Strukturierungsprinzip des sozialen Sicherungssystems, das Prinzip des Korporatismus
Korporatismus: Mit dem Begriff des Korporatismus werden „bestimmte Formen der Beteiligung gesellschaftlicher Gruppen an politischen Entscheidungsprozessen“ bezeichnet. Dabei steht der moderne gesellschaftliche oder liberale Neo-Korporatismus für die freiwillige, auf bestimmte Art und Weise organisierte Beteiligung gesellschaftlicher Gruppen (vorzugsweise Arbeitgeber und Gewerkschaften) an der politischen Entscheidungsfindung. Korporatistische Politik zeichnet sich dadurch aus, dass der Staat zur Steuerung einzelner Politikbereiche einen allgemeinen Ordnungsrahmen setzt und Kompetenzen zur konkretisierenden Regelsetzung an Verbände delegiert, sie also zur Selbstregelung oder Selbstverwaltung ihrer Angelegenheiten anhält. Die Verbände (z. B. Kassenärztliche Vereinigung, Krankenkassenverbände) werden dabei auf die Verfolgung öffentlicher Ziele verpflichtet und füllen den staatlichen Ordnungsrahmen in Kollektivverhandlungen und durch die Vereinbarung von Kollektivverträgen aus.
Der Staat stattet die Verbände mit der Fähigkeit aus, die Verhandlungsergebnisse gegenüber den Betroffenen (z. B. Vertragsärzten, Versicherten) verbindlich durchzusetzen – zumeist über die Schaffung von Zwangsmitgliedschaften für die vertretene Klientel oder über die Verleihung von Vertretungsmonopolen, wie dies z. B. bei den Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) oder allgemein berufsständischen Kammerorganisationen der Fall ist.– Die korporatistische Steuerung hat für den Staat den Vorteil, dass er sich das Expertenwissen wichtiger Verbände im jeweiligen Feld sichern und diese als Interessenvertreter (Vetospieler) zugleich zur politischen Kompromissfindung drängen kann. Im Bereich der Sozialpolitik in Deutschland betrifft dies zuallererst die Beteiligung der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerverbände oder der Gewerkschaften an der Arbeitsrechtsetzung und Implementation arbeitsrechtlicher Regelungen. Weiterhin betrifft es das Feld der Gesundheitspolitik.
Bei der Beschreibung der vertikalen Struktur des deutschen sozialen Sicherungssystems und der Akteure im Feld der Sozialpolitik ist es grundsätzlich sinnvoll, einerseits zwischen der Sphäre der Entscheidungsfindung, also den Entscheidungsbefugnissen oder „Regelungskompetenzen“ und andererseits der Sphäre sozialpolitischer Implementations- oder Durchführungsaufgaben zu trennen . Während die Implementation sozialpolitischer Aufgaben ganz überwiegend von parastaatlichen sowie nicht-staatlichen und dezentralen öffentlichen Akteuren getragen wird, liegt die Regelung der Sozialpolitik maßgeblich in den Händen des Staates, d. h. beim Bund und den Ländern. Außerdem genießen die Kommunen aufgrund ihrer traditionellen Zuständigkeit für die Daseinsvorsorge auf ihrem Gemeindegebiet eigene sozialpolitische Gestaltungsspielräume, auch wenn sie nicht gesetzgeberisch tätig werden können.
Wesentliche Bereiche der Sozialpolitik werden auf der Bundesebene geregelt. Dies betrifft das gesamte Sozialversicherungsrecht einschließlich der Arbeitslosenversicherung, weite Teile des Rechts der öffentlichen Sozialfürsorge und -versorgung (Sozialhilfe, Grundsicherung für Arbeitslose und Sozialgeld, Kinder- und Jugendhilfe, Hilfen für Flüchtlinge und Asylbewerber, Wohngeld, soziale Leistungen für Familien, Kriegsopferversorgung und -entschädigung, Ausbildungsförderung), das Recht der Rehabilitation und Teilhabe von Menschen mit Behinderung, das Arbeitsrecht (inklusive der Regelungen zur Betriebsverfassung), die Arbeitsschutzgesetzgebung und die Arbeitsförderung sowie -vermittlung einschließlich der Organisation der Arbeitsverwaltung und die auf den Bereich der Wirtschaft bezogene Sozialgesetzgebung (Tarifvertragsgesetz)
In diesen Regelungsbereichen werden Sozialgesetze durch die maßgeblich an der Gesetzgebung des Bundes beteiligten Akteure (Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung sowie die im Parlament vertretenen politischen Parteien,) vorbereitet und verabschiedet, wobei teils mächtige Interessenverbände (z. B. Arbeitgeberorganisationen, Unternehmensverbände, Gewerkschaften, Sozialverbände) versuchen, hierauf Einfluss zu nehmen. Die Sozialgesetzgebung ist immer wieder auch Gegenstand höchstrichterlicher Entscheidungen durch das Bundesverfassungsgericht, das vom Gesetzgeber Revisionen oder Präzisierungen verlangt (z. B. Teile des Arbeitsförderungsrechts und der Regelungen der Grundsicherung für Arbeitslose nach den Arbeitsmarktreformen der rot-grünen Bundesregierung
Grundlage für das breite Spektrum der sozialpolitischen Regelungskompetenzen des Bundes ist die Vorgabe des Grundgesetzes, wonach dieser das Recht der Gesetzgebung genießt, „wenn und soweit die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse im Bundesgebiet oder die Wahrung der Rechts-oder Wirtschaftseinheit im gesamtstaatlichen Interesse eine bundesgesetzliche Regelung erforderlich macht“ (Art. 72 Abs. 2 GG). So ist ein großer Teil der oben aufgelisteten staatlichen Aufgabenbereiche zwar Gegenstand der konkurrierenden Gesetzgebung von Ländern und Bund (Art. 74 GG), d. h., diese Bereiche könnten prinzipiell auch von den Ländern geregelt werden (Art. 72 Abs. 1 GG), doch macht der Bund angesichts seiner Gesamtverantwortung für die Herstellung gleichwertiger Lebensverhältnisse gerade im Feld der Sozialpolitik seit je her intensiv von seinem Gesetzgebungsrecht Gebrauch
Sozialpolitische Regelungskompetenzen der Länder: Verglichen mit dem Spektrum der vom Bund besetzten Regelungsbereiche ist die Bandbreite der sozialpolitischen Bereiche, in denen die Länder gesetzgeberisch tätig werden, begrenzt. Sie üben die Regelungstätigkeit bei der Krankenhausplanung und -investition aus und werden in einzelnen Bereichen der öffentlichen Sozialfürsorge (Heimrecht, sozialer Wohnungsbau) sowie bei der Beamtenversorgung aktiv.
Sozialpolitische Regelungskompetenzen der Kommunen: Die Kommunen (Gemeinden und Gemeindeverbände) schließlich besitzen aufgrund ihres Rechts zur Selbstverwaltung zugleich das Recht, „alle Angelegenheiten der örtlichen Gemeinschaft im Rahmen der Gesetze in eigener Verantwortung zu regeln“ (Art. 28 Abs. 2 GG). Dies schließt wesentlich auch die (Mit-) Gestaltung sozialpolitischer Aufgaben mit ein. Dabei werden die Kommunen insbesondere in den nachrangigen, persönliche Notlagen und Bedarfe betreffenden Fürsorgesystemen (Sozialhilfe, Kinder- und Jugendhilfe, Behindertenhilfe) regulierend tätig, indem sie für die individuelle Zusammenstellung der Hilfsmaßnahmen, die eine Person erhält, sorgen und das lokale System der Erbringung sozialer Hilfen eigenverantwortlich (z. B. über den Abschluss von Verträgen mit dritten, nicht-öffentlichen Sozialträgern) ausgestalten
Kommunale Aufgabenarten: Aufgaben im Sozialbereich führen die Kommunen zu einem kleinen Teil als (vom Staat) übertragene Aufgaben (z. B. Gesundheitsaufsicht, Seuchenbekämpfung), überwiegend jedoch als sogenannte pflichtige Selbstverwaltungsaufgaben (z. B. Sozialhilfe, Jugendhilfe) oder freiwillige Selbstverwaltungsaufgaben durch (z. B. soziale Stadtteilarbeit, Förderung von Jugend- und Seniorentreffs, Einrichtung und Betrieb kommunaler Pflegedienste) (ebd.: 38). 19 Sie erbringen dabei zum einen personenbezogene finanzielle Hilfen (z. B. Sozialhilfe) und agieren zum anderen insbesondere als Träger von sozialen Dienstleistungen, deren Erbringung sie – im Sinne des Subsidiaritätsprinzips – in der Regel an nicht-öffentliche Träger (Organisationen und Vereine der Wohlfahrtspflege, private Sozialdienstleister) auslagern.
Zentralisierung kommunaler Sozialpolitik: Im Zuge des (Wieder-) Aufbaus und der Expansion des deutschen Sozialstaates nach dem Zweiten Weltkrieg (vgl. Kap. 3.2) sind einige der früher von den Kommunen verantworteten sozialpolitischen Bereiche ‚verstaatlicht‘ oder zentralisiert worden. Dies betrifft insbesondere die Altenpflege und die Sozialhilfe . Die Kommunen stehen dieser Entwicklung ambivalent gegenüber. Zum einen erhoben und erheben sie selbst (über ihre Verbände, den Deutschen Städtetag, den Deutschen Städte- und Gemeindebund und den Deutschen Landkreistag) gegenüber dem Gesetzgeber die Forderung nach einer stärkeren Finanzierungsverantwortung des Staates – dies hat nicht zuletzt mit ihrer teils hohen Verschuldung zu tun (vgl. Grohs/Reiter 2013). Zum anderen weisen sie zu Recht auf die eigene sozialpolitische Innovationsfähigkeit hin und beweisen diese auch immer wieder bei der Bearbeitung neuer sozialer Herausforderungen
Die Verteilung der Durchführungsverantwortung zwischen unterschiedlichen Trägern sozialpolitischer Aufgaben hängt maßgeblich davon ab, ob es sich um eine Vorsorge-, soziale Entschädigungs- oder Versorgungs-, soziale Hilfs- oder Fürsorge- oder eine soziale Förderungsaufgabe handelt. Da die Absicherung der allgemeinen, sozialen und arbeitsbezogenen Lebensrisiken in Deutschland seit den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts in den Händen der Sozialversicherung mit ihren unterschiedlichen Zweigen liegt (Gesetzliche Rentenversicherung, Gesetzliche Krankenversicherung, Gesetzliche Unfallversicherung, Arbeitslosenversicherung und Arbeitsförderung, soziale Pflegeversicherung), sind die Sozialversicherungsträger die zentralen Träger der Aufgabendurchführung im Vorsorgebereich.
Vorsorgeaufgaben: Im Einzelnen handelt sich dabei um: -
- die Deutsche Rentenversicherung als Dachorganisation der insgesamt 14 regionalen Rentenversicherungsträger sowie die Knappschaft-Bahn-See,
- die insgesamt 124 Krankenkassen mit ihren Landesverbänden , die die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) konstituieren und unter dem Dach des GKV-Spitzenverbands vereint sind,
- die neun nach Wirtschaftszweigen gegliederten gewerblichen Berufsgenossenschaften und die land- und forstwirtschaftlichen Berufsgenossenschaften sowie die 32 Unfallversicherungsträger der öffentlichen Hand als Sozialversicherungsträger im Bereich der Gesetzlichen Unfallversicherung (Dachverband: Deutsche Gesetzliche Unfallversicherung),
- die Arbeitslosenversicherung und die Arbeitsförderung, die von der Bundesagentur für Arbeit (BA) mit ihren 10 Regionaldirektionen, 104 lokalen Agenturen für Arbeit sowie mehr als 300 lokalen Jobcentern verwaltet werden, und
- die 124 Pflegekassen, die organisatorisch in die Verwaltungen der 124 Krankenkassen eingegliedert sind.
Die Sozialversicherungsträger erlassen auf Basis ihres Selbstverwaltungsrechts unter der staatlichen Rechtsaufsicht untergesetzliche Rechtsnormen und Vorschriften (z. B. Beitragsfestsetzung für freiwillig Versicherte in der GKV), erfüllen Verwaltungsaufgaben (z. B. Prüfung von Ansprüchen der Versicherten, Auszahlung von Leistungen) und bieten Beratungsleistungen für die Versicherten an. Neben diesen selbst durchgeführten Aufgaben delegieren sie die von ihnen garantierten und finanzierten Sach- und Dienstleistungen an private oder gesellschaftliche Dritte, z. B. die GKV-Vertragsärzte, die Krankenhäuser, Rehabilitationseinrichtungen etc. Mit diesen Leistungserbringern schließen sie Versorgungsverträge ab. Die Sozialversicherungsträger haben überwiegend den Status als Körperschaften des öffentlichen Rechts, d. h. sie besitzen eine eigene Rechtspersönlichkeit oder Rechtsfähigkeit, geben sich eine eigene Satzung und verfügen über einen eigenen, außerhalb des Staatshauhalts liegenden Haushalt, den sie selbstständig verwalten. Sie unterliegen in ihrem Handeln zuallererst der demokratischen Kontrolle durch ihre Nutzer, die Träger der Selbstverwaltung, also die Arbeitgeber und Versicherten. Daher werden die Gremien der Sozialversicherungsträger (Vertreterversammlung, Vorstand) in regelmäßigen Abständen von diesen in „Sozialwahlen“ bestimmt.
Leistungen der sozialen Entschädigung:
Im Bereich der vom Staat (Bund oder Länder) definierten, garantierten und finanzierten Leistungen der sozialen Entschädigung (z. B. die Kriegsopferversorgung, Entschädigung bei Impfschäden) agieren die Versorgungsämter der Länder als Aufgabenträger. Sie führen entsprechende Aufgaben durch. Weiterhin sind auch die Berufsgenossenschaften als Träger der Gesetzlichen Unfallversicherung an der Erbringung von Aufgaben der sozialen Entschädigung bzw. Versorgung beteiligt. Dies betrifft z. B. den Unfallschutz von Kindergarten- oder Schulkindern
Soziale HIlfen: Die sozialen Hilfen bzw. die soziale Fürsorge (z. B. Sozialhilfe, Kinder- und Jugendhilfe) werden primär von den Kommunen getragen und zu einem guten Teil auch finanziert (Ausnahme: Grundsicherung für Arbeitslose und Sozialgeld). Wie oben bereits angedeutet, führen die Kommunen dabei ihre Fürsorgeaufgaben, die sie im Rahmen der pflichtigen Selbstverwaltung zu erfüllen haben, selten selbst durch. Gemäß dem Prinzip der Subsidiarität übertragen sie derartige Aufgaben vielmehr per Vertrag an gesellschaftliche oder private, nicht-kommerzielle oder kommerzielle Leistungsanbieter. Zentral sind hier die teils konfessionell gebundenen großen traditionellen Wohlfahrtsverbände (Deutscher Caritasverband, Deutsches Rotes Kreuz, Diakonisches Werk, Arbeiterwohlfahrt, Paritätischer Wohlfahrtsverband, Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland und Volkssolidarität [insbesondere in Ostdeutschland]). Sie genossen im Bereich der Sozialfürsorge lange Zeit sogar das Monopol der Aufgabenerbringung. In jüngerer Zeit treten allerdings im Lichte der vom Gesetzgeber gewollten Trägergleichstellung (festgehalten im Pflegeversicherungsgesetz von 1994) vermehrt auch privat-kommerzielle Anbieter als Leistungsträger auf (z. B. in der ambulanten und stationären Altenpflege).
Soziale Förderung: Im Bereich der sozialen Förderung schließlich fungiert wiederum der Staat (Bund oder Länder) als Garant und Financier der unterschiedlichen Aufgaben (z. B. Ausbildungsförderung, Arbeitsförderung, Familienleistungen, Wohngeld). Dabei sind die Struktur der Aufgabenträger und der mit der Durchführung der jeweiligen Aufgabe betrauten Stellen oder Organisationen gemischt. Mal sind es die Kommunen (Wohngeld), mal die Bundesagentur für Arbeit (Arbeitsförderung; Familienkassen bei der BA) und mal bestimmte Behörden der Länder (Ämter für Ausbildungsförderung).
Einfluss der Europäischen Union: Die Europäische Union (EU) schließlich, von der eingangs kurz die Rede war, beeinflusst die deutsche Sozialgesetzgebung und die Durchführung sozialpolitischer Aufgaben ihrerseits nur zum Teil über spezifisch europäische Sozialpolitikinstrumente, Verfahren und Policies (z. B. Europäischer Sozialfonds, Offene Methode der Koordinierung, Europäische Beschäftigungspolitik). Vielmehr wirkt sie vor allem indirekt mit ihren Regelungen zum europäischen Binnenmarkt und den vier Freiheiten (freier Warenverkehr, Dienstleistungsfreiheit, Personenfreizügigkeit, freier Kapital- und Zahlungsverkehr). Auf Grundlage dieser Regelungen, die seit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon im Dezember 2009 im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) niedergelegt sind, treibt insbesondere die Europäische Kommission die negative Integration22 der EU durch Deregulierung auch im Sozialbereich voran (z. B. EU-Dienstleistungsrichtlinie: Modalitäten und Standards der Erbringung u. a. sozialer Dienstleistungen in den Mitgliedstaaten). Der AEUV enthält zuallererst wirtschaftspolitische und daneben auch einzelne, spezifisch sozialrechtliche Vorschriften (z. B. in den Bereichen des Arbeitsschutzes, der Gleichbehandlung der Arbeitnehmer und der Geschlechtergleichstellung). Im Ergebnis ist zwar die deutsche Gesetzgebung zur sozialen Sicherung tatsächlich nur in geringem Maße greifbaren europäischen Vorgaben unterworfen, aber in den Sachgebieten Arbeit und Beschäftigung sowie Gesundheit setzt – je nach Wahlperiode – bereits etwa ein Drittel der verabschiedeten Bundesgesetze europäische Vorgaben um
Außerdem stellt die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes (EuGH) einen wesentlichen Einflussfaktor der Strukturierung der sozialen Sicherung auf der nationalen Ebene dar (ebd.). Die deutsche Sozialpolitik ist mithin längst eine „Mehrebenen-Politik“ (vgl. Leibfried/Pierson 1995), die sich in einem von der europäischen bis hinunter zur kommunalen Ebene reichenden System vollzieht.
Merkmale des deutschen Sozialstaates: Der deutsche Sozialstaat ist stark erwerbsarbeitszentriert. Betont wird das Sozialversicherungsprinzip als primärer sozialer Sicherungsmodus. Damit verbunden ist der Fokus auf die sozialstaatliche Aufgabe des Erhalts des Lebensstandards vor allem der Versicherten (Arbeitnehmer) und ihrer Familienmitglieder. Traditionell geht damit auch die Vernachlässigung der sozialen Dienstleistungen einher, und dies wiederum in Verbindung mit der Betonung des Subsidiaritätsprinzips und der Nachrangigkeit der staatlichen Verantwortung für soziale Dienste. In der international vergleichenden Wohlfahrtsstaatsforschung wurde und wird der deutsche Sozialstaat vor dem Hintergrund dieser Merkmale zum einen dem „Bismarckschen“ Wohlfahrtsmodell zugeordnet und zum anderen auch als „konservativer“ (Esping-Andersen 1990, 1999; Castles/Mitchell 1992; Allan/ Scruggs 2004; Huber/Stephens 2001), „korporatistischer“ (Korpi/Palme 1998, 2003) oder auch „christdemokratischer“ (Siaroff 1994) Wohlfahrtsstaat bezeichnet.
Das Bismarck-Modell steht für einen Wohlfahrtstaat, in dem die soziale Sicherung primär durch gesellschaftliche Selbstorganisation auf Grundlage der Sozialversicherung erbracht wird. Die Zuordnung Deutschlands zu diesem Modell erfolgt aufgrund der eingangs genannten Merkmalsausprägungen des deutschen Sozialstaates, insbesondere die erstmals im deutschen Reich 1883 von Reichskanzler Otto von Bismarck eingeführte Sozialversicherung als wesentliche Form zur Organisation sozialer Sicherheit (vgl. Kap. 3) und die damit verbundene Fokussierung der Absicherung auf Arbeitnehmer (und ihre Familien). Diesem Personenkreis vergütet die Sozialversicherung aus den Beiträgen der pflichtversicherten Arbeitnehmer im Falle des Eintretens eines vorab gesetzlich festgelegten sozialen Risikofalles (z. B. Unfall, Krankheit) bestimmte, ebenfalls gesetzlich vordefinierte Leistungen oder zahlt direkt finanzielle Leistungen aus (z. B. Rente). Dem Bismarck-Modell der sozialen Absicherung steht das Beveridge-Modell23 gegenüber. Es steht für einen Sozial- oder Wohlfahrtsstaat, in dem soziale Sicherungsleistungen nicht im Rahmen einer Sozialversicherung, sondern primär staatlich organisiert und finanziert werden. Hier kommt der Staat aus Steuermitteln für die soziale Versorgung der Bevölkerung oder die Fürsorge für sozial Bedürftige auf; Grundlage hierfür ist der Staatsbürgerstatus.
Esping-Andersen hat in seinem 1990 veröffentlichten Buch „The Three Worlds of Welfare Capitalism“ 18 westliche oder westlich geprägte Wohlfahrtsstaaten miteinander verglichen, wobei im Zentrum seines Vergleichs zwei Variablen standen, nämlich: - erstens der von den Staaten erreichte Grad der Entlastung des Individuums vom Zwang zur Erwerbsarbeit als Garantie für die Erzielung sozialer Sicherheit (Dekommodifizierung, von engl. commodity [„Ware“]); hiermit soll der tatsächliche Warencharakters der Arbeitskraft in einem Staat untersucht werden, und - zweitens das Ausmaß, in dem sich die soziale Schichtung einer Gesellschaft (Stratifizierung oder Stratifikation) nach dem (um-) verteilenden Eingriff des Wohlfahrtsstaates verändert hat (Abbau, Zunahme oder Erhalt sozialer Ungleichheit). Um die Wohlfahrtsstaaten auf ihre Ausprägungen in diesen Variablen hin zu untersuchen, hat Esping-Andersen mehrere Indikatoren gebildet, die insbesondere auf bestimmte institutionelle Merkmale des jeweiligen nationalen Sicherungssystems im Zusammenwirken des Staates, des Marktes und der Familie oder auch gesellschaftlich-gemeinschaftlicher Akteure abstellen. Wichtig sind für Esping-Andersen vor allem statistisch-mathematische Maße, mit denen er die folgenden Parameter bestimmt hat
erstens das Ausmaß des Korporatismus oder Etatismus, also das Ausmaß, in dem die soziale Absicherung gegen die universalen Risiken Alter, Krankheit und Arbeitslosigkeit von der (zersplitterten), nach (Status- oder Berufs-) Gruppen gegliederten oder aber von einer national einheitlichen Sicherungsorganisation abhängt;
- zweitens das Ausmaß der bedürftigkeitsgeprüften, residualen sozialen Fürsorgeausgaben als Anteil an den öffentlichen Sozialausgaben insgesamt;
- drittens der Grad der Privatisierung von Sozialausgaben, also der Verlagerung von Absicherungskosten auf den Einzelnen, insbesondere in den Bereichen Rente und Gesundheit;
- viertens der Grad des tatsächlichen Zugangs der Bevölkerung zu öffentlichen Sozialleistungen (Universalismus), und - fünftens der Grad der sozialen Umverteilung durch den Staat über das Steuer- und Sozialabgabensystem sowie die von einzelnen Gruppen erzielten Sozialeinkommen
Der Dekommodifizierungsgrad und das Stratifikationsausmaß jeweils im internationalen Vergleich bilden die zentralen Größen in Esping-Andersens Analyse. Auf der Grundlage seiner Vergleichsergebnisse teilt er die untersuchten Wohlfahrtsstaaten in drei „cluster“, „regimes“ oder „regime“-Typen24 ein: den Typus des liberalen, des konservativen oder des sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaates (1990: 26-29). Esping-Andersens Typologie beruht mithin auf der empirisch unterfütterten Überlegung, dass sich jeweils mehrere Wohlfahrtsstaaten aufgrund ähnlicher – nicht gleicher – Merkmalsausprägungen in Bezug auf das Ergebnis des Zusammenwirkens des Staates und privater (Wirtschaft, Familie) Akteure sowie in Bezug auf ihr institutionelles Grundarrangement einem bestimmten Typus wohlfahrtsstaatlicher Intervention in das nationale kapitalistische Wirtschaftssysteme („welfare capitalism“) zuordnen lassen. Aus dieser Überlegung bildet er die uns bekannten drei Typen von Wohlfahrtsstaaten, die wiederum Idealtypen im Sinne Max Webers25 darstellen
Der liberale Wohlfahrtsstaat zeichnet sich durch seinen geringen Grad der Dekommodifizierung und seine gering ausgeprägte Kapazität zum Abbau sozialer Schichtunterschiede aus. Die soziale Sicherung ist hier auf die bedürftigsten Bevölkerungsgruppen oder -teile konzentriert. Daher dominieren Arrangements zur bedürftigkeitsprüfenden, residualen, sozial fürsorgenden Hilfe. Universale Sozialleistungen für die Bevölkerung insgesamt haben hingegen einen geringen Stellenwert, ebenso wie soziale Versicherungsleistungen. Der Grad der staatlich initiierten sozialen Umverteilung ist gering. Zentral ist hier die Idee der Eigenverantwortung und der durch eigene Erwerbsarbeit erzielten sozialen Absicherung des Individuums.
Der konservative Wohlfahrtsstaat, für den Deutschland häufig als Paradebeispiel angeführt wird, ist traditionell charakterisiert durch einen mittleren Grad der Dekommodifizierung und eine ebenfalls gering ausgeprägte Kapazität zum Abbau sozialer Schichtunterschiede (aufgrund der Zentrierung auf die soziale Sicherung der abhängig im Normalarbeitsverhältnis Beschäftigten [„Insider“ des Arbeitsmarktes] und der Statussicherung dieser Personengruppe). Die durch Beiträge der Versicherten finanzierte Sozialversicherung ist hier das institutionelle Hauptstandbein des sozialen Sicherungssystems. Soziale Umverteilung innerhalb der Versichertengemeinschaft erfolgt auf der Grundlage des Umlageprinzips, d. h. die aktuellen Beitragszahler finanzieren die Leistungen an aktuell Leistungsberechtigte. Universale staatliche Sozialleistungen spielen demgegenüber eine geringere Rolle. Auch hier ist der allgemeine Umverteilungsgrad eher gering. Die Idee der Subsidiarität und Nachrangigkeit des Staates hat einen zentralen Stellenwert für die soziale Absicherung des Einzelnen, was sich nicht nur im korporatistischen Charakter der sozialen Sicherungsorganisation und an der Selbstverwaltung
Der sozialdemokratische Wohlfahrtsstaat schließlich zeichnet sich durch einen vergleichsweise hohen Dekommodifizierungsgrad und eine ebenfalls ausgeprägte Fähigkeit zur De-Stratifikation aus. Öffentliche staatliche Sozialleistungen erreichen einen großen Teil der Bevölkerung (hoher Universalismusgrad), die Sozialversicherung spielt eine geringe Rolle. Dementsprechend ist im sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaat der Grad staatlich veranlasster sozialer Umverteilung hoch. Das Prinzip der Solidarität der die Staatsbürgergemeinschaft konstituierenden Einzelnen untereinander und die Idee der staatlichen Verantwortung für die Organisation sozialer Hilfen und Versorgungsleistungen, die aus Steuermitteln finanziert werden, sind dominant
Wichtig ist, dass es sich bei den von Esping-Andersen identifizierten Wohlfahrtsstaatstypen tatsächlich um Idealtypen handelt, die so in reiner Form in der Realität nicht vorkommen und die aus einer Momentaufnahme der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung in unterschiedlichen Ländern entstanden sind. Der idealtypische Charakter wird auch beim Blick auf den realen deutschen Wohlfahrtsstaat augenfällig.
Die Einordnung des deutschen Wohlfahrtsstaates als (mustergültiger) „konservativer“ Typus im internationalen Vergleich ist nach wie vor prägend. Auf diese Typenzuordnung wird daher häufig verwiesen, wenn es um die Frage des Wandels des deutschen Wohlfahrtsstaates geht. Dabei zeichnet sich der Wohlfahrtsstaat hierzulande tatsächlich, sowohl traditionell als auch (trotz des Wandels der vergangenen Jahre) nach wie vor, durch eine hohe institutionelle Komplexität aus. Diese rührt von der Beteiligung aller Ebenen sowie zahlreicher staatlicher, öffentlicher und privater Akteure auf den unterschiedlichen Ebenen, von der Parallelität unterschiedlicher Sicherungssysteme für unterschiedliche Status- und Einkommensgruppen (Sozialversicherung für Angestellte, Beamtenversorgung, gesetzliche und private Sozialvorsorge) und auch von der Kombination unterschiedlicher Sicherungsmodi (beitragsfinanzierte Sozialversicherung, staatliche Versorgung, staatliche und kommunale Fürsorge). Im quantitativen internationalen Vergleich liegt Deutschland bei diversen Werten im (oberen) Mittelfeld. So bewegt sich der Sozialstaat mit seinen Sozialausgaben im oberen Drittel innerhalb der OECD
Darüber hinaus liegt der Sozialstaat bei verschiedenen Indikatoren, z. B. der Armutsquote, dem Rentenniveau und den Gesundheitsausgaben im Mittelfeld (vgl. Informationen in den entsprechenden Policy-Kapiteln). Bei der Erklärung der beschriebenen Unterschiede zwischen den Typen stellt Esping-Andersen insbesondere auf die Machtressourcen sozialer Klassen (Arbeit und Kapital) sowie den Einfluss grundlegender Parteienfamilien oder -strömungen (Liberalismus, Konservatismus/christlich-demokratischer Einfluss, Sozialismus) ab. Dabei nimmt er zugleich eine historisch-institutionelle Perspektive ein – er stellt die Frage nach dem Einfluss dieser Klassen und Parteien auf die Konstitution des Wohlfahrtsstaates bei seiner Entstehung
Esping-Andersens Typologie ist vielfach Gegenstand von Kritik geworden. Neben Zweifeln an der Untersuchungsmethode betraf diese die Typenbildung selbst. Hier wurde Esping-Andersen vorgeworfen, zu sehr auf Skandinavien fixiert zu sein und darüber andere, nicht in seine Dreifach-Klassifikation passende Typen zu vernachlässigen. Insbesondere haben unterschiedliche Autoren einen eigenen südeuropäischen oder residualen Typus des Wohlfahrtsstaates ausgemacht. Aus feministischer Perspektive wurde kritisiert, dass Esping-Andersen die Rolle der Frau im und für den Wohlfahrtsstaat zu wenig bis gar nicht beachte. Auf diese Kritik ist er später in einer Überarbeitung seiner Typologie eingegangen und hat ihr dabei die Dimension der Defamilisierung, also der Fähigkeit des Wohlfahrtsstaates zur Entlastung der Frau von der (unentgeltlichen) Familienarbeit bzw. der Verlagerung familienspezifischer, hauptsächlich von Frauen erbrachter sozialer Dienstleistungen (Kinderbetreuung, Altenpflege etc.) in die öffentlich-staatliche Sphäre, hinzugefügt (1999).
Sowohl die soeben vorgestellte Typologie von Esping-Andersen als auch die weiter oben vorgestellte Unterscheidung des Bismarck- und des Beveridge-Modells des Wohlfahrtsstaates sind heute für die Untersuchung des Wandels des deutschen Sozialstaates wichtig. Ausgehend von Esping-Andersens Typologie lassen sich u. a. Veränderungen im Leistungsprofil des deutschen Sozialstaates, aber auch Veränderungen seines institutionellen Profils erfassen, beides auch im internationalen Vergleich. Ausgehend von der Unterscheidung zwischen dem Bismarck- und dem Beveridge-System wiederum kann – ebenfalls international vergleichend – der Wandel des organisatorischen und teils auch des institutionellen Profils seit den 1970er Jahren erfasst werden
Frühe Formen der (staatlichen) Sozialpolitik in Deutschland: Das zentrale soziale ‚Auffangbecken‘ für den Einzelnen im Mittelalter und der frühen Neuzeit war die Familie oder familiäre Gemeinschaft, die ihrerseits in die feudalistisch ständische Ordnung als gesellschaftlichem Überbau eingebunden war. Daneben gab es allerdings immer auch einen spezifischen Bedarf an sozialen Leistungen, die außerhalb der Familie erbracht wurden – von den Kirchen, der dörflichen Gemeinschaft oder Stadt oder auch den Zünften oder Innungen. Primärer Hintergrund für die ersten Formen kollektiver sozialer Sicherung war die Armut, die sich in Europa ab dem 10. Jahrhundert zunächst angesichts einer anwachsenden Bevölkerung sowie von Kriegen und Epidemien ausbreitete. In Verbindung mit den christlichen Geboten der Nächstenliebe und der Barmherzigkeit gegenüber den Bedürftigen (Arme, Kranke, Alte, Witwen, Waisen etc.) wurde sie zur wichtigsten Triebfeder für die frühe Entwicklung von zuerst kirchlichen und sodann öffentlichen, also kommunalen oder städtischen sowie auch weltlich-obrigkeitlichen und später frühbürgerlichen sozialpolitischen Maßnahmen
Die Kirche als Trägerin sozialer (Fürsorge-) Aufgaben im Mittelalter: Im frühen Mittelalter dominierten zunächst die Kirchen, d. h. vor allem die Klöster und Orden mit spezifischen sozialen Einrichtungen (Spitäler, Pesthäuser etc.) die Fürsorge für Arme und Kranke sowohl auf dem Land als auch in den Städten. Eine zentrale Rolle im Zusammenhang der entstehenden kirchlichen ‚Armenpolitik‘ spielten die Bettelorden. Deren Mitglieder hatten sich freiwillig einem Leben in eigener Enthaltsamkeit und Armut sowie der Mildtätigkeit verschrieben (Boeckh/Huster et al. 2011: 24-25). Etwa seit dem 12. Jahrhundert traten neben der Kirche zum einen die adeligen, lehnsherrlichen Repräsentanten der feudalen Ordnung verstärkt als Almosengeber und Träger von Fürsorgeaufgaben auf, zum anderen entwickelten sich die Kommunen, vor allem die Städte, zu Fürsorge gewährenden und regulierenden Kräften im Bereich der Armenpflege. Der aufkeimende städtische Ordnungsanspruch wurzelte einerseits im Bekenntnis der die Städte repräsentierenden Bürger zur christlichen Hilfspflicht und dem Gebot der Barmherzigkeit, er war andererseits jedoch auch Ausdruck der einsetzenden „ersten Säkularisierung“ (Stolleis 2001: 211) und der damit einhergehenden allmählichen Emanzipation der weltlichen Macht gegenüber der kirchlichen Macht. In dieser Zeit entstand eine erste Form einer zunächst von den Kommunen und Städten sowie den adeligen Herrschaftsterritorien getragenen ‚Staatlichkeit‘. Die Kirche, die durch innere Zerwürfnisse etwa ab dem 14. Jahrhundert in der Phase vor der Reformation (1517) ohnehin geschwächt war, wurde dabei nach und nach aus ihrer Rolle als vorrangige Trägerin der Armenfürsorge verdrängt und durch weltliche Mächte ersetzt
Im Zuge der Herausbildung des durch Landwirtschaft, Handwerk und Handel geprägten mittelalterlichen Wirtschaftssystems entstand auch ein neues Verständnis von Arbeit. Dabei wurden die produzierenden Schichten – vorwiegend leibeigene Bauern und Handwerker – durch den Hinweis auf christliche Tugenden ‚diszipliniert‘ 27 (vgl. Sachße/Tennstedt 1998: 16). Arbeit wurde als Buße gedeutet und galt als Möglichkeit zur Selbstbefreiung von weltlichen Lastern wie dem Müßiggang oder der Bettelei und damit als diesseitige Grundlage für die Befreiung des Einzelnen von Schuld und Sünde im Jenseits
Städtische Armenverwaltungen: Zur Untermauerung des weltlichen Ordnungsanspruchs im Bereich des Armenwesens errichteten die Städte und Territorien nun auch eigene ‚Armen-verwaltungen‘ und schufen ordnungsrechtliche Grundlagen für die Regulierung von Armut. So gaben sich Städte wie Nürnberg, Frankfurt a. M. oder Augsburg ab dem 14. Jahrhundert per Ratsbeschluss entsprechende Ordnungen (Armenordnungen, „Policey-Ordnungen“). Diese regelten das Betteln innerhalb der Stadt sowie die Möglichkeiten zur (öffentlichen und privaten) Vergabe von Almosen und gaben z. T. bereits Arbeitspflichten vor. Die städtischen Armenordnungen beruhten maßgeblich auf der Einteilung in ‚interne‘, ‚gute‘ Arme, d. h. unverschuldet in Not geratene eigene Landsleute bzw. „Hausarme“ oder auch durchreisende Handwerksgesellen auf Wanderschaft, und ‚externe‘, ‚schlechte‘ Arme, z. B. Bettler, Vaganten. Für erstere war eine Kombination aus Almosen und (bei Arbeitsfähigkeit) Arbeitspflicht als Disziplinierungsmittel vorgesehen, während man letztere durch Abschiebung, Ausschluss und Repression von der eigenen Gemeinschaft oder dem eigenen Gebiet fernzuhalten versuchte (ebd.). Das System der Disziplinierung der (zunächst ‚eigenen‘) Armen auf der Grundlage von Arbeitspflichten wurde später, im 17. und 18. Jahrhundert, durch die Einführung von Zucht- und Arbeitshäusern (eine aus den Niederlanden und England übernommene Idee) weiter ausgebaut
Herausbildung des frühneuzeitlichen Staates: Mit der allmählichen Verlagerung der weltlichen Macht von den lehnsherrlichen Kleinterritorien, den Städten und dem Kaiserreich auf die deutschen „Fürstenstaaten“ kam es ab dem 16. Jahrhundert zur Herausbildung des frühneuzeitlichen Staates in Deutschland (Reinhard 1999: 56-59). Damit war die strukturelle Grundlage für die staatliche Funktion der Armenfürsorge, aber auch für weitere sozialpolitische Regelungen wie die ärztliche Versorgung, die öffentliche Gesundheit und Hygiene und die Erziehung sowie das Schulwesen gelegt, auch wenn es noch einige Zeit dauerte, bis der Staat diese Aufgaben realiter übernahm. Tatsächlich wurde die generelle Fürsorgepflicht des Staates für die Armen erstmals im Preußischen Allgemeinen Landrecht 1794 („Allgemeines Landrecht für die Preußischen Staaten“) geregelt. Um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert entstanden in der Folge erstmals auch landesherrliche Rahmenregularien im Bereich der Armenpolitik, z. B. in Bayern. Dort wurde den Gemeinden und wohltätigen Einrichtungen (frühe Organisationen der freien Wohlfahrtspflege) die grundsätzliche Pflicht zur Armenfürsorge in ihrem Einzugsgebiet übertragen
Beginn der industriellen Revolution im 19. Jahrhundert: Ab Beginn des 19. Jahrhunderts wurde die Weiterentwicklung der Armenpolitik dann allerdings vor einem zweifachen Hintergrund gebremst. Erstens bildete sich ein eigenständiges Bürgertum heraus, dessen Aufmerksamkeit sich – nicht zuletzt im Angesicht der Errungenschaften der Französischen Revolution von 1789 – schon bald weg von der kirchlich-christlich motivierten Weiterentwicklung der Armenpflege hin zum weltlich-frühbürgerlichen Kampf für die eigenen Interessen und Rechte verschob (Befreiung des Bodens, Freizügigkeit, Presse-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit) (Stolleis 2001: 216-217). Und zweitens setzte nun allmählich die industrielle Revolution ein. Dabei stand der Staat in Deutschland zu dieser Zeit des Frühliberalismus noch ganz unter dem Eindruck des absolutistischen Herrschaftssystems und verzichtete auf sozialpolitische Intervention, insbesondere im Bereich des Arbeitnehmerschutzes
Bedingungen der kapitalistische Produktion: Bauernbefreiung und GrundeigentumIm Mittelpunkt stand nun die Frage nach den optimalen Bedingungen der kapitalistischen Produktionsweise und des unternehmerischen Gewinns. In diesem Zusammenhang gingen die deutschen Fürstenstaaten erste Schritte hin zur Errichtung eines liberalen, die feudalistischen Ordnungsprinzipien in Frage stellenden Herrschaftssystems. So erließen sie ab ca. 1790 nach und nach Regularien zur Bauernbefreiung. Auch wurde schrittweise die Gewerbefreiheit eingeführt, zunächst in Preußen mit den Stein-Hardenbergschen Reformgesetzen und hier insbesondere mit dem „Edikt über den erleichterten Besitz und freien Gebrauch des Grundeigentums“ vom Oktober 1807. Eine Folge dieser Liberalisierungsmaßnahmen, insbesondere der Bauernbefreiung, war allerdings nicht eine Milderung der Armut, sondern vielmehr die massenhafte Verarmung der nun von lehnsherrlichen Zwängen befreiten Landbevölkerung. Diese Personen – Männer, Frauen und Kinder – mussten sich nunmehr als abhängige Landarbeiter verdingen oder sie wanderten in die Städte, um dort als noch schutzlose, den Launen des Unternehmers ausgesetzte Fabrikarbeiter tätig zu werden. Die grenzenlose, ordnungsrechtlich ungezügelte Ausbeutung der Arbeiter nahm die staatliche Obrigkeit dabei nicht nur in Kauf, sondern sie nahm diese noch nicht einmal als Problem wahr (Lampert/Althammer 2007: 40- 41). Ursächlich hierfür war u. a. die Tatsache, dass es der frühindustriellen Arbeiterschaft bis Mitte des 19. Jahrhunderts noch an eigener Organisationskraft mangelte und das entstehende Industrieproletariat zahlenmäßig noch zu gering war, um von Unternehmern, Bürgern und Staat als Bedrohung wahrgenommen zu werden
Nachtwächterstaat: Ersten zaghaften Schutzansprüchen der Arbeiterschaft begegnete der frühliberale Staat daher noch mit Gleichgültigkeit oder Repression. Regelungen zum Arbeitsschutz, zur Gesundheitsfürsorge für Fabrikarbeiter oder auch zur Erziehung und Bildung Minderjähriger als öffentliche Aufgaben lehnte er noch ab („Nachtwächterstaat“). Sofern es in der Zeit vor der bürgerlichen Revolution 1848 zum Erlass entsprechender Maßnahmen kam, z. B. im Bereich des Arbeitsschutzes, war dies eher der Sorge der Staatsrepräsentanten um die Wehrfähigkeit der Rekruten geschuldet. So erließ Preußen im Jahr 1839 erstmals ein Verbot der Kinderarbeit und begann damit, die allgemeine Schulpflicht durchzusetzen, nicht etwa aus dem Motiv des sozialen Schutzes für Minderjährige heraus, sondern weil die Obrigkeit die Wehrtauglichkeit der jungen Männer aufgrund der damals üblichen Arbeit von Kindern28 gefährdet sah. Lediglich die Kommunen sorgten in diesem Zeitraum für sozialpolitische Innovation, so z. B. die Stadt Elberfeld mit der Einführung des „Elberfelder Systems“ der Armenpflege im Jahr 1817
„Kapitalfördernde Armenpolitik“: Übergang zum Unterstützungswohnsitzprinzip: War die nicht-adelige, bäuerliche, handwerkliche und kleinbürgerliche Bevölkerung in den deutschen Ländern bis Mitte des 19. Jahrhunderts den Einflüssen des noch fortexistierenden, erst langsam sich zurückziehenden absolutistischen Staatswesens sowie der feudalistischen Gesellschaftsordnung einerseits und dem entstehenden, ultraliberalen frühkapitalistischen Wirtschaftssystem andererseits ausgesetzt, so begann sich dies etwa ab 1850 zu verändern. Erste Änderungen betrafen dabei wiederum das traditionelle Feld der Armenpolitik. Bis dato hatte das sog. Heimatprinzip gegolten, demzufolge die Vergabe von Almosen an Arme und Bedürftige in deren Geburts- oder Herkunftsort zu erfolgen hatte. Nunmehr einigten sich die im Deutschen Bund zusammengeschlossenen Länder 1851 auf die wechselseitige Übernahme der Verantwortung für die öffentliche Armenfürsorge. Sie zeichneten also erstmals für die auf ihr Territorium zugewanderten und dort sesshaft gewordenen Armen zuständig (z. B. als Fabrikarbeiter). Damit kam es allmählich zur Durchsetzung des sog. Unterstützungswohnsitzprinzips in der staatlichen Armenpolitik. Diese Entwicklung war ein Ausdruck dafür, dass die Bindung der einfachen Bevölkerung an die Scholle und den adeligen Lehnsherrn überwunden war und die Freizügigkeit sich durchgesetzt hatte (Sachße/Tennstedt 1998: 195-199). Ebenso war dies aber auch ein Ausdruck für den Übergang hin zu einer „,kapitalfördernden‘ Armenpolitik als Wirtschaftspolitik
In der Konsequenz gaben sich die einzelnen deutschen Staaten im Bereich der Armenpolitik Rahmengesetze, mit denen sie die eigentliche Aufgabe der Fürsorge für Arme und Bedürftige an die Städte und Gemeinden bzw. die dort neu eingerichteten örtlichen und überörtlichen Armenverbände verschoben. Michael Stolleis weist darauf hin, dass die heutige Zuständigkeitsverteilung zwischen dem Staat (Bund und Ländern) einerseits und den Kommunen (Städte und Landkreise) andererseits im Bereich der Sozialhilfe in dieser dezentralen verbandlichen Organisation ihren Ursprung findet (2001: 219). Neben dem Prinzip der dezentralen Organisation wurzelt außerdem noch ein weiteres, bis heute prägendes Organisationsprinzip der Sozialhilfe und sozialen Fürsorge in diesen frühen fürstenstaatlichen Regelungen der Armenpolitik, nämlich das Prinzip der Subsidiarität. So trat der Staat bzw. die Kommune oder der Armenverband lediglich subsidiär auf, d. h. er wurde erst dann helfend tätig, wenn die Fürsorge und Hilfe bei individueller Not nicht mehr durch die Familie des Betroffenen oder aber durch Organisationen der freiwilligen gesellschaftlichen Armenpflege geleistet werden konnte
Armenpolitische Rahmengesetze der deutschen Staaten: In der Konsequenz gaben sich die einzelnen deutschen Staaten im Bereich der Armenpolitik Rahmengesetze, mit denen sie die eigentliche Aufgabe der Fürsorge für Arme und Bedürftige an die Städte und Gemeinden bzw. die dort neu eingerichteten örtlichen und überörtlichen Armenverbände verschoben (ebd.: 199-200). Michael Stolleis weist darauf hin, dass die heutige Zuständigkeitsverteilung zwischen dem Staat (Bund und Ländern) einerseits und den Kommunen (Städte und Landkreise) andererseits im Bereich der Sozialhilfe in dieser dezentralen verbandlichen Organisation ihren Ursprung findet (2001: 219). Neben dem Prinzip der dezentralen Organisation wurzelt außerdem noch ein weiteres, bis heute prägendes Organisationsprinzip der Sozialhilfe und sozialen Fürsorge in diesen frühen fürstenstaatlichen Regelungen der Armenpolitik, nämlich das Prinzip der Subsidiarität. So trat der Staat bzw. die Kommune oder der Armenverband lediglich subsidiär auf, d. h. er wurde erst dann helfend tätig, wenn die Fürsorge und Hilfe bei individueller Not nicht mehr durch die Familie des Betroffenen oder aber durch Organisationen der freiwilligen gesellschaftlichen Armenpflege geleistet werden konnte
Der Zeitraum etwa ab 1830 bis 1900 kann insgesamt als eine Phase des sozialpolitischen Aufbruchs sowohl auf Seiten des Staates als auch und insbesondere auf Seiten der Kommunen und der Gesellschaft beschrieben werden. Zunächst entstanden in den deutschen Ländern im Handwerk, der Industrie und im Bergbau gewerbliche, von Innungen oder Knappschaften organisierte und getragene Unterstützungs- und Hilfskassen, meist auf freiwilliger Basis. Sie traten bei Krankheit oder Tod ein und unterstützten Witwen und Waisen (Frerich/Frey 1993: 56-60; 62-69). Außerdem gründeten die Kommunen zur Entlastung ihrer Sozialetats Krankenkassen, und auch auf betrieblicher Basis entstanden solche Kassen (ebd.: 60-61). Weiterhin entstanden, häufig aus dem Bürgertum heraus, philantrophische Gesellschaften, Vereine und Genossenschaften, in denen Bürger soziale Hilfestellung unterschiedlichster Art (Krankenversorgung, Armenpflege, Hilfe für Kinder und Jugendliche, Fürsorge für entlassene Strafgefangene etc.) selbst organisierten und verwalteten. Daneben sind zahlreiche unternehmerische Initiativen im Bereich der Sozialpolitik bekannt. Außerdem ist diese Phase auch von einem Wiedererstarken der Kirchen als sozialpolitische Hilfs- und Unterstützungsinstitutionen gekennzeichnet.
Auf katholischer Seite gründete z. B. Lorenz Wehrtmann 1897 den „Caritasverband für das katholische Deutschland“, und auf evangelischer Seite wurde – neben anderen Organisationen – bereits 1848 von Johann Heinrich von Wichern der „Centralausschuss für die Innere Mission der deutschen evangelischen Kirche“ gegründet. 1917 kam es zur Gründung der „Zentralwohlfahrtsstelle der deutschen Juden e.V.“. Die Kirchen errichteten und unterhielten nun die unterschiedlichsten karitativen Einrichtungen, wie z. B. Kindergärten, Altenheime, Krankenhäuser, Heime für Kinder und Jugendliche, Behinderteneinrichtungen etc.; sie erlangten somit eine starke Stellung im Bereich der Wohlfahrtspflege. Aber auch weltliche Organisationen, insbesondere aus der organisierten Arbeiterbewegung heraus, wurden in diesem Bereich tätig. So entstand z. B. im Jahr 1919 die „Arbeiterwohlfahrt“.
Insgesamt gab es zum Zeitpunkt der Gründung des deutschen Reiches im Jahr 1871 also bereits eine lebendige, in erster Linie auf das Feld der Fürsorge konzentrierte, teils aber auch schon auf die Versicherung sozialer Risiken zielende Sozialpolitik in einzelnen deutschen Ländern. Sie wurde zu wesentlichen Teilen von den Kommunen und der Gesellschaft, und in Ansätzen (Arbeitsschutz, Freiheitsrechte) auch bereits vom Staat getragen
So rasant der Aufschwung der auf Gegenseitigkeit beruhenden genossenschaftlichen Hilfs- und Sicherungskassen gegen Ende des 18. Jahrhunderts auch gewesen war30 , so wenig waren diese in der Lage, im Zuge der einsetzenden und rasch voranschreitenden industriellen Revolution ab der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts für die soziale Absicherung der Industriearbeiter zu sorgen. Die soziale Frage, die nun vor allem „Arbeiterfrage“ war, konnte damit nicht gelöst werden. Die wachsende Mobilität von Arbeitskräften, die regulative Fragmentierung im Bereich der Sozialpolitik zwischen den deutschen Ländern, ein insgesamt sehr dürftiges soziales Sicherungsniveau bei gleichzeitiger Auflösung traditioneller sozialer Bindungen (Familie, Nachbarschaft, dörfliche Gemeinschaft), Vereinzelung und die Reduzierung des wechselseitigen Verhältnisses der Individuen im Wirtschaftsleben auf reine Vertragsbeziehungen (Stolleis 2001: 226) trugen zur Verschärfung der angespannten Lage der Arbeiter bei. Betroffen vom sozialen Elend war insbesondere die Bevölkerung in den sich bildenden kapitalistischen Zentren in Schlesien und Böhmen sowie im Ruhrgebiet und hier insbesondere die Arbeiter in der Tuchmacherei oder Weberei, im Bergbau und in der Stahlproduktion. Das enorme Bevölkerungswachstum in dieser Zeit31 sowie die rasche Urbanisierung taten ein Übriges bei der Verelendung ganzer Arbeitermassen („Pauper“; Geremek 1988: 287). Als Konsequenz aus dieser Situation kam es ab ca. Mitte des 19. Jahrhunderts zu ersten Protestaufrufen von radikalen sozialrevolutionären Persönlichkeiten wie Friedrich Engels und Karl Marx sowie Regelungsforderungen gemäßigterer Kräfte an den Staat. Die stetig wachsende Arbeiterschaft bildete nunmehr eine eigene Klasse, die sich durch ein eigenständiges Klassenbewusstsein auszeichnete und sich selbst zu organisieren begann. So entstand z. B. im Jahr 1848 die „Allgemeine deutsche Arbeiter-Verbrüderung“, die allerdings im Jahr 1854 verboten wurde
Die Arbeiterbewegung: Beim Adel, innerhalb des liberalen Bürgertums und bei vielen Unternehmern verbreitete sich in diesem Kontext ein Klima der Angst vor Ausschreitungen und sozialer Revolution – Karl Marx brachte dies 1848 in seinem „Manifest der Kommunistischen Partei“ auf den Punkt: „Ein Gespenst geht um in Europa – das Gespenst des Kommunismus“ (Marx 1848 [2004]: 594). Und der Staat wiederum reagierte auf die entstehende Arbeiterbewegung zunächst hilflos, mit Aktivitäts- und Organisationsverboten (Lampert/Althammer 2007: 64-66) und mit Repression. Dies regte allerdings den Willen der Industriearbeiterschaft zum Kampf für die eigenen Rechte nach einer vorübergehenden Phase der Unterdrückung weiter an. So entstanden ab den 1860er Jahren zahlreiche Organisationen (Parteien, Vereine, gewerkschaftliche Zusammenschlüsse), die teils revolutionäre, teils eher reformorientierte Ansichten und Forderungen vertraten. Darunter ist insbesondere der von Ferdinand Lassalle im Jahr 1863 ins Leben gerufene „Allgemeine Deutsche Arbeiterverein“ zu nennen. Er schloss sich im Jahr 1875 im thüringischen Gotha mit der zuvor von August Bebel und Wilhelm Liebknecht gegründeten „Sozialdemokratischen Arbeiterpartei“ (1869) zur „Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands“ zusammen. Sie benannte sich 1890 nach der endgültigen Aufhebung des Sozialistengesetzes um in „Sozialdemokratische Partei Deutschlands“ (SPD) und wurde zur zentralen politischen Organisation der Arbeiterschaft in Deutschland.
Bis zum Zeitpunkt der Gründung des deutschen Kaiserreichs im Anschluss an den deutsch-französischen Krieg 1871 verschärfte sich die Situation noch. Hatten sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts gemäßigte Liberale und Teile des entstehenden Bürgertums für eine verstärkte Liberalisierung von Staat und Gesellschaft eingesetzt und dabei auch sozialreformerische Ideen propagiert, so kehrte nach dem Scheitern der bürgerlichen Revolution 1848 zunächst in allen deutschen Ländern die feudalistische, konservativ-reaktionäre Obrigkeit zu alter Größe zurück. Leitmotiv der Politik war nun die Unterdrückung jeglicher Veränderungsbestrebungen seitens der Bürgerschaft oder gar der Arbeiter. Erst ab den 1860er Jahren fanden Forderungen zunächst aus dem Bürgertum heraus, u. a. nach sozialer Reform, Eingang in die sich entwickelnde politische und wissenschaftliche Diskussion um die „Soziale Frage“
Nach der Reichsgründung bildete die Wirtschaftskrise von 1873 in diesem Kontext den Ausgangspunkt für eine entschiedene Kritik am frühliberalen Kapitalismus sowie für Forderungen u. a. von christlichen und liberalen Politikern und Wissenschaftlern nach stärkerer Intervention des Staates zugunsten der Arbeiter und im Sozialbereich allgemein. Einflussreich wurde in diesem Zusammenhang insbesondere der im Jahr 1872 gegründete „Verein für Socialpolitik“, in dem sich vorrangig reformorientierte Volkswirte (z. B. Adolph Wagner, Gustav Schmoller, Lujo Brentano) zusammengeschlossen hatten. Hatte der von Kaiser Wilhelm I. zum ersten Reichskanzler ernannte Otto von Bismarck in seiner vormaligen Funktion als preußischer Ministerpräsident zuvor noch vergebens versucht, dem wachsenden sozialen Elend durch die gesetzliche Stärkung des Genossenschaftswesens und der gesellschaftlichen Selbsthilfe zu begegnen, so beteiligte er sich nun an der auch von Mitgliedern des Vereins vorangetriebenen Diskussion um die dringendsten sozialpolitischen Maßnahmen des neuen Staates
Entsprechende Maßnahmen wurden freilich erst im Anschluss an die beiden Attentatsversuche auf Kaiser Wilhelm I. im Jahr 1878 ergriffen. Einerseits reagierten Bismarck und die konservative Obrigkeit darauf mit verstärkter Repression gegenüber der Sozialdemokratie, die vor allem im konservativen und im nationalliberalen Lager als Wurzel des sozialen Widerstands gesehen wurde. So verabschiedete der Reichstag am 21. Oktober 1878 das Sozialistengesetz, das u. a. das Verbot sozialistischer und sozialdemokratischer Organisationen beinhaltete. Andererseits trieb Bismarck nun – einer Strategie von „Zuckerbrot und Peitsche“ gegenüber der Sozialdemokratie folgend (Frerich/Frey 1993: 93) – das Vorhaben einer sozialen Reformgesetzgebung entschieden voran
Die Kaiserliche Botschaft 1881 und der Beginn der Sozialgesetzgebung 188Den Auftakt zu der von Reichskanzler Bismarck initiierten Sozialgesetzgebung bildete die Kaiserliche Botschaft vom November 1881. Kaiser Wilhelm I. erklärte darin: „Schon im Februar d. J. haben wir Unsere Überzeugung aussprechen lassen, dass die Heilung der sozialen Schäden nicht ausschließlich im Wege der Repression der sozialdemokratischen Ausschreitungen, sondern gleichmäßig auf dem Weg der positiven Förderung des Wohles der Arbeiter zu suchen sei.“ Der Kaiser gab dem Reichstag damit gleichzeitig auf, die bereits kontrovers diskutierte „Versicherung der Arbeiter gegen Betriebsunfälle“ gesetzlich zu regeln (ebd.). Im Juni 1883 beschloss der Reichstag allerdings zunächst das „Gesetz betreffend die Krankenversicherung der Arbeiter“ als erstes von drei Sozialversicherungsgesetzen. Es war weniger kontrovers, da es vor allem eine Neuordnung des seit langem bestehenden Hilfskassenwesens beinhaltete und damit an ein bereits bekanntes Sicherungsmodell im Bereich der Krankenversicherung anknüpfte. Es folgten das „Unfallversicherungsgesetz“ vom Juli 1884 und das „Alters- und Invaliditätsversicherungsgesetz
Bismarcks Sozialgesetzgebung war eine Reaktion auf mehrere unterschiedliche Problemkonstellationen, denen sich die noch junge gesamtdeutsche konstitutionelle Monarchie gegenüber sah:
erstens der Kampf der sich organisierenden Arbeiterschaft für ihre Rechte und die lauter werdenden Forderungen der Industriearbeiter nach Sicherheit, aber auch nach Teilhabe – beides kanalisiert in der erstarkenden Sozialdemokratie, die, das zeigt die kaiserliche Botschaft, von der staatlichen Obrigkeit als Bedrohung für den neuen Staat wahrgenommen wurde;
- zweitens die Beobachtung des wachsenden sozialen Elends vornehmlich unter den Angehörigen der arbeitenden Klasse, gepaart mit volkswirtschaftlichen und wehrpolitischen Zukunftsüberlegungen;
- drittens die Konfrontation mit Forderungen aus der Industrie und von den Unternehmen, die sich angesichts zunehmender bürgerlicher Freiheitsrechte auch für die Angehörigen des zweiten und dritten Standes individuellen Forderungen, z. B. nach finanziellem Ausgleich von Betriebsunfällen und arbeitsbedingt entstandenen körperlichen Schäden, gegenübergestellt sahen; und
- viertens die Einsicht, dass das hergebrachte, zersplitterte und uneinheitliche, auf bürgerlichem und kirchlichem Engagement sowie der Selbstorganisation der Arbeiterschaft beruhende soziale Sicherungswesen zur Absicherung der Masse der Arbeitnehmer und Stabilisierung der Gesellschaft nicht mehr ausreichend war und dass zugleich die kommunale Fürsorge als ‚Ausfallbürge‘ dieses Systems überlastet war
Erstes Auftreten des Sozialstaates: Aus der Betrachtung dieser Herausforderungen zogen die Monarchie, zogen Reichstagsabgeordnete unterschiedlicher Parteien, die politischen Parteien selbst (z. B. die katholische Zentrumspartei und die Linksliberalen), Wissenschaftler, insbesondere im „Verein für Socialpolitik“, die Ministerialbürokratie und zog schließlich insbesondere Reichskanzler Bismarck die Schlussfolgerung, dass der Aufbau eines staatlich garantierten, in der Umsetzung kontrollierten und durch formale Rechte abgestützten sozialen Sicherungswesens notwendig war – die mit einem solchen Schritt verbundenen Motive und Erwartungen variierten freilich von Akteur zu Akteur. Insgesamt, dies betont Stolleis, trat der Staat hier erstmals als Sozialstaat eigenständig in Erscheinung. Darin wiederum lag neben allen institutionellen Neuerungen, die das dann eingeführte Sozialversicherungswesen kennzeichneten, das entscheidende Moment des mit der Bismarckschen Sozialgesetzgebung in Verbindung gebrachten fundamentalen Wandels in der Sozialpolitik des 19. Jahrhunderts
Was kennzeichnete nun die drei damaligen Sozialversicherungen, die zu Ausgangsmodellen und Vorläuferinnen des Sozialversicherungswesens in der Weimarer Republik, der alten BRD und der heutigen Bundesrepublik wurden? Einzeln betrachtet boten die Versicherungen den Arbeitern einen basalen, doch über das vormalige Sicherungsniveau deutlich hinausreichenden Schutz bzw. Ausgleich im Falle von Krankheit, Unfall und Invalidität/ Alter. Aufgrund des Krankenversicherungsgesetzes von 1883 war für alle in einem versicherungspflichtigen Gewerbebetrieb beschäftigten Arbeitnehmer (der größte Teil der Arbeitnehmer zum damaligen Zeitpunkt) bis zu einem Jahresverdienst von 2.000 Mark die Mitgliedschaft in einer Krankenkasse verpflichtend. Die Kassen32 waren der staatlichen Aufsicht unterstellt. Sie waren beitragsfinanziert (2/3 trugen die Arbeitnehmer, 1/3 trugen die Arbeitgeber) und hatten den Versicherten unterschiedliche Leistungen im Krankheitsfall zu gewähren: einen Krankenversicherungsschutz von bis zu 13 Wochen sowie ein Krankengeld in Höhe von 50 % des Tagesverdienstes bei Erwerbsunfähigkeit ab dem 4. Verdienstausfalltag, finanzielle Unterstützung für Wöchnerinnen und ein Sterbegeld für Hinterbliebene im Todesfall. Bei Bedarf konnten die Krankenkassen außerdem einen Krankenhausaufenthalt bezuschussen. Dabei hatten die Versicherten Anspruch auf freie Behandlung durch einen Arzt sowie freie Arzneimittelversorgung
Unfallversicherung: Die Unfallversicherung von 1884 wiederum trat ein bei betriebsbedingt verursachten Unfällen, wobei sie nach einer Frist von 14 Wochen im Anschluss an den Unfall (in dieser Zeit hatte die Krankenkasse eventuelle Behandlungskosten zu übernehmen) die Heilbehandlung für die Betroffenen trug. Andernfalls zahlte die Unfallversicherung eine Rente an Betroffene oder Hinterbliebene sowie im Todesfall einen fixen Betrag für die Beerdigungskosten. Sie wurde allein von den Arbeitgebern durch Beiträge finanziert und unterstand, wie die Krankenversicherung, der staatlichen Aufsicht. Das Besondere an der gesetzlichen Unfallversicherung war, dass sie auf dem Prinzip der Gefährdungshaftung beruhte. Damit hatten die Arbeiter erstmals eine reelle Chance, einen finanziellen Ausgleich ihrer Schäden im Falle von Betriebsunfällen zu erhalten, denn sie mussten nun nicht mehr ein Verschulden des Arbeitgebers nachweisen, um Anspruch auf Schadensausgleich zu erlangen (diese Regelung, die sog. Verschuldenshaftung, die im Reichshaftpflichtgesetz von 1871 niedergelegt war, hatte bis dato bei Betriebsunfällen gegolten;
Alters- und Invaliditätsversicherung: Bei der Alters- und Invaliditätsversicherung von 1889 schließlich handelte es sich ebenfalls um eine Pflichtversicherung, die der staatlichen Aufsicht unterstellt war. Sie galt für Arbeitnehmer ab dem 16. Lebensjahr bis zu einem Jahresverdienst von 2.000 Mark. Dabei hatten die Versicherten nach einer Wartezeit von 5 Jahren altersunabhängig Anspruch auf eine Rente wegen Invalidität bzw. bei Erwerbsunfähigkeit (sie betrug ein Sechstel des Durchschnittsverdienstes der vergangenen fünf Jahre). Außerdem hatten sie Anspruch auf eine Rente wegen Alters mit Vollendung des (damals selten erreichten) 70. Lebensjahres, sofern zuvor 30 Jahre lang in die Rentenkasse eingezahlt und damit Anwartschaftsrechte erworben worden waren. Die Rentenversicherung wurde von Arbeitgebern und Arbeitnehmern paritätisch finanziert (Beitragssatz: 1,7 %), wobei ihr der Staat – anders als der Kranken- und Unfallversicherung – von Beginn an jährlich einen Zuschuss von 50 Mark je versichertem Arbeitnehmer zahlte. Die Alters- und Invaliditätsversicherung von 1889 war als kapitalgedeckte Versicherung angelegt und zunächst lediglich als garantierter Zuschuss zum Lebensunterhalt im Alter gedacht. Zum Bestreiten des Lebensunterhalts reichte sie nicht aus
Insgesamt waren die Sozialversicherungen Bismarcks charakterisiert durch die Übernahme oder Fortführung bereits bekannter Strukturprinzipen einerseits und die Einführung neuer Prinzipien und Ideen andererseits. Bekannt waren: die Idee der korporativen Selbsthilfe der Arbeitnehmer durch die Anlage des Sicherungssystems in Form einer (Sozial-) Versicherung, die Finanzierung durch Beiträge der Versicherten und Arbeitgeber – noch in unterschiedlichen Mischungen, der Charakter der Versicherungen als Körperschaften des öffentlichen Rechts mit eigenem Haushalt und das Selbstverwaltungsprinzip. Neu waren: der Charakter als staatlich garantierte Zwangs- oder Pflichtversicherung und die Übernahme eines Teils der Finanzierung in der Alters- und Invaliditätsversicherung durch den Staat – mit seinen Zuschüssen brachte dieser sein Bekenntnis zur Übernahme von sozialer Verantwortung zum Ausdruck
Die Sozialversicherungen waren zunächst aus politischen Motiven entstanden. Es ging insbesondere Bismarck und den konservativen sowie nationalliberalen Kräften darum, den Einfluss der Sozialdemokratie auf die Arbeiterschaft zurückzudrängen und die Arbeiter für die Unterstützung der Monarchie zu gewinnen. Diese Strategie ging letztlich jedoch nicht auf. Im Gegenteil, nachdem das Sozialistengesetz und das Verbot sozialistischer und sozialdemokratischer Verbände und Parteien im Jahr 1890 endgültig aufgehoben worden war, erlebte die Sozialdemokratische Partei einen raschen Aufstieg und Stimmenzuwachs und stellte schließlich 1912 die stärkste Fraktion im Reichstag. Die tatsächliche Bedeutung der Sozialversicherungsgesetzgebung oder das fundamental Neue im Bereich der Sozialpolitik – nämlich der Beginn einer wahrhaft staatlichen Sozialpolitik – wurde vielen Beobachtern erst später bewusst
Nach dem Ende der Ära Bismarck ab 1890 bis zum Ende des Ersten Weltkrieges erfuhren die Sozialversicherungen über die Gesetzgebung zahlreiche Änderungen, d. h. insbesondere die Ausdehnung von Leistungen (allerdings auch von Beiträgen). Hervorzuheben ist hier insbesondere die Errichtung einer gemeinsamen rechtlichen Ordnung in Form der Reichsversicherungsordnung (RVO) im Jahr 1911. Mit der RVO erhielten die einzelnen Sozialversicherungen einen einheitlichen Kodifikationsrahmen und dabei auch gemeinsame allgemeine Vorschriften, die im übergreifenden Allgemeinen Teil niedergelegt waren. Ein Element der Differenzierung im Bereich der Sozialversicherung jedoch, das im Kontext der Verabschiedung der RVO eingeführt wurde, war die Schaffung eines eigenen, von der Arbeiterrentenversicherung abgetrennten Altersversicherungssystems für Angestellte im Jahr 1911. Das ‚Versicherungsgesetz für Angestellte‘ vom Dezember 1911 zementierte damit – jedenfalls in der Alterssicherung – die überkommenen, standesbezogenen Überlegungen, die in der Invaliditäts- und Altersversicherung von 1889 enthalten waren, indem es ihnen einen direkten gesetzlichen Ausdruck verlieh. Die Angestelltenaltersversicherung unterschied sich z. B. von der Arbeiteraltersversicherung darin, dass sie Angestelltenwitwen einen Versicherungsschutz gab, den Arbeiterwitwen lediglich beim Nachweis der eigenen Arbeitsunfähigkeit beanspruchen konnten.
Insgesamt blieb die RVO, die immer wieder geändert wurde, bis zum Erlass der einzelnen Sozialgesetzbücher in der Bundesrepublik das zentrale übergreifende Gesetzeswerk im Bereich der deutschen Sozialversicherung. Daneben wurde der Staat nun auch auf anderen, bis dato vernachlässigten sozialpolitischen Feldern regulativ tätig. Insbesondere galt dies für das Arbeitsschutzrecht und das Arbeitsrecht, die beide zugunsten der Arbeiter erweitert und verbessert wurden
Sozialpolitik während des Ersten Weltkrieges: Lockerung des Arbeitsschutzes: Im Ersten Weltkrieg wurden zunächst einige der bis dato erreichten Errungenschaften, insbesondere im Bereich des Arbeitsschutzes, wieder zurückgedreht. Veranlasst nicht durch das Parlament, sondern vielmehr durch die oberste Heeresleitung kam es nun zu Einschränkungen des Arbeitsschutzes in Fällen, in denen dieser für die Kriegsproduktion als hinderlich erschien, sowie zur Einschränkung von Arbeitnehmerrechten. Gleichzeitig wurden die sozialen Rechte insbesondere von Soldaten ausgebaut (z. B. Garantie der Rechte in der Sozialversicherung trotz Beitragsausfall – der Ausfall wurde teilweise dadurch kompensiert, dass nun verstärkt Frauen, die damit gleichzeitig zu Beitragszahlerinnen wurden, für die Produktion herangezogen wurden; Senkung des gesetzlichen Renteneintrittsalters von 70 auf 65 Jahre auch für Arbeiter – für Angestellte hatte diese Regelung bereits zuvor gegolten; Durchsetzung der betrieblichen Mitbestimmung mit der Folge der vollständigen Integration der Gewerkschaften in das arbeits- und tarifrechtliche System). Zudem wurde eine eigene Sozialfürsorge für Soldaten, Kriegsversehrte, Witwen und Waisen aufgebaut.
Parallel kam es außerdem zum weiteren Ausbau der Sozialpolitik (u. a. erstmals Bekämpfung der wachsenden Arbeitslosigkeit mit öffentlichen Mitteln; Ausbau der Hinterbliebenenversorgung, der Versorgung von Kriegsopfern, Witwen und Waisen etc.). Dies war u. a. Teil einer Politik zur „Befriedung der ‚Heimatfront‘“. Darüber hinaus kam es in den Jahren bis 1918 zum Ausbau der staatlichen, außerhalb des Systems der Sozialversicherung (für Arbeiter und Angestellte) liegenden Beamtenversorgung – so hatte sich seit Ende des 19. Jahrhunderts nicht zuletzt auch im Zusammenhang des Aufbaus der Sozialversicherung ein breit gefächerter Beamtenstand etabliert
Nach Kriegsende war es für die junge Weimarer Republik zunächst zentral, die negativen sozialen Folgen des Ersten Weltkrieges durch sozialpolitische Maßnahmen zu lindern oder zu beseitigen. Es galt vor allem, die große Zahl der Kriegsversehrten, Kriegsopfer, Hinterbliebenen und Kranken zu versorgen, die zahlreichen Heimkehrer zu integrieren und die Verarmung weiter Bevölkerungsteile zu bekämpfen. Mit dem Krieg hatte sich das soziale Elend über alle Schichten hinweg verbreitet und war zu einer „Massenerscheinung“ geworden (Hentschel 1983: 125). Das vorrangige Mittel der sozialpolitischen Intervention war die Sozialhilfe oder soziale Fürsorge. Diese war bis Kriegsende vorrangig von den Kommunen und gesellschaftlichen Einrichtungen, den Verbänden und Vereinen der freien Wohlfahrtspflege getragen worden. Der Krieg bewirkte nun eine teilweise „Zentralisierung“ der Fürsorge. Da die Kommunen mit der hohen Anzahl der Bedürftigen überfordert waren, nahm sich der Staat der Kriegsopferfürsorge an. In diesem Zusammenhang bildete sich parallel zum traditionellen System der Armenfürsorge ein neues System der Soldaten- oder Kriegsfürsorge bzw. – auf der lokalen Ebene – der Kriegswohlfahrtspflege. Hier wurden spezielle Hilfen für kriegsbedingt in Not geratene Bürger entwickelt, wobei ein Ziel die Abgrenzung zur klassischen Armenfürsorge für die ‚aus eigener Schuld‘ oder eigenem ‚Unvermögen‘ in Not geratene Bevölkerung war
Sozialpolitische Aufgaben in der Weimarer Reichsverfassung: Bereits während des Ersten Weltkrieges waren im Rahmen der „Kriegsfürsorge“ besondere Geldleistungen wie die Unterstützung für Soldatenfamilien oder die Reichswochenhilfe, sowie besondere Fürsorgeleistungen, z. B. Lebensmittelhilfen, Kleiderspenden, Mieterleichterungen oder Rehabilitationsmaßnahmen für Kriegsversehrte, geschaffen worden (Sachße/ Tennstedt 1988: 50). Nach Kriegsende konnte und wollte die erste deutsche Demokratie nicht mehr hinter diesen Stand zurück (Stolleis 2001: 275), zumal der Verfassungsgeber der neuen Republik eine durch und durch soziale Staatsordnung gegeben hatte. In der Weimarer Reichsverfassung (WRV), die die Nationalversammlung im Juli 1919 beschloss und die am 11. August 1919 in Kraft trat, waren daher nicht weniger als zwölf der insgesamt 181 Artikel explizit sozialen Rechten des Einzelnen oder sozialen Aufgaben des Staates gewidmet. Insbesondere übertrug der grundlegende Art. 7 dem Reich die Gesetzgebungskompetenz u. a. in den Bereichen des „Armenwesens und der Wandererfürsorge“ , der „Bevölkerungspolitik“ und der „Mutterschafts-, Säuglings-, Kinder- und Jugendfürsorge“ , des „Gesundheitswesens“ (Abs. 1, Ziff. 8), des „Arbeitsrechts“, der „Verscherung“ und des „Schutz[es] der Arbeiter und Angestellten sowie“ des „Arbeitsnachweis[es]“ und der „Fürsorge für die Kriegsteilnehmer und ihre Hinterbliebenen“
Die für den deutschen Sozialstaat zentrale Sozialversicherung entwickelte sich in der Weimarer Republik von einem Mittel zur Befriedung der Arbeiter und zur Einhegung der Sozialdemokratie hin zum eigenständigen, wohl wichtigsten innen- und sozialpolitischen Handlungsfeld des Staates. Im Sinne der Stabilisierung der jungen Demokratie galt es nunmehr, soziale Konflikte zu entschärfen und sozialpolitischen Interessen der Wähler und auch der Wählerinnen (die WRV räumte in Art. 22 nun auch den Frauen das Wahlrecht ein und konstatierte in Art. 109 die Gleichberechtigung von Männern und Frauen) Rechnung zu tragen. Darüber hinaus reagierte der Staat mit sozialpolitischen Maßnahmen auf die zahlreichen Krisen, denen die Republik ausgesetzt war. Äußeres Zeichen der Bedeutung, die er diesem Feld beimaß, und auch äußeres Zeichen seiner Entwicklung zum Wohlfahrtsstaat war der Aufbau einer eigenen Bürokratie für den Bereich der Sozialpolitik. Alle Aufgaben in dem Feld gingen nunmehr auf das neu gegründete Reichsarbeitsministerium über.
Sozialpolitische Akteure in der Weimarer Republik: Die Errichtung eines solchen Ministeriums ist kein Zufall, denn der Arbeit und der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit kam im Bereich der Sozialpolitik die zentrale Position zu. Die industrialisierte Gesellschaft definierte sich über die Arbeit und die Funktionsfähigkeit der gesamten Sozialversicherung – die ja auf den Beiträgen abhängig beschäftigter Arbeitnehmer beruhte – war davon abhängig, dass es genügend Arbeit gab. Die Zentralität der Arbeit zeigte sich zunächst in der Verfassung. Hier waren die Versammlungsfreiheit (Art. 123 WRV), die Koalitionsfreiheit (Art. 124 u. 159 WRV) und die Mitbestimmung (Art. 165 WRV) als grundlegende Rechte der Bürgerinnen und Bürger niedergelegt. Zudem wurde dem Zentralstaat hier die Aufgabe der Regelung des Arbeitsrechts übertragen (Lampert/Althammer 2007: 94-96). Die Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften waren dabei bereits 1918 als zentrale Akteure der Arbeitspolitik anerkannt worden – und mit ihnen das Prinzip der Selbstverwaltung im Bereich der Arbeitspolitik (Vereinbarung über die „Zentrale Arbeitsgemeinschaft“ oder auch „Stinnes-Legien-Abkommen“ vom November 1918; Bracher 1984: 22; Übergang zum kollektiven Arbeitsrecht und zum Abschluss von Kollektivverträgen bzw. Tarifpolitik; Anerkennung der Tarifautonomie; Einrichtung eines teils sozialpartnerschaftlichen, teils staatlichen Schlichtungswesens). Darüber hinaus dominierten die Verbände der Arbeitgeber und die Gewerkschaften auch die Selbstverwaltung in anderen Zweigen der Sozialversicherung. Und im Jahr 1927 rief der Gesetzgeber schließlich auch eine eigene Arbeitsgerichtsbarkeit ins Leben
Errichtung der Arbeitslosenversicherung 1927: Angesichts der Belastung der Republik durch die wirtschaftlichen Folgen des Krieges (enorme Staatsverschuldung; darniederliegende Konjunktur) und der hohen Kriegsreparationen sowie vor dem Hintergrund von Krisen und unvorhergesehenen Widrigkeiten war die Arbeitslosigkeit bis Anfang der 1930er Jahre in zuvor nicht gekannte Höhen gestiegen (von ca. 346.000 im Jahr 1921 auf ca. 1,4 Mio. im Jahr 1928 und schließlich 5,6 Mio. im Jahr 1932; Frerich/Frey 1993: 197). Der Staat reagierte darauf mit der Errichtung einer eigenen Politik der Arbeitsvermittlung und Versicherung gegen Arbeitslosigkeit. Mit dem „Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung“ (AVAG) schuf der Reichstag mit breiter Mehrheit im Jahr 1927 die Arbeitslosenversicherung als vierten Zweig der Sozialversicherung.
Angesiedelt wurde diese bei einer eigens zu diesem Zweck gegründeten Behörde (Körperschaft des öffentlichen Rechts), der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung. Sie – der Vorläufer der bundesrepublikanischen Bundesanstalt für Arbeit und heutigen Bundesagentur für Arbeit – wurde von Arbeitgebern und Arbeitnehmern selbst verwaltet, war für das Eintreiben sowie die Verwaltung der Beiträge zuständig und konzipierte und implementierte erste Maßnahmen einer aktiven Arbeitsmarktpolitik zugunsten der Arbeitslosen. Die Arbeitslosenversicherung selbst beruhte auf paritätischen Beiträgen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern, die als Zuschläge zur Krankenversicherung zu zahlen waren. Sie gewährte Leistungen für sechs Monate, bevor im Anschluss eine spezielle, staatlich finanzierte „Krisenfürsorge“ – ebenfalls für sechs Monate – und danach wiederum die allgemeine, kommunal getragene Armenfürsorge eintraten
Inkrementelle Veränderungen der existierenden Sozialversicherungszweige: Bei einzelnen, bereits existierenden Sozialversicherungszweigen blieben größere Reformen aus, doch waren inkrementelle Anpassungen zur Berücksichtigung der unterschiedlichsten Interessen sowie Ausweitungen der Leistungen zahlreich. In der Krankenversicherung beispielsweise kam es zu mehreren organisatorischen Veränderungen, wie insbesondere die Errichtung eines kollektivvertraglichen Systems der Leistungs- und Abrechnungsvereinbarung zwischen Krankenkassen und organisierter Ärzteschaft per Reichsverordnung im Jahr 1931 und die Schaffung einer eigenen kollektiven Vertretung der Ärzte, der kassenärztlichen Vereinigung, per Reichsverordnung vom 14. Januar 1932 (beiden Schritten waren lange Jahre des Protestes der Ärzte gegen die vom Staat ausgeübte Kontrolle der ärztlichen Tätigkeit sowie die Gängelung durch die Krankenkassen vorausgegangen). Außerdem beschloss der Gesetzgeber im Laufe der Zeit unterschiedliche Leistungserweiterungen, z. B. die Einführung der Familienmitversicherung bzw. die Gewährung von Familienhilfe aus den Mitteln der Krankenversicherung, besseren Schutz für Frauen oder eine Krankenversicherung für Seeleute. Insgesamt war bis zum Ende der Weimarer Republik das uns heute bekannte, auf Selbstverwaltung und korporatistischer Selbststeuerung durch Ärzte, Apotheken, Pharmafirmen, Pflegeberufe auf der einen und Krankenkassen als Versichertenvertreter auf der anderen Seite beruhende Gesundheitssystem in seinen Grundzügen erkennbar. Dabei genossen 60 % der Bevölkerung Krankenversicherungsschutz
Veränderungen gab es aber auch in der Unfall- sowie in der Invaliditäts- und Altersversicherung. In der Unfallversicherung wurde das Leistungsspektrum erweitert und der Kreis der Leistungsberechtigten über den zuvor gültigen Kreis der Fabrikarbeiter hinaus ausgedehnt. Außerdem erkannten die Berufsgenossenschaften als Träger der gesetzlichen Unfallversicherung nun nicht mehr nur Betriebsunfälle, sondern auch Berufskrankheiten als leistungsberechtigenden Sachverhalt an. Und schließlich dehnten sie ihre Tätigkeit von der reinen Versichertenbetreuung hin zum Angebot von Fort- und Weiterbildungen für Arbeits- bzw. Unfallschützer und in der Branche tätige Helfer aus. Die Invaliditäts- und Altersversicherung wiederum war durch die hohen Rentenforderungen nach dem Ersten Weltkrieg und die mit der Inflation 1923 eingetretene Entwertung der Renten extrem belastet. Vor diesem Hintergrund musste das ursprüngliche Kapitaldeckungsverfahren aufgegeben und durch das Umlageverfahren ersetzt werden. Die Trennung zwischen Arbeiter- und Angestelltenversicherung blieb allerdings vorerst erhalten
Weimarer Koalition: Insgesamt hatte die Sozialpolitik als eigenständiges Politikfeld in der Weimarer Republik grundlegende Bedeutung erlangt. Dabei hatte die stark sozialpolitische Orientierung seit 1919 unterschiedliche Ursachen. Erstens trug die politische Einigkeit der sogenannten „Weimarer Koalition“ (Mehrheitssozialdemokratie, Zentrum, Demokratische Partei) über die Notwendigkeit einer starken Sozialpolitik als Kennzeichen der Innenpolitik der neuen Republik und Stabilisierungsfaktor für die junge parlamentarische Demokratie hierzu bei. Allerdings konnte diese Koalition insbesondere am Anfang der Republik vor allem die parlamentarische Einigkeit zwischen den lange sich gegenüberstehenden sozialdemokratischen und konservativen Kräften herstellen.
Eine Überwindung der politischen Spannungen zwischen den radikalen linken und rechten Kräften, denen die Demokratie von Weimar von Anfang an fortwährend ausgesetzt war und an denen sie letztlich auch zerbrach (Bracher 1984), war damit freilich nicht verbunden. Zweitens war für die Zentralität der Sozialpolitik die Einführung des Frauenwahlrechts in der Weimarer Reichsverfassung wichtig und damit die Möglichkeit zur Durchsetzung lange gehegter, sozialer Forderungen der frühen Frauenbewegung. Neben diesen Triebkräften wurde drittens auch die Bewältigung der beständigen Krisen, denen der Staat ausgesetzt war (Kriegsfolgenbewältigung, Hyper-Inflation 1923, Weltwirtschaftskrise 1929, dauerhafte wirtschaftliche Instabilität) zu einer zentralen Triebkraft des Auf- bzw. weiteren Ausbaus der Sozialpolitik während der Weimarer Zeit.
An der Sozialpolitik bzw. ihrer „Funktionsfähigkeit“ (Stolleis 2001: 291) bemaß sich die Fähigkeit der ersten deutschen Demokratie, gesellschaftlichen Zusammenhalt herzustellen und gesellschaftliche Legitimation zu generieren. Der Lackmustest hierbei war der Erfolg bei der Bekämpfung von Arbeitslosigkeit bzw. bei der Schaffung von Arbeitsplätzen, zum einen, weil Arbeit als Grundlage der Integration des Einzelnen in die moderne Gesellschaft anerkannt war, und zum anderen, weil nur durch eine genügend hohe Anzahl sozialversicherungspflichtiger Arbeitsverhältnisse auch die Beiträge für das System der Sozialversicherung mit seinem sich in allen Zweigen nach und nach erweiternden Leistungsumfang aufgebracht und damit die zentrale Säule des Sozialstaates erhalten werden konnte. Gerade dies, die Senkung der Arbeitslosigkeit bzw. das Herstellen eines hohen Beschäftigungsniveaus, war angesichts der über weite Phasen schwierigen konjunkturellen Situation der Weimarer Republik eine große Herausforderung. Diese konnte ab dem Jahr 1929 mit dem Einsetzen der Folgen der Weltwirtschaftskrise nicht mehr bewältigt werden
Die Weltwirtschaftskrise war für die ohnehin instabile wirtschaftliche Entwicklung in der Weimarer Republik und – in unmittelbarer Konsequenz – für die Entwicklung der Sozialpolitik einschneidend. Im Laufe der Krise schnellte die Arbeitslosigkeit von ca. 1,4 Mio. 1928 auf ca. 5,6 Mio. 1932 hoch (das entsprach einer Arbeitslosenquote von 25,6 % im Jahr 1932; Frerich/Frey 1993: 220). Die Gesamteinnahmen aller Zweige der Sozialversicherung mit Ausnahme der Arbeitslosenversicherung halbierten sich im selben Zeitraum von 5,139 Mrd. Reichsmark 1929 auf 2,747 Mrd. Reichsmark 1932 (ebd.: 219). Die radikalen politischen Kräfte von links und rechts waren bereits während der 1920er Jahre außerhalb und innerhalb des Parlaments erstarkt.
Die Krise trug nun wesentlich dazu bei, dass insbesondere die Nationalsozialisten Stimmengewinne erzielten. War die NSDAP von Adolf Hitler 1928 noch auf 12 Reichstagsmandate gekommen, so erlangte sie 1930 bereits 107 und 1932 schließlich 230 Mandate. Dies entsprach zwar längst nicht der absoluten Mehrheit der Stimmen im Reichstag (die NSDAP errang im Juli 1932 37,2 % der Stimmen und im November 1932 nur noch 33,1 %), jedoch erlangte die NSDAP damit unter den sieben großen Reichstagsparteien die höchste Stimmenzahl (vor der SPD mit 21,6 % im Juli bzw. 20,7 % im November 1932); sie stellte mithin die deutlich stärkste Fraktion. Im Zuge der politischen Radikalisierung, von der insbesondere die Nationalsozialisten profitierten, war es seit 1930 keiner Partei oder Parteienkoalition mehr gelungen, die parlamentarische Mehrheit zu erzielen.
Politik war darum seither nur noch auf dem Wege der in der Weimarer Verfassung vorgesehenen Notverordnungen durch den Reichspräsidenten möglich (Art. 48 WRV). Auf dieser Basis strengten die ab 1930 von Reichspräsident Hindenburg eingesetzten sukzessiven Präsidialregierungen eine ganze Reihe von Maßnahmen im Bereich der Sozialpolitik an, um der Krise insbesondere der Sozialversicherung sowie der hohen Arbeitslosigkeit zu begegnen. Dabei bewirkten die zwischen 1930 und 1932 erlassenen Notverordnungen insbesondere eine starke Kürzung der Leistungsansprüche der unterschiedlichsten Bevölkerungsgruppen gegenüber allen Zweigen der Sozialversicherung. Alles dies konnte den weiteren Aufstieg der Nationalsozialisten und schließlich die Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 nicht verhindern.
Die zentrale Herausforderung zu Beginn der nationalsozialistischen Herrschaft bestand in der Reduzierung der hohen Arbeitslosigkeit. Sie war im Januar 1933 auf ca. 6 Mio. angeschwollen. Dabei maß das Regime dem sonst in diesem Kontext bedeutsamen Feld der Fürsorge keinen eigenen Stellenwert bei und schenkte diesem Feld kaum Beachtung. Vielmehr wurden auf der Basis des Ermächtigungsgesetzes („Gesetz zur Behebung der Not von Volk und Reich“) vom 24. März 193334 teils die aus der Endphase der Weimarer Republik bereits bekannten Instrumente zur Stabilisierung der Wirtschaft und des Sozialstaates weitergeführt – nunmehr allerdings unter erheblich höherem finanziellem Aufwand (Subventionierung der Wirtschaft, Verbots- und Genehmigungsregelungen in Bezug auf individuelle Leistungen der Sozialversicherung, Erhöhung der Beitragssätze, staatliche Auftragsarbeiten wie Autobahnbau, Infrastrukturausbau etc.).
Ferner implementierten die Nationalsozialisten eine rigide Arbeitsbeschaffungspolitik im großen Stil und ebenfalls unter hohem finanziellem Aufwand. Hierzu gehörten neben staatlichen Auftragsarbeiten die strenge Regelung der Arbeitszeiten zur Teilung bestehender Arbeitsverhältnisse, die Ächtung von ‚Doppelarbeit‘ oder Doppelverdienst, die Verdrängung von Frauen aus dem Arbeitsleben (z. B. durch finanzielle Anreize zur Heirat und zur Geburt von Kindern), die Wiedereinführung des Wehrdienstes und schließlich auch die Einführung der Arbeitsverpflichtung für 18- bis 25-Jährige im Rahmen des „Reichsarbeitsdienstes“. Die These, dass ‚Hitler die hohe Arbeitslosigkeit bezwungen habe‘, ist dennoch – dies betont Mason – nicht belegt. Vielmehr hinkten die vom Regime geplanten Erfolge hinter den tatsächlichen her und wurde die Reduzierung der Zahl der Arbeitslosen teils über Zwangsmaßnahmen und teils auch über eine Veränderung der Arbeitslosenstatistik erreicht
Was die öffentliche Armenfürsorge und Versorgung von Bedürftigen in den ersten Jahren der NS-Regierung betrifft, so konnten die freien Träger der Wohlfahrtspflege und die Kommunen diese Aufgaben zwar weiterhin übernehmen, die NSDAP diffamierte Bedürftige allerdings ihrer rassistischen, menschenverachtenden Ideologie entsprechend als „unnütze Esser“, „Asoziale“ und „Schmarotzer an der Volksgemeinschaft“ – für sie war von Beginn der NS-Herrschaft an keine Unterstützung vorgesehen, sondern vielmehr Sanktionen bis hin zur Internierung und Ermordung von Betroffenen (im Rahmen des sogenannten „Euthanasie“-Programms). Dabei duldete die Regierung ab 1933 nur noch den Caritasverband, die evangelische Innere Mission und das Deutsche Rote Kreuz (für Fürsorgeleistungen im Wehrbereich). Diese Verbände schloss sie 1934 zur „Reichsarbeitsgemeinschaft der freien Wohlfahrtspflege“ zusammen
NS-Wohlfahrtsorganisationen: Im Laufe der 1930er Jahre etablierten sich dann allerdings doch eigene, nationalsozialistische Organisationen der Wohlfahrtspflege, die „Braunen Schwestern“, die „Nationalsozialistische Volkswohlfahrt“ (NSV, 1935), die „NS-Winterhilfe“. Deren fürsorgerische Tätigkeit, z. B. Hilfe für Mütter und Kinder, Versorgung der Opfer von Luftangriffen sowie von Kriegsbeschädigten während des Zweiten Weltkrieges, ruhte freilich auf der rassistisch-biologistischen Ideologie der Nationalsozialisten und sprach den humanitären Ideen der Hilfe und Barmherzigkeit gegenüber Schwachen Hohn (ebd.). Insbesondere die NSV wurde während des Krieges ab 1939 zu einem wichtigen Bestandteil des Regimes und seiner auf die „Volksgemeinschaft“ und ihren „Durchhalte“-Willen zielenden Propaganda. Zur Erfüllung ihrer Aufgaben eigneten sich die NS-Fürsorgeorganisationen seit Ende der 1930er Jahre zunehmend Einrichtungen und Vermögenswerte der traditionellen Wohlfahrtsorganisationen an (Stolleis 2001: 323). Insgesamt kam es so und auch durch den zwangsweisen Zusammenschluss der freien Träger 1934 zu einer Vereinheitlichung und „Gleichschaltung“ der Wohlfahrtspflege
Arbeitspolitik: Entlassungen und „Arbeitsdienst“: er Bereich der Arbeitspolitik erlebte bereits ab 1933 eine Zäsur. Es kam zur Zerschlagung der Gewerkschaften und zur Ersetzung durch die gleichgeschaltete „Deutsche Arbeitsfront“ (DAF), zum Ende der Versammlungsfreiheit und des Streikrechts, zur Abschaffung der Mitbestimmung und selbstverwalteten Tarifpolitik und zur systematischen Verdrängung der vom NS-Regime geächteten Personengruppen, insbesondere Juden, Sinti und Roma, Kommunisten und Sozialdemokraten etc. aus bestehenden Arbeitsverhältnissen. Besetzt wurden die entsprechenden Arbeitsplätze mit „Volksgenossen“. Die Bedingungen des Arbeitslebens (Tarifbedingungen und Entlohnung, Arbeitsbedingungen) legten ab Januar 1934 auf der Grundlage des „Gesetzes zur Ordnung der Arbeit“ die vom Arbeitsministerium eingesetzten sog. „Reichstreuhänder der Arbeit“ fest. Sie kontrollierten auch die Bildung der von der DAF bestimmten „Vertrauensräte“ in den Betrieben, die nunmehr die Betriebsräte ablösten. Darüber hinaus wurden die Freizügigkeit und die freie Wahl des Arbeitsplatzes nach und nach aufgehoben und die staatliche Möglichkeit zur Arbeitsverpflichtung („Arbeitsdienst“) eingeführt, die das Arbeitsministerium in der zweiten Hälfte der 1930er Jahre verstärkt einsetzte
Sozialversicherung: eigentümliche Kontinuität: Der Bereich der Sozialversicherung schließlich zeichnet sich durch eine eigentümliche „Kontinuität“ während der NS-Zeit aus. Zwar sollte mit dem „Gesetz über den Aufbau der Sozialversicherung“ vom 5. Juli 1934 eine organisatorische Vereinheitlichung der unterschiedlichen Zweige der Sozialversicherung hergestellt werden, doch tatsächlich bewahrten die Kranken-, Unfall-, Invaliden- und Altersversicherung trotz zahlreicher Detailänderungen ihre institutionellen Eigenheiten und es zeigte sich insgesamt eine hohe institutionelle Beständigkeit. Alle Sozialversicherungszweige waren nun freilich durch vielfältige organisatorische Umstellungen gekennzeichnet. Diese führten weg von der Verwaltungsorganisation der parlamentarischen Demokratie (Bürokratie, Selbstverwaltung) und hin zum Organisationsprinzip des ‚Führerstaates‘, insbesondere durch die Beseitigung der Selbstverwaltung und die Einführung des Führerprinzips. Dabei war die Politik der Sozialversicherungsträger nun charakterisiert durch Zwangsmaßnahmen gegenüber allen vom NS-Staat geächteten Personen und gesellschaftlichen Gruppen (insbesondere die jüdische Bevölkerung) sowie allen Personen und Gruppen, die dem Regime kritisch gegenüberstanden (ebd.: 309-310). Gang und gäbe war seit 1933 insgesamt die Zweckentfremdung von Beitragsmitteln und Ausplünderung der Sozialkassen zum Zweck der militärischen Aufrüstung
Parallel zu diesen, die unterschiedlichen Segmente der sozialen Sicherung in Deutschland betreffenden Maßnahmen implementierte die Regierung entsprechend der rassistischen, biologistischen Ideologie der Nationalsozialisten ab 1933 – anfänglich noch unter dem Deckmantel der öffentlichen Gesundheit – eine grausame Rassen- und Bevölkerungspolitik. Sie beruhte u. a. auf den Mitteln der Zwangssterilisation, Internierung und Zwangsunterbringung in Heimen und Anstalten, der rigiden Fortpflanzungs-, Geburten- und Familienkontrolle sowie der gewaltsamen Zerschlagung von Familien und richtete sich gegen dem NS-Staat missliebige oder von ihm geächtete Personen und Bevölkerungsgruppen (Juden, Sinti und Roma, Kommunisten, Sozialisten, „Asoziale“, Homosexuelle, geistig und körperlich Behinderte und Personen, die als „geisteskrank“ erklärt worden waren). Zugleich förderte die nationalsozialistische Regierung mit finanziellen Anreizen, besonderen Auszeichnungen und Ehrungen sowie Sondervergünstigungen „rassisch reine“, „arische“ Personen und Familien. Insgesamt kann weniger von einer eigenen Sozialpolitik während der Zeit des Nationalsozialismus die Rede sein, als vielmehr von der selektiven Durchführung sozialpolitischer Maßnahmen zugunsten der „Volksgemeinschaft“ und der „Volksgenossen“.
In Westdeutschland vollzog sich der Neuanfang des öffentlichen Handelns nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges auf der kommunalen und der Länderebene. Unmittelbar nach Kriegsende, vier Jahre vor der Gründung der Bundesrepublik Deutschland (BRD) in den westlichen Besatzungszonen und der Deutschen Demokratischen Republik (DDR) in der sowjetischen besetzten Zone (SBZ), begann in den Kommunen teils auf Eigeninitiative der Bevölkerung („Trümmerfrauen“), teils auf Initiative der kommunalen Verwaltungen der Wiederaufbau und die Versorgung der zahlreichen Flüchtlinge, Vertriebenen, Heimkehrer und Kriegsversehrten mit den notwendigsten Fürsorgeleistungen (Nahrungsmittelversorgung, medizinische Versorgung, Unterbringung/Wohnen). Angesichts des Ausmaßes der Zerstörungen und des Elends waren die zu bewältigenden Lasten enorm. Bewältigt werden mussten die Unterbringung von 10 Millionen Flüchtlingen, die Organisation sozialer Hilfe für die Witwen, Waisen, Bombenopfer, Vertriebenen, Kriegsbeschädigten und -versehrten, die ca. 40 % der Bevölkerung ausmachten, die Linderung der weit verbreiteten Unterernährung der Bevölkerung und die Behebung der krassesten Wohnungsnot, die mit der Zerstörung von ca. 20 bis 25 % der Wohnungen während des Krieges entstanden war.
Es dominierte also zunächst eine staatlich noch nicht verfasste, dezentrale fürsorgende Sozialpolitik. Dabei unternahmen die West-Alliierten in den Ländern, die ab 1946 in den westlichen Zonen aus historischen Territorien von vor dem Krieg oder als völlig neue Gebilde (z. B. Rheinland-Pfalz) entstanden, erste Anstrengungen zur Restitution der finanziell darniederliegenden Sozialversicherung. Insbesondere setzten sie die von den Nationalsozialisten ins Werk gesetzten rassistischen und diskriminierenden Regelungen außer Kraft und orientierten sich bei der provisorischen Wiedererrichtung der Sozialversicherungszweige an der Weimarer Gesetzgebung. Die Länder wiederum versuchten ab 1946 aktiv auf den Aufbau einer neuen staatlichen Ordnung auch im Sozialbereich hinzuwirken. So bekannten sie sich in ihren Verfassungen teils sehr detailliert zum Sozialstaat und legten bestimmte sozialstaatliche Prinzipien darin nieder
Sozialpolitik im Grundgesetz (GG): Im Grundgesetz (GG) der BRD, das der Parlamentarische Rat am 23. Mai 1949 beschloss, spielt der Sozialstaat demgegenüber keine herausgehobene Rolle. Der Verfassungsgeber bekannte sich eher in allgemeiner Form zu ihm. Hierfür steht zunächst die zentrale Aussage des GG-Artikels 1: „Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.“ Zudem stehen hierfür weitere allgemeine soziale und wirtschaftliche Normen, die niedergelegt sind in den Artikeln 2 (Freiheit der Person und freie Entfaltung der Persönlichkeit), 3 (Gleichheit, Gleichberechtigung der Geschlechter, Diskriminierungsverbot), 6 (Schutz von Ehe und Familie), 8 (Versammlungsfreiheit), 9 (Vereinigungsfreiheit), 11 (Freizügigkeit), 12 (Berufsfreiheit, Verbot von Zwangsarbeit), 14 und 15 (Eigentumsgarantie, Bedingungen von Enteignung und Sozialisierung). Und schließlich wird das Sozialstaatsprinzip in Art. 20 Abs. 1 GG sowie Art. 28 Abs. 1 GG ausdrücklich erwähnt
Nach der Wahl des ersten Deutschen Bundestages und Konrad Adenauers (CDU) zum ersten Bundeskanzler im August 1949 und nach der darauf folgenden Gründung der Bundesrepublik im Oktober 1949 stellte das Parlament (Bundestag und Bundesrat) die Weichen für den Wiederaufbau des Sozialstaates. Drei zentrale Elemente trugen dazu bei, dass dieses Vorhaben in der ersten Hälfte der 1950er Jahre zügig vorangetrieben werden konnte: Erstens das institutionelle Element der föderalen Staatsordnung und der Verhandlungsdemokratie, die zur wechselseitigen Abstimmung der variierenden wirtschafts- und sozialpolitischen Konzepte der bürgerlichen Parteien (CDU/CSU, Zentrumspartei, Bayernpartei, Deutsche Partei) einerseits und der SPD andererseits beitrugen und die Grundlage für die Herstellung eines breiten Konsenses bei der sozialpolitischen Gesetzgebung bildeten; sie stellten die Mitwirkung der SPD an der Bundesgesetzgebung über den Bundesrat sicher.
Wichtig ist in diesem Zusammenhang die Tatsache, dass die beiden großen Parteien, Union (CDU/CSU) und SPD, sich im Kern darüber einig waren, an das sozialstaatliche System der Weimarer Republik anknüpfen zu wollen (gegliederte Sozialversicherung, staatliche Versorgung für bestimmte Bevölkerungsgruppen, z. B. Beamte, subsidiäre Fürsorge) und dass sie zunächst keine grundlegende Reform dieser Ordnung anstrebten. Ein zweites wichtiges Element für die rasche Wiedererrichtung des Sozialstaates war der rasante ökonomische Wiederaufschwung der neu gegründeten BRD ab Beginn der 1950er Jahre. Dieser wurde begünstigt durch Hilfsprogramme der westlichen Alliierten, insbesondere der USA (European Recovery Program [ERP], auch „Marshall-Plan“ genannt), die Währungsreform mit Einführung der D-Mark im Jahr 1949, die kriseninduzierte Nachfrage der Weltmärkte im Anschluss an den Korea-Krieg 1950/51 sowie das noch niedrige Niveau der Staatsausgaben (geringe Sozialleistungen bei geringen Löhnen, Entmilitarisierung und daher kaum Rüstungsausgaben) (Schmidt 2005: 75). Und drittens stellte das von Alfred Müller-Armack 1947 entworfene, von der CDU ab 1949 übernommene wirtschaftspolitische Ordnungskonzept der sozialen Marktwirtwirtschaft ein zentrales konzeptionelles Element im Zusammenhang des zügigen Wiederaufbaus des Sozialstaates dar.
Das Konzept der sozialen Marktwirtschaft: Das Konzept der sozialen Marktwirtschaft bildete eine Verbindung zwischen liberalen und sozialen Ideen, die sich zuvor, noch in der Weimarer Republik, oft konfrontativ gegenüber gestanden hatten. Es war insofern geeignet, alte Gräben zwischen der Arbeitnehmer- und der Unternehmerseite zu überwinden. Im Jahr 1949 fand das Konzept im Anschluss an die Währungsreform Eingang in das wirtschaftspolitische Programm der CDU („Düsseldorfer Leitsätze über Wirtschaftspolitik, Landwirtschaftspolitik, Sozialpolitik, Wohnungsbau“). Es wurde auf dieser Grundlage vom ersten westdeutschen Wirtschaftsminister und späteren Bundeskanzler Ludwig Erhard (CDU) in die Bundespolitik eingeführt. Die SPD wiederum, als größte Oppositionspartei im Deutschen Bundestag, hielt zwar offiziell bis zur Verabschiedung ihres Godesberger Programms im Jahr 1959 an der Idee einer sozialistisch geprägten Wirtschaftsordnung fest, doch gab es bereits 1949 Stimmen, die den Austausch dieses wirtschaftspolitischen Grundkonzeptes durch das Konzept einer „regulierten Marktwirtschaft“ forderten (Boeckh/Huster et al. 2011: 89). Die wirtschaftspolitischen Entwürfe von CDU/CSU und SPD näherten sich mithin nach und nach an. Dabei forderte die SPD allerdings eine Stärkung der Arbeitnehmerseite (z. B. durch mehr Mitbestimmung) und berief sich auf die Wirtschaftstheorie von John Maynard Keynes und dessen Idee der Stimulierung von Nachfrage, wohingegen die CDU/CSU unter Regulierung die staatliche Intervention auf der Angebots- oder Arbeitgeberseite verstand („Sozialer Kapitalismus“).
Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungen verabschiedeten Bundestag und Bundesrat in den Anfangsjahren der Bundesrepublik Deutschland mehr als 50 Gesetze zur (Wieder-) Herstellung der sozialpolitischen Ordnung. Diese betrafen vor allem vier Bereiche: erstens die Kriegsopferversorgung und die sozialpolitische Bewältigung der Kriegslasten, zweitens die Wiedererrichtung und Neuordnung der Sozialversicherung, drittens das Arbeitsrecht und viertens die Neustrukturierung der sozialen Hilfe und Fürsorge für Bedürftige.
Bundesversorgungsgesetz 1950 und Lastenausgleichsgesetz 1952: Das drängendste sozialpolitische Problem der ersten deutschen Bundesregierungen unter der Führung von Konrad Adenauer war die Kriegsfolgenbewältigung. Der großen Not begegneten das Parlament und die Regierung unmittelbar nach Gründung der Bundesrepublik mit einer Reihe von Gesetzen und Programmen. Insbesondere zu nennen sind dabei das „Gesetz über die Versorgung der Opfer des Krieges“ vom 20. Dezember 1950, das Hilfeleistungen für Kriegsopfer festlegte, sowie das Lastenausgleichsgesetz (LAG) vom 14. August 1952, das die Entschädigung von Kriegsgeschädigten regelte (Rüffner/Goschler 2005). Außerdem verabschiedete der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates im April 1950 das Erste Wohnungsbaugesetz (Erste WoBauG) und schuf damit die Grundlage für ein umfassendes Wohnungsbauförderungsprogramm des Bundes zur raschen Behebung der drängenden Wohnungsnot. Auf dieser Grundlage wurden während der 1950er Jahre ca. 2 Mio. Wohnungen neu errichtet
Die Sozialversicherung: „institutionelle Restauration“: Die Reformen im Bereich der Sozialversicherung waren in den Anfangsjahren der Bundesrepublik durch eine „institutionelle Restauration“ gekennzeichnet (Hentschel 1983: 156). Grundlegend für alle Sozialversicherungszweige war zunächst die Wiederherstellung der Selbstverwaltung durch das „Gesetz über die Selbstverwaltung und über Änderungen von Vorschriften auf dem Gebiet der Sozialversicherung“, das der Bundestag mit Zustimmung des Bundesrates am 2. Februar 1951 beschloss. Es führte zu einer Vereinheitlichung der Organisation der Selbstverwaltung in allen Sozialversicherungszweigen. Dies bedeutete erstens, dass alle Sozialversicherungen nunmehr den Status als Körperschaften des öffentlichen Rechts genossen, zweitens, dass die Repräsentanten von Arbeitnehmern bzw. Versicherten einerseits und Arbeitgebern andererseits in den Gremien der sozialen Selbstverwaltung auf demokratischem Wege durch Sozialwahlen bestimmt werden sollten, und drittens, dass beide Seiten in diesen Gremien paritätisch vertreten sein sollten (Kluth 1997: 192).37 Es ist bemerkenswert, dass ein solches Gesetz erst sechs Jahre nach Kriegsende zustande kam und dass bis dahin das Führerprinzip in der Sozialversicherung weitergegolten hatte . Dieser Umstand erklärt sich indes damit, dass die westlichen Alliierten bis dahin die Restitution der Selbstverwaltung durch die Länder bzw. den aus Länderparlamentarieren zusammengesetzten Wirtschaftsrat der Bizone blockiert hatten, zuerst, weil sie ursprünglich eine völlige Neuregelung der Sozialversicherung anstrebten, und dann, weil sie eine solche Regelung dem neuen westdeutschen Parlament übertragen wollten (Kluth 1997: 192-193). Die Reformen der einzelnen Zweige der Sozialversicherung, nämlich der Renten-, Kranken-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung, verliefen sodann recht unterschiedlich
Rentenversicherung und Rentenreform 1957: Die Gesetzgebung betreffend die Rentenversicherung war zunächst durch die Restauration des bereits von Bismarck eingeführten Systems gekennzeichnet. Das heißt, dass das Verfahren der Kapitaldeckung, das nach der Weltwirtschaftskrise 1929 nur zeitweilig geändert und zum Umlageverfahren hin transformiert worden war, wiederhergestellt wurde. Und insbesondere heißt es auch, dass (vor diesem Hintergrund) die Renten in allen drei Zweigen der gesetzlichen Rentenversicherung (Invaliden- oder Arbeiterversicherung, Angestelltenversicherung, Knappschaften) trotz mehrerer gesetzlicher Rentenanpassungen in der ersten Hälfte der 1950er Jahre sehr gering ausfielen (Schmähl 2005: 366). Es verwundert daher auch nicht, dass der öffentliche Blick auf das Leistungsniveau besonders in diesem Sozialversicherungszweig die politische und öffentliche Debatte um einen grundlegenden sozialpolitischen Neuanfang und eine Reform des alten Systems sehr bald anheizte (Hentschel 1983: 160). Und in der Tat war die Gesetzliche Rentenversicherung (GRV) dann auch der erste und einzige Sozialversicherungszweig, den das zweite Kabinett von Bundeskanzler Konrad Adenauer 1957 einer grundlegenderen Reform unterzog
Mit der Rentenreform von 1957 sollte – so die Überlegungen des Bundeskanzlers – erstens die geringe Rente vor allem der Kriegswitwen, die viel für den Wiederaufbau geleistet hatten, aufgebessert werden; zweitens sollte den Arbeitern und Angestellten nun, im Wirtschaftsaufschwung, das Signal gegeben werden, dass der Staat für die gleichmäßige Teilhabe beider Gruppen an der allgemeinen Wohlstandssteigerung sorgte; drittens war Adenauer davon überzeugt, dass die Rentenreform auch eine Demonstration der Überlegenheit des westdeutschen Wirtschafts- und Sozialsystems gegenüber dem System der DDR darstelle und dass davon eine große Anziehungskraft auf die Menschen im Osten Deutschlands ausgehen würde (Magnetismusthese); und viertens ging es schließlich allgemein auch um Wählerstimmen und die Attraktivität der CDU als Sozialstaatsparte. Diese Ziele vor Augen, führten Regierung und Parlament mit der Rentenreform mehrere, die GRV bis heute prägende Elemente, wie z. B. das Umlageverfahren oder die Dynamisierung ein (vgl. Kap. 9). Insgesamt gingen die mit der Rentenreform von 1957 verbundenen Überlegungen zunächst auf. Aufgrund der Reform wurden die Leistungen der Rentenversicherung einmalig stark angehoben; sie stiegen ab 1957 einmalig um durchschnittlich 60 bis 66 % (Schmidt 2005: 79). Die rasche allgemeine Verbesserung des Lebensstandards der Rentner machte sich außerdem volkswirtschaftlich bemerkbar. So sank einerseits die Zahl der Sozialhilfeempfänger rasch, und andererseits wurden die Rentner nunmehr zu Konsumenten, die ihrerseits so wieder zur Schaffung von Arbeitsplätzen und zur Erwirtschaftung des notwendigen Sozialleistungskapitals beitragen konnten.
Gesetzliche Krankenversicherung: Anders als die Gesetzliche Rentenversicherung war der Bereich der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) bis zum Ende der 1960er Jahre durch große Kontinuität und zugleich Reformstau gekennzeichnet (Hentschel 1983: 182-183). Allerdings wurde hier mit dem „Gesetz über Kassenarztrecht“ vom 17. August 1955 der zuvor jahrelang andauernde Streit zwischen den Krankenkassen und niedergelassenen Ärzten – zugunsten der Ärzte – beigelegt, und zugleich wurden die organisatorischen Grundlagen für das System der ambulanten Versorgung bis zum heutigen Tag gelegt. Das Gesetz regelte u. a. den sog. Sicherstellungsauftrag, d. h. es übertrug den niedergelassenen Ärzten das Monopol der ambulanten Krankenversorgung. Außerdem legte es fest, dass die Kassen bzw. ihre Verbände mit der kollektiven Ärzteschaft, den kassenärztlichen Vereinigungen, kollektivvertragliche Regelungen über die ambulante Versorgung (Leistungen und Preise) zu schließen hatten.
Damit wurde nicht nur die vormalige Abhängigkeit der (einzelnen) Ärzte von den Krankenkassen beendet. Zudem konnte die gut organisierte und schlagkräftige Ärzteschaft auf der Basis ihres gesetzlichen Behandlungsmonopols, gepaart mit ihrem Wissensvorsprung in Fragen der Krankenbehandlung sowie mit ihrem Selbstverwaltungsrecht in Fragen der Planung der Niederlassung von Arztpraxen, fortan bis in die 1970er Jahre hinein weitgehend ungehemmt eine Ausweitung der kassenärztlichen Leistungen vorantreiben (ebd.: 189-191; Rosewitz/Webber 1990: 22). Die Vormachtstellung der kassenärztlichen Vereinigung im System der ambulanten Versorgung war damit übergroß geworden, und dies wiederum trug in den Folgejahren zum Scheitern manch eines Reformversuches bei . Allerdings hatten die Reformblockaden und der Stillstand, die den Bereich der GKV bis Anfang der 1970er Jahre kennzeichneten, weitere vielfältige Ursachen
Unfallversicherung: In der Gesetzlichen Unfallversicherung verlief der Policy-Wandel in den 1950er und 1960er Jahren geräuschlos. Die wichtigsten Veränderungen wurden im Unfallversicherungs-Neuregelungsgesetz, das der Bundestag am 9. Mai 1963 beschloss, niedergelegt (BGBl. I, Nr. 23, S. 241). Es beinhaltete e in Anlehnung an die Inhalte der Rentenversicherungsreform von 1957 vor allem die Dynamisierung der Leistungen der Unfallversicherung (z. B. Hinterbliebenen-, Witwenrente, Verletztenrente). Darüber hinaus stellte es nunmehr die Gedanken der Prävention und der Wiederherstellung der Erwerbsfähigkeit gegenüber den reinen ex-post-Leistungen im Falle von Arbeitsunfällen und Berufskrankheiten in den Vordergrund. Damit verbunden legte es den Arbeitgebern diverse Schutz- und Aufsichtsvorschriften sowie den Berufsgenossenschaften als Trägern der Unfallversicherung bestimmte Aus- und Weiterbildungsaufgaben im Bereich der Unfallverhütung auf. Ausdruck dieser verstärkten Präventionsorientierung war auch die Errichtung der Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Unfallforschung (der heutigen Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, BAuA) im Jahr 1971
Arbeitslosenversicherung: Im Bereich der erst 1927 mit dem Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAG) geschaffenen Arbeitslosenversicherung schließlich bestand die wichtigste Etappe in den 1950er Jahren zunächst in der Neuerrichtung der ehemaligen Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung als Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung durch das entsprechende Gesetz vom 10. März 1952. Wichtig war in diesem Kontext die Wiedereinsetzung der Selbstverwaltung, und zwar in ihrer bereits ursprünglich mit dem AVAG geregelten Form eines tripartistischen Systems unter gleichmäßiger Beteiligung der Arbeitnehmer, Arbeitgeber und öffentlichen Körperschaften. Eine zweite wichtige Etappe der Wiederherstellung der Grundbedingungen zur Absicherung der Arbeitslosen nach 1945 war außerdem die Errichtung der Arbeitslosenhilfe mit dem Gesetz zur Änderung und Ergänzung des Gesetzes über Arbeitslosenvermittlung und Arbeitslosenversicherung vom 16. April 1956 (BGBl. I, Nr. 17, S. 243).
Hiermit schuf die Regierung Adenauer in Anlehnung an die alte ‚Krisenunterstützung‘ der Weimarer Republik ein passives Fürsorgeinstrument für Arbeitslose, die ihr Recht auf Leistungen aus der Arbeitslosenversicherung aufgrund der Dauer ihrer Arbeitslosigkeit bereits verwirkt hatten. Die steuerfinanzierte Arbeitslosenhilfe war zwar gekoppelt an den letzten Lohn, fiel allerdings deutlich geringer aus als die eigentliche Versicherungsleistung, das Arbeitslosengeld (vgl. Schmid/Oschmiansky 2007). Neben diesen beiden Akten der Wiederherstellung der Arbeitslosenabsicherung blieben in diesem Bereich tatsächliche inhaltliche Veränderungen hingegen bis Ende der 1960er Jahre aus. Erst die 1966 gebildete erste Große Koalition aus CDU/CSU und SPD führte mit der Verabschiedung des Arbeitsförderungsgesetzes (AFG) von 1969 eine größere Reform der Arbeitsmarktpolitik im Bereich der Arbeitslosenversicherung durch. Diese Reform stand im Zeichen der Überwindung der ersten deutlicheren Rezession seit Gründung der BRD und sollte zu dem Ziel beitragen, die Krise – u. a. durch erfolgreiche Arbeitsvermittlung – rasch zu überwinden und neue Arbeitsplätze zu schaffen. Das AFG sah nun auch eine aktive Unterstützung der Arbeitslosen bei der Arbeitssuche durch die Bundesanstalt bzw. die örtlichen Arbeitsämter vor. Hierzu hatte das Gesetz zahlreiche Instrumente (Aus- und Weiterbildung, Information, Beratung etc.) geschaffen und damit ein modernes, auf Vermeidung von Arbeitslosigkeit zielendes Hilfesystem etabliert
Arbeitspolitik: Jenseits der Arbeitslosenversicherung war die Neuregelung der arbeitnehmer- und unternehmensbezogenen Arbeitspolitik zum einen zunächst charakterisiert durch die Rücknahme zahlreicher von den Nationalsozialisten erlassener Einschränkungen sowie die Verankerung grundlegender Arbeitnehmerrechte (Versammlungs-, Koalitionsfreiheit) im Grundgesetz. Zum anderen stellte der Gesetzgeber im Laufe der 1950er Jahre essentielle Mitbestimmungsrechte der Arbeitnehmer wieder her und erweiterte diese zum Teil. Zu nennen sind in diesem Zusammenhang das Mitbestimmungsgesetz im Bergbau vom Mai 1951, das Betriebsverfassungsgesetz vom Oktober 1952, das die Mitbestimmung der Arbeitnehmer in der Privatwirtschaft allgemein regelte , sowie das Lohnfortzahlungsgesetz vom Mai 1957, das erstmals eine sechswöchige Lohnfortzahlung auch für Arbeiter vorsah und diese damit den Angestellten gleichsetzte; vorausgegangen war diesem Gesetz im Herbst und Winter 1956/57 ein Streik der Metallarbeiter in Schleswig-Holstein
Sozialhilfe und Fürsorge: Schließlich war der Bereich der Fürsorge ein zentrales Reformfeld der Nachkriegszeit (Trenk-Hinterberger 2007). Der vierte Deutsche Bundestag verabschiedete mit dem Bundessozialhilfegesetz (BSHG) vom Juni 1961 und dem Gesetz für die Jugendwohlfahrt vom August 1961 zwei moderne Fürsorgegesetze. Dabei wurde der Vergabe von Sozialhilfe an Bedürftige durch die Kommunen nunmehr ein individuelles Recht auf Hilfe im Bedarfsfall zugrunde gelegt. Bereits zuvor hatte die Bundesregierung außerdem mit der Einführung des Wohngeldes (1955) eine Fürsorgeleistung zur individuellen sozialen Absicherung neu geschaffen
Erste Rezession, Stabilitätsgesetz 1967: Auf die teils grundlegenden sozialen Reformen der 1950er und 1960er Jahre, die auch im Lichte eines spektakulären konjunkturellen Aufschwungs38 und der Reduzierung der Arbeitslosigkeit bis hin zu Vollbeschäftigung39 gesehen werden müssen, folgte Ende der 1960er Jahre, zu Zeiten der ersten Großen Koalition aus CDU/CSU und SPD (1966-1969), eine Phase der nur mehr selektiven Reformen. Die von Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger (CDU) geführte Koalition war angetreten, um nach den Jahren des ‚Wirtschaftswunders‘ die erste Rezession, die die BRD erlebte, zu bewältigen. Daher stand im Vordergrund hier weniger die Sozial-, als vielmehr die Wirtschafts- und Konjunkturpolitik. Die sozialpolitischen Maßnahmen der Großen Koalition waren dementsprechend zunächst dazu gemacht, den konjunkturpolitischen Zielen, die die Bundesregierung mit Verabschiedung des Stabilitätsgesetzes vom Juni 1967 (Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft, StabG, vom 8. Juni 1967) festgelegt hatte („Magisches Viereck“: Preisstabilität, hoher Beschäftigungsstand, außenwirtschaftliches Gleichgewicht, angemessenes, stetiges Wirtschaftswachstum), zu dienen. In diesem Zusammenhang steht auch das schon erwähnte, 1969 beschlossene Arbeitsförderungsgesetz, mit dem das bis dahin weitgehend passive Instrumentarium der Arbeitslosenversicherung (Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe) um Instrumente der aktiven Arbeitsförderung ergänzt wurde. Daneben brachte die Regierung erste Konsolidierungsmaßnahmen auf den Weg, so z. B. die Anhebung der Versicherungspflichtgrenze in der Rentenversicherung für Angestellte, die Anhebung der Rentenversicherungsbeiträge oder auch die Senkung des Bundeszuschusses zur Rentenversicherung
Sozialpolitische Reformen der sozialliberalen Koalition: Die Situation – Konzentration auf die Wirtschaftspolitik, Selektivität sozialpolitischer Reformen – änderte sich im Übrigen bald, nachdem die erste, für heutige Verhältnisse schwache rezessive Phase überwunden war. Auf die Große Koalition folgte sodann die sozialliberale Koalition aus SPD und FDP unter Bundeskanzler Willy Brandt (SPD). Neben der neuen Ostpolitik hatte sich diese Bundesregierung insbesondere zum Ziel gesetzt, „mehr Demokratie“ in die Gesellschaft einzuführen und explizit – in ihrem Sozialbericht von 1971 – auch für eine Stärkung der sozialen Gerechtigkeit in der Bevölkerung geworben. Im Zeichen dieser Zielsetzungen standen dann auch die sozialpolitischen Reformen. So beschloss das Parlament zunächst die Öffnung unterschiedlicher Sozialversicherungszweige für Bevölkerungsgruppen, die dort bis dato vom Versicherungsschutz ausgenommen gewesen waren: in die Gesetzliche Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung wurden nunmehr auch freiberuflich Tätige, Selbstständige, Studenten und mithelfende Familienangehörige aufgenommen, in die Unfallversicherung zudem auch Kindergarten- und Hortkinder sowie Schüler. Eine zentrale Reform der sozialliberalen Koalition betraf außerdem 1972 die Gesetzliche Rentenversicherung, wo der Gesetzgeber auf Initiative der Regierung die Rente nach Mindesteinkommen und die flexible Altersrente schuf (vgl. Kap. 9).
Weitere sozialpolitische Neuerungen der sozialliberalen Koalition betrafen u. a. die Arbeitspolitik, die Familienpolitik, die Geschlechtergleichstellung und die Bildungspolitik. In der Arbeitspolitik regelte der Gesetzgeber im August 1969 den Kündigungsschutz für Arbeiter und Angestellte (Kündigungsschutzgesetz). In der Familienpolitik kam es zur Einführung des Kindergeldes für alle Kinder, also ab dem ersten Kind40 ; außerdem wurde Müttern ein „Babyjahr“ in der Rentenversicherung angerechnet. Die Geschlechtergleichstellung trieb die sozialliberale Koalition durch die Abschaffung des Vormunds für alleinerziehende Mütter, die Abschaffung der Berufserlaubnis für Ehefrauen durch den Ehemann und – während des zweiten Kabinetts von Willy Brandt – die Änderung des § 218 im Strafgesetzbuch voran. Und in der Bildungspolitik stellte die Verabschiedung des Bundesausbildungsförderungsgesetzes (BAFöG) im August 1971 einen Höhepunkt dar, da mit ihm die materiellen Chancen zur Aufnahme eines Hochschulstudiums auch für Arbeiterkinder deutlich verbessert wurden
Insgesamt trugen diese unterschiedlichen Maßnahmen zur weiteren Expansion des deutschen Sozialstaates bei. Diese Entwicklung wiederum entsprach einerseits der sozialpolitischen Orientierung der Regierungspartei SPD, andererseits stand sie allerdings auch im Zeichen einer nach der vorübergehenden Rezession erneut sehr guten Konjunktur und weiterhin geringen Arbeitslosigkeit. Die Situation änderte sich relativ rasch im Anschluss an die Ölkrise von 1973 und die erste weltweite Rezession. Sie markiert in der Tat einen Einschnitt in der Entwicklungsgeschichte des deutschen Sozialstaates und der Wohlfahrtsstaaten innerhalb der OECD allgemein. Ab da änderten sich in Deutschland und weltweit in den entwickelten Wohlfahrtsstaaten zunächst die Rahmenbedingungen des sozialpolitischen Handelns grundlegend, und ab der zweiten Hälfte der 1970er Jahre kam es sodann auch zu einem sozial- und wirtschaftspolitischen Ideenumschwung oder „Paradigmenwandel“ (Hall 1993), der eingeleitet wurde durch den Amtsantritt von Margret Thatcher in Großbritannien 1979 und Ronald Reagan in den USA 1982. Er war gekennzeichnet durch den Übergang von einer nachfrageorientierten, die Nachfrage und die Arbeitnehmerseite fördernden, hin zu einer angebotsorientierten, arbeitgeberfreundlichen (Monetarismus) Politik. In den nachfolgenden Kapiteln wird der seither den deutschen Sozialstaat kennzeichnende Wandel in einzelnen, ausgewählten Politikfeldern analysiert und erklärt.
Sozialpolitik dient in einem erheblichen Umfang der Verteilung der Ressourcen, die in einer Gesellschaft erwirtschaftet werden. Aus diesem Blickwinkel ist Verteilungspolitik ein wichtiger Teilbereich der Sozialpolitik. Gleichzeitig ist Verteilungspolitik immer auch ein sozialpolitisches Querschnittsthema, in dessen Zentrum die Verteilung monetärer Ressourcen steht. Damit gibt es zahlreiche Überschneidungspunkte zu anderen Feldern der Sozialpolitik. So hat etwa jede Änderung der Rentenhöhe, jede Steuerreform oder jede Reform des Arbeitslosengeldes zugleich auch verteilungspolitische Implikationen. Neben diesem Querschnittscharakter zeichnet sich Verteilungspolitik durch eine große Vielschichtigkeit aus: Im Vordergrund steht zunächst die Verteilung von Einkommen und Vermögen. Damit ist aber immer auch die Verteilung von individuellen Handlungsspielräumen verbunden. Deutschland ist eine marktförmig organisierte Gesellschaft, in der Geld ein „generalisiertes Tauschmedium“ ist, das den Zugang zu vielen materiellen und nicht-materiellen Gütern ermöglicht. So lassen sich etwa persönliche Unabhängigkeit oder Sicherheit bis zu einem gewissen Grad mit Geld kaufen. Die Verteilung von Geld, der zentralen verteilungspolitischen Ressource, impliziert gleichzeitig auch die Verteilung von Lebenschancen. Der Lebensstandard einer Person hängt ganz entscheidend davon ab, über wie viel Einkommen und Vermögen sie verfügt. Wer keine oder nur geringe monetären Ressourcen hat, kann heutzutage nicht angemessen am sozialen und kulturellen Leben in Deutschland teilhaben
Unter dem Begriff Verteilungspolitik versteht man allgemein alle staatlichen Maßnahmen, welche die Verteilung von Einkommen und Vermögen in einer Gesellschaft betreffen, mit dem Ziel, Verteilungsgerechtigkeit herzustellen. Dahinter steht die Annahme, dass die vom Markt produzierte Verteilung von materiellem Wohlstand ungerecht ist und über staatliche Eingriffe korrigiert werden muss. Dieses „distributive Marktversagen“ ist der Ausgangspunkt für Verteilungspolitik. Was aber unter „Verteilungsgerechtigkeit“ zu verstehen ist und welche konkreten Veränderungen der Verteilung angestrebt werden, ist stark umstritten. Es gibt keine eindeutig begründbaren, feststehenden Verteilungsprinzipien (Kaufmann 2005). Sowohl die Art als auch der Umfang verteilungspolitischer Interventionen sind daher stets ein Feld intensiver normativer Debatten. Natürlich ließe sich als Maßstab für Verteilungsgerechtigkeit die völlige Gleichverteilung von Einkommen und Vermögen anstreben. In der Praxis ist dies allerdings kaum umzusetzen. Es geht also vielmehr darum, durch staatliche Interventionen eine möglichst gerechte Verteilung zu erreichen. Grob lassen sich zwei Prinzipien unterscheiden, nach denen eine Verteilung als gerecht bewertet werden kann: Leistungsgerechtigkeit und Bedarfsgerechtigkeit
Leistungsgerechtigkeit: Nimmt man Leistungsgerechtigkeit als normativen Leitstern für Verteilungspolitik, gilt folgendes Prinzip: Eine Verteilung ist dann gerecht, wenn jeder entsprechend seiner Leistung mit Einkommen und Vermögen entlohnt wird. Lohnspreizungen etwa sind daher insofern gerecht, als sie aus unterschiedlicher Leistung resultieren. Von diesem Standpunkt aus kann die vom Markt produzierte Verteilung dabei durchaus ungerecht sein, etwa, weil viele Leistungen, wie z. B. für häusliche Erziehung oder Pflege, überhaupt nicht über den Markt entlohnt werden.
Bedarfsgerechtigkeit: Aus dieser Sicht gilt eine Verteilung dann als gerecht, wenn sie jeder Person die finanziellen Ressourcen zur Verfügung stellt, die diese braucht, um ihre Bedarfe zu decken. Um das sicherzustellen, muss der Staat Einkommen umverteilen, damit auch Personen, die auf dem Markt kein oder nicht genug Einkommen erzielen, wie z. B. Arbeitslose, ausreichend finanzielle Ressourcen zur Verfügung haben. Die konkrete Bestimmung individueller Bedarfe und ihre konkrete Höhe ist allerdings äußerst problematisch und deshalb Gegenstand dauerhafter verteilungspolitischer Debatten.
Beide Gerechtigkeitskonzepte lassen sich nicht gleichzeitig anstreben, da sie sich in einigen Punkten ausschließen: Erhält etwa eine Person, die eine Hilfstätigkeit ausübt und daher sehr wenig verdient, staatliche Unterstützung, so ist dies gerecht, wenn man das Konzept der Bedarfsgerechtigkeit zugrunde legt. Da diese Person aber nur eine sehr geringe wirtschaftliche Leistung erbringt, widerspricht ein solcher Eingriff dem Prinzip der Leistungsgerechtigkeit. In der Verteilungspolitik gilt es daher immer, diese beiden Prinzipien auszutarieren
Es geht bei Verteilungspolitik darum, bestehende ökonomische und soziale Ungleichheiten zu reduzieren. Die politischen Maßnahmen und Instrumente, die dazu zur Verfügung stehen, sind äußerst vielfältig. Es ist daher sinnvoll, ein engeres und ein weiteres Konzept von Verteilungspolitik zu unterscheiden. Zur Verteilungspolitik im engeren Sinn zählen:
Lohn- und Tarifpolitik: Hierunter fallen alle staatlichen Instrumente, welche die Verteilung von Löhnen und Gehältern betreffen.
- Steuer- und Transfersystem: Steuern, Sozialversicherungsbeiträge oder Transferzahlungen, wie z. B. Sozialhilfe, sind ein Kernaspekt von Verteilungspolitik. Durch solche staatliche Eingriffe findet eine entscheidende Umverteilung der Einkommen statt.
- Soziale Grundsicherung: Auch das System der Grundsicherung hat eine maßgebliche Umverteilungswirkung, die im Wesentlichen darauf abzielt, soziale Notlagen zu mildern.
- Vermögenspolitik: In diesem Feld kann der Staat verteilungspolitisch aktiv werden, indem er gezielt Anreize zur Vermögensbildung setzt. Gleichzeitig kann die Vermögensverteilung auch direkt über Steuern beeinflusst werden
Zur Verteilungspolitik im weiteren Sinn zählen ebenfalls all jene Politikfelder, die indirekte Auswirkungen auf die Verteilung des Wohlstands einer Gesellschaft haben. Dies sind insbesondere die Bildungs- und Arbeitsmarktpolitik, die öffentliche Bereitstellung kostenloser Güter und Dienstleistungen, aber auch der Einfluss, den Politik auf die Gestaltung von Preisen nehmen kann. Die Umverteilungswirkung entsprechender Politiken ist allerdings nur sehr schwer abzuschätzen. Zudem verfolgen solche Maßnahmen nicht direkt verteilungspolitische Ziele. Aus diesem Grund orientiert sich das vorliegende Kapitel am engeren Verständnis von Verteilungspolitik.
Der zentrale Akteur im Feld der Verteilungspolitik ist der Staat selbst. Er erlässt entsprechende Gesetze, erhebt Steuern oder setzt den rechtlichen und institutionellen Rahmen für das System der sozialen Sicherung im Allgemeinen und der Grundsicherung im Speziellen. Eine entscheidende Rolle spielen auch die Tarifparteien, das heißt die Gewerkschaften und die Arbeitgeber, die für die Aushandlung von Löhnen und Gehältern zuständig sind. Nicht zuletzt sind darüber hinaus die einzelnen Betriebe selbst verteilungspolitisch aktiv, indem sie z. B. Vereinbarungen über leistungsabhängige Gehaltszulagen treffen. Wichtige außerparlamentarische Akteure sind zudem die Wohlfahrtsverbände. Sie haben eine zentrale institutionelle Stellung im deutschen Sozialstaat. Die Wohlfahrtsverbände haben vor allem auf der lokalen Ebene eine wichtige Rolle, da sie zahlreiche soziale Dienstleistungen, wie etwa in der Rechts- oder Sozialberatung, übernehmen. Sie tragen damit wesentlich zur Bekämpfung und Prävention von Armut bei.
Verteilungspolitik befasst sich mit dem materiellen Wohlstand einer Gesellschaft. Immaterielle Güter, wie etwa Bildung oder der Zugang zu ausreichender Gesundheitsversorgung, sind nur indirekt ein Ziel verteilungspolitischer Maßnahmen. Materieller Wohlstand umfasst in erster Linie Einkommen und Vermögen. Dabei spielen Einkommen eine wichtigere Rolle als Vermögen: Erstere sind deutlich weiter verbreitet, während Vermögen viel exklusiver verteilt sind.
Der Einkommensbegriff ist sehr vielschichtig. Er umfasst unterschiedliche Einkommensquellen und Verteilungsstufen der Einkommen. Die erste zentrale Unterscheidung ist die zwischen Faktoreinkommen und personellem Einkommen. Das Faktoreinkommen gibt an, aus welchen Produktionsfaktoren sich das Einkommen zusammensetzt: Der Produktionsfaktor Arbeit bezieht sich dabei auf Einkommen aus abhängiger Beschäftigung, der Faktor Kapital auf Einkommen aus Unternehmertätigkeit und Vermögen.42 Das personelle Einkommen bezeichnet das Einkommen, das eine Person insgesamt erwirtschaftet. Es kann sich aus drei Quellen zusammensetzen:
1. Erwerbseinkommen: Diese Einkommen sind für die meisten Personen im erwerbsfähigen Alter die wichtigste Einkommensquelle. Sie umfassen alle Einkünfte aus selbstständiger und nicht-selbstständiger Erwerbsarbeit.
2. Kapitaleinkommen: Hierzu zählen alle Einkommen, die aus Vermögen generiert werden. Dies sind vor allem Zinsen auf Vermögen, Einnahmen aus vermietetem Wohnbesitz und Gewinne aus Betriebsvermögen.
3. Transfereinkommen: Transfereinkommen sind das Gegenstück zu den Faktoreinkommen, da sie weder durch den Einsatz von Arbeit noch durch Kapital erzeugt werden. Solche Einkommen werden direkt vom Staat an Personen bzw. Haushalte gezahlt. Dazu gehören Versicherungsleistungen wie die Rente, Grundsicherungsleistungen wie ALG II, aber auch beispielsweise BAföG oder Kindergeld.
Lohnquote und Gewinnquote und funktionelle Einkommensverteilung: Die Umverteilung von Einkommen ist ein Kernaspekt von Verteilungspolitik. Sie setzt an der Gesamthöhe des Einkommens einer Gesellschaft an. Dieses Volkseinkommen lässt sich wie die personellen Einkommen in die Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital untergliedern. Diese Zuordnung ergibt die funktionelle Einkommensverteilung. Innerhalb der funktionellen Einkommensverteilung gibt die Lohnquote den Anteil der Arbeitnehmerentgelte am Volkseinkommen an. Das Gegenstück dazu, der Anteil am Volkseinkommen aus Unternehmen und Vermögen, wird als Gewinnquote bezeichnet. Um beide Größen im Zeitverlauf vergleichbar zu machen, werden diese üblicherweise um Veränderungen in der Erwerbstätigenstruktur bereinigt. An diesen bereinigten Quoten lässt sich ablesen, wie sich die Bedeutung der Produktionsfaktoren Arbeit und Kapital in einer Volkswirtschaft im Zeitverlauf ändert
Die funktionelle Einkommensverteilung ist ein erster Ansatzpunkt für Verteilungspolitik. Deutlich wichtiger für Umverteilung sind aber die Einkommen von Personen und Haushalten, wobei bei der Umverteilung dieser Einkommen drei verschiedene Einkommensstufen unterscheiden werden:
1. Markteinkommen: Dieses personelle Einkommen umfasst alle Löhne und Gehälter aus abhängiger und selbstständiger Tätigkeit, die auf dem Arbeitsmarkt erwirtschaftet werden. Auch Vermögenseinkommen gehören zu den Markteinkommen, als die Einkommen, die auf dem Kapitalmarkt erzeugt werden
2. Bruttohaushaltseinkommen: Auf dieser Stufe werden die Markteinkommen aller Haushaltsmitglieder zusammengefasst und um regelmäßige innerfamiliale Transfers wie Unterhaltszahlungen ergänzt. Dieses Einkommen ist der Ansatzpunkt für staatliche Transferzahlungen.
3. Verfügbare Haushaltsnettoeinkommen: Das verfügbare Einkommen ist das Einkommen, das einem Haushalt letztendlich zur Verfügung steht. Es ergibt sich aus dem Bruttohaushaltseinkommen abzüglich der Arbeitnehmerbeiträge zu den Sozialversicherungen und der direkten Steuern. Hinzuaddiert werden alle erhaltenen Transfereinkommen
Primärverteilung und Sekundärverteilung: Die Verteilung der personellen Markteinkommen ergibt die so genannte Primärverteilung. Das Ergebnis der staatlichen Umverteilung, die verfügbaren Haushaltsnettoeinkommen, wird als Sekundärverteilung bezeichnet. Die verfügbaren Einkommen müssen nun für unterschiedliche Haushaltsgrößen und - zusammensetzungen vergleichbar gemacht werden. Dies geschieht durch die Verwendung von „Äquivalenzskalen“. Will man Einkommen über verschiedene Jahre miteinander vergleichen, werden diese um die Entwicklung der Preise bereinigt. Aus den Nominaleinkommen, also den Einkommen zu den aktuell geltenden Preisen, werden die Realeinkommen, die angeben, wie hoch die tatsächliche Kaufkraft des Einkommens im Zeitverlauf ist.
Mit den so aufbereiteten Einkommensdaten lässt sich nun die Verteilung des Wohlstands untersuchen. Dazu gibt es statistische Kennzahlen, die Aussagen darüber ermöglichen, wie gleich bzw. ungleich die Einkommen verteilt sind. Das wichtigste Maß hierfür ist der Gini-Koeffizient: Sein Wertebereich reicht von null bis eins. Nimmt er den Wert eins an, sind die Einkommen maximal ungleich verteilt: In diesem Fall liegt das Einkommen in einer Gesellschaft komplett in den Händen eines einzigen Haushalts. Der Wert null steht für die völlige Gleichverteilung. Der Gini-Koeffizient ist damit sehr einfach zu interpretieren: Je näher bei null, desto gleicher die Verteilung bzw. je näher bei eins desto ungleicher
Eine geringe Einkommensungleichheit erscheint vielen politisch wünschenswert. Gleichwohl ist Einkommensungleichheit generell kein Maß, an welchem der sozialpolitische Erfolg oder Misserfolg einer Regierung gemessen wird. Lediglich die Bekämpfung von Armut ist eine Art „Minimalziel wohlfahrtsstaatlicher Politik“ (Ullrich 2005: 117). Ein Blick in die Geschichte zeigt, dass Armut über viele Jahrhunderte mit lebensbedrohlicher Not gleichgesetzt war. Die Armen waren Personen, denen es an zum Überleben notwendigen Gütern mangelte. Dementsprechend war Armutspolitik über viele Jahrhunderte darauf ausgerichtet, die Armen in Form von Almosen mit dem Notwendigsten zu versorgen. Auch in den Jahren direkt nach dem Zweiten Weltkrieg wurde Armut in Deutschland noch mit dieser Form extremer Armut gleichgesetzt. Im Zuge des wirtschaftlichen und sozialen Aufschwungs der Nachkriegsjahrzehnte hat sich dies geändert. Heutzutage bezieht sich Armut in Deutschland üblicherweise nicht mehr auf das physische Überleben, sondern auf das soziokulturelle Existenzminimum. Dieser mehrdimensionale Begriff bezeichnet die Möglichkeit, am sozialen, politischen und kulturellen Leben einer Gesellschaft teilzuhaben. Sehr deutlich zeigt sich dieses Verständnis in dem Konzept, das die Europäische Union vertritt: „Arm sind Einzelpersonen, Familien und Personengruppen, die über so geringe (materielle, kulturelle und soziale) Mittel verfügen, daß sie von der Lebensweise ausgeschlossen sind, die in dem Mitgliedsstaat, in dem sie leben, als Minimum hinnehmbar ist.“ (Europäischer Rat 1984: 1)
Bis heute gibt es viele unterschiedliche Armutskonzepte. Eine grundlegende Unterscheidung ist dabei die von absoluter und relativer Armut:
Absolute Armut bezeichnet – vereinfacht ausgedrückt – einen Zustand in dem es ums Überleben geht, z. B. weil eine Person sich nicht genug zu essen leisten kann und regelrecht am Verhungern ist. Ein solches Konzept ist aber gerade in Industrienationen kaum sinnvoll, um Armut angemessen erfassen zu können, da es jegliche Teilhabeaspekte ignoriert. Relative Armut steht immer in Bezug zur Verteilung als Ganzes. So wird Armut direkt an die Veränderung der durchschnittlichen Lebensverhältnisse gebunden: Steigt der Wohlstand einer Gesellschaft, steigt automatisch auch die Armutsgrenze.
Relative Armut wird meist als Einkommensarmut erfasst. Armut ist aus dieser Sicht ein Mangel an Einkommen, der dazu führt, dass das soziokulturelle Existenzminimum unterschritten wird. Die Frage, bis zu welcher Einkommenshöhe ein Haushalt als arm gilt, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Es gibt keine objektive Einkommensarmutsgrenze. Üblicherweise wird inzwischen die 60 %- Median-Armutsgrenze verwendet: Eine Person gilt demnach dann als arm, wenn sie in einem Haushalt lebt, der über weniger als 60 % des äquivalenzgewichteten Medianeinkommens verfügt.46 Diese Definition ist relativ, da die Armutsgrenze an das mittlere Einkommen gebunden ist. Steigt das Medianeinkommen, steigt auch die Armutsgrenze und vice versa. Das Argument dahinter ist, dass, wenn das mittlere Einkommen ansteigt, auch der übliche Lebensstandard steigt.
Lange Zeit ging es bei Fragen der materiellen Ungleichheit fast ausschließlich um Armut. Reichtum, das obere Ende der Verteilung, geriet erst in den letzten Jahren allmählich in das Blickfeld von Forschung und Politik. Es setzte sich nach und nach die Erkenntnis durch, dass man die Verteilung in ihrer ganzen Breite betrachten muss, wenn man fundierte Aussagen über die Entwicklung und Folgen materieller Ungleichheiten machen und daraus politischen Handlungsbedarf ableiten will. Anders als Armut, die inhaltlich mit dem Begriff des Mangels verbunden ist, ist aber bislang noch weitgehend unklar, inwieweit Reichtum mit einem „zu viel“ einhergeht. Debattiert wird, ob Reichtum nur viel Geld bedeutet oder ob gehobene materielle Lebenslagen nicht viel mehr mit großer Freiheit oder Sicherheit verbunden sind. Inzwischen hat sich die 200 %-Schwelle als Reichtumsgrenze etabliert. Eine Person wird mithin üblicherweise dann als einkommensreich bezeichnet, wenn sie in einem Haushalt lebt, dessen verfügbares äquivalenzgewichtetes Einkommen über dem Zweifachen des Medianeinkommens liegt. Im Jahr 2012 benötigte ein Einpersonenhaushalt etwa 2.900 Euro im Monat, um einkommensreich zu sein.
Die Lohn- und Tarifpolitik hat einen ganz zentralen Einfluss auf die primäre Einkommensverteilung. In Deutschland gilt hierbei nach § 9 Abs. 3 des Grundgesetzes die sogenannte Tarifautonomie. Das heißt, dass der Staat sich aus Lohn- und Tarifverhandlungen prinzipiell heraushält und diese Arbeitgebern und Gewerkschaften überlässt. Diese beiden Tarifparteien sind die entscheidenden Akteure in diesem Feld der Verteilungspolitik. Gewerkschaften vertreten dabei die Interessen der Arbeitnehmer, die Arbeitgeber wiederum haben sich in Arbeitgebervereinigungen organisiert.
Verhandlungspartner Gewerkschaften: Insgesamt acht Gewerkschaften haben sich zum Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) zusammengeschlossen.48 Sie vertreten die Interessen von über sechs Millionen Gewerkschaftsmitgliedern und damit mehr als drei Viertel aller Gewerkschaftsmitglieder in Deutschland (Dribbusch/Birke 2012: 2). Seit jeher ist es ein zentraler Anspruch der Gewerkschaften, nicht nur die Interessen ihrer Mitglieder, sondern die aller Erwerbstätigen zu vertreten. Für Tarifverhandlungen sind die Einzelgewerkschaften zuständig, der DGB hat hier nur eine koordinierende Funktion. Verhandlungspartner der Gewerkschaften sind neben Einzelunternehmen vor allem die Arbeitgeberverbände. In Deutschland gibt es ein dreigliedriges System, in dem die privaten Unternehmen organisiert sind (Bäcker/Naegele et al. 2010: 251f.): 1. Unternehmensverbände, die im Bundesverband der deutschen Industrie (BDI) zusammengeschlossen sind. Solche Verbände dienen primär der politischen und gesellschaftlichen Lobbyarbeit. 2. Industrie- und Handelskammern bzw. Handwerkskammern als öffentlich-rechtliche Einrichtungen, in denen die Mitgliedschaft für die Einzelunternehmen verpflichtend ist. Sie regulieren in erster Linie die wirtschaftspolitischen Belange auf der lokalen Ebene. 3. Die Arbeitgeberverbände als die politische Interessensvertretung der Unternehmen. Hier haben sich über 50 Einzelverbände zur Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) zusammengeschlossen.
Verhandlungspartner Arbeitgeberverbände: Eine Hauptaufgabe der Arbeitgeberverbände ist es, mit den Gewerkschaften Tarifverträge auszuhandeln. Dies geschieht meist in Flächentarifverträgen, die in einer bestimmten Region oder Branche für alle Unternehmen gelten, die Mitglied des tarifschließenden Verbands sind. Seltener sind Haus- bzw. Firmentarifverträge, die direkt zwischen dem einzelnen Unternehmen und den Gewerkschaften abgeschlossen werden. Auf Arbeitnehmerseite gelten Tarifverträge zunächst einmal nur für die Mitglieder der tarifschließenden Gewerkschaft. Allerdings ist es in der Praxis üblich, dass die ausgehandelten Tarifverträge auch bei den nicht-organisierten Arbeitnehmern Anwendung finden.Zum einen zahlen Unternehmen auch den Nicht-Mitgliedern die vereinbarten Tariflöhne, um diesen keinen Anreiz zu geben, in eine Gewerkschaft einzutreten. Zum anderen werden dadurch auch Konflikte innerhalb eines Betriebes vermieden.
Verteilungspolitische Bedeutung von Tarifverträgen: Gegenstand von Tarifverträgen sind Höhe und Struktur von Löhnen und Gehältern sowie Regelungen, welche die Arbeitsbedingungen im Allgemeinen betreffen, wie z. B. Arbeitszeit-, Kündigungs- oder Gesundheitsschutzrichtlinien. Derzeit bestimmen für knapp 60 % aller abhängig Beschäftigten tarifvertragliche Regelungen das Lohnniveau (Bispinck 2014). Allerdings ist die Tarifbindung seit den 1980er Jahren rückläufig. Aus verteilungspolitischer Sicht ist bei Tarifverhandlungen von besonderer Relevanz, dass hier für unterschiedliche Beschäftigtengruppen unterschiedlich hohe Entgelte festgelegt werden. Finden Tarifverträge Anwendung, fallen Lohnspreizungen meist geringer aus. Generell gibt es mehrere Ebenen der Differenzierung von Löhnen und Gehältern: Intersektoral, das heißt zwischen unterschiedlichen Branchen; interregional, wie etwa das Lohngefälle zwischen West- und Ostdeutschland; qualifikations- und tätigkeitsbezogen sowie geschlechtsbezogen. Außerdem gibt es ethnische Differenzierungen, wenn etwa Migranten weniger verdienen als Deutsche. Nicht alle dieser Dimensionen sind aus verteilungspolitischer Sicht gleichermaßen relevant. Mit am problematischsten sind die Lohnunterschiede zwischen den Geschlechtern. Dieser „Gender Pay Gap“ beträgt in Deutschland etwa 23 % (WSI 2014).50 Das bedeutet, dass Frauen im Durchschnitt 23 % weniger verdienen als Männer.
Niedriglohn und Erwerbsarmut: Ein weiteres verteilungspolitisch relevantes Problem ist, dass viele Personen im Niedriglohnbereich nur über ein Einkommen verfügen, das unterhalb der oben beschriebenen 60 %-Median-Armutsgrenze liegt. Ihr Anteil ist in den letzten Jahren deutlich gestiegen. Obwohl diese Personen einer regulären Erwerbstätigkeit nachgehen, reicht ihr Einkommen nicht aus, um sie vor Armut zu schützen – und das zum Teil auch, wenn dieses Einkommen durch die Einkünfte weiterer Personen im Haushalt erhöht wird. Diese sogenannte Erwerbsarmut bezieht sich auf Haushalte, in denen mindestens eine Person erwerbstätig ist und deren Haushaltsnettoeinkommen dennoch unterhalb der Armutsgrenze liegt.
Dies trifft überdurchschnittlich häufig Teilzeiterwerbstätige und Alleinverdienerhaushalte sowie Alleinerziehende und kinderreiche Familien. Erwerbsarme haben in Deutschland Anspruch auf aufstockende Transferleistungen in Form von ALG II. Die „Aufstocker“ erhalten vom Staat das Einkommen, das ihnen fehlt, um über das soziokulturelle Existenzminimum zu kommen, das sozialrechtlich durch den Sozialhilfesatz definiert wird.51 Die Lohn- und Tarifpolitik beeinflusst das Ausmaß der Lohnspreizung sowie den Grad der Ungleichverteilung der Markteinkommen maßgeblich und bestimmt damit auch den Umverteilungsspielraum, den es hier gibt. Die Verteilung der Primäreinkommen legt damit auch einen ganz entscheidenden sozialpolitischen Handlungsbedarf im Allgemeinen fest.
Das Steuersystem dient in erster Linie fiskalpolitischen Zielen. Der Staat erhebt Steuern, um finanziell handlungsfähig zu sein. Sozialpolitische Erwägungen sind zweitrangig, wobei das Steuersystem natürlich verteilungspolitisch eine zentrale Rolle spielt. Das Steuer- und Transfersystem wirkt auf zwei Wegen auf die Verteilung der Einkommen. Zum einen durch staatliche Transferzahlungen, die der Einsicht entspringen, dass das „distributive Marktversagen“ durch staatliche Eingriffe korrigiert werden muss. Der Staat zahlt denjenigen Personen bzw. Haushalten Transfereinkommen, die nicht über ausreichend Erwerbseinkommen verfügen. Referenzpunkt ist hier das soziokulturelle Existenzminimum, das steuerrechtlich durch den Sozialhilfesatz definiert wird. Außerdem setzt der Staat Transferzahlungen ein, um bestimmte politische Ziele zu erreichen. Ein Beispiel hierfür ist das Elterngeld, das explizit mit dem Ziel eingeführt wurde, die Geburtenrate zu erhöhen (vgl. Kap. 8). Der zweite verteilungspolitische Mechanismus bezieht sich auf die Steuern und Sozialabgaben, die auf Markteinkommen erhoben werden. Beide Instrumente, Steuern und Transfers, entfalten ihre Umverteilungswirkung, indem sie die Markteinkommen der Primärverteilung, also die Einkommen vor Steuern und Transfers, in die Sekundärverteilung der verfügbaren Einkommen nach Steuern und Transfers überführen
Direkte und indirekte Steuern als verteilungspolitische Instrumente:
Steuern und Sozialabgaben als verteilungspolitische Instrumente: Steuern sind das zentrale Instrument, das an den Markteinkommen ansetzt. Allerdings ist ihre Umverteilungswirkung insofern begrenzt, als Personen, die kein Markteinkommen beziehen, nicht vom Steuersystem erfasst werden. Die wichtigste direkte Steuer, die auch die größte Umverteilungswirkung hat, ist die progressive Einkommensteuer. Hier lassen sich unterschiedliche Zonen des Tarifverlaufs unterscheiden: Am unteren Ende kommt der Grundfreibetrag zur Anwendung. Zu versteuernde Einkommen sind bis zur Höhe dieses Grundfreibetrags steuerfrei.52 Der Grundfreibetrag gilt für alle Einkommensgruppen, das heißt, auch für die Bezieher sehr hoher Einkommen ist dieser Betrag steuerfrei. Die zweite Zone des Tarifverlaufs, der Eingangssteuersatz, gilt für alle Einkommen, die direkt oberhalb des Grundfreibetrags liegen. Mit dem Eingangssteuersatz von derzeit 14,0 % beginnt die Zone der progressiven Besteuerung der Einkommen. Direkt oberhalb des Eingangssteuersatzes steigt der Steuersatz zunächst steil an, flacht dann aber zunehmend ab. Die progressive Besteuerung endet mit dem Spitzensteuersatz von derzeit 42 %. Seit 2007 werden zudem mit der nicht-progressiven „Reichensteuer“ alle zu versteuernden Jahreseinkommen über 250.000 Euro im Jahr pauschal mit einem Satz von 45 % besteuert.
Zu den indirekten Steuern zählen alle Verbrauchs- und Aufwandsteuern. Verteilungspolitisch relevant ist insbesondere die Mehrwertsteuer, da sie alle Bevölkerungsgruppen betrifft und nicht, wie beispielsweise die Kraftfahrzeugsteuer, nur bestimmte Personenkreise. Indirekte Steuern werden meist direkt auf die Preise überwälzt, das heißt, sie erhöhen den Endpreis eines Produkts oder einer Dienstleistung. Dementsprechend tragen dann die Käufer die Steuerlast. Die Mehrwertsteuer beträgt derzeit einheitlich 19 % bzw. 7 % beim ermäßigten Steuersatz, der vor allem für Lebensmittel gilt. In ihrer Wirkung ist die Mehrwertsteuer regressiv, das heißt die unteren Einkommensgruppen werden hier stärker belastet als höhere Einkommen. Dies liegt daran, dass der Anteil des Einkommens, der für den alltäglichen Konsum ausgegeben wird steigt, je niedriger das Einkommen ist.
Sozialabgaben: Neben Steuern müssen Arbeitnehmer von ihrem Bruttolohn auch Sozialabgaben abführen. Diese haben eine weitaus geringere Umverteilungswirkung als die Steuern. Tendenziell wirken sie aus zwei Gründen regressiv: Zum einen, weil sich ihre Höhe nicht an der Gesamthöhe der Einkommen bemisst, sondern nur an den sozialversicherungspflichtigen Bestandteilen. Zum anderen werden durch die Beitragsbemessungsgrenze in der Krankenversicherung, oberhalb derer die Sozialabgaben nicht mehr steigen, höhere Einkommen begünstigt (vgl. Kap. 6.1.2). Komplett ausgenommen von den Sozialabgaben sind Beamte sowie die meisten Selbstständigen. Allerdings müssen sich letztere um eine private Absicherung etwa für die Rente kümmern und diese aus ihrem laufenden Einkommen bestreiten. Steuern und Sozialabgaben entfalten ihre Verteilungswirkung dadurch, dass höhere Einkommensgruppen in der Regel von ihrem zu versteuernden Einkommen mehr abführen müssen als die Bezieher niedrigerer Einkommen
Transfers als verteilungspolitische Instrumente: Transferzahlungen wirken auf die Verteilung, indem sie die Einkommen bestimmter Einkommensgruppen direkt erhöhen. Hierbei lassen sich drei unterschiedliche Transferarten unterscheiden):
1. Direkte monetäre Transfers, wie beispielsweise die Sozialhilfe,
2. indirekte monetäre Transfers in Form von Steuerermäßigungen und
3. Realtransfers, das heißt Sach- und Dienstleistungen, die einen geldwerten Vorteil haben. Die exakte Umverteilungsentwicklung einzelner Transfers ist schwer zu bestimmen.
Insgesamt betrachtet verringern Transferzahlungen die Ungleichverteilung der Einkommen erheblich. Eine Möglichkeit, die Reduzierung der Ungleichheit zumindest grob einzuschätzen, ist der Vergleich des Gini-Koeffizienten der Markteinkommen, also der Einkommen vor Steuern und Transfers, mit dem Wert für die verfügbaren Haushaltsnettoeinkommen. Das ist allerdings nicht unproblematisch. Der zentrale Einwand ist, dass Markteinkommen keine reale Größe sind, sondern ein fiktiver, rein statistischer Wert. Die Markteinkommen können nur deshalb so ungleich verteilt sein, weil es den Sozialstaat mit seinen Transferzahlungen gibt. Würde es keine Transfereinkommen geben, so das Argument, wäre die Ungleichheit der Markteinkommen deutlich geringer. So haben viele Bevölkerungsgruppen, wie etwa Rentner, gar kein Markteinkommen. Das ist aber nur möglich, weil sie stattdessen Transfereinkommen, in diesem Fall Rente, beziehen. Diesem Argument des „counterfactual problems“ (Ringen 1987) folgend, wird die Umverteilungswirkung von Steuern und Transfers systematisch überschätzt
Transfereinkommen: Markteinkommen sind Einkommensrisiken, wie etwa Krankheit oder Arbeitslosigkeit, unterworfen. Dagegen abzusichern, ist das Ziel der sozialen Sicherung. Verteilungspolitisch relevant ist dieses System in erster Linie durch die Transfereinkommen, die dem Abbau der auf dem Markt produzierten Einkommensungleichheiten, der Abfederung sozialer Risiken, die zu einem Verlust von Erwerbseinkommen führen, sowie der Bekämpfung von Armut dienen. Ihre konkrete Umverteilungswirkung lässt sich empirisch kaum exakt nachweisen, da die Zusammenhänge so komplex sind, dass sie sich nicht eindeutig nachvollziehen lassen (Transfer-Enquete-Kommission 1981). So hat etwa neben der Struktur der Transfereinkommen und ihrer Höhe auch die Finanzierung dieses Systems eine Auswirkung auf die Umverteilungswirkung der sozialen Sicherung. Klar zu bestimmen hingegen ist das Ziel der Prävention und Bekämpfung von Armut. Letzteres ist die Aufgabe der Grundsicherung. Ihr Ziel ist in § 1 des Zwölften Sozialgesetzbuchs (SGB XII) definiert: „Aufgabe der Sozialhilfe ist es, den Leistungsberechtigten die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht. Die Leistung soll sie so weit wie möglich befähigen, unabhängig von ihr zu leben; darauf haben auch die Leistungsberechtigten nach ihren Kräften hinzuarbeiten. Zur Erreichung dieser Ziele haben die Leistungsberechtigten und die Träger der Sozialhilfe im Rahmen ihrer Rechte und Pflichten zusammenzuwirken.“
Zentrale Merkmale von Grundsicherungssystemen: Aus dieser Definition lassen sich alle zentralen Merkmale von Grundsicherungssystemen ableiten. Sie sind, von der Grundsicherung für Asylbewerber abgesehen, darauf ausgerichtet, in kurzfristigen und dauerhaften sozialen Notlagen das soziokulturelle Existenzminimum der Betroffenen zu sichern. Der materielle Wert dieses Existenzminimums wird im Regelsatz der Hilfe zum Lebensunterhalt (HLU) definiert. Wichtig ist zudem, dass der Bezug der Leistungen eine Bedürftigkeitsprüfung voraussetzt: Personen müssen nachweisen, dass sie in einer Notlage sind, die sie nicht aus eigener Kraft überwinden können. Sie müssen zunächst eigenes Einkommen, Vermögen und etwaige Unterhaltsansprüche einsetzen, ehe sie Anspruch auf eine Grundsicherungsleistung haben. Dabei werden auch Personen mit den Betroffenen in einer sogenannten Bedarfsgemeinschaft zusammenleben53, zur finanziellen Unterstützung herangezogen, ehe ein Anspruch auf Grundsicherung besteht. Alle Grundsicherungssysteme sind dabei dem Grunde nach als Fürsorgeleistung angelegt. Sie begründen sich nicht auf einem Anspruch an eine Versicherung, sondern sind steuerfinanziert. Das Grundsicherungssystem ist das letzte soziale Netz des Sozialstaats. Sein Ziel ist es, dafür zu sorgen, dass keine Person in Deutschland unterhalb das soziokulturelle Existenzminimum fällt
Die Grundsicherung in Deutschland ist dreigliedrig aufgebaut: Das dominierende System ist seit der Hartz IV-Reform im Jahr 2005 die Grundsicherung für Arbeitssuchende, das ALG II, nach SGB II. Es wird ergänzt durch die Sozialhilfe nach SGB XII, die sich wiederum in die Hilfe zum Lebensunterhalt (HLU), die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung und die besonderen Hilfen gliedert. Eine eigene Form der Grundsicherung gibt es für Asylbewerber
Vermögenspolitische Maßnahmen sind im engeren Sinn all jene teils rechtlichen, teils monetären Instrumente, die direkt darauf abzielen, die Höhe, Struktur oder Verteilung privater Vermögen zu beeinflussen. Das übergeordnete Ziel von Vermögenspolitik ist es, die Bildung von privatem Vermögen zu fördern. Eine Nivellierung der Vermögensungleichheit durch Umverteilung steht erst an zweiter Stelle. Ausgangspunkt ist das Gesamtvermögen einer Person oder eines Haushalts. Dieses kann sich aus verschiedenen Vermögensarten zusammensetzen:
Geldvermögen: Dazu zählen jegliche Spareinlagen, Geldanlagen und Wertpapiere sowie Bargeld. Das Geldvermögen ist die in privaten Haushalten dominierende Vermögensform. -
Sachvermögen: Das Sachvermögen lässt sich in das Gebrauchs- und das Produktivvermögen unterteilen. Ersteres umfasst alle Güter eines Haushaltes, die nicht bei einmaliger Verwendung verbraucht werden. Dazu zählen beispielsweise Immobilienvermögen oder langlebige Haushaltsgüter. Produktivvermögen sind gewerblich genutzte Vermögen
Brutto- und Nettovermögen: Das Bruttovermögen eines Haushaltes oder einer Person beschreibt die Summe aller Vermögensbestände. Das Nettovermögen ergibt sich, wenn man vom Bruttowert alle Schulden und Verbindlichkeiten abzieht. Der Besitz von hohen Vermögen erhöht die persönliche materielle Sicherheit entscheidend. Vermögen sind meist sehr stabil, anders als Erwerbseinkommen, die etwa bei Arbeitslosigkeit kurzfristig wegbrechen können. Personen bzw. Haushalte, die über nennenswerte Vermögen verfügen, sind zudem zu einem gewissen Grad unabhängig von Erwerbseinkommen. Sie können, und müssen, wenn sie arbeitslos werden, sich zumindest eine Zeit lang ohne staatliche Unterstützung selbst helfen. Gerade der Besitz von Immobilienvermögen ist zudem mehr oder weniger krisenfest, das heißt, er ist kaum konjunkturellen Schwankungen unterworfen. All dies reduziert die staatliche Verantwortung und entlastet die Staatskassen. Deswegen hat der Staat ein Interesse daran, den privaten Vermögensaufbau zu fördern.
Ganz allgemein betrachtet gibt es zwei Wege, über die Privatpersonen bzw. Haushalte Vermögen aufbauen können: durch Sparen und durch die Übertragung von Vermögen in Form von Erbschaften oder Schenkungen. Daran setzen die drei wichtigsten vermögenspolitischen Strategien an:
1. Staatliche Förderung des Sparens: Hier schafft der Staat gezielt Anreize, privates Vermögen aufzubauen. Dies kann sich auf den Vermögensaufbau ganz allgemein beziehen oder der Förderung ganz bestimmter Sparzwecke dienen (Ring 2000). Zu letztgenanntem gehören etwa die staatliche Zulage zur „Riester-Rente“, Wohnungsbauprämien oder die Eigenheimzulage. Dem allgemeinen Ziel, privates Vermögen aufzubauen, dient z. B. die Arbeitnehmersparzulage. Hier zahlt der Staat Prämien, wenn Arbeitnehmer die vermögenswirksamen Leistungen, die sie von ihrem Arbeitgeber erhalten, in bestimmter Form anlegen.
Besteuerung von Vermögensübertragungen: Vermögen können durch Schenkungen oder Erbschaften zwischen Personen übertragen werden. In beiden Fällen erhebt der Staat Steuern, die in erster Linie der Umverteilung von Vermögen dienen. Der Gedanke dahinter ist, dass übertragenes Vermögen „unverdientes Vermögen“ (Beckert 2004) ist, das nicht selbst erwirtschaftet wurde. Die Besteuerung von Erbschaften und Schenkungen ist verteilungspolitisch vor allem deswegen relevant, da von Vermögensübertragungen insbesondere Personen aus höheren Schichten profitieren. Soziale Ungleichheiten werden so über Generationen vererbt und verfestigt. Diesen Mechanismus etwas zu entschärfen, ist das Ziel der Erbschafts- und der Schenkungssteuer. Dazu ist die Erbschaftssteuer progressiv angelegt. Sie steigt mit der Höhe des vererbten Vermögens und dem abnehmenden Verwandtschaftsgrad. Außerdem gibt es hohe Steuerfreibeträge, die ebenfalls je nach Verwandtschaftsgrad differenziert sind. Im Jahr 2016 lag der höchste Freibetrag bei 500.000 Euro
Besteuerung von Vermögen: Eine direkte Vermögenssteuer wird in Deutschland seit dem Jahr 1997 nicht mehr erhoben . Besteuert werden derzeit im Rahmen der Abgeltungssteuer nur Kapitalerträge. Dabei werden alle Erträge aus Vermögen wie etwa Zinsen oberhalb des Freibetrags von derzeit 801 Euro im Jahr pauschal mit 25 % besteuert. Eine Umverteilungswirkung geht hiervon nicht aus. Steuerfreibeträge wiederum dienen für die unteren Vermögensgruppen durchaus auch dem Ziel, Vermögen aufzubauen.
politischen Zielen dienen. Dazu zählen unter anderem die Kinder- und Ausbildungsfreibeträge, die steuerliche Anrechenbarkeit von Sonderausgaben und außergewöhnlichen Belastungen oder etwa die steuerlichen Begünstigungen für die Altersvorsorge, etwa bei der „Riester-Rente“
Moderater Umbau 1974-1998
Dass Deutschland Anfang der 1970er Jahre die erste große wirtschaftliche Rezession der Nachkriegszeit erlebte, ist aus verteilungspolitischer Sicht eine entscheidende Zäsur. Es wurde klar, dass der „Traum immerwährender Prosperität“ (Lutz 1984) ausgeträumt war. Mit dem Einsetzen dieser Rezession endete endgültig die Nachkriegsphase, die dadurch gekennzeichnet war, dass es stetig mehr Ressourcen zu verteilen gab. Bis dahin waren die Löhne und Gehälter fast kontinuierlich gestiegen und die staatlichen Sozialsysteme stetig ausgebaut worden. In den 1970er Jahren kam es zum ersten Mal zu sinkenden Steuereinnahmen bei gleichzeitig wachsenden Ausgaben für sozialpolitische Maßnahmen. Als Folge ging der staatliche Verteilungsspielraum zurück (Frerich/Frey 1996: 160). Gleichzeitig stieg aber der Bevölkerungsanteil kontinuierlich an, der teilweise oder gänzlich zur Sicherung des eigenen Lebensunterhalts auf staatliche Unterstützung angewiesen war – vor allem auf Grund der wachsenden und sich verfestigenden Arbeitslosigkeit. Zugleich wurde zum ersten Mal, seitdem die akute soziale und wirtschaftliche Not der direkten Nachkriegsjahre überwunden war, Armut wieder zu einer sozialen Problemlage, die nicht nur ein paar Randgruppen betraf, sondern die bis in die Mitte der Gesellschaft hineinreichte. So tauchten in den öffentlichen und politischen Diskussionen dieser Jahre erstmals Schlagworte wie das der „neuen Armut“ (etwa Balsen 1985) auf.
Lohn- und Tarifpolitik Mit Blick auf die Entwicklung der Löhne und Gehälter lässt sich in dieser ersten Phase eine deutliche Verringerung der Zuwächse feststellen. Lag der inflationsbereinigte Anstieg der Löhne und Gehälter in den 1970er Jahren im Jahresdurchschnitt noch bei 2,9 Prozentpunkten, so waren es zwischen 1980 und 1990 nur mehr 1,6 Prozentpunkte. In den 1990er Jahren fiel der jährliche Anstieg dann auf unter 1 % (Brenke 2009), wobei es in den Jahren nach der Wiedervereinigung in Ostdeutschland geradezu rasante Lohnsteigerungen gab. Neben der Stagnation der Löhne und Gehälter sind die 1970er bis 1990er Jahre ganz entscheidend durch eine fast kontinuierlich sinkende Lohnquote gekennzeichnet
Hieraus lässt sich eine abnehmende Bedeutung von Einkommen aus abhängiger Beschäftigung ablesen. Dementsprechend ist gleichzeitig auch ein stetig wachsender Anteil an Unternehmens- und Vermögenseinkommen zu verzeichnen. Diese Entwicklung ist vor allem damit zu erklären, dass der Anteil der Selbstständigen unter allen Arbeitnehmern in diesem Zeitraum stark anstieg. Die deutlich höhere Lohnquote in Gesamtdeutschland gegenüber den Werten für die alte Bundesrepublik ist darauf zurückzuführen, dass es in der ehemaligen DDR kaum Selbstständige oder Unternehmer gab und dass hier keine Möglichkeit bestand, größere private Vermögen aufzubauen.
Zurückgehende Verhandlungsmacht der Gewerkschaften: Wie fällt die politikfeldanalytische Bewertung der Veränderungen in diesem Teilbereich der Verteilungspolitik aus? Die verteilungspolitisch relevanten Aspekte der Lohn- und Tarifpolitik sind in diesen Jahren von einer großen Konstanz geprägt. Insgesamt lässt sich festhalten, dass in diesen drei Jahrzehnten die Entwicklung der Löhne und Gehälter zum ersten Mal hinter der wirtschaftlichen Entwicklung zurückblieb. Es gelang nicht mehr, den gesamtwirtschaftlichen Verteilungsspielraum auszuschöpfen, was auch mit einer sehr zurückhaltenden Lohnpolitik der Gewerkschaften zu erklären ist (Neumann/Schaper 2008: 111). Deren Position wurde mehr und mehr durch die wachsende Arbeitslosigkeit und die zunehmend stärker werdenden Verteilungskämpfe geschwächt. Außerdem litt ihre Verhandlungsmacht, insbesondere seit den 1990er Jahren, unter zurückgehenden Mitgliederzahlen. Gleichzeitig ging die Tarifbindung kontinuierlich zurück (Bispinck 2014): Dies betraf die Betriebe und eine wachsende Zahl an Arbeitnehmern, die fortan nicht mehr unter die Regelung von Tarifverträgen fielen. All diese Entwicklungen schlugen sich nicht zuletzt in den schwachen Lohnzuwächsen dieser Jahre nieder. Politikfeldanalytisch lässt sich all dies als inkrementeller Wandel bewerten. Aus der Perspektive der Gewerkschaftspolitik hingegen stellen die 1970er Jahre eine Zäsur dar. Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Gewerkschaften eine expansive Lohnpolitik verfolgt. Ein- und derselbe Policy-Wandel kann mithin je nach Politikfeld sehr unterschiedlich bewertet werden
Um den Wandel zu erklären, der sich im Bereich der Lohn- und Tarifpolitik vollzogen hat – so gering dieser auch sein mag –, hilft die sozio-ökonomische Schule. Entscheidende Erklärungsbausteine sind hier vor allem die steigende Arbeitslosigkeit sowie die gesamtwirtschaftliche Stagnation bzw. Rezession. Berücksichtigt man außerdem die zunehmend schwächere Position der Gewerkschaften, greift auch die Machtressourcentheorie.
Steuer- und Transfersystem Für die Steuer- und Transferpolitik gilt, dass der Verteilungsspielraum sich zwischen den 1970er und den 1990er Jahren merklich verringert hat. Dies ist im Wesentlichen auf drei Entwicklungen zurückzuführen: 1. die insgesamt schwache gesamtwirtschaftliche Lage, 2. den wachsenden Anteil an nicht-steuerpflichtigen Personen (v.a. Arbeitslose) sowie 3. den steigenden Kostendruck auf die Sozialsysteme auf Grund wachsender Empfängerzahlen. Infolge dessen kam es bereits während der sozialliberalen Koalition und dann vor allem unter der schwarz-gelben Regierung zu Konsolidierungsbemühungen, die entscheidende Auswirkungen auf das Steuer- und Transfersystem hatten. Diese betreffen insbesondere Steuerreformen. Bereits im Jahr 1975 wurde der Eingangssteuersatz, der bis dato bei 19 % lag, im Rahmen der großen Steuerreform von der sozialliberalen Koalition um drei Prozentpunkte angehoben (Tab. 4.3). Gleichzeitig stieg auch der Spitzensteuersatz von 53 % auf 56 % und erreichte damit einen neuen Höchstwert.
Mitte der 1980er Jahre beschloss die schwarz-gelbe Regierungskoalition dann eine dreistufige Steuerreform: Im Zuge dieser Gesetzespakete wurden die steuerfreien Grundbeträge mehrfach deutlich erhöht. Im Jahr 1990 wurden die Eingangs- und Spitzensteuersätze dann jeweils um drei Prozentpunkte gesenkt (Tab. 4.3). Diese Verringerung wurde von der schwarz-gelben Regierung mit der Absicht begründet, die aus ihrer Sicht überhöhte steuerliche Belastung von Einkommen zu senken
Der Eingangssteuersatz wurde bereits im Jahre 1996 wieder deutlich auf 25,9 % angehoben – den bisher höchsten Wert. Dies war eine direkte Reaktion auf ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die steuerliche Freistellung des Existenzminimums forderte: Die Richter hatten schon im Jahr 1992 festgelegt, dass ein am Sozialhilfeniveau orientiertes Existenzminimum stets steuerfrei zu bleiben habe. Als Ausgleich für die daraufhin erfolgte Anhebung der Grundfreibeträge, die zu einem Rückgang des Steueraufkommens geführt hatte, hob die Regierung den Eingangssteuersatz an. Insgesamt wurde damit das Steueraufkommen durch die Einkommensteuer seit der ersten sozialliberalen Koalition deutlich erhöht
Umverteilung durch Steuern und Transfers: Trotz der steigenden Ungleichverteilung der verfügbaren Haushaltseinkommen wirkte die staatliche Umverteilung durch Steuern und Transfers weiterhin ungleichheitsverringernd. Blick man auf die Entwicklung dieser Umverteilungswirkung, das heißt, vergleicht man den Gini-Koeffizienten für die Markteinkommen mit dem für die verfügbaren Einkommen, zeigt sich für die Jahre ab 1991 sogar eine leicht ansteigende Umverteilungsleistung (Tab. 4.4). Die Einkommensungleichheit wird in den 1990er Jahren durch Steuern und Transfers im Schnitt um etwa 0,18 Punkte gesenkt.
Die politikfeldanalytisch relevanten Entwicklungen in der Steuer- und Transferpolitik dieser Jahre beschränken sich auf diverse Steuerreformen. Das Ausmaß des Wandels ist insgesamt gering. Es wurden weder neue Politikinstrumente implementiert noch fand eine grundlegende Verschiebung der Policy-Ziele statt. Die Instrumente, in diesem Fall die Steuersätze, wurden lediglich etwas gesenkt bzw. angehoben. Es handelt sich hier mithin nur um First Order Change im Hallschen Sinn. Viele dieser Reformen dienten dem Ziel, das Steueraufkommen zu erhöhen und mehr Geld in die staatlichen Kassen fließen zu lassen (Ring 2000). Eine zweite Motivationslinie, die insbesondere hinter den Steuersenkungen der schwarz-gelben Regierung steht, war es, die Bezieher kleinerer und mittlerer Einkommen zu entlasten. Diese litten aus Sicht der Regierung unter einer überhöhten steuerlichen Belastung ihrer Einkommen
Die Steuererhöhungen lassen sich vor dem Hintergrund knapper staatlicher Kassen gut mit der sozio-ökonomischen Schule erklären (vgl. Kap. 1.2.1). Dies gilt jedoch nicht für die Steuersenkungen der Regierung Kohl. Nimmt man hier aber die Parteiendifferenzhypothese zur Hilfe, so lässt sich diese Politik nachvollziehen. Die Unionsparteien waren im Rahmen der Koalition zur Einigung mit der FDP gezwungen, die traditionell für Steuererleichterungen der Bürger eintrat. In dieser Akteurskonstellation konnte sich die FDP mit ihren Handlungsinteressen durchsetzen
Bundessozialhilfegesetz: Das System der Grundsicherung wurde seit 1961 durch das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) geregelt. Mitte der 1970er Jahre gab es neben der Hilfe zum Lebensunterhalt (HLU), meist Sozialhilfe genannt, noch die Hilfen in besonderen Lebenslagen (HbL). Das BSHG, das explizit auf die Überbrückung kurzfristiger Notlagen ausgerichtet war, war für die seit den 1970er Jahren wachsende Arbeitslosigkeit und das Aufkommen neuer Formen der Armut nicht angelegt. Die Zahl der Personen, die mehr oder weniger dauerhaft auf Grundsicherungsleistungen angewiesen waren, stieg im Verlauf der 1980er Jahre insbesondere auf Grund der wachsenden Arbeitslosenzahlen deutlich an (Frerich/Frey 1996: 353f.). Das Grundsicherungssystem geriet ob dieser Entwicklung schnell in eine Schieflage, auf die von politischer Seite durch Sparbemühungen reagiert wurde. So kam es unter der Regierung von Helmut Schmidt bereits zu ersten Leistungskürzungen (Abb. 4.6) und zu einer Verschärfung der Anspruchsbedingungen. Im Rahmen des zweiten Haushaltsstrukturgesetzes 1982 wurde die Anpassung der Regelsätze für die kommenden Jahre erstmals auf 3 % gedeckelt (Steffen 2015: 73). Zudem gab es erste Kürzungen bei den Mehrbedarfszuschlägen.
Ein Meilenstein in der Grundsicherungspolitik der frühen 1990er Jahre war das Asylbewerberleistungsgesetz, das im November 1993 vom Bundestag auf den Weg gebracht wurde. In diesem Gesetz wurde ein gesonderter Grundsicherungsanspruch für Asylbewerber geschaffen, die fortan keinen Anspruch mehr auf Leistungen nach dem BSHG hatten. Die Leistungshöhe für Asylbewerber blieb seit ihrer Festlegung im Jahr 1993 über 20 Jahre unverändert, es wurde nicht einmal die Inflation ausgeglichen. Der in Sachleistungen gezahlte Grundbetrag belief sich für Alleinstehende auf 184,07 Euro (360 DM) im Monat. Hinzu kam noch ein monatliches Taschengeld in Höhe von 40,90 Euro (80 DM)
Eine große verteilungspolitische Herausforderung im Allgemeinen und eine wachsende Belastung für die Grundsicherung im Besonderen waren die steigenden Armutsquoten (Abb. 4.1). Armut weitete sich ab den 1970er Jahren von einem Randphänomen, das vor allem alte Menschen, vorrangig alte Frauen, betraf, zu einer Problemlage aus, die bis in die Mitte der Gesellschaft hineinreichte. Der wesentliche Erklärungsfaktor für diesen deutlichen Anstieg ist sozioökonomischer Natur; er betrifft die steigende Arbeitslosigkeit und insbesondere die starke Zunahme der Langzeitarbeitslosigkeit. Arbeitslose wurden zu einer der Bevölkerungsgruppen, die am stärksten vom Armutsrisiko betroffen waren. Die Politik konnte sich diesen Entwicklungen nicht verschließen. Bereits 1975 hatte der damalige rheinland-pfälzische Sozialminister Heiner Geißler (CDU) das Konzept der „neuen sozialen Frage“ (Geißler 1976) auf die politische Agenda gebracht. Er wollte damit auf das Ausmaß des Armutsproblems aufmerksam machen und vor allem das sozialpolitische Profil der Union stärken (Frerich/Frey 1996: 355) – auch und gerade, um sich in diesem Politikfeld gegenüber der regierenden sozialliberalen Koalition zu hervorzuheben. In den ersten Jahren der Regierung Kohl wurden dann immer mehr Stimmen laut, vor allem in der SPD, dem DGB und den Wohlfahrtsverbänden, die der Regierung vorwarfen, nicht angemessen auf die Armutsproblematik zu reagieren
Wachsende Polarisierung der Verteilun: Am anderen Ende der Einkommensverteilung, im Bereich des Reichtums, zeigte sich in dieser ersten Phase des sozialstaatlichen Umbaus zwischen 1974 und 1998 ebenfalls eine kontinuierliche Zunahme – wenn auch auf deutlich niedrigerem Niveau (Abb. 4.2). Damit deutet sich ein Entwicklungstrend bei der Einkommensverteilung an, der für das ausgehende 20. Jahrhundert typisch für viele westeuropäische Gesellschaften ist: eine Polarisierung der Verteilung, das heißt eine Zunahme an den Rändern bei gleichzeitiger Verringerung in der Mitte. Diese Entwicklung ist in Deutschland vor allem seit Ende der 1990er Jahre sehr ausgeprägt. Sie steht in engem Zusammenhang mit der Zunahme der Ungleichheit der Einkommensverteilung.
Inkrementeller Wandel: Fasst man all diese Entwicklungen bewertend zusammen, so lässt sich wiederum inkrementeller Wandel konstatieren. Weitreichender Policy-Change vollzog sich bei der Einführung des Asylbewerberleistungsgesetzes. Im Rahmen dieses Gesetzes wurde eine neue, eigenständige Grundsicherungsleistung eingeführt – ein Hinweis auf Second Order Change. Das Gesetz kann aber auch aus einem weiteren Grund als weitreichender Wandel bewertet werden: Im Asylbewerberleistungsgesetz wurden zentrale Prinzipien des BSHG außer Kraft gesetzt. Dies betraf insbesondere die Höhe der Leistungen, die unter dem BSHG-Niveau lag und nicht daran orientiert war, das sozio-kulturelle Existenzminimum der Asylbewerber zu sichern. Zum ersten Mal gab es damit in Deutschland ein Grundsicherungssystem, das nicht am sozio-kulturellen Existenzminimum orientiert war. Das Zustandekommen des Asylbewerberleistungsgesetzes lässt sich gut mit den Annahmen der sozio-ökonomischen Schule erklären. Mit diesem Gesetz, das im Rahmen des sogenannten „Asylkompromisses“ zusammen mit weitreichenden Reformen des Asylrechts verabschiedet wurde, reagierte die Bundesregierung auf die steigenden Asylbewerberzahlen (Ulrich 2001). Gleichzeitig wurde mit dem Gesetz auch eine weitere finanzielle Konsolidierung im System der sozialen Grundsicherung angestrebt – eine zusätzliche Facette der Sparmaßnahmen der Regierung Kohl.
Vermögenspolitik: Die vermögenspolitischen Debatten in den 1970er Jahren wurden stark von dem Thema der Beteiligung der Arbeitnehmer am Produktivvermögen bestimmt. Vor allem in der FDP, der SPD und dem DGB wurden Konzepte vertreten, die zum Ziel hatten, die Arbeitnehmer auf überbetrieblicher Ebene am Produktivvermögen zu beteiligen (Frerich/Frey 1996: 395). Als aber im Zuge der Rezession die Gewinne in der Wirtschaft zurückgingen, wurden solche Pläne von der Regierungskoalition aufgegeben. An ihre Stelle trat nun der auch in den Unionsparteien verbreitete Ansatz, Arbeitnehmer auf betrieblicher Ebene durch tarifvertragliche Regelungen am Betriebsvermögen teilhaben zu lassen. Entsprechende Gesetzesvorlagen wurden Ende der 1970er Jahre im Bundestag vorgelegt, von der Regierung aber nicht beschlossen. Dies ist unter anderem damit zu erklären, dass die SPD Rücksicht auf die Gewerkschaften nahm, die weiterhin am Ziel der überbetrieblichen Beteiligungsform festhielten
Mit dem dritten Vermögensbildungsgesetz war schon 1970 der Grundstein für die Förderung des privaten Vermögensaufbaus gelegt worden. Die Arbeitnehmer haben seitdem unter bestimmten Umständen Anspruch auf eine staatliche Arbeitnehmersparzulage unter Beteiligung der Arbeitgeber in Form von vermögenswirksamen Leistungen. Die staatliche Sparförderung wurde von der schwarz-gelben Koalition weiter ausgebaut. Zunächst über die klassische staatliche Förderung beim Vermögensaufbau, das heißt die Ausweitung der vermögenswirksamen Leistungen bei Spar-, Bauspar- und Lebensversicherungen. Gleichzeitig brachte die Regierung Kohl in den 1980er Jahren im Rahmen mehrerer Vermögensbeteiligungsgesetze unter dem Motto „Wir beteiligen die Arbeitnehmer am Fortschritt“ (CDU 1984) die Förderung betrieblicher Vermögensbeteiligungen weiter auf den Weg
Generell sind Vermögen deutlich ungleicher verteilt als Einkommen. Dies liegt vor allem daran, dass im Gegensatz zu Einkommen nicht jede Person über Vermögen verfügt. Auch haben viele Personen oder Haushalte negative Vermögen in Form von Schulden. Im Jahr 1973 lag der Gini-Koeffizient der Privatvermögen bei 0,75. Er fiel bis zum Jahr 1993 kontinuierlich auf einen Wert von 0,62, stieg dann aber bis 1998 wieder leicht auf 0,64 (Frick/Grabka et al. 2010: 30). Damit ist die Verteilung der Privatvermögen seit Ende der 1970er Jahre zunächst gleicher geworden. Nach der Wiedervereinigung hat sich die Vermögensverteilung in Ostdeutschland – wo es kaum private Vermögen gab – in rasantem Tempo an das westdeutsche Ungleichheitsniveau angeglichen. Gleichzeitig ist über diese Jahrzehnte hinweg die gesamte Vermögenssumme der privaten Haushalte deutlich angewachsen
Ein großer Einschnitt fand bei der Vermögenssteuer statt. Diese war das zentrale verteilungspolitische Instrument der deutschen Vermögenspolitik. So wurden etwa im Jahr 1995 Vermögen oberhalb der Freigrenze von jährlich 120.000 Euro pro Person besteuert. Die Steuersätze lagen abhängig von der Vermögensart zwischen 0,5 % und 1 %. Im Jahr 1995 erklärte das Bundesverfassungsgericht in einer Grundsatzentscheidung die Praxis der Vermögenssteuer für verfassungswidrig und forderte den Gesetzgeber auf, die verfassungswidrigen Punkte bis Ende des Jahres 1996 neu zu regeln. Da es nicht zu einer Neuregelung kam, beschloss der Bundestag in seinen Beratungen zum Steuerpaket für das Jahr 1997, die Erhebung der Vermögenssteuer auszusetzen. De jure ist damit die Vermögenssteuer nicht abgeschafft, sie wird aber de facto seit 1997 nicht mehr erhoben.
Aus politikfeldanalytischer Sicht ist die Aussetzung der Vermögenssteuer der einzige Punkt, der in der deutschen Vermögenspolitik der Jahre 1974 bis 1998 herausragt. Zu der Aussetzung kam es, da sich die beteiligten Parteien nicht auf die vom Bundesverfassungsgericht angemahnten Änderungen einigen konnten. Dahinter stand bei den Regierungsparteien CDU/CSU und FDP die erklärte Absicht, die Vermögenssteuer nicht reformieren, sondern abschaffen zu wollen. Folglich schrieben sie die geplante Abschaffung in die Vorlage zum Jahressteuergesetz 1997. Solche Gesetze sind aber grundsätzlich immer zustimmungspflichtig. Im Bundesrat agierte die SPD dann als Vetospieler und verweigerte die Zustimmung zur Abschaffung der Vermögenssteuer. Die Regierungsparteien hingegen widersetzten sich dezidiert jeglicher Reform der Vermögenssteuer. Da sich die beiden Lager nicht einigen konnten, wurde die Steuer nicht reformiert und musste daher ausgesetzt werden. Hier wird deutlich, welche Rolle rechtlich-institutionalisierte Rahmenbedingungen spielen, in diesem Fall etwa die Tatsache, dass Jahressteuergesetze zustimmungspflichtig sind. Gleichzeitig macht die Aussetzung der Vermögenssteuer deutlich, welche Rolle auch Nicht-Entscheidungen haben können. Eine Entscheidung wie die für eine wie auch immer geartete Reform der Vermögenssteuer einfach nicht zu treffen, ist ein Machtmechanismus. Eine Nicht-Entscheidung kann somit einen genauso deutlichen Policy-Wandel auslösen wie eine explizite Entscheidung für oder gegen z. B. ein Reformprojekt.
Ende der 1990er Jahre waren die unmittelbaren finanziellen und sozialen Folgen der Wiedervereinigung allmählich abgeklungen. Gleichzeitig wurde offensichtlich, wie hoch die Kosten dieser Wiedervereinigung waren. Vor dem Hintergrund weiterhin wachsender Armutsquoten und der sich immer mehr verfestigenden Massenarbeitslosigkeit – gerade auch in Ostdeutschland – waren Einsparungen im Bereich der Sozial- und Verteilungspolitik Gegenstand kontroverser politischer Debatten. Mit diesem politischen Erbe sah sich die rot-grüne Koalition konfrontiert, die 1998 die Regierung im Bund übernahm. Aus politikfeldanalytischer Sicht ist dieser Regierungswechsel bemerkenswert. Zum ersten Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte wurde eine Regierung komplett ausgetauscht. 16 Jahre konservativ-liberale Koalition unter Kanzler Kohl waren zu Ende und wurden von einer rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder (SPD) abgelöst. Die Grünen kamen zum ersten Mal auf Bundesebene in Regierungsverantwortung – zusammen mit der SPD, die seit 1983 durchgehend in der Opposition gewesen war. Dieser totale Wechsel der Regierungsmehrheit lässt nicht nur vor dem Hintergrund der Parteiendifferenzhypothese einen deutlichen Wandel der angestrebten politischen Ziele und der dazu implementierten Politiken erwarten. Verteilungspolitisch interessant ist dabei vor allem, dass SPD und Grüne mit einem ausgeprägten sozialpolitischen Profil antraten und sich beide im Bundestagswahlkampf 1998 für mehr soziale Gerechtigkeit und mehr Umverteilung einsetzten. Viele ökonomische und soziale Entwicklungen der vergangenen Jahre setzen sich auch in dieser zweiten Phase fort. Dies betrifft zum einen die weiterhin wachsende Polarisierung der Einkommensverteilung und die immer noch hohen und steigenden Arbeitslosenzahlen. Zum anderen gilt dies für die politischen Bemühungen, den Staatshaushalt weiter zu konsolidieren und die damit verbundenen Sparmaßnahmen, die unter anderem sozialpolitische Instrumente und verteilungspolitische Maßnahmen betreffen
Lohn- und Tarifpolitik: Bei der Lohnquote setzte sich der Trend aus den vorherigen Jahrzehnten fort. Sie sank kontinuierlich weiter, bis sie im Jahr 2007 mit 65 % ihren vorläufigen Tiefststand erreichte. Demgegenüber nahm die Gewinnquote, das heißt die Bedeutung von Kapitaleinkommen, zu
Bei der Entwicklung der Löhne und Gehälter nimmt Deutschland in diesen Jahren eine Sonderstellung ein: Im Verlauf der 2000er Jahre war Deutschland das einzige Land in Europa, in dem bei den realen Löhnen Rückgänge zu verzeichnen waren. Gleichzeitig kam es zu einer sogenannten „negativen Lohndrift“, das heißt die Tariflöhne stiegen stärker als die Löhne, die die Arbeitnehmer effektiv erhielten. Wo die Löhne dennoch stiegen, erstreckte sich der Zuwachs, und das ist der verteilungspolitisch relevante Punkt, nicht gleichmäßig über die gesamte Breite der Verteilung. Bezieher höherer Löhne profitierten deutlich stärker von diesen Zuwächsen als diejenigen im Niedrigeinkommensbereich. Dies ist für die zunehmende Ungleichverteilung der verfügbaren Haushaltseinkommen ein zentraler Erklärungsfaktor. Hinter diesen Entwicklungen steht an erster Stelle, dass atypische Beschäftigungsformen seit Mitte der 1990er Jahre deutlich zugenommen haben – ein Trend, der sich seit Ende der 2000er allerdings etwas abgeschwächt hat. Auch die Ausweitung des Niedriglohn-sektors spielt hier eine wichtige Rolle
Einführung des gesetzlichen Mindestlohns: Auf der Policy-Ebene war es in der Lohn- und Tarifpolitik in diesen Jahren zunächst sehr ruhig. Die einzige zentrale Neuerung ist die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns. Seit 1.1.2015 gilt ein Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde. Im europäischen Vergleich ist Deutschland damit ein Nachzügler bei der Einführung des Mindestlohns. 2015 gab es bereits in 21 der 28 EU-Staaten eine solche Lohnuntergrenze (Schulten 2013). Vergleicht man die Höhe der Mindestlöhne, so liegt Deutschland eher am unteren Ende. Für die Einführung sind Übergangsregelungen vorgesehen: Branchen, in denen es bereits einen Mindestlohn gibt, dürfen diesen noch bis zum 1.1.2017 behalten, auch wenn dieser unter 8,50 Euro liegt.
Ab diesem Stichtag gilt dann der Mindestlohn flächendeckend. Ausnahmen gibt es für Jugendliche unter 18 Jahren sowie für Langzeitarbeitslose. Weitere Sonderregelungen gelten für Praktikanten, Zeitungszusteller und Saisonarbeiter. Vorgesehen sind alle zwei Jahre eine Anpassung der Mindestlohnhöhe und eine erste Erhöhung im Jahr 2017. Dazu gibt es eine Mindestlohnkommission, die sich paritätisch aus Vertretern von Gewerkschaften und Arbeitgebern sowie unabhängigen Wissenschaftlern zusammensetzt. Die verteilungspolitische Wirkung des Mindestlohns lässt sich noch nicht abschätzen. Auch die Frage, wie viele abhängig Beschäftigte vom Mindestlohn profitieren werden, ist noch nicht abzusehen. Für eine erste Schätzung ist ein Blick auf den Niedriglohnsektor hilfreich. So hatten im Jahr 2012 15,5 % aller abhängig Beschäftigten und damit etwa 5,25 Millionen Erwerbstätige einen Bruttostundenlohn von unter 8,50 Euro
Wie weitreichend ist der Policy-Wandel, der durch die Einführung des Mindestlohns ausgelöst wurde? Mit dem Mindestlohn wurde ein neues tarifpolitisches Instrument geschaffen – ein Hinweis auf Second Order Change im Hallschen Sinne. Kann man die Einführung des Mindestlohns aber auch als Zielverschiebung, das kennzeichnende Merkmal von Third Order Change, beschreiben? Aus verteilungspolitischer Sicht spricht vieles dafür, dass der Mindestlohn lediglich eine Instrumenten- und keine Zielverschiebung darstellt. Schließlich hat sich an der verteilungspolitischen Zielsetzung von Löhnen und Gehältern mit dem Mindestlohn nichts geändert. Als eine paradigmatische Veränderung im Sinn eines Third Order Change lässt sich der Mindestlohn hingegen aus tarifpolitischer Sicht bewerten: Der Staat greift mit der Durchsetzung des Mindestlohns entscheidend in die Tarifautonomie ein, einen der Grundpfeiler der industriellen Arbeitsbeziehungen in Deutschland.
Aus dem traditionell autonomen Modell der Lohnfindung wurde ein gemischtes System (Bosch 2015). Hieraus lassen sich drei zentrale Punkte zum Konzept von Hall ableiten (vgl. auch Kap. 1.1).
Zum ersten kann, wie schon beim Asylbewerberleistungsgesetz gesehen, das Ausmaß des Policy-Wandels für ein- und dieselbe Änderung je nach Politikfeld unterschiedlich ausfallen.
Zum zweiten ist es oftmals leichter, die Reichweite der Veränderungen, die durch ein neues Politikinstrument ausgelöst wurden, ex post zu bewerten. Das heißt konkret: Ob der Mindestlohn vielleicht auch aus verteilungspolitischer Sicht als Third Order Change zu bewerten ist, lässt sich erst in einigen Jahren sicher sagen, wenn der Mindestlohn seine Wirkung entfaltet hat.
Diese zwei Punkte machen drittens deutlich, dass das Konzept von Hall zwar eine gute Einordnung von Policy-Wandel ermöglicht; im Einzelfall ist das Schema aber nicht konkret genug. Es fehlen klare Indikatoren, die eine eindeutige Einordnung zu den drei Graden des Wandels ermöglichen. Daher ist es interessant, die Einführung des Mindestlohns noch auf das Konzept von Streeck und Thelen anzuwenden, in dem die Autoren fünf Formen des inkrementellen Wandels unterscheiden (vgl. Kap. 1.1). Aus dieser Sichtweise lässt sich der Mindestlohn als eine Form von „Displacement“ beschreiben: Als ein neuer tarifpolitischer Mechanismus fließt er allmählich in das bestehende Tarifsystem ein. Aber auch hier gilt wieder: Interpretiert man die Einführung des Mindestlohns als eine Verschiebung politischer Ziele, kann man ihn im Sinne von Streeck und Thelen auch als „Conversion“ bewerten
Wie lässt sich das Zustandekommen des Mindestlohnes politikfeldanalytisch erklären? In der politischen Diskussion war der Mindestlohn schon viele Jahre präsent. Lange Zeit war das Thema innerhalb der Gewerkschaften aber umstritten, und auch die SPD stand einer Einführung teilweise skeptisch gegenüber. Im Zuge der Diskussion über die Ausweitung des Lohndumpings kam der Mindestlohn dann in der ersten großen Koalition auf die politische Agenda. Im Juni 2007 brachte die SPD auf Druck des DGB, der Linkspartei sowie von Teilen der Grünen und der eigenen Parteimitglieder das Thema Mindestlohn in den Koalitionsausschuss. Dort war allerdings die Ablehnung dieser Reform durch die Unionsparteien so grundlegend, dass keine Einigung erzielt werden konnte.
Unter der schwarz-gelben Koalition trat das Thema wieder etwas in den Hintergrund, wurde dann aber in den Koalitionsverhandlungen zwischen CDU/CSU und SPD im Jahr 2013 von den Sozialdemokraten erneut auf den Tisch gebracht. Nachdem der DGB sich bereits auf seinem Bundeskongress 2006 eindeutig für die Einführung eines Mindestlohnes ausgesprochen hatte, machte die SPD dieses Mal die Einführung zur Bedingung für die Fortsetzung der großen Koalition (Bosch 2015: 177) – nicht zuletzt wohl auch, um sich den Gewerkschaften, von denen sich die SPD seit ihrer Politik der Agenda 2010 (vgl. Kap. 5) zunehmend entfernt hatte, wieder anzunähern. All dies ist ein gutes Beispiel für die Parteiendifferenzhypothese (vgl. Kap. 1.2.3): Es ist vor allem die SPD, die Interessen ihrer Kernklientel vertretend, den Mindestlohn entscheidend auf den Weg bringt.
Steuer- und Transfersystem:
Die zentrale verteilungspolitische Änderung des Steuersystems seit Ende der 1990er Jahre war die mehrstufige Steuerreform, die im Jahr 2000 vom Bundestag beschlossen wurde. Kernpunkt der Reform war die stufenweise Absenkung der Eingangs- und Spitzensteuersätze bis zum Jahr 2005 (Tab. 4.5). Gleichzeitig wurde der steuerfreie Grundfreibetrag angehoben, so dass sich die durchschnittliche Steuerbelastung im Endeffekt für kleinere und mittlere Einkommen verringerte, während sie für hohe Einkommen im Wesentlichen unverändert blieb.Der Eingangssteuersatz sank unter der rot-grünen Bundesregierung auf 15 %, der Spitzensteuersatz wurde in der letzten Stufe der Steuerreform im Jahr 2005 auf 42 % gesenkt, den bislang niedrigsten Wert überhaupt. Eine Gegenentwicklung zu dieser Steuersenkungspolitik fand im Jahr 2007 statt, als die große Koalition unter Kanzlerin Merkel die sogenannte „Reichen-steuer“ beschloss. Seitdem werden zu versteuernde Jahreseinkommen von über 250.000 Euro einheitlich mit 45 % besteuert.
Wie der Gini-Koeffizient zeigt, stieg die Ungleichheit der Einkommen nach der Jahrtausendwende weiter an und setzte damit den Trend von Mitte der 1990er Jahre fort (Abb. 4.9). Im Jahr 2005 erreichte der Gini-Koeffizient mit knapp 0,29 Punkten seinen bisherigen Höchststand. In den Jahren danach stagnierte er bei Werten um 0,28. Zwischen 2010 und 2012 stieg er dann leicht an und liegt aktuell fast auf dem 2005er-Niveau. Ob damit der Trend einer steigenden Ungleichverteilung der Einkommen ein Ende gefunden hat, lässt sich nicht eindeutig abschätzen. Es spricht aber Einiges wie etwa die derzeitige Migrationswelle dafür, dass die Phase der Stagnation Mitte bis Ende der 2000er in einen erneuten Anstieg der Ungleichheit übergegangen ist.
Aus politikfeldanalytischer Sicht stellen die rot-grüne Steuerreform und die Einführung der „Reichensteuer“ verteilungspolitisch relevante Änderungen dar. Die stufenweise Absenkung des Eingangs- und Spitzensteuersatzes geht dabei nicht über First Order Change hinaus. Es wurden hier weder neue Instrumente implementiert noch kamen gar neue politische Zielvorstellungen auf. Es handelt sich nur um inkrementellen Wandel. Gilt dies auch für die Reichensteuer? Auf den ersten Blick könnte man meinen, dass hier ein neues Instrument geschaffen wurde – was für Second Order Change sprechen würde. Es handelt sich aber bei der „Reichensteuer“ nicht um die Einführung einer neuen Steuer, sondern lediglich um die Anhebung des Spitzensteuersatzes für sehr hohe Einkommen. Vor diesem Hintergrund ist auch diese Steuer ein Beispiel für First Order Change: Es wurde lediglich das Niveau einer bestehenden Regelung, der Steuersatz, für bestimmte Bevölkerungsgruppen angehoben
Wie kamen diese Steuerreformen zustande? Der Steuerreform der rot-grünen Regierung waren starke Debatten um eine Senkung der Steuerbelastung der Bürger vorausgegangen, die direkt an die Diskussionen der Vorgängerregierung anknüpften. Um die Steuerreform verabschieden zu können, musste die rot-grüne Koalition insbesondere den Bundesrat als möglichen Vetospieler überzeugen. Hier war schnell klar, dass die Oppositionsparteien nicht bereit sein würden, für die Steuerreform der Koalition zu stimmen.
Die rot-grüne Bundesregierung hatte aber zu diesem Zeitpunkt im Bundesrat keine Mehrheit und war daher auf die Stimmen weiterer nicht rot-grün regierter Bundesländer angewiesen. Diese konnten im Verlauf der Verhandlungen mit finanziellen Zugeständnissen dazu gebracht werden, der Steuerreform der rot-grünen Bundesregierung zuzustimmen (Wagschal 2007: 249). Für die Einführung der Reichensteuer gilt: Die SPD hatte sich bereits in ihrem Wahlprogramm zur Bundestagswahl 2005 für eine deutliche Erhöhung des Spitzensteuersatzes ausgesprochen. Die CDU sah hingegen in ihrem Wahlprogramm eine Senkung des Spitzensteuersatzes vor. Hier standen sich mithin die beiden Koalitionsparteien mit konträren Interessen gegenüber – ein entscheidender Grund, weswegen sich die beiden Parteien im Koalitionsvertrag nicht auf eine große Steuerreform einigen konnten. Im Gegenzug dafür, dass CDU/CSU sich im Koalitionsvertrag mit ihren Steuersenkungsplänen beim Eingangs- und Spitzensteuersatz hatten weitgehend durchsetzen können, kamen die Unionsparteien bei der „Reichensteuer“ der SPD entgegen
Soziale Grundsicherung Im Jahr 1999 einigte sich die rot-grüne Koalition in einem Gesetz zur Änderung des BSHG darauf, die vorgesehene Anpassung der Regelsätze für Sozialhilfeempfänger weiter hinauszuschieben. Die Sparpolitik im Bereich der sozialen Grundsicherung wurde weiter fortgesetzt. Im Jahr 2003 wurde mit der Verabschiedung des Grundsicherungsgesetzes („Gesetz über eine bedarfsorientierte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung“) als zwölftes Buch im Sozialgesetz eine neue Grundsicherungsleistung eingeführt. Ziel der Reform war es, die sogenannte „verdeckte Armut“ unter Rentnern zu bekämpfen. Bedürftigen Rentnern, die bislang trotz ihres Anspruchs keine Sozialhilfe beantragt hatten, sollte der Zugang zur sozialen Sicherung erleichtert werden. Zudem sollte ein zukünftiger Anstieg der Altersarmut vermieden werden, indem für die Bezieher dieser neuen Grundsicherungsleistung, anders als bei Sozialhilfeempfängern, nahe Verwandte nicht für den Bedürftigen aufkommen mussten.
Mit diesem Gesetz wurde eine alte Forderung der Grünen umgesetzt. Diese hatten bereits 1993 einen ersten Entwurf für eine Grundsicherung im Bundestag vorgelegt und diese dann 1998 im Koalitionsvertrag festgeschrieben (Buhr 2003: 154). Die Umsetzung verzögerte sich, da erst mit den Sozialversicherungsträgern ausgehandelt werden musste, ob die neue Grundsicherung in das Rentensystem eingegliedert oder – wie es dann auch beschlossen wurde – ein Teil der Sozialhilfe werden sollte (Nullmeier 2003: 176). Einen Anspruch auf Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung haben zum einen Personen ab dem 66. Lebensjahr, die den im Sozialhilfesatz festgelegten finanziellen Bedarf für das soziokulturelle Existenzminimum nicht aus Rentenansprüchen oder anderen Einkünften decken können. Außerdem haben dauerhaft erwerbsgeminderte Personen, das heißt Personen, die weniger als drei Stunden am Tag einer Erwerbstätigkeit nachgehen können, Anspruch auf diese Transferleistung. Die Leistungen entsprechen auch hier denen der HLU, werden aber um einen pauschalen Mehrbedarfszuschlag ergänzt
Mit dem vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt (Hartz IV) wurde 2005 dann das BSHG aufgelöst und als Zweites Gesetzbuch ins Sozialgesetz eingegliedert.59 Gleichzeitig wurde die Arbeitslosenhilfe abgeschafft und mit der Sozialhilfe zusammengelegt. Die Arbeitslosenhilfe war eine Leistung für Langzeitarbeitslose (vgl. Kap. 5). Diesen Personen stand zuletzt eine Unterstützung von bis zu 57 % des Nettolohns im Jahr vor der Arbeitslosigkeit zu. Dadurch, dass die Leistung an die Höhe des letzten Lohnes gebunden wurde, sollte eine weitgehende Sicherung des Lebensstandards der Empfänger gewährleistet werden. Der Bezug der Arbeitslosenhilfe war zeitlich unbegrenzt. Seit der Hartz IV-Reform beziehen solche Personen ALG II und damit eine Grundsicherungsleistung. Im Zuge der Hartz IV-Reform wurden auch die Regelsätze für die HLU, an denen die Sätze für ALG II orientiert sind, neu festgelegt. Sonderausgaben, wie beispielsweise für eine kaputte Waschmaschine, die ersetzt werden muss, wurden vom Gesetzgeber in den Regelsatz eingepreist: Die Hilfeempfänger haben jetzt von ihrem Regelsatz Geld zurückzulegen, um sich solche unerwarteten Ausgaben leisten zu können. Dass dies in der Praxis wie vorgesehen funktioniert, ist allerdings mehr als fraglich.
Leistungsberechtigt für ALG II sind erwerbsfähige Personen zwischen 16 und 66 Jahren. Das ALG II orientiert sich in seiner Höhe am soziokulturellen Existenzminimum. Die Höhe des Regelsatzes definiert damit sozusagen den materiellen Wert des soziokulturellen Existenzminimums. Um ALG II beziehen zu können, muss eine Person ihre Bedürftigkeit nachweisen, das heißt darlegen, dass die finanziellen Mittel, die ihr im Monat zur Verfügung stehen, unter dem Niveau des soziokulturellen Existenzminimums liegen. Dabei greift hier gleich mehrfach das Subsidiaritätsprinzip (vgl. Kap. 2.2): Zum einen müssen zunächst Personen, die in einer Bedarfsgemeinschaft60 zusammenleben, einander finanziell unterstützen. Zum anderen muss eine Person erst eigenes Vermögen weitgehend aufbrauchen, bevor sie einen Anspruch auf ALG II hat. Hier gibt es allerdings ein „Schonvermögen“: Seit 2010 hat jede Person einen Grundfreibetrag von 150 Euro für jedes vollendete Lebensjahr (520 Euro für Personen, die vor dem 1.1.1948 geboren sind), den sie nicht zur Sicherung ihres Lebensstandards verwenden muss. Vermögen für die private Altersvorsorge wird bis zu einer Höhe von 750 Euro pro vollendetem Lebensjahr nicht berücksichtigt (Steffen 2015: 84).
Das ALG II setzt sich aus drei Teilleistungen zusammen: dem pauschalisierten Regelsatz, den Kosten für Heizung und Unterkunft und den Sonderbedarfen. Die Kosten der Unterkunft werden entsprechend ihrer tatsächlichen Höhe übernommen. Allerdings müssen die Wohnungskosten angemessen sein und dürfen ein bestimmtes Maß, das an den ortsüblichen Mieten orientiert ist, nicht überschreiten. Sonderbedarfe werden nur nach Einzelfallprüfung gewährt. Sie können für die Erstausstattung einer Wohnung mit Möbeln und Haushaltsgeräten, für Mehrbedarfe von Schwangeren sowie für mehrtägige Klassenfahrten beantragt werden. Die eigentlichen Regelsätze sind pauschalisiert und werden nach der Größe der Bedarfsgemeinschaft gestaffelt: Alleinlebende erwachsene Hilfeempfänger erhalten den vollen Satz. Weitere Erwachsene beziehen 90 % dieses Satzes. Leben zwei erwachsene Leistungsberechtigte in einer Bedarfsgemeinschaft zusammen, beziehen beide jeweils 90 % des Eckregelsatzes. Kinder, die älter als 13 Jahre sind, haben Anspruch auf 80 %, 6- bis unter 14-Jährige auf 70 % und Kinder bis 6 Jahre auf 60 % der vollen Leistungen
60 % der vollen Leistungen (Steffen 2015: 78). Seit der Einführung von ALG II wird dieses stark kritisiert, insbesondere von linken Politikern innerhalb und außerhalb der SPD sowie von Wohlfahrtsverbänden. Sehr heftig wurde und wird über die Höhe der Regelsätze debattiert. Der Höchstsatz für den ersten Erwachsenen lag bei der Einführung bei 345 Euro im Monat (in Westdeutschland) zuzüglich der Kosten für Unterkunft und Miete und etwaiger Mehrbedarfszuschläge (Tab. 4.7). Seit 2007 gelten für Ost- und Westdeutschland einheitliche Regelsätze
Nachdem die Leistungen in den ersten Jahren kaum angehoben wurden, stiegen sie zum Jahr 2009 leicht an. 2011 wurden sie dann im Rahmen des Regelbedarfsermittlungsgesetzes stärker angehoben. Diesem Gesetz war ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts vorangegangen: Die Richter hatten Anfang 2010 das Verfahren zur Festlegung der Regelsätze für unvereinbar mit der Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums erklärt. Die große Koalition reagierte darauf mit einer Neuregelung der Regelsatzberechnung. Aus der bisherigen Referenzgruppe für die Bestimmung nach dem Statistikmodell wurden all jene Personengruppen ausgeschlossen, die in dem dreimonatigen Erhebungszeitraum der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe dauerhaft eine Grundsicherungsleistung bezogen hatten (Steffen 2015: 77). Die derzeit letzte Anpassung auf 404 Euro trat zum 1.1.2016 in Kraft. Eine weitere wichtige Gesetzesänderung in diesem Politikfeld betraf die Grundsicherung für Asylbewerber: Die bisher gültigen Regelungen aus dem Asylbewerberleistungsgesetz von 1993 wurden im Jahr 2012 vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt. Das Bundesverfassungsgericht forderte eine deutliche Anhebung der Leistungen sowie für die Zukunft eine regelmäßige Erhöhung. Aktuell liegen die Regelsätze für alleinstehende Asylbewerber bei einem Grundbetrag von 219 Euro, dem „notwendigen monatlichen Bedarf“, und einem „Bargeldbedarf“ (Taschengeld) von 145 Euro
Armuts- und Reichtumsbericht: Die rot-grüne Bundesregierung führte bereits in ihrer ersten Legislaturperiode mit den Armuts- und Reichtumsberichten eine deutliche Verbesserung der verteilungspolitischen Datengrundlage ein (vgl. Bundesministerium für Arbeit und Soziales 2013). Seit dem ersten Bericht im Jahr 2001 wurden bis zum Jahr 2013 insgesamt vier Berichte veröffentlicht, die über die Entwicklung der materiellen und sozialen Ungleichheit in Deutschland informieren. Aktuell wird der 5. Armuts- und Reichtumsbericht erstellt, der im Herbst 2016 erscheinen wird. Seit den 1980er Jahren hatten die SPD wie auch die Grünen immer wieder von der Bundesregierung eine solche kontinuierliche Sozialberichterstattung gefordert, die aber von der schwarz-gelben Regierung immer abgelehnt worden war. Die Berichte bieten grundsätzlich einen sehr guten Überblick über zentrale verteilungspolitische Entwicklungen. Allerdings wird oftmals insbesondere von Wohlfahrtsverbänden kritisiert, sie würden das Ausmaß der Armut und Ungleichheit bewusst schönfärben und die positiven Auswirkungen der verteilungspolitischen Maßnahmen der Bundesregierung überbewerten
Weiterer Anstieg von Armuts- und Reichtumsquoten: Die sozialstaatliche Umverteilung wirkt, wie in Tabelle 4.6 gezeigt, grundsätzlich auch in den 2000er Jahren ungleichheitsverringernd, kann aber den Trend einer zunehmenden Polarisierung der Verteilung nicht umkehren. Dies lässt sich aus der Entwicklung der Armuts- und Reichtumsquoten ablesen. Die Armutsquoten stiegen weiterhin deutlich an, bis im Jahr 2009 15,2 % der Bevölkerung von Armut betroffen waren. Seitdem sind die Armutsquoten leicht rückläufig, bleiben aber auf einem sehr hohen Niveau (vgl. Abb. 4.1). Die Reichtumsquote folgte, auf niedrigerem Niveau und deutlich schwächer ausgeprägt, einem ähnlichen Verlauf: Die Werte stiegen bis Mitte der 2000er Jahre an. Im Jahr 2012 erreichen sie mit einem Niveau von knapp 8,1 % ihren bisherigen Höchststand
Wandel bei der sozialen Grundsicherung: Annäherung an liberales Wohlfahrtsregime…: Fasst man all diese Entwicklungen zusammen, so lässt sich konstatieren, dass das Feld der sozialen Grundsicherung seit 1998 starkem Wandel unterworfen war. Der große Entwicklungstrend lässt sich als eine schrittweise Abkehr von der traditionellen Architektur des deutschen Sozialstaats beschreiben, der in der Bismarckschen Tradition stark von Sozialleistungen geprägt ist. Stattdessen werden mehr und mehr Elemente eines liberalen Wohlfahrtsregimes eingeführt, das insbesondere durch steuerfinanzierte Grundsicherungsleistungen gekennzeichnet ist (vgl. Kap. 2.5). Das zeigt sich bereits an der Einführung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung, die ein Beispiel für eine solche Leistung ist. Noch deutlicher wird dies dann bei der Hartz IV-Reform. Hinter dieser Entwicklung steht auch das mehr oder weniger deutlich ausgesprochene Ziel, die Sozialausgaben zu senken. Das Niveau von Grundsicherungsleistungen liegt im Schnitt deutlich unter den Ansprüchen, die Personen über Sozialversicherungen erwerben.
Mit der Einführung von ALG II wurde die Arbeitslosenhilfe, eine auf Lebensstandardsicherung ausgerichtete und dem Äquivalenzprinzip folgende Versicherungsleistung, mit einer steuerfinanzierten Grundsicherungsleistung, die am Fürsorgeprinzip orientiert war, zusammengelegt (vgl. Kap. 2). Der Staat stellt nunmehr lediglich die Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums sicher, eine Lebensstandardsicherung findet nicht mehr statt.
Die Annäherung an ein liberales Wohlfahrtsregime ist der eine Strang, der mit dem großen Wandel im Grundsicherungssystem verbunden ist. Der zweite Punkt bezieht sich auf die Hinwendung zu Aktivierungspolitiken (vgl. Kap. 5). Anders als bei der Arbeitslosenhilfe sind die ALG II-Bezieher verpflichtet, den Auflagen des Jobcenters nachzukommen und sich aktiv um die Aufnahme einer regulären Erwerbstätigkeit zu bemühen. Tun sie dies nicht, droht ihnen eine Kürzung der Leistungen, die so weit gehen kann, dass die Geldleistungen komplett gestrichen und durch Essensmarken und Warengutscheine ersetzt werden. Diese Entwicklung hin zu aktivierenden Arbeitsmarktpolitiken und insbesondere die verstärkte Implementierung von Grundsicherungsleistungen machen deutlich, dass es sich bei diesem Wandel um Third Order Change handelt. Es wurden nicht nur neue Formen der Grundsicherung geschaffen, es fand auch eine paradigmatische Zielverschiebung statt: Statt das Ziel einer Lebensstandardsicherung weiter zu verfolgen – ein Merkmal, das charakteristisch für das auf Statuserhalt ausgerichtete konservative Wohlfahrtsregime ist – wird nun mit ALG II den Empfängern nur noch eine Grundsicherung gewährt
Der Schritt in Richtung einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik lässt sich seit den 1990er Jahren in vielen europäischen Ländern beobachten und wurde auch von der EU gestützt – eine Entwicklung im Sinne der Europäisierungshypothese
Gleichzeitig lag der Reform auch ein sozio-ökonomischer Reformdruck, die hohe und dauerhafte Arbeitslosigkeit, zu Grunde. Diese sollte mit eben einer solchen aktivierenden Arbeitsmarktpolitik bekämpft werden. Zudem versprach man sich von der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe auch eine Vereinfachung des Verwaltungsaufwands und damit Einsparmöglichkeiten. Vor diesem Hintergrund gab es bereits Ende 2002 bei den Grünen, den Oppositionsparteien und den Arbeitgeberverbänden eine grundsätzliche Zustimmung zu den Plänen der Hartz-Kommission, diese beiden Sicherungszweige zusammenzulegen. Die SPD war jedoch, nicht zuletzt auch wegen der ablehnenden Haltung der Gewerkschaften, noch zögerlich. Nach zähen Verhandlungen wurde der Entwurf des Hartz IV-Gesetzes schließlich im September 2003 im Bundestag vorgelegt. Jetzt mussten zwei zentrale Vetospieler, die Koalitionsparteien selbst und der Bundesrat, von dem Gesetzesentwurf überzeugt und zur Zustimmung bewegt werden.
Vor allem im linken Flügel der SPD standen viele Abgeordnete den Plänen ablehnend gegenüber. Die SPD musste zudem den Konflikt mit den Gewerkschaften, die den Entwurf heftig kritisierten, entschärfen. Erst nach langen Verhandlungen und einigen inhaltlichen Zugeständnissen passierte das Gesetz im Oktober 2003 den Bundestag. Als zustimmungspflichtiges Gesetz ging es dann in den Bundesrat, der es wie erwartet ablehnte. Im Vermittlungsausschuss wie auch in Gesprächen mit den Parteispitzen konnte Ende Dezember 2003 schließlich die Zustimmung erreicht werden. Diese Entstehungsgeschichte macht deutlich, welch großen Einfluss institutionelle Rahmenbedingungen und die Konstellation der beteiligten Akteure haben. Aus Sicht des Machtressourcenansatzes ist hier die Rolle der Gewerkschaften als Vertreter der Arbeiterklasse von Bedeutung. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass die SPD mit den Hartz-Reformen ihrer Stammwählerschaft viel zugemutet hatte. Sie musste seither bei vielen Landtags- und Bundestagswahlen große Stimmverluste hinnehmen. Außerdem hatte die Reform das traditionell enge Verhältnis der SPD zu den Gewerkschaften stark belastet.
Vermögenspolitik: Die große politische Leitlinie der Steuerentlastung der privaten Haushalte wurde auch in der Vermögenspolitik umgesetzt – wenngleich hier in einem deutlich schwächeren Maß als bei den Einkommen. Insgesamt wurden die vermögenswirksamen Leistungen der Arbeitgeber und die staatliche Sparförderung in den 2000er Jahren weiter ausgebaut. Zu kleineren Änderungen der vermögenspolitischen Instrumente, insbesondere bei der Besteuerung von Erbschaften, kam es im Zuge des Gesetzes zur Beschleunigung des Wirtschaftswachstums im Jahr 2009. In diesem Jahr wurde außerdem die Abgeltungssteuer eingeführt. Seitdem werden Kapitalerträge wie etwa Zinsen einheitlich mit 25 % besteuert. Ein umverteilender Impetus ist mit der Abgeltungssteuer nicht verbunden, da diese nicht progressiv angelegt ist. Kleinere Vermögen werden unterm Strich von dieser Steuer stärker belastet als große Vermögen
Private Vermögen sind weiterhin stark ungleich verteilt. Dabei hat die Vermögenskonzentration mit Beginn der 2000er Jahre etwas zugenommen. So stieg der Gini-Koeffizient der Vermögen, der 2002 bei 0,78 lag, bis 2007 auf 0,80. Aktuell zeichnet sich ein Rückgang ab: 2012 lag der Gini-Koeffizient wieder bei 0,78. Ob damit der Trend einer zunehmenden Vermögensungleichheit gestoppt ist, oder ob dies nur eine kurzfristige Auswirkung der Finanz- und Wirtschaftskrise ist, lässt sich nicht sagen. Zwei Aspekte verdienen in diesem Zusammenhang besondere Aufmerksamkeit. So besteht erstens auch mehr als 20 Jahre nach der Wiedervereinigung immer noch ein starkes Vermögensgefälle zwischen West- und Ostdeutschland: Im Jahr 2012 war das durchschnittliche Nettoprivatvermögen in Westdeutschland mehr als doppelt so hoch wie im Osten des Landes. Zweitens ist die Vermögensungleichheit in Deutschland so hoch wie in keinem anderem Land in der Eurozone. Hier zeigt sich, dass die vermögenspolitischen Umverteilungsmaßnahmen bislang nicht nachhaltig erfolgreich waren.
Abgeltungssteuer als Second Order Change: Der einzige Punkt, der in der Vermögenspolitik seit 1998 über inkrementellen Wandel hinausgeht, ist die Einführung der Abgeltungssteuer. Insofern, als eine neue Steuer eingeführt wurde, kann man dies als Second Order Change bewerten. Mit Blick auf die verteilungspolitischen Folgen, die sehr gering waren, da die nicht-progressive Abgeltungssteuer keine umverteilende Wirkung hat, scheint auch eine Einordnung als First Order Change gerechtfertigt. Die Einführung der Abgeltungssteuer lässt sich vor dem Hintergrund der Debatten um die Wiedereinführung der Vermögenssteuer erklären, die sich wie ein roter Faden durch die hier betrachteten Jahre zieht. Sowohl von der SPD wie auch von Grünen, Linken und den Gewerkschaften wurden immer wieder unterschiedliche Vorschläge einer Neuauflage der Vermögenssteuer diskutiert. Dennoch blieb unter Rot-Grün die Vermögenssteuer weiterhin ausgesetzt, da sich die SPD an ein Votum des Parteitags von 1999 gebunden fühlte, der sich gegen die Wiedereinführung ausgesprochen hatte. Eine Abschwächung fand die Debatte um die Vermögenssteuer schließlich mit der Einführung der Abgeltungssteuer. Dennoch trat die SPD bei der Bundestagswahl 2013 mit dem Ziel an, die Vermögenssteuer wieder zu erheben. In den Koalitionsverhandlungen konnte sich dann aber die CDU/CSU mit ihrer ablehnenden Haltung durchsetzen
Die erste große ökonomische Krise in der deutschen Nachkriegsgeschichte in den 1970er Jahren und die damit verbundene Verringerung des gesamtwirtschaftlichen Verteilungsspielraums haben erhebliche Auswirkungen auf die Verteilung materieller Ressourcen gehabt. Gleichzeitig haben sie auch zu einem Wandel innerhalb der Verteilungspolitik geführt. Es gilt nun abschließend zu bewerten, welches die großen Entwicklungslinien sind, die sich hier seit den 1970er Jahren feststellen lassen – aus verteilungspolitischer Perspektive wie auch im Hinblick auf die Entwicklung der Verteilung von Einkommen und Vermögen und der damit verbundenen Ungleichheit
Wachsende Ungleichverteilung der Einkommen seit den 1970ern: Mit Blick auf das Gefüge der Einkommens- und Vermögensverteilung hat die Wirtschaftskrise der 1970er Jahre zunächst einmal dazu geführt, dass es insgesamt weniger zu verteilen gab. Löhne und Gehälter stiegen nicht mehr im gewohnten Maß an und wurden zunehmend ungleicher verteilt. Diese Verschärfung der Ungleichverteilung der Markteinkommen ist der erste große Entwicklungstrend, der die hier untersuchten Jahrzehnte kennzeichnet. Die gestiegene Lohnungleichheit ist eine der Hauptursachen für die zunehmende Ungleichverteilung der verfügbaren Einkommen. Ein weiterer roter Faden, der eng mit der steigenden Ungleichheit verbunden ist, ist eine wachsende Polarisierung der Einkommensverteilung: Der Anteil der Reichen steigt, und sie werden tendenziell immer reicher, während gleichzeitig immer mehr Personen von Armut betroffen sind und sich Armut immer mehr verfestigt. Hinter der Zunahme der Armutsquoten stehen in erster Linie die sich ausbreitende Massenarbeitslosigkeit und die verfestigte Langzeitarbeitslosigkeit. Die Zunahme prekärer Beschäftigungsformen – unfreiwillige Teilzeitarbeit, befristete Beschäftigung oder Leiharbeit – sowie das starke Anwachsen des Niedriglohnsektors erhöhen den Problemdruck zusätzlich.
Gestiegene Anforderungen an Prävention und Bekämpfung von Armut: Zusammenfassend lassen sich diese Polarisierungsentwicklungen zum einen als ein Beleg dafür werten, dass das System der sozialen Sicherung – vor dem Hintergrund des gestiegenen Problemdrucks – zunehmend der Prävention und Bekämpfung von Armut nicht mehr gewachsen ist. Dies dürfte aber weniger am institutionellen Gefüge der sozialen Sicherung an sich liegen, als vor allem am stark gestiegenen Problemdruck. So spiegelt sich der Anstieg der Armut deutlich in einem Anstieg der Empfänger von Sozialhilfe bzw. ALG II wider. Immer mehr Personen in Deutschland sind auf das letzte soziale Netz angewiesen, um ihr soziokulturelles Existenzminimum zu sichern. Die zweite Implikation dieser Entwicklungen ist, dass es den sozialstaatlichen Arrangements zunehmend weniger gelingt, die Ungleichheit der verfügbaren Einkommen zu verringern.
Dies liegt aber nicht unbedingt daran, dass die (um-)verteilungspolitischen Instrumente per se unwirksamer werden. Vielmehr ist es so, dass die Ungleichverteilung der Markteinkommen so stark zugenommen hat, dass die klassischen Umverteilungsmaßnahmen hierfür als Ausgleich nicht mehr ausreichen. Hier wird deutlich, dass der klassische Weg der Umverteilungspolitik über Steuern und Transfers ergänzt werden muss um Maßnahmen, die bereits bei der Verteilung der Löhne und Gehälter ansetzen. Gleichzeitig wird offensichtlich, dass die steigende Ungleichheit und das wachsende Ausmaß an Armut nur nachhaltig durch eine Verringerung der Langzeitarbeitslosigkeit und den Ausbau regulärer, sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung gebremst werden können
Konsolidierungsmaßnahmen als „roter Faden“ der Verteilungspolitik: Welche Auswirkungen hatten diese Entwicklungen auf die Politik? Zunächst einmal gilt: Wo es weniger Ressourcen zu verteilen gibt, werden Verteilungskämpfe schärfer. Dies betrifft sowohl die Aushandlungsprozesse zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern als auch die Frage, an welchen Posten bei den Staatsausgaben in welchem Maß gespart wird. So ziehen sich Sparmaßnahmen bzw. Konsolidierungsbemühungen wie ein roter Faden durch die verteilungspolitischen Entscheidungen der letzten Jahrzehnte. Sie finden ihren Niederschlag in Kürzungen im Bereich sozialer Sicherung und in Verschärfungen der Zugangsbedingungen zur Grundsicherung. Blickt man auf den Policy-Wandel, der sich seit den 1970er Jahren in den vier Bereichen der Verteilungspolitik vollzogen hat, zeigt sich, dass es sich oft nur um inkrementellen Wandel handelt. Für die Lohn- und Tarifpolitik ist die Einführung des gesetzlichen Mindestlohns der zentrale Punkt, der über inkrementellen Wandel – etwa die zurückhaltende Lohnpolitik der Gewerkschaften – hinausgeht. Er lässt sich als Second Order Change im Hallschen Sinne bezeichnen (Hall 1993). Er mag vielleicht auch sogar eine paradigmatische Veränderung sein insoweit, als damit der Staat ganz entscheidend in die Tarifautonomie, einen der Grundpfeiler der industriellen Arbeitsbeziehungen in Deutschland, eingreift. Im Steuer- und Transfersystem gab es einige „große“ Steuerreformen, die aber aus verteilungspolitischer Sicht diesen Namen nicht verdient haben. Einzig die Einführung der „Reichensteuer“ ist hier noch ein Beispiel für eine etwas weitergehende Veränderung im Sinne der deutlichen Anhebung des Spitzensteuersatzes für sehr hohe Einkommen – sie geht aber auch nicht über First Order Change hinaus
Deutliche Veränderungen hingegen zeigen sich im System der Sozialhilfe. Die großen Linien lassen sich als Rückbau und damit verbunden als Schritte weg vom Anspruch der Lebensstandardsicherung hin zur Grundsicherung überschreiben. Ersteres ist zu einem großen Teil mit dem gestiegenen Problemdruck zu erklären – ein Hinweis auf eine Erklärung im Sinne des Ansatzes der sozio-ökonomischen Determination (vgl. Kap. 1.2.1). Der Rückbau und die Wende hin zur Grundsicherung lassen sich beim Asylbewerberleistungsgesetz (1993) und der Einführung der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung (2003) ablesen. Geradezu exemplarisch zeigen sich diese Trends dann bei der Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe im Zuge der Hartz IV-Reform (2005). Die auf Lebensstandardsicherung ausgerichtete Arbeitslosenhilfe wurde abgeschafft und in eine Grundsicherung überführt. Diese Reform erfüllt das Kriterium für Third Order Change – Neuordnung der politischen Instrumente und Maßnahmen im Zuge einer deutlichen Verschiebung von Policy-Zielen (vgl. Kap. 1.1). Die Hartz IV-Reform lässt sich ohne Zweifel als Paradigmenwechsel bezeichnen. Im Zuge dieser „pfadabweichenden Sozialpolitikentscheidung“ vollzog sich ein Bruch mit dem korporatistisch-konservativen Erbe des deutschen Wohlfahrtsstaates.
Im Bereich der Vermögenspolitik sind viele politische Neuerungen lediglich First Order Change. Die einzige größere Veränderung, ein Second Order Change, ist das Aussetzen der Vermögenssteuer. Dieser Wandel ist aber nicht auf ideelle, inhaltlich-programmatische Änderungen zurückzuführen, sondern auf institutionelle Rahmenbedingungen und entsprechende Akteurskonstellation und ist gleichzeitig ein gutes Beispiel dafür, dass auch eine Nicht-Entscheidung größeren Policy-Wandel auslösen kann. Fasst man all dies bilanzierend zusammen, so ergibt sich folgendes Bild: In zwei Feldern der Verteilungspolitik – Steuer- und Transferpolitik und Vermögenspolitik – vollzog sich in Deutschland seit Beginn der 1970er Jahre ein lediglich evolutiv-pfadabhängiger Wandel. Auch der Wandel der Lohn- und Tarifpolitik ist grundsätzlich zunächst einmal evolutiv-pfadabhängiger Natur. Je nach Sichtweise lässt sich aber die Einführung des flächendeckenden Mindestlohns als eine Form des transformativ-radikalen Wandels werten. Die Entwicklungen im Feld der Grundsicherung hingegen lassen sich eindeutig als transformativ-radikal charakterisieren. Dies gilt insbesondere für den Zeitraum ab 1998; Vorboten dieses Wandels zeigen sich aber schon seit Beginn der 1990er Jahre
e Arbeitsmarktpolitik gehört in der Bundesrepublik Deutschland zu den zentralen Politikfeldern. Sie umfasst alle Maßnahmen, die das Angebot und die Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt sowohl quantitativ, als auch qualitativ beeinflussen sollen. Wichtige Akteure in diesem Feld stellen der Bund und die Bundesländer, die Bundesagentur für Arbeit, die Kommunen, die Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände als Sozialpartner, aber auch Wohlfahrtsverbände dar. Generell unterscheidet man zwischen der aktiven und der passiven Arbeitsmarktpolitik: Passive Arbeitsmarktpolitik zielt auf die Überbrückung von Einkommensverlusten im Falle von Arbeitslosigkeit, während aktive Arbeitsmarktpolitik auf die Beseitigung von Ungleichgewichten am Arbeitsmarkt ausgerichtet ist. Arbeitsmarkpolitische Entscheidungen greifen deshalb nicht nur tief in die Lebenswirklichkeiten der Bürger ein, sondern können zugleich das Situation der Gesamtwirtschaft beeinflussen. Die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit, die Lohnentwicklung und Beschäftigungsbedingungen sind seit jeher zentrale Themenkomplexe innerhalb dieses Feldes. In den vergangenen Jahren haben sich die Herausforderungen für und Anforderungen an eine effektive und effiziente Arbeitsmarktpolitik angesichts verschiedener ökonomischer und gesellschaftlicher Trends allerdings verändert. Ziel dieses Kapitels ist es daher, sowohl die grundlegenden Funktionen des Politikfelds „Arbeitsmarkt“ zu erläutern, als auch die Politikinhalte und den Policy-Wandel seit Mitte der 1970er Jahre nachzuzeichnen und zu erklären.
Arbeitsmarkt:Der Arbeitsmarkt ist zentraler Dreh- und Angelpunkt zum Verständnis von Sozialpolitik in Deutschland. Denn für die meisten Menschen basieren Einkommen und alle davon abgeleiteten Ersatzleistungen auf Erwerbsarbeit. Die soziale Stellung jedes Einzelnen wird folglich direkt oder indirekt über seine Stellung im Arbeitsmarkt beeinflusst. Arbeit hat sogar Verfassungsrang und wird als Menschenrecht erachtet. Die UN-Menschenrechtskonvention formuliert in Artikel 23, dass jeder Mensch das Recht auf Arbeit, auf freie Berufswahl, auf angemessene und befriedigende Arbeitsbedingungen sowie auf Schutz gegen Arbeitslosigkeit hat. Im Grundgesetz heißt es in Artikel 12: „Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen.“ Auch in der DDR war Erwerbsarbeit eine zentrale Kategorie. In der Verfassung der DDR wurde in Artikel 24 jedoch nicht nur ein Recht auf Arbeit, sondern auch eine Arbeitspflicht festgelegt: „Das Recht auf Arbeit und die Pflicht zur Arbeit bilden eine Einheit“ (Art. 24 [2]), die sich praktisch durch eine fehlende Wahlfreiheit des Arbeitsplatzes und des Zwangseinsatzes in anderen Betrieben ausdrückte.
Historisch betrachtet unterscheidet sich die Erwerbsarbeit, die sich mit der Industrialisierung in den modernen Gesellschaften entwickelte, von vorangegangenen Formen der Arbeit (Kocka 2001). Hatte sich bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts Arbeit als allgemeiner Begriff im Gegensatz zu Spiel, Muße oder Nichtstun herausgebildet, so verengte sich dieser mit dem Beginn der Industrialisierung auf die Erwerbsarbeit. Denn erst mit der Loslösung der Arbeit aus anderen Kontexten, wie der feudalen Abhängigkeit oder der Subsistenzwirtschaft entstand die bezahlte Erwerbsarbeit als Gegenstand eines marktwirtschaftlichen Tauschvorgangs.
Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage: Nach dem neoklassischen Standardmodell handelt es sich demnach beim Arbeitsmarkt um einen typischen Wettbewerbsmarkt, bei dem Angebot und Nachfrage in Übereinstimmung gebracht werden müssen. Dies passiert über eine Anpassung der Löhne. Bei dem Arbeitsangebot handelt es sich – entgegen dem allgemeinen Sprachgebrauch – um die Beschäftigten, da sie ihre Arbeitskraft anbieten, die von den Unternehmen dann nachgefragt wird. Mit dem Begriff der Arbeitskraft differenzierte Karl Marx (1955: 175) in seiner Weiterentwicklung der neoklassischen Theorie zwischen der Arbeit an sich, mit der die eigentliche Arbeitsleistung gemeint ist, und der Arbeitskraft. Denn auf dem Markt angeboten wird nur die Fertigkeit, eine Arbeit zu verrichten, die Arbeitskraft, und nicht die Arbeitsleistung selbst. Dies begründet nach Marx den Warencharakter der Arbeitskraft (Kommodifizierung). Während der Kapitalist nämlich die Verfügungsgewalt über die Produktionsmittel besitzt, muss der Arbeiter die eigene Arbeitskraft als Ware am Markt anbieten, um die eigene Existenz zu sichern. In der ökonomischen Theorie orientiert man sich heute im Mainstream weiter am neoklassischen Modell, während gleichzeitig allgemein akzeptiert ist, dass das Arbeitsmarktgeschehen auch von Institutionen, wie Arbeitsmarktregulierungen, Arbeitnehmerverbänden und Gewerkschaften beeinflusst wird. In der Soziologie entwickelte sich darüber hinaus ein Verständnis, das die Bedeutung der Erwerbsarbeit als gesellschaftlichen Platzanweiser für die Individuen in den Fokus nahm. Demnach ist für eine funktionierende Gesellschaft nicht nur von Interesse, wie viele Menschen einen Arbeitsplatz innehaben und wie viele nicht, sondern auch, wer Arbeit bekommt und zu welchen Konditionen (Abraham/Hinz 2008: 12). Soziale Unterschiede und Ungleichheit entstehen folglich auch über die ungleiche Stellung im Arbeitsmarkt
Erwerbsarbeit und Reproduktionsarbeit: Mit der Entwicklung der Erwerbsarbeit begann auch die Rede vom Arbeitsplatz, da die Arbeit nun in Fabriken und Manufakturen stattfand und nicht mehr in der Sphäre des Hauses. Diese Dichotomisierung ging in der Nachkriegsära in Westdeutschland mit einer geschlechtlichen Arbeitsteilung einher. Dabei wurde der männliche Industriearbeiter zur institutionellen Norm erhoben und dauerhafte, kollektivvertraglich regulierte Beschäftigungsverhältnisse zur Grundlage der Systeme sozialer Sicherung (vgl. Kap. 2). Die damalige Politik folgte dem Leitbild der Alleinernährerfamilie und wurde flankiert von einer Lohnpolitik der Gewerkschaften, die darauf zielte, für die Beschäftigten einen Lohn auszuhandeln, von dem die gesamte Familie leben konnte. Dafür unterblieb der Ausbau einer Kleinkindbetreuung, wie sie sich in anderen Ländern Europas im Laufe der 1960er und 1970er Jahre entwickelte. Dieses auf Dauer angelegte und sozial gesicherte Beschäftigungsverhältnis wurde in der Literatur als Normalarbeitsverhältnis beschrieben.
Auch die Reproduktionsarbeit, also jene Tätigkeiten, die der Erhaltung und Schaffung der Arbeitskraft dienen, hatte sich arbeitsteilig entwickelt. Entweder wurden Teile der Reproduktionsarbeit an bezahlte Kräfte ausgelagert oder in der Familie auf unterschiedliche Köpfe verteilt. Somit entwickelte sich eine geschlechtliche Spaltung des Arbeitsmarktes, die die private Reproduktionsarbeit als Aufgabe der Frau ansah mit Folgen auch für die Arbeitsteilung im Arbeitsmarkt (Achatz 2008). Zwar hat sich die Arbeitsmarktbeteiligung von Frauen in den vergangenen Jahren in Deutschland deutlich erhöht, doch ist dies eine segregierte Integration, sowohl horizontal als auch vertikal. Frauen arbeiten heute in anderen Branchen und Tätigkeitsfeldern als Männer und erreichen seltener Führungspositionen. Etwa vier Fünftel aller erwerbstätigen Frauen sind in Dienstleistungsberufen tätig und dort überwiegend im Bereich der primären Dienstleistungen (z. B. Kassieren, Reinigen, Bewirten). In diesen Berufsgruppen dominieren vergleichsweise unsichere und saisonabhängige Beschäftigungsverhältnisse, was besondere Probleme bezüglich der sozialen Sicherung aufwirft. Aus dieser unterschiedlichen Stellung im Arbeitsmarkt und durch Diskriminierung resultiert ein Lohngefälle zwischen den Geschlechtern (in Deutschland verdienten Frauen im Jahr 2014 21,6 % weniger als Männer - zum Vergleich: in der EU-28 waren es 16,1 %). Frauen bilden somit einen Teil der „industriellen Reservearmee“ (Marx 1955: 674), da die kapitalistische Produktionsweise dazu führt, dass ein Teil der Arbeitsbevölkerung beständig in unbeschäftigte oder halbbeschäftigte Hände überführt würde. Aus diesem Grund ist auch Arbeitslosigkeit in der marxistischen Theorie beständiger Teil des kapitalistischen Akkumulationsprozesses.
Arbeitslosigkeit: Arbeitslosigkeit bildet gleichzeitig eine zentrale Bedrohung einer erwerbsarbeitszentrierten Gesellschaft. Denn sie hat individuell und gesellschaftlich fatale Folgen. Erstens minimiert Arbeitslosigkeit den gesamtgesellschaftlichen Wohlstand, bedroht zweitens den Zusammenhalt der Gesellschaft und hat drittens neben den materiellen auch psycho-soziale Folgen für das Individuum. Dabei kann der Einzelne nur in geringem Maße das Arbeitslosigkeitsrisiko beeinflussen. Da der Arbeitsmarkt abhängig von der Nachfrage auf den Gütermärkten ist, ist die Nachfrage nach Arbeitskräften abhängig von der gesamtwirtschaftlichen Lage. Auch wenn grundsätzlich gilt, dass mit steigendem Qualifikationsniveau die Betroffenheit von Arbeitslosigkeit sinkt, so führen zeitliche Verzögerungen bei der Anpassung des Arbeitsangebots an veränderte Qualifikationsbedarfe auch bei hohen Qualifikationen zu spezifischen Arbeitslosigkeitsrisiken. Der Lehrerarbeitsmarkt weist beispielsweise regelmäßig erhebliche Ungleichgewichte auf, die entweder zu einem Mangel oder einem Überschuss mit der Folge einer hohen Lehrerarbeitslosigkeit führen.
Arbeitslosigkeit wirkt sich dabei nicht nur auf die betroffenen Individuen negativ aus, sondern treibt die soziale Spaltung an. So wurde zur Hochphase der Arbeitslosigkeit in Deutschland in der Öffentlichkeit immer wieder das Bild der „Sozialschmarotzer“ verbreitet: 2005 trug ein Report des Arbeitsministeriums unter Minister Wolfgang Clement den Titel „Vorrang für die Anständigen – Gegen Missbrauch, „Abzocke“ und Selbstbedienung im Sozialstaat“ (BMAS 2005). Arbeitslosigkeit wirkt sich jedoch auch negativ auf die Fähigkeit der Interessendurchsetzung der Beschäftigten aus. Denn „[d]as Kräfteverhältnis zwischen Kapital und Arbeit verändert sich. Arbeitslosigkeit wirkt selbst noch auf die Arbeitsbedingungen der (noch) Erwerbstätigen zurück. Der Druck der „industriellen Reservearmee“ (Karl Marx) verschärft die Konkurrenz der abhängig Arbeitenden untereinander“
Arbeitslosigkeit hat im Kern drei Ursachen. Sie entsteht erstens wenn die Arbeitsnachfrage aufgrund konjunktureller Schwankungen der Wirtschaft zurückgeht. Arbeitslosigkeit kann zweitens das Ergebnis eines strukturell bedingten Mismatchs von Arbeitsangebot und -nachfrage sein. Beispielsweise, wenn die Merkmale des Arbeitsangebots, wie z. B. die Alters- und Geschlechtsstruktur, nicht mit den nachgefragten Bedarfen übereinstimmen, oder eine Differenz zwischen den angebotenen und nachgefragten Qualifikationen besteht. Drittens wird ein gewisser Anteil an Arbeitslosen, die sogenannte friktionelle Arbeitslosigkeit, als unvermeidlich erachtet. Sie resultiert unter anderem aus zeitlichen Verzögerungen bei Stellenwechseln. Auch saisonale Schwankungen, wie sie beispielsweise in der Bau- oder Tourismusbranche zu finden sind, werden als unvermeidlich erachtet. Theoretischer Streit besteht jedoch darüber, inwiefern Arbeitslosigkeit auch das Ergebnis von Regulierung ist.
Arbeitsmarktregulierung, Arbeitsmarktpolitik: Das regulierende Eingreifen des Staates in das Geschehen am Arbeitsmarkt wird allgemein als Arbeitsmarktpolitik bezeichnet. Die politische Regulierung berücksichtigt dabei zuvorderst, dass zwischen den Anbietern der Ware Arbeitskraft und den Nachfragern von Arbeit ein strukturelles Ungleichgewicht besteht. In der Phase des sozialstaatlichen Ausbaus nach dem Zweiten Weltkrieg (vgl. Kap. 3.2) zielte die arbeits- und sozialrechtliche Regulierung darauf, die Machtposition der Arbeiter zu stärken (Dekommodifizierung). In Deutschland geschah dies nicht allein über die sozialpolitische Regulierung, sondern auch über das Arbeitsrecht und die gesetzliche Fixierung der Mitbestimmung durch die Beschäftigten im Betrieb und Unternehmen (Betriebsverfassungsgesetz). Auch das Arbeitsrecht legte diverse Schutzrechte für die Beschäftigten fest, um Arbeit menschengerecht zu gestalten.
Seit den 1970er Jahren wurden dazu arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse als Grundlage für die gesetzliche Regulierung festgeschrieben. Aktuell zeigt die Auseinandersetzung um einen erweiterten Arbeitsschutz im Feld psychischer Belastungen, die insbesondere von den Gewerkschaften gefordert wird, dass auch die wissenschaftliche Evidenzorientierung nicht vor politischen Konfliktlagen schützt, da Arbeitgeber und Arbeitnehmer unterschiedliche Primärinteressen haben. Der Arbeitsschutz bezieht daher neben den allgemeinen Schutzmaßnahmen, die sich auf Leben und Gesundheit der Arbeitnehmer und den Erhalt ihrer Arbeitskraft beziehen, auch sozialen Schutz mit ein, worunter insbesondere Arbeitszeitregelungen und der Kündigungsschutz zu fassen sind.
Die Wirkung dieser arbeitspolitischen Eingriffe in den Arbeitsmarkt und die konkreten Arbeitsverhältnisse werden in der wissenschaftlichen Literatur unterschiedlich bewertet. In der orthodoxen Wirtschaftswissenschaft und bei vielen Arbeitgebern wird eine zu starke Regulierung als Gefahr erachtet, da sie die Ausgleichsprozesse am Markt behindere. Befürwortet werden die Eingriffe meist juristisch oder sozialpolitisch. Allerdings sprechen auch zahlreiche ökonomische Begründungen für eine Regulierung des Arbeitsmarktes. Denn diese institutionellen Rahmenbedingungen, die zu einem hohen Maß an kontinuierlicher und qualitativ hochwertiger Beschäftigung führten, kennzeichneten das deutsche Beschäftigungssystem schutz) als auch die Arbeitslosenversicherung selbst zur Entstehung von Arbeitslosigkeit, da sich Angebot und Nachfrage nicht ungehemmt finden können. Die OECD wie auch der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung haben in diversen Publikationen einen Abbau der Regulierungen gefordert
Die Erfahrung mit einer anhaltend hohen Massenarbeitslosigkeit seit Mitte der 1980er Jahre und einer Arbeitslosenquote deutlich über 10 % in dem Jahrzehnt nach der Wiedervereinigung haben zudem die Diskussion über die Zukunft der Erwerbsarbeit insgesamt befeuert. Bereits in den 1950er Jahren hatte Hannah Arendt (1985) gemutmaßt, dass der Arbeitsgesellschaft die Arbeit ausgehe – jedoch ohne eine damit verbundene Debatte anzustoßen. Erst als Ralf Dahrendorf 1980 (1980/1983) an Arendts These anschloss, entspann sich in der Fachöffentlichkeit eine angeregte Debatte. Die Deutsche Gesellschaft für Soziologie griff dies 1982 beim Soziologentag in Bamberg unter dem Motto „Krise der Arbeitsgesellschaft“ auf. Gleichzeitig entschied und entscheidet der Stand der Arbeitslosigkeit über Wahlerfolge und -verluste von Regierungen. Denn das Erreichen von Vollbeschäftigung bildet nach wie vor die implizite Norm. Heute flammt die Debatte um das „Ende der Arbeit“ (Rifkin 1995) im Kontext der Debatte um die Digitalisierung von Produktion und Dienstleistungen erneut auf. Auch der französische Sozialphilosoph André Gorz (1983) sah in der „mikroelektronischen Revolution“ den „Tod der Arbeitsgesellschaft“. Für ihn bedeutet dies jedoch eher Chance als Risiko, denn nun sei es möglich, den Menschen vom Zwang der Erwerbsarbeit zu befreien. Letztendlich ist zwar noch relativ offen, wie groß die Beschäftigungseffekte aufgrund des technologischen Wandels tatsächlich ausfallen werden – wahrscheinlich ist jedoch, dass sich die Beschäftigten einem durch zunehmende Automatisierung veränderten Aufgabenspektrum langfristig anpassen müssen
Zur Arbeitsmarktpolitik im engen Sinne zählen dabei alle Maßnahmen, die auf das Vermeiden oder Beenden von Arbeitslosigkeit zielen. Ihr Gegenstand ist daher die Verbesserung des Ausgleichs von Arbeitsangebot und Arbeitsnachfrage. Anders als in regulären Warenmärkten ergibt sich der Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage nach Arbeit und damit die gesamtwirtschaftliche Stabilität in einem Arbeitsmarkt nämlich nicht aus einem marktlich koordinierten freien Ausgleich zwischen beiden Seiten. Vielmehr entsteht ein Gleichgewicht auf der Grundlage einer komplexen Funktion des Zusammenwirkens verschiedener arbeitsmarktpolitischer Institutionen und der Güternachfrage (Schmid 1987). Dabei werden unterschiedliche Funktionen und Wirkungszusammenhänge der Arbeitsmarktpolitik genutzt. Im Folgenden werden diese in drei Funktionskontexte zusammengefasst: (1) die gesamtgesellschaftliche Wirkung als ökonomischer Stabilisator, (2) die eng auf den Arbeitsmarkt bezogene Verbesserung der Passförmigkeit von Arbeitsangebot und -nachfrage und (3) die auf die Beschäftigten orientierte sozialpolitische Funktion.
Ökonomische Stabilisierung:
Die Leistungen und Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik wirken stabilisierend auf Produktion und Konsum in einer Volkswirtschaft. Dies gilt insbesondere im Falle einer Verschlechterung der Konjunktur und einer sinkenden Nachfrage auf den Gütermärkten. Denn bei steigender Arbeitslosigkeit und dem damit verbundenen Ausfall von Erwerbseinkommen stellt das Arbeitslosengeld (ALG) einen Lohnersatz dar. Ein starkes Absinken des Lebensstandards sowie Einkommens- und Konsumausfälle können teilweise kompensiert werden. Damit kann in einer Volkswirtschaft in Zeiten schlechter Konjunktur die Nachfrage, zumindest nach Konsumgütern, zwar nicht konstant gehalten, jedoch vor einem dramatischen Einbruch geschützt werden. Da Haushaltseinkommen und Nachfrage der Privathaushalte auf dem Konsumgütermarkt eine zentrale Komponente einer Volkswirtschaft darstellen, wirkt das Arbeitslosengeld als automatischer Stabilisator. Die Erfahrungen in der jüngst vergangenen „Großen Rezession“ belegen erneut die wichtige Rolle, die Arbeitsmarktpolitik als Mittel der antizyklischen Steuerung einnimmt. Neben dem Arbeitslosengeld spielte die Beschäftigungssicherung, d. h. das Vermeiden des Eintretens der Arbeitslosigkeit, durch das Kurzarbeitergeld (KUG) und die Förderung von Weiterbildung eine entscheidende Rolle (Bogedan 2010). Auch die Schaffung einer künstlichen Nachfrage durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen kann hier dazu gezählt werden
Daneben wirkt die Arbeitsmarktpolitik ökonomisch stabilisierend, da sie eine Garantie für ein bestimmtes Niveau der Qualität und Quantität des verfügbaren Arbeitskräftepotentials und somit einen verlässlichen Handlungsrahmen für die Arbeitsmarktakteure – für die Unternehmen ebenso wie für die Beschäftigten und ihre Vertretungen – schafft. Sie bestimmt einerseits den ‚Preis’ und die Qualität und damit die Produktivität und Nachfrage nach Arbeitskräften durch die angrenzenden Elemente des institutionellen Beschäftigungssystems wie die Lohnfindung, die arbeitsrechtliche Regulierung und indirekt auch durch die vorgelagerten Systeme der beruflichen Ausbildung. Andererseits wirkt die Arbeitsmarktpolitik unmittelbar durch Maßnahmen der Fortbildung und Umschulung, der vorausschauenden Beobachtung des und Information über das Arbeitsmarktgeschehen sowie die Beratung von Arbeitgebern und die Vermittlung von Beschäftigten. Gleichzeitig wird über die Arbeitsmarktpolitik damit auch der Druck auf bestehende Lohn- und Tarifstandards reduziert.
Erhöhung der Passförmigkeit von Angebot- und Nachfrageseite
Qualifikatorische Anpassung des Arbeitsangebot: Da es sich beim Arbeitsmarkt um keinen idealtypischen Markt handelt, in dem sich Angebot und Nachfrage durch eine ‚unsichtbare Hand’ des Marktes automatisch ausgleichen (Schmid 1987), ist es Aufgabe der Arbeitsmarktpolitik auf den Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage nach Arbeit hinzuwirken. Die Erwartung besteht somit einerseits in der Vermeidung von Überschussnachfrage und Überschussangebot von Arbeit und andererseits in der Verbesserung der qualitativen Passförmigkeit zwischen Angebot und Nachfrage (Matching-Effizienz) durch die arbeitsmarktpolitischen Instrumente. Angesichts des strukturellen Wandels der Industrieproduktion durch die wachsende Bedeutung von Dienstleistungsarbeit und die technologischen Entwicklungen, veränderten sich die nachgefragten Arbeitsqualifikationen. Dadurch gewann diese Funktion in den 1960er Jahren an Bedeutung, so dass die aktive Arbeitsmarktpolitik auf die Verringerung und Vermeidung von strukturellen Arbeitsmarktungleichgewichten auf Teilarbeitsmärkten ausgerichtet wurde. Folglich lag ein erster Schwerpunkt arbeitsmarktpolitischer Aktivitäten in der Anfangszeit bei der Qualifizierung und Weiterbildung von Arbeitskräften. Neben der Fort- und Weiterbildung bediente sie sich außerdem der Instrumente der Arbeitsvermittlung und -beratung sowie der Mobilitätshilfen, um eine höhere Anpassungsfähigkeit und räumliche wie sektorale Mobilität und schließlich eine verbesserte Leistungsfähigkeit der Arbeitsmärkte zu erreichen. Eine Fortsetzung findet dieser Gedanke in der Formulierung von Zumutbarkeitskriterien, die den Arbeitslosen eine Pflicht zur beruflichen und regionalen Mobilität auferlegt. Vor allem in dieser Perspektive wirkte die Arbeitsmarktpolitik als mikroökonomische Ergänzung zur Wirtschafts-, Struktur- und Sozialpolitik.
Da es sich beim Arbeitsmarkt um keinen idealtypischen Markt handelt, in dem sich Angebot und Nachfrage durch eine ‚unsichtbare Hand’ des Marktes automatisch ausgleichen (Schmid 1987), ist es Aufgabe der Arbeitsmarktpolitik auf den Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage nach Arbeit hinzuwirken. Die Erwartung besteht somit einerseits in der Vermeidung von Überschussnachfrage und Überschussangebot von Arbeit und andererseits in der Verbesserung der qualitativen Passförmigkeit zwischen Angebot und Nachfrage (Matching-Effizienz) durch die arbeitsmarktpolitischen Instrumente. Angesichts des strukturellen Wandels der Industrieproduktion durch die wachsende Bedeutung von Dienstleistungsarbeit und die technologischen Entwicklungen, veränderten sich die nachgefragten Arbeitsqualifikationen. Dadurch gewann diese Funktion in den 1960er Jahren an Bedeutung, so dass die aktive Arbeitsmarktpolitik auf die Verringerung und Vermeidung von strukturellen Arbeitsmarktungleichgewichten auf Teilarbeitsmärkten ausgerichtet wurde. Folglich lag ein erster Schwerpunkt arbeitsmarktpolitischer Aktivitäten in der Anfangszeit bei der Qualifizierung und Weiterbildung von Arbeitskräften. Neben der Fort- und Weiterbildung bediente sie sich außerdem der Instrumente der Arbeitsvermittlung und -beratung sowie der Mobilitätshilfen, um eine höhere Anpassungsfähigkeit und räumliche wie sektorale Mobilität und schließlich eine verbesserte Leistungsfähigkeit der Arbeitsmärkte zu erreichen. Eine Fortsetzung findet dieser Gedanke in der Formulierung von Zumutbarkeitskriterien, die den Arbeitslosen eine Pflicht zur beruflichen und regionalen Mobilität auferlegt. Vor allem in dieser Perspektive wirkte die Arbeitsmarktpolitik als mikroökonomische Ergänzung zur Wirtschafts-, Struktur- und Sozialpolitik.
Qualifikationsschutz des Arbeitsangebots: Folgerichtig war daher, dass die Vermeidung „unterwertiger Beschäftigung“ schon 1969 als Handlungsziel in das Arbeitsförderungsgesetz aufgenommen wurde. Nachdem die Minderung unterwertiger Beschäftigung zwischenzeitlich aufgegeben worden war, ist heute wieder als Ziel die Minderung unterwertiger Beschäftigung im Sozialgesetzbuch (SGB) III festgelegt. Eine Reihe von Instrumenten der aktiven Arbeitsmarktpolitik unterstützt daher die individuelle Entscheidung für Humankapitalinvestitionen, also z. B. für die Teilnahme an Weiterbildungsmaßnahmen. Das Arbeitslosengeld fungiert quasi als „Subvention“ für Arbeitssuchende, da es die materielle Absicherung einer längeren Suchphase auf dem Arbeitsmarkt ermöglicht. Es trägt damit zu einer Verbesserung der Matching-Effizienz bei, da somit nicht das erstbeste, womöglich qualifikationsinadäquate Stellenangebot akzeptiert werden muss. Es reduziert somit den Druck des Einzelnen, die eigene Arbeitskraft unter jedweden Bedingungen am Markt verkaufen zu müssen (Dekommodifizierung).
Das Arbeitslosengeld bietet in der Suchphase bei Arbeitslosigkeit einen Puffer und ermöglicht damit erst für die Beschäftigten die notwendige Mobilität und Flexibilität. Infolgedessen ist eine höhere Passgenauigkeit (Matching) zwischen Arbeitskräfteangebot und Arbeitskräftenachfrage zu erwarten. Empirische Untersuchungen konnten belegen, dass die qualifikatorische Passförmigkeit zwischen dem Angebot an und der Nachfrage von Arbeit durch ein in Dauer und Höhe großzügiges Arbeitslosengeld gefördert wird (Gangl 2004). Denn die Zahlung eines ausreichenden Arbeitslosengeldes vermindert unterwertige Beschäftigung und schützt erworbene Qualifikationen, indem sie die Eigenverantwortlichkeit stärkt und die Arbeitskräfte zur Investition in berufliche Ausbildung ermuntert. Gleichzeitig unterstützen finanzielle Hilfen bei Weiterbildungs- und Berufsentscheidungen sowie Mobilitätshilfen eine für den Arbeitsmarkt förderliche Risikobereitschaft der Arbeitnehmer. Statt in Situationen, in denen potentiell der eigene Arbeitsplatz bedroht ist, im Status-quo zu verharren, unterstützt die Arbeitsmarktpolitik die Umorientierung. Dies ist insbesondere in Zeiten wechselhafter wirtschaftlicher und struktureller Rahmenbedingungen von Bedeutung. Erst recht in heutiger Zeit wird das Anwachsen der Nachfrage nach qualifizierten Arbeitskräften mit Hoch- oder Fachhochschulstudium diagnostiziert, während für Arbeitskräfte mit abgeschlossener Berufsausbildung oder ohne Ausbildung zukünftig ein Rückgang in der Nachfrage erwartet wird (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2008).
Dabei unterstützen die Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung bzw. Fortbildung und Umschulung die Entwicklung von beruflichen Qualifikationen, so dass es naheliegend erschien, im Zuge einer aktivierenden und investiven Strategie die Elemente der „Förderung“ auszubauen. Der mit den jüngeren Reformen verfolgte Vorrang der Vermittlung vor der Qualifizierung entfaltet im Zusammenspiel mit den verschärften Zumutbarkeitskriterien faktisch einen erheblichen Druck auf Arbeitslose und Beschäftigte, die die oben beschriebenen Funktionsweise teilweise konterkarieren.
Arbeitsmarktpolitik als Sozialpolitik:
Einkommenssicherung und Risikoumverteilung: Faktisch hat die Schaffung von Erwartungssicherheit und ökonomischer Stabilität neben der ökonomischen auch immer eine sozialpolitische Komponente. So beinhaltet die Arbeitsmarktpolitik implizit ein bestimmtes Sicherungsniveau und ein Unterstützungsversprechen für die Beschäftigten, unterstützt benachteiligte Gruppen besonders und bietet ganz generell Erwartungssicherheit im Falle des Eintretens des Risikos der Arbeitslosigkeit. Die beitragsfinanzierte Arbeitslosenversicherung führt dazu, dass unterschiedlich verteilte Arbeitslosigkeitsrisiken von allen Versicherten getragen werden. Dieser Ausgleich zwischen Beschäftigtengruppen mit hohem und niedrigem Arbeitslosigkeitsrisiko erfüllt die für die Sozialpolitik zentrale verteilungspolitische Funktion.
Regionaler Lastenausgleich: Diese Eigenschaft der Arbeitsmarktpolitik ist Ausdruck des Sozialstaatsgebots im Art. 20 Abs. 1 GG, das das staatliche Handeln normativ bindet und den Staat zum Schutz Hilfebedürftiger, der Gewährleistung eines Existenzminimums und allgemein zur Herstellung sozialer Gerechtigkeit verpflichtet. Die Arbeitsmarktpolitik sorgt damit auch für den Ausgleich regionaler Ungleichheiten, da die Arbeitslosenversicherung bundesweit organisiert ist und damit jene Regionen, die durch Strukturwandel u. ä. stärker von Arbeitslosigkeit betroffen sind, von einer unverhältnismäßig hohen Belastung befreit. Damit erfüllt die Arbeitsmarktpolitik nicht nur eine interpersonelle Umverteilung, sondern auch eine bundesweite interregionale Ausgleichsfunktion
Beschränkungen der sozialpolitischen Funktion: Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass arbeitsmarktpolitische Funktionen neben der marktfördernden auch eine marktkorrigierende Komponente umfassen, die „für alle Arbeitsfähigen und Arbeitswilligen eine möglichst ununterbrochene, ihren Neigungen und Fähigkeiten entsprechende Beschäftigung zu bestmöglichen Bedingungen“ (Lampert 1997: 431) sichern soll. Auf welche Weise dieses Ziel erreicht werden soll, unterliegt jedoch politischen Aushandlungsprozessen. Zwar sind die Lohnersatzleistungen bei Arbeitslosigkeit hochgradig akzeptiert und werden prinzipiell als Teil des Gesellschaftsvertrags verstanden, doch stehen Höhe und Dauer der Leistungen immer wieder in der politischen Auseinandersetzung. In diesem Spannungsfeld bewegt sich folglich auch die offizielle Evaluierung der jüngsten Arbeitsmarktpolitik, aber auch die Frage nach Leistungsindikatoren in der generellen Arbeitsmarktforschung. Diese werden mit Blick auf ihre Effektivität (Wirkungsgrad) und Effizienz (Kosten gemessen an den Wirkungen) bewertet. Dabei ist der sozialpolitische Aspekt, d. h. die Bereitstellung eines Sicherungsnetzes für die Teilnehmenden, nur soweit legitimierbar, als die Wirkungen des Instrumenteneinsatzes gleichzeitig dem Ziel des Erhalts und der Steigerung von Beschäftigungsfähigkeit dienen.
Arbeitsmarktpolitik zielt, wie zuvor dargelegt, auf die Funktionsfähigkeit der Arbeitsmärkte im Sinne einer hohen Beschäftigung. Ihre Leistungsfähigkeit bemisst sich daher primär an der Beschäftigungsentwicklung und der Arbeitslosigkeit. Neben diesem quantitativen Aspekt von Arbeitsmarktpolitik zielen weitere Maßnahmen der Arbeitsmarktregulation auf die Qualität der Beschäftigungsverhältnisse. So ist gesetzlich bestimmt, dass die Leistungen der Arbeitsförderung unterwertiger Beschäftigung entgegenwirken sollen (SGB III § 1 Abs. 2 Ziffer 3), d. h. die ausgeübte Beschäftigung nach Möglichkeit dem Ausbildungs- und Qualifikationsniveau entsprechen sollte. Weitere Gesetze regeln den Gesundheitsschutz und Arbeitszeiten oder legen Lohnuntergrenzen fest. Anhand statistischer Daten und empirischer Forschung wird die Zielerreichung der quantitativen und qualitativen Arbeitsmarktpolitik regelmäßig beobachtet und von der Gesetzgebung überprüft. Daneben spielen Evaluationen zur Überprüfung der Wirksamkeit von einzelnen arbeitsmarktpolitischen Instrumenten eine wichtige Rolle in der Frage der Leistungsfähigkeit der Arbeitsmarktpolitik. Die Evaluationsforschung hat sich seit der Jahrtausendwende als unverzichtbares Element etabliert. Erstmals wurde 2002 mit dem Job-AQTIV-Gesetz die Wirkungsforschung zur Arbeitsmarktpolitik gesetzlich als Dauerauftrag der damaligen Bundesanstalt und heutige Bundesagentur für Arbeit verankert. Mit der Einführung der Grundsicherung für Arbeitssuchende wurde dieser gesetzliche Auftrag auf das SGB II ausgedehnt
Um zu erfassen, wer in Arbeit und wer ohne Arbeit ist, werden üblicherweise verschiedene Personengruppen unterschieden. Diese Daten basieren teilweise auf den sogenannten Prozessdaten der Bundesagentur für Arbeit (BA), da sie aus der Verwaltungstätigkeit erwachsen und nicht eigens für den Forschungsprozess erhoben werden. Andere Informationen beruhen auf Befragungsdaten der Statistischen Ämter. Sie orientieren sich am Labour-Force-Konzept der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO), um eine internationale Vergleichbarkeit der Daten zu erzielen.
Die Personen im erwerbsfähigen Alter von 15 bis unter 65 Jahren bilden die größte Gruppe. Sie ist beispielsweise Referenzgröße für die Berechnung der Beschäftigungsquote im Rahmen der Beschäftigungsstatistik. Sie weist den Anteil der Beschäftigten von 15 bis unter 65 Jahren, d. h. jene, die ein sozialversicherungspflichtiges und geringfügiges Beschäftigungsverhältnis haben, an der gleichaltrigen Bevölkerung aus. Sie bilden eine für die politische Steuerung relevante Untergruppe der Erwerbstätigen. Als erwerbstätig wird – gemäß des Labour-Force-Konzepts der ILO – jede Person ab 15 Jahren gezählt, die in einem einwöchigen Berichtszeitraum mindestens eine Stunde gegen Entgelt oder im Rahmen einer selbstständigen oder mithelfenden Tätigkeit gearbeitet hat. Auch wer sich in einem Beschäftigungsverhältnis befindet, das er im Berichtszeitraum vorübergehend nicht ausgeübt hat oder in einem Familienbetrieb mitgeholfen hat, gilt als erwerbstätig. Nimmt man zu den Erwerbstätigen noch die Erwerbslosen hinzu, spricht man von Erwerbspersonen. Das sind alle, die dem Arbeitsmarkt grundsätzlich zur Verfügung stehen. Die verbleibende Gruppe, die nach diesem Konzept weder erwerbstätig ist noch ihre Arbeit auf dem Arbeitsmarkt anbietet, wird Nichterwerbspersonen genannt.
Zusammensetzung der Erwerbspersonen und - tätigengruppe, Erwerbslosigkeit und Arbeitslosigkeit: Während im umgangssprachlichen Gebrauch nur zwischen „in Arbeit“ und „arbeitslos“ unterschieden wird, versuchen die BA wie auch das ILO-Konzept ein genaueres Bild der Personen ohne Erwerbsarbeit zu zeichnen. In einer auf Vollbeschäftigung zielenden Volkswirtschaft gilt es, diese ungenutzten Arbeitskräftepotentiale zu erschließen. Aus diesem Grund werden auch Erwerbstätige, die mehr arbeiten möchten, als Unterbeschäftigte erfasst. Bei den Nichterwerbspersonen unterscheidet das ILO-Konzept zwischen jenen ohne und mit Erwerbswunsch. Letztere werden in dieser Konzeption zur „Stillen Reserve“ gezählt. In der Statistik der BA werden zur Stillen Reserve lediglich die registrierten Arbeitslosen und Teilnehmer an Maßnahmen der Arbeitsmarktpolitik gezählt
Arbeitslose: Im statistisch engen Sinne als arbeitslos werden dagegen nur jene Personen gezählt, die als solche amtlich registriert sind und sozialgesetzlichen Vorgaben entsprechen. Die Zahl der Arbeitslosen kann so durch Änderungen im Sozialgesetzbuch (SGB) beeinflusst werden, wie Anfang 2005 durch die Einführung des Hartz IV-Gesetzes geschehen; das Gesetz führte zu einem sprunghaften Anstieg der Arbeitslosen in der Statistik (Abb. 5.2). Registrierte Arbeitslose, die an Maßnahmen aktiver Arbeitsmarktpolitik teilnehmen, werden allerdings in der Statistik nicht als Arbeitslose gezählt. Auch Arbeitslose, die sich nicht bei einer Arbeitsagentur melden, werden in der Statistik nicht gezählt, so dass das tatsächliche Ausmaß der Arbeitslosigkeit verzerrt wiedergegeben wird. Denn während einerseits arbeitslose Personen in der Statistik nicht gezählt werden, werden andere seits arbeitende Personen als Arbeitslose gezählt. Denn registrierte Arbeitslose dürfen bis zu 15 Stunden pro Woche arbeiten, ohne ihren Status zu verlieren. Als erwerbslos laut ILO-Konzept gilt daher jede Person im Alter von 15 bis 74 Jahren, die im Berichtszeitraum nicht erwerbstätig war und in den letzten vier Wochen vor der Befragung aktiv nach einer Tätigkeit gesucht hat.
Evaluationen: Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik produzieren zum Teil erhebliche zusätzliche Kosten. Angesichts knapper öffentlicher Mittel muss der Mitteleinsatz mit der Wirksamkeit der Maßnahmen zu begründen sein: Gelingt es, die Beschäftigungschancen der Arbeitslosen zu verbessern? Die Mittel der einfachen Statistik sind zur Bewertung dieser Frage allein nicht ausreichend. So ist beispielsweise eine hohe Übergangsquote von Teilnehmern an einer Weiterbildungsmaßnahme in Erwerbstätigkeit während oder nach Beendigung dieser Maßnahme per se noch kein Erfolg. Denn es könnte sein, dass sie auch ohne Maßnahme eine Beschäftigung gefunden hätten. Die Frage ist also, womit die Übergangsrate verglichen werden kann
Methodische Voraussetzungen und Beschränkungen: Deshalb ist es im Rahmen der arbeitsmarktpolitischen Evaluationen seit mehreren Jahren Standard, einen multidisziplinären Ansatz zu wählen. Dabei werden spezifische Methoden der qualitativen empirischen Wirtschafts- und Sozialforschung (wie z. B. Implementationsanalysen) mit umfangreichen deskriptiven Auswertungen sowie ökonometrischen Analysen (zur Aufdeckung kausaler Zusammenhänge) kombiniert. Eine verbesserte Datenlage und bessere Rechnerkapazitäten haben dazu geführt, dass seit der Jahrtausendwende Evaluationen selbstverständlicher Bestandteil arbeitsmarktpolitischer Programme sind. Gleichwohl darf die Aussagekraft der Analysen nicht überschätzt werden.
Denn auch bei umfassenden statistischen Analysen bleiben Einschränkungen, die (Nicht-)Verfügbarkeit von Informationen/Daten, nicht auszuschließende Wechselwirkungen mit zeitgleichen anderen Maßnahmen/Effekten und die Unmöglichkeit, eine echte Vergleichssituation zu schaffen. Hilfsweise werden daher entweder Teilnehmer und Nicht-Teilnehmer einer Maßnahme mit ansonsten ähnlichen Eigenschaften verglichen oder es werden aufgrund statistischer Informationen Personen „gematcht“, also passend ausgewählt, die sich hinsichtlich ihrer Teilnahme an der Maßnahme unterscheiden. Dabei kann jedoch nicht kontrolliert werden, ob die Unterschiede tatsächlich auf die Maßnahmenteilnahme zurückzuführen ist. Es wäre beispielsweise denkbar, dass ein Arbeitsloser, der nicht an einer Maßnahme teilnimmt, mehr Zeit hat, um den Stellenmarkt zu sichten und Bewerbungen zu schreiben. Diese Aktivitäten werden jedoch statistisch nicht erfasst. Es ist allerdings plausibel anzunehmen, dass auch sie einen Einfluss auf die Übergangswahrscheinlichkeit, d.h. die Aufnahme einer neuen Erwerbstätigkeit haben.
Diese Beschränkungen müssen sowohl bei der Analyse als auch der Interpretation der Ergebnisse von Arbeitsmarktevaluationen berücksichtigt werden. Dazu gehört, dass die Forschenden selbst ihre Ergebnisse einer Gegenprüfung unterziehen und hinterfragen, ob sie mit anderen Annahmen und Modellierungen zu Ergebnissen kommen, die in Richtung und Größenordnung übereinstimmen. Für den Gesetzgeber und die allgemeine Öffentlichkeit muss offengelegt werden, dass die Ergebnisse keine Wahrheiten darstellen. Gleichzeitig ist zu hinterfragen, ob die Engführung des Erfolgs auf die Steigerung der Beschäftigungschancen den oben skizzierten umfänglicheren Funktionen der Arbeitsmarktpolitik gerecht wird
Anfänge der Arbeitslosen-versicherung: Die Arbeitslosenversicherung wurde 1927 durch das Gesetz über Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung (AVAG) etabliert und damit deutlich später als die Renten-, Kranken- und Unfallversicherung (vgl. Kap. 3.1). Sie ersetzte und systematisierte die bis dahin bestehenden (kommunalen) Fürsorgeleistungen für Arbeitslose in der Sozialversicherung. Dabei folgte sie den in den anderen Sicherungszweigen angelegten Strukturprinzipien der Arbeitnehmerzentrierung und Selbstverwaltung (vgl. Kap. 2.4). Die Verantwortung für die Arbeitslosenversicherung wurde daher zusammen mit der Arbeitsvermittlung in die Hände der Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung übertragen. Denn die Frage, ob das Risiko Arbeitslosigkeit überhaupt durch eine Versicherung abzusichern sei, war in höchstem Maß umstritten
Die Debatten der damaligen Frühzeit der Sozialversicherung sind bis heute relevant. Denn anders als in der Kranken- oder Rentenversicherung ist das Risiko Arbeitslosigkeit deutlich stärker durch das eigene Verhalten beeinflussbar. Aus diesem Grund spielen Regulierungen, die die Pflichten der Leistungsempfangenden definieren, in der Arbeitslosenversicherung eine besonders zentrale Rolle. Diese Reziprozitätsnormen bestimmen grundsätzlich in jedem Leistungssystem Pflichten der Leistungsempfangenden zur Vermeidung, Reduzierung oder Beendigung der Hilfebedürftigkeit. In der Arbeitslosenversicherung wird diese Reziprozität hergestellt über die Definition der Arbeitslosigkeit, der Arbeitslosmeldung, der Verfügbarkeit, der Zumutbarkeit und der Sanktionsregelungen
Aufgrund des strukturellen Machtungleichgewichts von Arbeitgebern und - nehmern hatten die Gewerkschaften bereits vor der Gründung der Arbeitslosenversicherung Arbeitslosenkassen gegründet, um die Arbeiter im Falle der Arbeitslosigkeit zu unterstützen. Auch andere Formen der Selbstorganisation hatten sich bereits früh zur Stellenvermittlung gebildet. Bürgerliche Wohlfahrtsvereine und städtische Verwaltungen organisierten diese sogenannten Arbeitsnachweise. Insgesamt jedoch unterstützten die deutschen Gewerkschaften ebenso wie die Arbeitgeber relativ früh – im Vergleich mit anderen Industrieländern – die Einrichtung einer zentralstaatlichen Arbeitslosenversicherung. Noch vor der Gründung der landesweiten Arbeitslosenversicherung wurde daher den Arbeitnehmer- und Arbeitgebervertretern 1922 in den kommunalen Arbeitsnachweisbüros ein Beteiligungsrecht eröffnet, ehe dann 1927 mit der Arbeitslosenversicherung drittelparitätische Selbstverwaltungsorgane geschaffen wurden. Reich, Länder und Gemeinden waren lediglich in Fragen der Arbeitsvermittlung stimmberechtigt, da sie zu den Kosten der Arbeitslosenversicherung nichts beitrugen
Die Nationalsozialisten zerschlugen die Selbstverwaltung. Dieses Prinzip wurde jedoch nach dem Zweiten Weltkrieg von den Alliierten schnell wieder belebt; sie richteten 1946 Arbeitsausschüsse bei Arbeitsämtern und Landesarbeitsämtern ein. Noch vor Einrichtung der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung verständigten sich die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) und der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) Anfang 1950 auf gemeinsame Grundsätze zur paritätischen Selbstverwaltung. Gegen ihren Willen wurde jedoch auf Vorschlag der Länder die Drittelparität auf allen Ebenen verankert. Für die Versorgung der Arbeitslosen sind die entscheidenden Wegmarken in dieser Expansionsphase die Errichtung einer Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung zum 1. Mai 1952, die Einsetzung der bundeseinheitlichen Arbeitslosenhilfe (ALHi) zum 16. April 1956 sowie die Einführung des Arbeitsförderungsgesetz (AFG) zum 1. Juli 1969, das erstmals eine aktive und präventive Arbeitsmarktpolitik etablierte. Zugleich wurde die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung in Bundesanstalt für Arbeit umbenannt
Arbeitsmarktpolitik als Teil der Beschäftigungspolitk: Das 1969 eingeführte Arbeitsförderungsgesetz (AFG) sollte die bundesdeutsche Arbeitsmarktpolitik grundlegend neu ordnen. Mit ihm wurde erstmals systematisch eine aktive Arbeitsmarktpolitik (AAMP) etabliert. Verstanden als Teil der Wirtschafts- und Sozialpolitik wurde mit dem AFG die Idee eines vorbeugenden Schutzes im Gegensatz zum eher nachsorgend konzipierten Versicherungsgedanken implementiert. Unter dem Eindruck des kurzzeitigen Wirtschaftseinbruchs 1966/67 war es die Große Koalition aus CDU/CSU und SPD von Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger, die das AFG einführte. Es stand in enger Verbindung mit dem Stabilitäts- und Wachstumsgesetz im Jahr 1967. Dieses legte vier Ziele der Wirtschaftspolitik fest – das sogenannte „Magische Viereck“ –, nämlich ein stabiles Preisniveau, ein angemessenes Wirtschaftswachstum, ein außenwirtschaftliches Gleichgewicht und einen hohen Beschäftigungsstand. Mit dem Begriff „magisch“ wurde bereits damals deutlich, dass alle vier Ziele in der Realität gleichzeitig kaum zu erreichen waren. Die Beschäftigungspolitik sollte somit nachfrageseitig mit dem Stabilitätsgesetz bearbeitet werden und angebotsseitig mit dem AFG (Lampert 1989). In den politischen Debatten bestand Einigkeit über drei zentrale Aufgabenfelder des AFG, nämlich die Förderung der beruflichen Bildung, den Erhalt und die Schaffung von Arbeitsplätzen sowie die Arbeitsmarkt- und Berufsforschung als Aufgabe der Bundesanstalt. Fortan wurde zwischen den „passiven“ Leistungen, die bei Verlust des Arbeitsplatzes den Unterhalt sichern (Lohnersatzfunktion) und Armut vermeiden sollen (Unterhaltssicherungsfunktion) sowie den „aktiven“ Instrumenten, die die Beschäftigungschancen der geförderten Personen verbessern sollen und die mit dem AFG erstmals systematisch als Ziel formuliert worden waren, unterschieden.
Arbeitslosenversicherung: Die Arbeitslosenversicherung in Deutschland ist eine Pflichtversicherung, die den Grundsätzen der deutschen Sozialversicherung als parafiskalischer, der sozialpartnerschaftlichen Mitbestimmung verpflichteter und beitragsfinanzierter Sicherungszweig folgt. Zu ihren Strukturmerkmalen zählen folglich die Arbeitnehmerzentrierung, Geldleistungen nach dem Äquivalenzprinzip sowie die Beitragsfinanzierung. Über die Selbstverwaltung wirken zudem die Sozialpartner, nämlich die Gewerkschaften und die Arbeitgeberverbände, an der Gestaltung und Ausführung der Arbeitslosenversicherung mit (Klenk et al 2012). Konkret schlägt die Arbeitnehmerzentrierung in der Arbeitslosenversicherung (ALV) in dreifacher Hinsicht in der Regulierung des Versichertenkreises, der Leistungshöhe und der Leistungsberechtigten durch (Rosenthal 2012: 145): „(1) Die Integration in bzw. der Zugang zur ALV ist an das Beschäftigungsverhältnis geknüpft, (2) die Leistungshöhe bestimmt sich nach der Höhe des Erwerbseinkommens und (3) der Leistungsbezug setzt die Bereitschaft zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeit voraus.“ In den Schutzbereich der Arbeitslosenversicherung war folglich immer nur eine Teilgruppe der Erwerbstätigen eingeschlossen. Während alle abhängig Beschäftigten pflichtversichert sind, sind Landwirte, Selbstständige und Beschäftigte in den sogenannten freien Berufen genauso wenig wie Beamte in die Arbeitslosenversicherung eingeschlossen. Seit 2006 besteht die Möglichkeit einer freiwilligen Versicherung in der ALV für Selbstständige.
Reziprozität: Nicht alle Versicherten sind jedoch automatisch leistungsberechtigt, sondern der Bezug von Arbeitslosengeld ist an weitere Bedingungen geknüpft. Zu diesen zählen die Regelungen, dass innerhalb eines definierten Zeitraums (Rahmenfrist) für eine festgelegte Dauer (Anwartschaftszeit) eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung dem Eintritt des Leistungsfalls vorausgegangen sein muss. Ein Anspruch auf Leistungen bestand bis in die 1990er Jahre bei vorheriger einjähriger Mindestbeitragsdauer innerhalb einer Rahmenfrist von drei Jahren. 2015 müssen. mindestens zwölf Monate in einem Versicherungspflichtverhältnis innerhalb der letzten zwei Jahre vor der Arbeitslosmeldung und dem Beginn der Arbeitslosigkeit nachgewiesen werden. Sperrfristen regeln zudem, dass bei Kündigung durch den Arbeitnehmer die Leistungen in einem bestimmten Zeitraum nicht geleistet werden. Dies soll verhindern, dass der Leistungsfall mutwillig herbeigeführt wird. Die Bereitschaft zur Aufnahme einer Arbeit ist eine weitere Schranke, die den Zugang zu Leistungen reguliert. Die Erwartung, dass die Bezieher von Sozialleistungen durch ein bestimmtes Verhalten der Gemeinschaft etwas zurückgeben, ist in der ALV durch gesetzliche Vorschriften über die Bereitschaft zur Wiederaufnahme einer Arbeit, die Verfügbarkeit und Zumutbarkeit bis hin zur Arbeitslosmeldung festgeschrieben. Diese „Reziprozitätspolitiken“ (Lessenich/Mau 2005: 271) sind in der ALV im Vergleich zu anderen Sicherungszweigen besonders stark ausgeprägt. Verstöße werden mit Leistungskürzungen sanktioniert.
Vorleistungsbezug: Die Leistungen orientieren sich grundsätzlich am vorherigen (Netto-)Einkommen (Äquivalenzprinzip) und sollen somit den sozialen Status auch in der Arbeitslosigkeit weiter sichern. Die Lohnersatzleistungen sind seit den 1980er Jahren von 68 % auf heute 60 % des vorherigen Nettoeinkommens gesenkt worden. Arbeitslose mit Kindern erhalten 67 %. Gleichzeitig sind die Beiträge zur ALV einkommensproportional (bis zur Beitragsbemessungsgrenze) und werden paritätisch von Arbeitnehmern und Arbeitgebern erbracht. Es besteht also ein Entsprechungsverhältnis zwischen erbrachten Beiträgen und den zu erwartenden Leistungen, was prägend für die Vorstellungen einer Leistungsgerechtigkeit in der ALV ist. Das Äquivalenzprinzip schlug sich auch im Bereich der Leistungsdauer nieder. Bis 2005 stand nämlich allen Arbeitslosen nach dem Auslaufen des Arbeitslosengeldes die Arbeitslosenhilfe zur Verfügung. Die Arbeitslosenhilfe war eine steuerfinanzierte Leistung, die zwar bedürftigkeitsgeprüft war, deren Höhe sich jedoch – auf etwas niedrigerem Niveau als das Arbeitslosengeld – proportional am vorherigen Einkommen orientierte und die unbefristet gezahlt wurde.
Duales System der Arbeitslosenversorgung:
Während die Arbeitslosenversicherung Leistungen auf der Basis von Mitgliedschaft gewährt, entstehen für Menschen ohne Leistungsansprüche Sicherungslücken, die über nachgelagerte Systeme zur Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums geschlossen werden. Diese Mindestsicherungssysteme sind in der Regel bedürftigkeitsgeprüft, d. h. Leistungen werden nur gewährt, wenn der Arbeitslose (und seine Familie) nicht über ausreichende finanzielle Mittel verfügen, um den Lebensunterhalt selbst zu finanzieren (vgl. Kap. 4). Bis 2005 bestand mit der Arbeitslosenhilfe ein Intermediär, das zwischen den zwei Systemen der Arbeitslosenversorgung, dem System der Mindestsicherung und dem Arbeitslosenversicherung, zu verorten war; es knüpfte am Arbeitsbürgerstatus an und war zugleich bedürftigkeitsgeprüft
Arbeitslosenhilfe: Die Arbeitslosenhilfe bestand als Leistung von 1956 bis 2004. Sie wurde aus Steuermitteln finanziert und als Versicherungsleistung über die Bundesanstalt für Arbeit verwaltet. Zugang zur Arbeitslosenhilfe hatten grundsätzlich diejenigen Personen, deren Arbeitslosengeldbezug ausgelaufen war. Aber auch Personen, die bislang nicht oder nur kurze Zeit als Arbeitnehmer tätig waren, konnten Arbeitslosenhilfe in Form der sogenannten „originären“ Arbeitslosenhilfe erhalten. Voraussetzung dafür war eine beitragspflichtige Beschäftigung von mindestens fünf Monaten oder eine beitragsäquivalente Tätigkeit innerhalb des letzten Jahres. Dazu zählten öffentlich-rechtliche Dienstverhältnisse wie bei Beamten, Richtern, Berufs- oder Zeitsoldaten oder Wehr- und Zivildienstleistenden (festgelegt im damaligen § 134 AFG bzw. §§ 190-191 SGB III a.F.). Ab 1994 konnte die „originäre Arbeitslosenhilfe“ allerdings nur noch für ein Jahr bezogen werden (Kaps 2006). Im Jahr 2000 wurde sie schließlich ganz abgeschafft
Für den Leistungsbezug erfolgte, anders als beim Arbeitslosengeld, eine Bedürftigkeitsprüfung. Diese bezog allein den Ehepartner bzw. Partner in einer eheähnlichen Gemeinschaft, Kinder und Eltern mit ein und nicht etwa noch andere Familienmitglieder wie beim Bezug von Sozialhilfe. Die Arbeitslosenhilfe wurde, wie auch das Arbeitslosengeld, proportional zum vorherigen Einkommen gezahlt – allerdings auf niedrigerem Niveau. Die Ersatzrate lag zuletzt bei 53 % für Alleinstehende und 57 % für Personen mit Kindern (Steffen 2006: 13). Sie wurde prinzipiell unbegrenzt lange gezahlt, wenngleich 1996 jährliche Abschläge von jeweils drei Prozentpunkten eingeführt wurden.
Mindestsicherung: Seit 1962 sichert in Deutschland das Bundessozialhilfegesetz (BSHG) einen Rechtsanspruch auf die Unterstützung durch die Gemeinschaft, wenn eine entsprechende Notlage des Betroffenen vorliegt (Bedürftigkeit) und andere Hilfen, beispielsweise durch die Familie nicht zur Verfügung stehen (Nachrangigkeit). Bei der Sozialhilfe war grundsätzlich das gesamte verwertbare Vermögen einzusetzen, ausgenommen selbst genutztes Wohneigentum. Die Höhe der Leistungen variierte regional, da die Bundesländer das jeweilige Leistungsniveau selbst bestimmen konnten. Zusätzlich gab es Leistungen für Unterkunft und Heizung, Einmalleistungen und Mehrbedarfsleistungen. Arbeitslose, deren Arbeitslosengeld oder Arbeitslosenhilfe nicht ausreichte oder die keinen Anspruch auf Leistungen aus der ALV hatten, konnten diese Leistungen beantragen (vgl. Kap. 4). Durch die Kürzungen im Leistungsbereich des AFG seit den 1980er Jahren wurden die Kommunen, die die Verantwortung für die Sozialhilfe trugen, immer stärker belastet. Sie mussten die sinkenden Einkommen der Langzeitarbeitslosen in wachsendem Maße durch ergänzende Sozialhilfe ausgleichen. Gleichzeitig wurden die Sozialhilfeleistungen stärker an die Arbeitsbereitschaft der Sozialhilfeempfänger gekoppelt. Mit dem „Gesetz zur Reform des Sozialhilferechts“ wurden im August 1996 weiteren Leistungsbeschränkungen vor allem die Kürzung der Sozialhilfe um 25 % bei Arbeitsverweigerung als neue Anreizinstrumente eingeführt
Aktive Arbeitsmarktpolitik: Mit der Einführung des AFG wurden in Deutschland die Maßnahmen zur aktiven Förderung einer hohen Beschäftigung neu kodifiziert. Deutschland folgte damit einem ILO-Übereinkommen von 1964, das die Mitgliedsstaaten verpflichtete, eine aktive Beschäftigungspolitik zu betreiben. Als Vorbild gebend galten dabei Reformen, die in Schweden bereits in den 1950er Jahren umgesetzt wurden. Gleicheitig wurde der im neuen AFG genutzte Instrumentenkasten fast unverändert aus dem AVAG übernommen (Oschmiansky/Ebach 2012). Dazu zählten Maßnahmen der Arbeitsvermittlung, der Arbeits- und Berufsberatung, die individuelle und institutionelle Förderung der beruflichen Bildung, die Förderung der Arbeitsaufnahme, der Arbeits- und Berufsförderung Behinderter sowie Leistungen zur Erhaltung und Schaffung von Arbeitsplätzen.
Im Grundsatz bilden diese Tätigkeitsfelder bis heute den Kern des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums. Sie wurden jedoch in vielfältiger Weise immer wieder verändert und angepasst und neue Instrumente hinzugenommen. Denn während die Notwendigkeit passiver und aktiver Maßnahmen grundsätzlich nicht bestritten wird, besteht erheblicher Dissens in Wissenschaft und Politik über die Ausgestaltung von Maßnahmen und ihren Einsatz. Der konkrete Instrumenteneinsatz folgt daher nicht nur den aktuellen Problemlagen des Arbeitsmarktes, sondern auch politischen Moden und gesellschaftlichen Diskurshoheiten. Der unterschiedliche Einsatz des Kurzarbeitergeldes in bestimmten konjunkturellen Abschwungphasen belegt dabei die Bedeutung politischer Machtkonstellation (Bogedan 2010). Dabei führt oftmals der Einsatz der arbeitsmarktpolitischen Instrumente an sich schon zu einer – zumindest statistischen – Entlastung des Arbeitsmarktes, da beispielsweise die Teilnehmer an Arbeitsbeschaffungs- oder Qualifizierungsmaßnahmen nicht als Arbeitslose gezählt werden.
Finanzierung der Arbeitsmarktpolitik:
Die Beitragsfinanzierung ist Kennzeichen der deutschen Arbeitslosenversicherung. Im gegenwärtigen System werden die Beiträge paritätisch von Arbeitgebern und Arbeitnehmern aufgebracht. Die Finanzierung erfolgt nach dem Umlageverfahren. Das heißt, dass die sozialversicherungspflichtig Erwerbstätigen mit ihren Beiträgen die Leistungen für diejenigen gegenfinanzieren, die zur gleichen Zeit arbeitslos sind. Doch nicht nur die Lohnersatzleistungen werden mit den Beitragsmitteln finanziert, auch die Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik. Im Gegensatz zu den anderen Sozialversicherungszweigen weist der Haushalt der BA zudem nur einen geringen und stark schwankenden Anteil an Steuermitteln auf (Abb. 5.5). Denn Liquiditätshilfen des Bundes an die Bundesanstalt für Arbeit wurden nur dann gezahlt, wenn das Beitragsaufkommen zur Aufgabenbewältigung nicht ausreichte. Es liegt in der Natur der Arbeitslosenversicherung, dass die Ausgaben immer dann am höchsten sind, wenn gleichzeitig die Einnahmebasis durch eine Rezession und den Wegfall von Stellen geschwächt ist. Seit Anfang 2007 werden jedoch aus den Liquiditätshilfen, die als Darlehen gezahlt werden, nicht mehr automatisch Zuschüsse, wenn am Ende eines Haushaltsjahres die Rückzahlung nicht möglich ist. Mit dem Haushaltsbegleitgesetz 2013 wurde die Beteiligung des Bundes an den Kosten der Arbeitsförderung schließlich komplett gestrichen. Begründet wurde dies vor allem mit den anhaltend positiven Entwicklungen auf dem Arbeitsmarkt
Der sprunghafte Anstieg des Beitragssatzes in der Nachwendezeit sollte die massiv angestiegenen Bedarfe mitfinanzieren. Seit Mitte 2006 ist der gegenteilige Trend einer massiven Beitragssatzsenkung zu beobachten. Diese politisch motivierte Entscheidung für einen niedrigen Beitragssatz (der gleichzeitige Beitragserhöhungen in der GKV ausgleichen sollte) wurde selbst von wirtschaftsnahen Experten wie dem Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung nicht als nachhaltig betrachtet (SVR 2007). Die Debatte über die Einnahmenseite spielt jedoch bislang eine eher untergeordnete Rolle (Rürup 2005). Die Politik fokussierte vielmehr auf die Lohnersatzleistungen und den Maßnahmenkatalog. Dabei lassen sich im internationalen Vergleich alternative Finanzierungsmodi entdecken. In den USA werden beispielsweise die Beiträge, die von den Arbeitgebern allein getragen werden, im Rahmen eines sogenannten „Experience Rating“ an die Anzahl früherer Entlassungen im Unternehmen gekoppelt.
Gemäß der Hall‘schen Klassifikation von Policy Wandel (Hall 1993) vollzieht sich der Wandel der Arbeitsmarktpolitik durch (1) einfache Anpassung von Regelungen, wie der Verlängerung der Bezugsdauer für Kurzarbeitergeld während der Finanzkrise, (2) die Neuausrichtung der arbeitsmarktpolitischen Instrumente, wie die 2008 neuformulierten Maßnahmen zur Aktivierung und beruflichen Wiedereingliederung, oder (3) die Formulierung neuer Policy-Ziele, wie den Wandel der aktiven zur aktivierenden Arbeitsmarktpolitik im Rahmen der Hartz-Reformen. Im Folgenden können vor diesem Hintergrund zwei Etappen des Wandels der Arbeitsmarktpolitik nach dem „goldenen Zeitalter“ (Hemerijck 2013) unterschieden werden: Erstens die Phase von 1973 bis 1997, in der das Arbeitsförderungsgesetz die Arbeitsmarktpolitik bestimmte, dieses jedoch letztendlich völlig neu kodifiziert und als SGB III in das Sozialgesetzbuch überführt wurde. Und zweitens die Zeit seit 1998, in der, inspiriert durch die europäische Beschäftigungspolitik und Reformerfolge in einigen Nachbarländern, der Wandel von der aktiven zur aktivierenden Arbeitsmarktpolitik vollzogen wurde
Aktive Arbeitsmarktpolitik 1973 - 1997
Bereits mit der ersten Ölkrise 1973 und dem nachfolgenden Einbruch des Bruttoinlandsprodukts wurde das junge AFG auf eine harte Belastungsprobe gestellt. Das Ende des „kurzen Traums immerwährender Prosperität“ (Lutz 1984) stellte neue Herausforderungen an die aktive Arbeitsmarktpolitik (AAMP). Die Bekämpfung von Arbeitslosigkeit wurde zum neuen und zentralen Ziel. Dabei war der übergeordnete Trend in den 1970er und 1980er Jahren der eines Leistungsausbaus. Insbesondere im Bereich der Überbrückung von saisonalen und konjunkturellen Schwankungen wurden Leistungen erhöht oder neu eingeführt. Dazu zählt die Einführung eines Wintergeldes für Bauarbeiter 1972, Verbesserungen beim Konkursausfallgeld und Lohnkostenzuschüsse bei den Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für ältere Personen 1979.
Mit dem 7. Gesetz zur Änderung des AFG 1986 wurde zudem die Bezugsdauer für das ALG abhängig vom Lebensalter in Stufen verlängert: für 44-48-Jährige auf bis zu 16 Monate, für 49-53-Jährige auf bis zu 20 Monate und ab einem Alter von 54 Jahren auf bis zu 24 Monate. Arbeitslose nach Vollendung des 58. Lebensjahres mussten der Arbeitsvermittlung nicht mehr uneingeschränkt zur Verfügung stehen, sofern sie dem Arbeitsamt gegenüber erklärten, zum nächstmöglichen Termin Altersruhegeld zu beziehen. Sie wurden auch nicht mehr in der Arbeitslosenstatistik geführt.61 Für Arbeitslose, die eine selbstständige Beschäftigung anstreben, wurde in den ersten drei Monaten der Existenzgründung ein Überbrückungsgeld in Höhe des/der zuvor bezogenen ALG bzw. ALHi eingeführt. Das Unterhaltsgeld (UHG), das erst 1984 gekürzt worden war, wurde von 63 % wieder auf 65 % des vorherigen Nettoentgelts bzw. von 70 % auf 73 % für Personen mit Kindern erhöht. Das UHG erhielten Teilnehmer an Maßnahmen der beruflichen Weiterbildung als Zuschuss zur Sicherung des Lebensunterhalts.
Leistungsrückbau: Allerdings wurden diese expansiven Bewegungen immer wieder von Konsolidierungs- und Sparmaßnahmen unterbrochen. So beschloss 1976 die damalige sozialliberale Koalition aus SPD und FDP im Rahmen des Haushaltsstrukturgesetzes Kürzungen des Unterhaltsgelds auf 80 % sowie eine stärkere Fokussierung der Förderung der beruflichen Bildung auf den Beitragszahlerkreis. Außerdem kam es zu einer Differenzierung der beruflichen Bildungsmaßnahmen in arbeitsmarktpolitisch notwendige und arbeitsmarktpolitisch zweckmäßige Maßnahmen. 1982 erfolgten aufgrund der wachsenden Ausgaben (von 0,51 % des BIP im Jahr 1969 auf 2,18 % des BIP 1982) deutliche Leistungsbeschränkungen, die auch das Arbeitslosengeld und die Arbeitslosenhilfe betrafen. Die Anwartschaftszeit für den Bezug von ALG wurde von sechs auf zwölf Monate beitragspflichtige Beschäftigung erhöht. Bei der Berechnung des Arbeitslosengeldes und der Arbeitslosenhilfe fanden „Sonderzahlungen“ wie Urlaubs- und Weihnachtsgeld keine Berücksichtigung mehr. Damit lag die tatsächliche Ersatzrate deutlich unterhalb des nominalen Wertes. Dieser wurde – nun unter der Koalition zwischen CDU/CSU und FDP – durch das Haushaltsbegleitgesetz von 1984 gekürzt: Die Geldleistungen beim ALG, KUG und Schlechtwettergeld sanken auf 63 % (bzw.68 % für Personen mit Kindern) des vorherigen Nettoentgelts. Die ALHi wurde auf 56 % bzw. 58 % gekürzt.
Folgen der Wiedervereinigung: Die Wiedervereinigung stellte in den nachfolgenden Jahren die AAMP vor große, neue Herausforderungen aufgrund des radikalen Umbruchs der ostdeutschen Wirtschaft. Der rasante Anstieg der Arbeitslosigkeit zwischen 1990 und 1991 in Ostdeutschland ging einher mit einem Rückgang des Arbeitsvolumens um nahezu ein Fünftel. Infolgedessen versuchte die damalige unionsgeführte Regierungskoalition, der vereinigungsbedingten Beschäftigungskrise mit einem umfassenden Einsatz des arbeitsmarktpolitischen Instrumentariums zu begegnen. Niemals zuvor und danach wurden so viele Mittel für Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik ausgegeben wie 1992 (1,38 % des BIP). Doch die (aktive) Arbeitsmarktpolitik war mit den beschäftigungspolitischen Herausforderungen des ostdeutschen Transformationsprozesses und des allgemeinen Strukturwandels überfordert (Bäcker 1995). Die Rezession des Jahres 1993 war zwar nur kurz, das Wirtschaftswachstum und die Arbeitsnachfrage blieben aber bis weit ins folgende Jahrzehnt hinein im internationalen Vergleich sehr schwach, so dass die Arbeitslosenquote stark anstieg und sich in einem wachsenden Anteil Langzeitarbeitsloser niederschlug
Entwicklung der Langzeitarbeitslosigkeit: Die Entwicklung der Langzeitarbeitslosigkeit ergibt bis 2005 ein Treppenmuster, da aus jedem Abschwung eine Restarbeitslosigkeit zurückbehalten wurde, Hysteresis genannt. Über die Jahre wuchs folglich das Problem der Langzeitarbeitslosigkeit zur zentralen Herausforderung in der aktiven Arbeitsmarktpolitik an, die maßgeblicher Ausgangspunkt für die sogenannten Hartz-Reformen war.
In Reaktion auf das Ausgabenwachstum erhöhte man den Beitragssatz der Arbeitslosenversicherung um zwei Prozentpunkte auf 6,5 % (1992). Dennoch klaffte eine große Lücke zwischen Beitragseinnahmen und Ausgaben. Um das Ausgabenwachstum zu begrenzen, wurde zunächst (1993) die Lohnersatzrate des Arbeitslosengeldes auf 60 %(bzw. 67 % bei Personen mit Kindern) des vorherigen Nettoeinkommens abgesenkt, die Dynamisierung des Bemessungsentgelts ausgesetzt (1997 – 2001) und der Bemessungszeitraum verkürzt, was einerseits eine niedrigere Bemessungsgrundlage zur Folge hatte und andererseits für viele Beschäftigte Zeiten mit höheren Verdiensten aus der Berechnung ausschloss. Viele weitere Leistungen wurden entweder in ihrer Generosität beschnitten, wie die Mittel für Fortbildungen und Umschulungen oder die Konditionen für Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen (ABM), oder ersatzlos gestrichen, wie der Wegfall des Schlechtwettergeldes (1995).
Weitere Einsparpotentiale drückten sich nicht nur in den Leistungen, sondern auch in den konditionalen Verhältnissen aus. In der Folge wurde die Reziprozität der Leistungen nicht mehr allein auf die Beitragsleistungen bezogen, sondern knüpfte zudem am Verhalten der Arbeitslosen an. Mit dem Ziel der Überprüfung der Arbeitsbereitschaft waren bereits mit der AFG-Novelle von 1993 neue Tatbestände zur Verhängung von Sperrzeiten geschaffen worden. Die Arbeitsmarktpolitik sollte zudem durch eine bessere und vor allem schnellere Vermittlung zu einem Abbau der Arbeitslosigkeit beitragen. Der Wegfall des Berufsschutzes und ein Eingliederungsvertrag für Langzeitarbeitslose sollten den Druck auf die Arbeitslosen zur Aufnahme einer Erwerbstätigkeiterhöhen.
Dienstleistungsmodernisierung: Auch die Arbeitsvermittlung selbst stand unter Reformdruck. Bereits seit 1993 ist es dem damaligen Bundesarbeitsministerium für Arbeit und Sozialordnung möglich, den Haushaltsplan der BA gegen den Willen der Selbstverwaltung der Tarifpartner in Kraft zu setzen (§ 71a SGB IV). 1994 folgte die Abschaffung des Vermittlungsmonopols der BA. Fortan waren auch private, gewinnorientierte Arbeitsvermittler zugelassen. Mit der Organisationsreform „Arbeitsamt 2000“ sollte die BA selbst modernisiert werden. Der „Moloch“ BA, Deutschlands größte Behörde, galt als wenig effizient. Als 2002 der Bundesrechnungshof der BA gefälschte Vermittlungsstatistiken nachwies, war der politische Handlungsdruck derart gewachsen, dass der paradigmatische Bruch der Arbeitsmarktpolitik vollendet werden konnte.
Aktivierende Arbeitsmarktpolitik seit 1998:
Die Wende von der aktiven zu einer aktivierenden Arbeitsmarktpolitik begann bereits mit der Überführung des AFG in das Sozialgesetzbuch als Drittes Buch (SGB III) zum 1.1.1998. Stand die aktive Arbeitsmarktpolitik wie oben gezeigt im Kontext einer nachfrageorientierten Strategie der Beschäftigungsförderung mit dem Ziel der Schaffung von Vollbeschäftigung, so setzt die aktivierende Arbeitsmarktpolitik angebotsseitig an und stellt die Beschäftigungsfähigkeit des Einzelnen in den Mittelpunkt der Aktivitäten. Infolgedessen wurden die Kriterien für zumutbare Arbeit verschärft und dabei der Berufsschutz abgeschafft. Ein Eingliederungsvertrag für Langzeitarbeitslose sollte diese stark angewachsene Gruppe (Abb. 5.6) wieder stärker in die Vermittlungsbemühungen einbinden. Für alle Arbeitslosen wurde ein Profiling63 nach spätestens sechsmonatiger Arbeitslosigkeit verankert
Der Einsatz der arbeitsmarktpolitischen Mittel wurde stärker dezentralisiert. Dazu wurde der sogenannte Eingliederungstitel eingeführt, der die Ermessensleistungen der aktiven Arbeitsmarktpolitik zusammenfasst. Jedes Arbeitsamt konnte nun 10 % dieses Titels für freie (gesetzlich nicht geregelte) Leistungen einsetzen. Gleichzeitig verpflichtete man die Arbeitsämter zur jährlichen Vorlage einer Eingliederungsbilanz. Die Öffnung hin zu privaten Anbietern wurde nun auch für die private Berufsberatung und private Ausbildungsstellenvermittlung vollzogen.
Leistungsrückbau: Bei den Lohnersatzleistungen fanden zudem Kürzungen statt. Insgesamt wurden die Lohnersatzleistungen als „passive“ Leistungen kritisiert, die weniger als Unterstützung bei der Arbeitssuche denn als „soziale Hängematte“ genutzt würden.64 Die nach Alter gestaffelte Bezugsdauer des Arbeitslosengeldes wurde folglich zurückgefahren und durch die Teilnahme an Weiterbildungsmaßnahmen konnten keine neuen Anwartschaften auf ALG gewonnen werden. Stattdessen führte der Gesetzgeberein Anschluss-Unterhaltsgeld für drei Monate nach Abschluss der jeweiligen Arbeitsförderungsmaßnahme ein. Im Jahr 2000 folgte der Wegfall der originären ALHi, so dass ein Anspruch auf ALHi nur noch für jene Arbeitslose bestand, die vorher ALG bezogen hatten.
Im September 2001 wurde das Job-AQTIV-Gesetz verabschiedet, dessen Ziel es war, den Service der BA weiter zu verbessern. Die rot-grüne Bundesregierung stand zu diesem Zeitpunkt – ein Jahr vor der nächsten Bundestagswahl – unter massivem Handlungsdruck. Die Konjunktur hatte sich eingetrübt und die Arbeitslosenzahlen stiegen. In den Nachbarländern hatten zu dieser Zeit bereits Reformbemühungen zu erstaunlichen Erfolgen geführt. So wurde die in Dänemark erfolgreiche Job-Rotation übernommen. Sie sah einen Einstellungszuschuss für den Fall vor, dass Betriebe ihren Beschäftigten eine Weiterbildung ermöglichten und für diese Zeit Arbeitslose als Vertretung einstellten. Eine verpflichtende Eingliederungsvereinbarung für alle Arbeitslosen transportierte erstmals die Idee des „Forderns und Förderns“. In Dänemark firmierte die ähnliche Idee unter dem Label „Rechte und Pflichten“. Noch bevor das Job-AQTIV Gesetz richtig implementiert werden konnte, erschütterte der Vermittlungsskandal die arbeitsmarktpolitische Landschaft. Im Januar 2002 wurde bekannt, dass die BA ihre Vermittlungsstatistiken geschönt hatte. Der damalige Präsident der BA, Bernhard Jagoda, musste zurücktreten und eine Kommission wurde eingesetzt, die Vorschläge für eine weitreichende Reform der Arbeitsmarktpolitik machen sollte
Die Hartz-Reformen: Diese „Kommission für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ (‚Hartz-Kommission’65) legte bereits im August 2002 ihren Abschlussbericht vor, der (modifiziert) in vier verschiedene Gesetze mündete, die nacheinander in den Jahren 2003, 2004 und 2005 implementiert wurden. Mit diesen umgangssprachlich so genannten Hartz-Reformen bzw. wie es richtig heißt, dem ersten bis vierten Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt, kam es dann endgültig zum Bruch mit der bisherigen Logik: Statt des Erhalts und der Schaffung von Beschäftigungsverhältnissen sollte nunmehr der Erhalt und die Schaffung der individuellen Beschäftigungsfähigkeit Ziel der AAMP sein. Statt Schutz vor unterwertiger Beschäftigung sollte nun die Annahme jedweder Arbeit das Ziel einer erfolgreichen Vermittlung sein. Dazu sollte einerseits die Konzessionsbereitschaft der Arbeitslosen erhöht werden, andererseits sollte der Ausbau eines Niedriglohnsektors neue Beschäftigungsmöglichkeiten schaffen. Systematisch können vier Elemente der Hartz-Reformen unterschieden werden (Knuth 2012: 71):
1. die Einführung einiger neuer arbeitsmarktpolitischer Instrumente und Modifikation bestehender Maßnahmen;
2. die Modernisierung des Verwaltungsaufbaus der Bundesanstalt für Arbeit nach den Grundsätzen des New Public Management zum AgencyModell, sichtbar gemacht durch die Umbenennung in Bundesagentur für Arbeit;
3. der Umbau der Lohnersatzleistungen für Erwerbslose und Erwerbsarme durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zum Arbeitslosengeld II im SGB II sowie weitere Einschnitte im Leistungsrecht;
4. die Schaffung einer Anlaufstelle zur Überwindung der gesplitteten Zuständigkeiten zwischen Kommunen und BA, bekannt geworden als Job-Center
Eine neue arbeitsmarktpolitische Governance: Damit wird deutlich, dass die Hartz-Reformen, anders als die früheren Instrumenten- und Leistungsreformen, die arbeitsmarktpolitischen Strukturen neu ordneten mit einer Reihe von Folgewirkungen, die die neu geschaffene Governance auch fast zehn Jahre nach ihrer Einführung weiter fragil erscheinen lässt (Knuth 2012). Die neuen Strukturen haben auch Einfluss auf die Akteurskonstellation. Denn das durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe neu geschaffene Arbeitslosengeld II, umgangssprachlich auch als Hartz IV bezeichnet, hat eine neue Struktur der Interessensvermittlung geschaffen. Nunmehr wird ein Großteil der erwerbsfähigen Maßnahmeempfänger, nämlich alle Empfänger von ALG II, ohne die institutionelle Einbindung der Tarifvertragsparteien betreut. Denn in den neu geschaffenen gemeinsamen Einrichtungen des SGB II findet die Interessensbeteiligung lediglich in Form von Beiräten statt, in denen die Tarifparteien und andere Interessenakteure nur Informationsrechte haben. Neben Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden sind in diesen fakultativen Gremien Sozial- und Wohlfahrtsverbände vertreten. Diese haben damit ein stärkeres Gewicht in der Interessenrepräsentation erwerbsfähiger Arbeitsloser erhalten, so dass diesbezüglich eine Neujustierung des Verhältnisses zwischen den an der Arbeitsmarktpolitik beteiligten Verbänden festzustellen ist. Hinzu kommt, dass die Bundesregierung nun das Entscheidungsrecht bei der Ernennung des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit innehat. Vorher wurde dieser unter Beteiligung des Verwaltungsrates, und damit auch der Tarifpartner, ernannt. Infolgedessen ist der Verwaltungsrat nun als ein vergleichsweise schwaches Kontrollgremium zu bezeichnen
Leistungsrückbau: Im Leistungsrecht bedeutete die Einführung der Grundsicherung für Arbeitsuchende und die gleichzeitige Abschaffung der steuerfinanzierten Arbeitslosenhilfe eine deutliche Verschlechterung für versicherte Arbeitslose. Das Arbeitslosengeld wurde auf zwölf Monate (bzw. 18 Monate bei über 55-Jährigen) begrenzt. Bei längerer Arbeitslosigkeit greift nun die bedürftigkeitsgeprüfte Grundsicherung für Arbeitssuchende. Erwerbslose ohne Versicherungsanspruch, die vor der Reform Sozialhilfe hätten beanspruchen müssen, fallen ebenfalls in dieses Leistungssystem, genauso wie die sogenannten „Aufstocker“, deren Einkommen aus Erwerbstätigkeit und sonstigen Quellen unterhalb des Grundsicherungsniveaus liegt. Eingebettet wurden die Reformen in eine allgemeine Deregulierung des Arbeitsmarktes mit der Lockerung des Kündigungsschutzes, der Novellierung des Betriebsverfassungsgesetzes, einer Flexibilisierung der Arbeitszeiten sowie der Ausweitung von Leiharbeit und geringfügiger Beschäftigung. Die Hartz-Reformen förderten zudem die Vermittlung in Soloselbstständigkeit (damals „Ich-AG“ genannt). Zusammen mit den Deregulierungen am Arbeitsmarkt wurde somit der Ausbau atypischer Beschäftigungsformen unterstützt, was Folgen für die soziale Ungleichheit (vgl. Kap. 4) hat.
Die Arbeitsmarktpolitik war binnen kurzer Zeit zur reformpolitischen Großbaustelle geworden (Klös/Scharnagel 2009 sowie kritisch Mohr 2012). Insbesondere die Leistungskürzungen, die Verschärfung der Zumutbarkeit und die strengeren Sanktionen führten ebenso wie die Probleme bei der Umsetzung (Hielscher/Ochs 2009, Bundesrechnungshof 2006) zu anhaltendem Protest gegen „Hartz IV“, der sich besonders gegen die SPD in der zweiten Legislaturperiode der rot-grünen Koalition richtete. Schließlich kam es im September 2005 durch eine gescheiterte Vertrauensfrage von Bundeskanzler Schröder überraschend zu Neuwahlen, die in einer Großen Koalition mündete. Diese setzte den reformpolitischen Kurs der Vorgängerregierung fort. Kleinere Eingriffe betrafen die Kürzungen der Regelleistung für Jugendliche unter 25 Jahre auf 80 % des Erwachsenensatzes und der Beiträge zur Rentenversicherung für ALG II Empfänger im Sommer 2006. Außerdem wurden Sanktionsmöglichkeiten verschärft sowie Kontrollbefugnisse erweitert. Der Primat der Haushaltskonsolidierung vor einem gelungenen Matching-Prozess (Passförmigkeit von Arbeitsangebot und -nachfrage), das im Koalitionsvertrag angelegt war, wurde über eine neu geschaffene Pflicht zu einem Sofortangebot für erstmalige Bezieherinnen und Bezieher von ALG II unterstrichen. Dieses begründete man mit dem Ziel, möglichen Leistungsmissbrauch zu bekämpfen, in dem die Arbeitsbereitschaft der Arbeitssuchenden getestet wird. Indizien, die für einen relevanten Leistungsmissbrauch sprechen, fehlen allerdings
Widererstarken der Arbeitsmarktpolitik: Nachdem ab 2005 die Arbeitslosenzahl beständig gesunken ist, führte die Große Koalition 2008 einen Teil der Verschärfungen wieder zurück. Mit der Instrumentenreform, die zum 1.1.2009 in Kraft trat, wurde die Zahl der arbeitsmarktpolitischen Instrumente reduziert, um sie für die Anwendenden vor Ort handhabbarer zu gestalten. Mit der großen Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise 2008 setzte die damalige Bundesregierung die Arbeitsmarktpolitik massiv ein, um einen Beschäftigungsabbau zu verhindern. Insbesondere durch eine großzügige Ausgestaltung des Bezugs von Kurzarbeitergeld sollte das sinkende Arbeitsvolumen auf mehrere Schultern verteilt werden, so dass im Sinne der automatischen Stabilisatoren die Binnennachfrage nicht weiter einbrechen und Massenarbeitslosigkeit verhindert werden sollte. Der großflächige Einsatz des KUG als Kriseninstrument wurde ermöglicht, indem man den Zugang erleichterte, die Bezugsdauer verlängerte und die Sozialversicherungsbeiträge erstattete. Auch die Deregulierungen des Arbeitsmarktes wurden teilweise wieder rereguliert (Walwei 2015). Besonders hervor sticht dabei der zum 1.1.2015 eingeführte Mindestlohn, der erstmalig in der deutschen Geschichte eine verbindliche Lohnuntergrenze für alle Berufe vorsieht. Darüber hinaus rückte das Zurückdrängen von atypischer Beschäftigung zuletzt verstärkt in das Zentrum der politischen Debatte. Diskutiert wird seit Schließung des Koalitionsvertrags zwischen CDU und SPD im Jahre 2013 beispielsweise die Regulierung von Leiharbeit und Werkverträgen.
Zukünftig wird es – auch in Anbetracht der gestiegenen Flüchtlingszahlen – unter anderem um die Frage gehen, wie die nachhaltige Arbeitsmarktintegration von Zugewanderten gelingen kann. Eine maßgebliche Rolle spielt dabei die Matching-Effizienz (vgl. Kap. 5.2.1.2), um den betroffenen Personen frühzeitig und passgenau Arbeitsplätze zu vermitteln. Mittel- bis langfristig werden die diesbezüglichen Entwicklungen aber auch von Investitionen in Sprachförderung und Qualifikationsmaßnahmen sowie dem weiteren Abbau administrativer Hürden abhängen.
Finanzierung der ALV: Die Darstellung des Wandels der Arbeitsmarktpolitik hat gezeigt, dass auf der Ebene von Regelungen und Instrumenten eine anhaltende Reformaktivität bestand. Ein Wandel der arbeitsmarktpolitischen Ziele kann ab 1998 beobachtet werden. Es ist jedoch fraglich, ob angesichts der veränderten Arbeitsmarktlage nicht bereits eine neue Phase begonnen hat, die das Paradigma der angebotsorientierten Arbeitsmarktpolitik zumindest zu relativieren versucht. Differenziert man nach den einzelnen Charakteristika der Arbeitsmarktpolitik, so zeigt sich, dass im Bereich der Finanzierung – im Unterschied zu den Entwicklungen in der Renten- und Krankenversicherung – eher eine Stärkung als ein Rückdrängen der Beitragsfinanzierung stattgefunden hat. Die Bedeutung von Steuermitteln wird über die Notwendigkeit, diese zurückzahlen zu müssen, relativiert. Die paritätische Finanzierung der Beiträge durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer blieb unverändert. Allerdings wurde der Beitragssatz so stark reduziert, dass dieser im Gesamtkonglomerat der Sozialversicherungsbeiträge nur ein geringes Gewicht hat
Der Versichertenkreis der Arbeitslosenversicherung wurde leicht ausgeweitet, indem für Selbstständige die Möglichkeit zur freiwilligen Versicherung eröffnet wurde. Im Grundsatz handelt es sich jedoch weiter um eine Pflichtversicherung für abhängig Beschäftigte.
Im Bereich der Leistungen kann jedoch eine Schwächung des Äquivalenzprinzips beobachtet werden, da der Vorleistungsbezug wie auch die Proportionalität von Einkommen und Leistungen durch die Leistungskürzungen geschwächt wurde. Mit der Abschaffung der Arbeitslosenhilfe sind alle Arbeitslosen nach zwölf Monaten auf die gleichen pauschalen, bedürftigkeitsgeprüften Leistungen verwiesen
Organisation der ALV: Auch in der Organisation der Arbeitslosenversicherung wurde die sozialversicherungstypische Selbstverwaltung zurückgedrängt. Einerseits wurde das Mitentscheidungsrecht des Verwaltungsrates, in dem Vertreter der Arbeitgeber, der Arbeitnehmer und der öffentlichen Hand repräsentiert sind, bei der Aufstellung des Haushalts der BA und damit der Ausgabensteuerung beschnitten. Andererseits ist die Selbstverwaltung heute nur noch für einen Bruchteil der Arbeitslosen zuständig, da das SGB II über gemeinsame Einrichtungen mit den Kommunen verwaltet wird. Die dabei entstandene neue Governance der Arbeitsmarktpolitik in Deutschland ist die größte arbeitsmarktpolitische Veränderung seit der Einführung der Arbeitslosenversicherung. Gleichzeitig wurden mit der Abschaffung des Vermittlungsmonopols der BA auch private, gewerbliche Dienstleister zugelassen. Diese haben zu neuen Akteursbeziehungen geführt, da diese Anbieter wiederum ihre spezifischen Interessenslagen als Lobbyisten in das Politikfeld tragen
Reformergebnisse:Fragt man nach den Effekten dieser Veränderung, so zeigt sich ein gespaltenes Bild. Seit 2005 hat die Arbeitslosigkeit deutlich abgenommen und die Beschäftigung wuchs. Diese positive Entwicklung konnte bisher selbst durch die schwere Finanz- und Wirtschaftskrise nicht erschüttert werden. Allerdings wurden die positiven Beschäftigungserfolge mit einem drastischen Anstieg der Armut bei Erwerbstätigen und Arbeitslosen erkauft (vgl. Kap. 4). Auch die zunehmende Segmentierung von Arbeitslosen in Kurz- und Langzeitarbeitslose konnte trotz der positiven Beschäftigungsentwicklung nicht durchbrochen werden. Die Diagnosen der Verfestigung von Langzeitarbeitslosigkeit, von ‚Drehtüreffekten’ und ‚Maßnahmenkarrieren’ waren zwar einer der Auslöser für die Zusammenlegung der Leistungssysteme der Arbeitslosen- und der Sozialhilfe gewesen. Es ist jedoch fraglich, inwiefern das Grundsicherungssystem hier tatsächlich Verbesserungen bewirkt hat. Sicher ist dagegen, dass mit der Abschaffung des Berufsschutzes, der Verschärfung der Zumutbarkeit und der Ausweitung von Sanktionen der Druck auf die Arbeitslosen zur Annahme jedweder Arbeit erhöht wurde. Damit wurde ein Teil der oben beschriebenen sozialinvestiven und nachhaltigen Funktion der Arbeitsmarktpolitik konterkariert. Im Ergebnis fehlt es daher an substantiellen Fördermaßnahmen zur nachhaltigen Reintegration in den ersten Arbeitsmarkt
Dualisierung des Leistungssystems: Schließlich erweisen sich auch die Verteilungswirkungen der Arbeitslosenversicherung als problematisch. Die für andere Länder mit Sozialversicherungssystemen beschriebene Tendenz einer ‚Dualisierung’ des Leistungssystems (Esping-Andersen 2010: 15) kann daher auch für Deutschland diagnostiziert werden. Durch die Aufteilung der arbeitsmarktpolitischen Leistungen auf zwei unterschiedliche Regelkreise (SGB II und SGB III) wurden letztendlich zwei getrennte Systeme mit stark differierenden sozialen Rechten geschaffen. Dies manifestiert sich unter anderem in den kollektiven Mitbestimmungsrechten in den Leistungsverwaltungen, den Regelungen der Arbeitspflicht und den Formen der Beschäftigungsformen und in den Differenzen hinsichtlich Höhe und Struktur der Transferleistungen (Dingeldey 2010). Denn nur noch ein kleiner Teil der Arbeitslosen wird überhaupt durch die Arbeitslosenversicherung abgesichert.
Seit Anfang der 1990er Jahre ist der Anteil der Empfänger von Arbeitslosengeld an allen Arbeitslosen geradezu dramatisch rückläufig (Abb. 5.7). Mehr als zwei Drittel aller Arbeitslosen beziehen mittlerweile Leistungen des Arbeitslosengeldes II. Somit sind nur noch ein Drittel der Arbeitslosen über die Arbeitslosenversicherung geschützt. Treiber dieser Entwicklung waren die Ausgrenzungen aus dem Versichertenkreis durch verschärfte Anspruchsvoraussetzungen und eine Kürzung der Leistungsdauer. Auch haben die Entwicklungen am Arbeitsmarkt, insbesondere der Ausbau der Niedriglohnbeschäftigung dazu geführt, dass für viele Arbeitslose das ALG I nicht mehr existenzsichernd ist und sie auf zusätzliche Leistungen angewiesen sind. So entstehen im Falle von Arbeitslosigkeit nicht nur zusätzliche Sicherungslücken, wenn die Arbeitslosen auch bei langjähriger Beschäftigung im wachsenden Maße auf die Grundsicherung für Arbeitslose verwiesen sind; es ergibt sich auch ein Legitimitätsproblem, wenn das Sicherheitsversprechen der Sozialversicherung nicht mehr eingelöst werden kann. Insofern ist die Funktionsfähigkeit der Arbeitslosenversicherung nicht von der direkten und indirekten Regulierung von Einkommens- und Beschäftigungsbedingungen getrennt zu betrachten.
Die Reformentwicklung zeigt, dass, auch wenn die Notwendigkeit einer Arbeitslosenversorgung und aktiven Arbeitsmarktpolitik grundsätzlich nie infrage gestellt wurde, ihre konkrete Ausgestaltung erheblichem Wandel über die Zeit unterlag
Sozioökonomische Determinanten des arbeitsmarktpolitischen Wandels: Globalisierung…
Aufgrund der unter 5.1 dargestellten Abhängigkeit des Arbeitsmarktes von der allgemeinen wirtschaftlichen Lage spielen die sozio-ökonomischen Determinanten eine besonders starke Rolle als Antriebskräfte des Wandels. Diese Veränderungen der gesellschaftlichen und ökonomischen Rahmenbedingungen haben zusammen mit dem veränderten Problemdruck durch die hohe Arbeitslosigkeit die Regierungen insbesondere in den 1990er Jahren und um die Jahrtausendwende unter erheblichen Handlungszwang gesetzt. Konkret haben drei Megatrends die Rahmenbedingungen der Arbeitsmarktpolitik seit Mitte des 20. Jahrhunderts erheblich verändert– die ökonomische Globalisierung, die De-Industrialisierung und die soziale Modernisierung
Der Strukturwandel der Wirtschaft zeigt sich unter dem Großtrend Globalisierung in unterschiedlichen Facetten. Erstens kann eine zunehmende Liberalisierung des internationalen Handels und der Finanzmärkte beobachtet werden. In Deutschland ist dies eng verbunden mit der Entwicklung des europäischen Binnenmarktes. Zweitens hat die Veränderung der Informations- und Kommunikationstechnologien neue Möglichkeiten der globalen Arbeitsteilung eröffnet. Drittens entstanden neue Absatz- und Produktionsmärkte nach dem Mauerfall in Osteuropa und auch in sich entwickelnden (ehemaligen) Entwicklungs- und Schwellenländern. Infolge der gestiegenen Konkurrenz auf dem Weltmarkt werden auf Unternehmensseite nun vermehrt flexible Beschäftigungsformen nachgefragt
…De-Industrialisierung: Die De-Industrialisierung zeigt sich sowohl in einer Abnahme der Beschäftigten als auch der Bruttowertschöpfung im sekundären Sektor. Zugleich gewinnt der Tertiär- bzw. Dienstleistungssektor zunehmend an Bedeutung. Auch wenn ein großer Teil der Dienstleistungen ‚produktionsbezogen’ ist, d.h. der Planung und Durchführung der Güterproduktion sowie der Verteilung der Güter dient, und folglich die Zahlen nicht über zu bewerten sind, hat sich die Art und Weise, wie gewirtschaftet wird, erheblich verändert: Erstens entstanden zahlreiche neue Berufe, und die Halbwertzeit von Wissen nahm ab. Unter dem Stichwort „Lebenslanges Lernen“ wird die Notwendigkeit eines individuell und kollektiv veränderten Verständnisses von Qualifizierung in einem zunehmend von neuen Technologien und einem globalen Wettbewerb um Ideen und Innovation gekennzeichneten Arbeitsmarkt zusammengefasst. Zweitens kann ein Bedeutungsverlust des sogenannten Normalarbeitsverhältnisses und der damit verbundenen Normalerwerbsbiografie des männlichen Industriearbeiters beobachtet werden
soziale Modernisierung: Der Bedeutungsverlust ist sowohl aus den veränderten Rahmenbedingungen des Arbeitsmarktes als auch aus einer sozialen Modernisierung gespeist. Erwerbsein- und ausstiege verlaufen heute heterogener. Dazu haben soziale Errungenschaften, wie die Bildungsexpansion oder die Frühverrentung, ebenso beigetragen wie die kürzeren Halbwertzeiten von Wissen. Durch politische Deregulierungen stieg zudem die Zahl der Beschäftigten in Teilzeit, Minijobs, Leiharbeit und in befristeten Arbeitsverhältnissen. Massenarbeitslosigkeit prägte darüber hinaus für Jahrzehnte die arbeitsmarktpolitischen Debatten in Deutschland und verschärfte zugleich den Handlungsdruck auf die jeweiligen Regierungen, Arbeitsmarktreformen umzusetzen. Die soziale Modernisierung beschreibt eine Heterogenisierung gesellschaftlicher Verhältnisse und einen Wandel der Wertorientierungen. Dies zeigt sich insbesondere in einer Modernisierung tradierter Geschlechterrollen und einem Aufweichen der tradierten geschlechtlichen Arbeitsteilung. Die Frauenerwerbstätigkeit stieg in den vergangenen vier Jahrzehnten kontinuierlich
Trilemma der Dienstleistungsökonomie: Angesichts dieser Veränderungen, die auch andere Volkswirtschaften betreffen, wird hinsichtlich des Vollbeschäftigungsziels argumentiert, dass die unterschiedlichen Wohlfahrtstaatstypen in je eigener Weise im „Trilemma der Dienstleistungsökonomie“ gefangen sind. Ausgangsannahme ist, dass in Reaktion auf die veränderten Wirtschafts- und Produktionsbedingungen, die zu einem Rückgang der Beschäftigung im industriellen Sektor führen, neue Arbeitsplätze in dem durch eine geringere Produktivität gekennzeichneten Dienstleistungssektor geschaffen werden müssen und zudem mit sinkenden Preisen in der Güterproduktion umgegangen werden muss. Dabei ist es jedoch nicht möglich, die drei Ziele der Haushaltdisziplin, des Beschäftigungswachstums und der Einkommensgleichheit gleichzeitig zu erreichen. In den unterschiedlichen Regimen dominieren daher jeweils zwei Ziele, während das dritte vernachlässigt oder missachtet wird. Für Deutschland zeigt sich dabei, dass entgegen des vormaligen Pfades christdemokratischer Wohlfahrtstaaten, eine Priorisierung des Beschäftigungswachstums zu Lasten der Einkommensgleichheit spätestens seit der Jahrtausendwende zu beobachten ist
Hierbei zeigt sich, dass die Antriebskräfte der sozioökonomischen Determination, die ihre Wirkung auch in anderen Wohlfahrtsstaaten entfalten, als alleinige Erklärung für den zu beobachtenden Policy-Wandel nicht ausreichen. Vielmehr verdeutlicht das Trilemma, dass die unterschiedlichen institutionellen Ausgangslagen in den Ländern jeweils eigene Politikreaktionen bedingten. Vielmehr noch haben selbst die gleichen Maßnahmen unterschiedliche Effekte gehabt, wie sich beispielsweise beim Vergleich der dänischen Arbeitsmarktreformen mit den deutschen zeigt (Bogedan 2009). Denn politische Institutionen verengen den Handlungsspielraum und erklären, welche Problemlösungen zu einem Zeitpunkt möglich, wahrscheinlich oder unmöglich waren und wie die Überführung in bleibende Institutionen verlief. Während sich nämlich der Wandel zur aktivierenden Arbeitsmarktpolitik in fast allen entwickelten Wohlfahrtsstaaten vollzog, zeigen internationale vergleichende Untersuchungen, dass sich in den Ländern mit Sozialversicherungssystemen ein spezifischer Effekt der Reformen zeigt, der als Dualisierung beschrieben wird
politisch-institutionalistische Erklärungsansätze: Für den deutschen Fall wird in Bezug auf die politisch-institutionellen Antriebskräfte der arbeitsmarktpolitischen Reformen ab 1998 unter anderem die Rolle des Fiskalföderalismus diskutiert. Danach führte insbesondere die kommunale Finanzkrise Anfang der 2000er Jahre zu einem steigenden Handlungsdruck bezüglich struktureller Reformen. Kommunale Vertreter konnten dementsprechend durch ihre Mitgliedschaften in diversen Gremien, etwa der Hartz-Kommission, zum Teil erheblichen Einfluss ausüben
Die politischen Entscheidungsprozesse in der Bundesrepublik Deutschland sind normalerweise durch Mehrheits- und Verhandlungsentscheide sowie durch eine relativ hohe Anzahl an institutionellen Vetospielern (zu nennen sind hier beispielsweise der Bundesrat, das Bundesverfassungsgericht und die Sozialpartner) geprägt (Rudzio 2006: 447 f.). Infolgedessen sind Regierungen dazu gezwungen, die Zustimmung verschiedener Akteure zu suchen und Kompromisse einzugehen. In der politischen Konstellation vor bzw. während der Hartz-Reformen fielen jedoch diverse Vetospieler aus: Einerseits war der linke Flügel in der SPD geschwächt; darüber hinaus erleichterten es geringe Proteste auf gewerkschaftlicher Seite der Bundesregierung, die Reformen durchzusetzen
Von Bedeutung ist auf politisch-institutioneller Ebene zudem die abnehmende Machtfragmentierung innerhalb der Bundesagentur für Arbeit als tripartistisch angelegtes Entscheidungsgremium. In der Vergangenheit wurde die Position des Bundes erheblich gestärkt. Er verfügt nun über wesentlich größere Gestaltungsspielräume als die Sozialpartner – insbesondere, was die Haushaltsplanung und die Ernennung des Vorstandes anbelangt. Trotz dessen zieht sich der Bund mehr und mehr aus der Finanzierung der Arbeitsverwaltung zurück (dargestellt in Abb. 5.5). Dies stellt eine konträre Entwicklung zu anderen Politikfeldern, etwa der Gesundheits- oder Alterssicherungspolitik, dar
Daneben spielen stets auch politisch-strategische Interessen, politisch-normative Vorstellungen, vorhandenes, teilweise auf Erfahrungen basierendes Politikwissen sowie die vorherrschenden wirtschafts- und beschäftigungspolitischen Leitvorstellungen eine Rolle bei der Durchsetzung arbeitsmarktpolitischer Reformvorhaben. Denn zu unterschiedlichen Zeiten gelingt es einzelnen Akteuren besser oder schlechter, die gesellschaftlichen Diskurse ihren Wertvorstellungen entsprechend zu prägen. Als richtungsweisend sind in diesem Zusammenhang die Diskussionen rund um die Agenda 2010 unter dem Slogan „Fordern und Fördern“ zu nennen, der letztendlich auch zur Legitimation der realisierten Reformen in der Arbeitsmarktpolitik genutzt wurde
Machtressourcenansatz
Nimmt man das Kräfteverhältnis von Arbeitgebern und Gewerkschaften als Erklärungsmuster für die arbeitsmarktpolitischen Reformen hinzu, so zeigt sich ein nicht ganz eindeutiges Bild. Die rot-grüne Bundesregierung hatte in ihrer ersten Legislaturperiode (1998-2002) unter dem Namen „Bündnis für Arbeit“ einen tripartistischen Verständigungsprozess zur Lösung der Arbeitsmarktprobleme initiiert, jedoch ohne Erfolg. Tarifflucht der Arbeitgeber und die hohe Arbeitslosigkeit hatten die Durchsetzungskraft der Gewerkschaften geschwächt. Dem sozialdemokratischen Bundeskanzler Schröder hing zudem der Ruf an, der „Genosse der Bosse“ zu sein. Gemäß des Machtressourcenansatzes hätte jedoch die relative Stärke der Gewerkschaften über die 1970er/80er Jahre zu einer Leistungsausweitung führen müssen. Es konnte allerdings gezeigt werden, dass das Ziel der Haushaltskonsolidierung auch in dieser Zeit immer wieder zu erheblichen Leistungseinschnitten geführt hat. Deutlich wird dabei, dass die Gewerkschaften nicht ausschließlich die Interessen von Beschäftigten in Arbeit („Insider“) vertreten können, sondern in Zeiten hoher Arbeitslosigkeit auch das Ziel verfolgen müssen, diese nachhaltig zu reduzieren und „Outsider“ in den Arbeitsmarkt zu integrieren.
Dementsprechend ergab sich die Notwendigkeit, Maßnahmen im Sinne einer aktiven bzw. aktivierenden Arbeitsmarktpolitik mit zu tragen. Hinzu kam ein starker Mitgliederverlust der Gewerkschaften in der Nachwendezeit, der die Gewerkschaften zum Ende des 20. Jahrhunderts erheblich schwächte. Gleichzeitig kann die Ausweitung des Kurzarbeitergeldes (KUG) in der jüngsten Krise als Ausweis einer wiedererstarkten Gewerkschaftsbewegung interpretiert werden, da die beschäftigungserhaltende Wirkung des KUG durch die Kombination mit Instrumenten der Arbeitszeitflexibilität auf der betrieblichen Ebene verstärkt wurde. Die betriebliche Mitbestimmung spielte hierfür eine zentrale Rolle
Zusammenfassung:
Ein Vergleich der heutigen Arbeitsmarktpolitik und des Beschäftigungssystems mit jenen Arrangements der 1970er Jahre macht deutlich: Trotz erstaunlicher Kontinuitäten hat in der Summe ein Wandel stattgefunden, der die typischen Merkmale konservativer Wohlfahrtsstaaten zurückgedrängt hat. Die Standards des deutschen Beschäftigungssystems wurden zugunsten eines Ausbaus des Niedriglohnsektors, einem Zurückdrängen der Lebensstandardsicherung in der Arbeitslosenversorgung und der Aufgabe des Berufsschutzes in der Vermittlung aufgelöst. Dabei hat – wie oben gezeigt – die Bedeutung des Arbeitslosengeldes als Lohnersatzleistung im Zeitverlauf stetig abgenommen.
Dagegen haben die bedürftigkeitsgeprüften Fürsorgeleistungen an Gewicht gewonnen. Es ist also ein konstanter Prozess des Bedeutungsverlusts der Versicherungsleistung erkennbar, die immer mehr zu einer „Exklusivleistung für einen privilegierten Kreis von Arbeitslosen geworden“ ist. Dieser Prozess – Bedeutungsverlust des Versicherungssystems auf der einen, stärkere Gewichtung von Fürsorgesystemen auf der anderen Seite – kann als Dualisierung des Sozialstaates beschrieben werden. Zwar ist die Versicherungssystemen inhärente Selektivität unstrittig. Diese wurde in der deutschen Arbeitsmarktpolitik allerdings seit den 1990er Jahren politisch verschärft und kann nicht nur über ökonomische Parameter, wie verfestigte Arbeitslosigkeit, erklärt werden. Dabei können die Hartz-Reformen ab 2003 als entscheidender Wendepunkt bewertet werden. Durch das SGB II ist eine vollständig vom Versicherungssystem und dessen Prinzipien abgekoppelte „zweite Welt sozialer Sicherung“ implementiert worden. Die Veränderungen auf der Leistungsseite und bei den Reziprozitätsnormen werden auf dem deutschen Aktivierungspfad durch eine gezielte gesetzliche Erleichterung atypischer Beschäftigung flankiert.
Im internationalen Vergleich mit Entwicklungen in der Arbeitsmarktpolitik zeigt sich ein uniformer Trend zugunsten aktivierender Maßnahmen, der in den allermeisten OECD-Ländern von einer teils drastischen Absenkung monetärer Transferleistungen begleitet wurde. Obwohl diese Veränderungen innerhalb bestehender wohlfahrtsstaatlicher Strukturen im Sinne eines institutionellen „layering“ (Streeck/Thelen 2005) – also durch das Schaffen neuer Institutionen bei Aufrechterhaltung der bereits bestehenden – besorgt und durch unterschiedliche Steuerungsinstrumente erreicht wurden, können sie sozialpolitische Pfadverschiebungen auslösen. Im Falle der Hartz-Reformen wurden die neue Geldleistung, die Grundsicherung für Arbeitssuchende und deren Governance-Struktur ergänzend zum bestehenden Arbeitslosenversicherungssystem etabliert. Doch in Verbindung mit den Kürzungen im Arbeitslosenversicherungssystem und den Verschiebungen im Beschäftigungssystem wurden Pfadverschiebungen ausgelöst, die heute für die Mehrzahl der Arbeitslosen das SGB II-System zum relevanten Bezugssystem machen. Infolgedessen hat sich die Akteurskonstellation verschoben.
Hatte die institutionell vermittelte Machtfragmentierung durch die Selbstverwaltung in der Vergangenheit dazu geführt, dass Reformprozesse mit einer politischen Willensbildung verbunden waren, die einen Ausgleich unterschiedlicher Interessen – nämlich zwischen Kapital und Arbeit – suchte, so haben die Hartz-Reformen gezeigt, dass der Gesetzgeber seine Interessen auch ohne bzw. gegen die Selbstverwaltung durchsetzen kann. Gleichzeitig wurde im neuen SGB II-System der Einfluss der Sozialpartner nahezu nivelliert. Fraglich ist jedoch, inwieweit dies das intendierte Ergebnis machtbasierter Steuerung war oder ob nicht der Vermittlungsskandal ein Gelegenheitsfenster öffnete, durch das – mit einer gewissen machtpolitischen Durchsetzungsfähigkeit ausgestattet – die institutionelle Überlagerung und damit verbundene Konversion stattfand.
Dienstleistungen im Zentrum des Feldes: Die Gesundheitspolitik unterscheidet sich von anderen klassischen Feldern wohlfahrtsstaatlicher Politik u. a. dadurch, dass hier die Erbringung von Dienstleistungen im Mittelpunkt steht. Zwar bringen die geltenden Regeln zur Leistungsfinanzierung und zu den Leistungsansprüchen auch in der Gesundheitspolitik ein erhebliches Maß an sozialer Umverteilung mit sich, aber Leistungen werden hier ganz überwiegend nicht in Form direkter monetärer Zuweisungen (wie z. B. bei der Alterssicherung oder der Sicherung bei Arbeitslosigkeit) gewährt, sondern – von den wenigen Geldleistungen (z. B. Krankengeld) abgesehen – in Form von Dienstleistungen (Diagnostik, Therapie etc.) und Waren (Medikamente, Hilfsmittel etc.)
Merkmale des Feldes „Gesundheitspolitik: Dieses Merkmal konstituiert eine Reihe von Besonderheiten des Feldes „Gesundheitspolitik“: erstens reguliert sie einen ganzen Wirtschaftszweig, in dem mehr als vier Millionen Menschen arbeiten und auf den mehr als 10 % des Bruttoinlandsprodukts entfallen; zweitens sind in diesem Politikfeld eine Vielzahl sehr heterogener Akteure (Krankenkassen, Versicherte, Patienten, Ärzte, Pflegepersonal, Krankenhäuser, Arzneimittelhersteller, Medizintechnikunternehmen, Gebietskörperschaften etc.) mit eigenen Interessen und Problemwahrnehmungen tätig; drittens spielen neben den Regeln zur Leistungsfinanzierung und zu den Leistungsansprüchen auch solche Handlungsfelder eine bedeutende Rolle, die sich mit der Leistungserbringung befassen (z. B. Qualitätssicherung, Wirtschaftlichkeitsprüfungen, Bedarfsplanung). Somit ist für die Gesundheitspolitik im Vergleich zu anderen Feldern der Sozialpolitik eine besondere Komplexität des Gegenstands charakteristisch.
„Krankenversorgungspolitik: Unter Gesundheitspolitik werden im Allgemeinen diejenigen Regelungen gefasst, die sich im weitesten Sinne auf die Finanzierung, Organisation und Regulierung der Krankenversorgung beziehen. Die Gesundheitspolitik umfasst heute ein breites Interventionsspektrum, das von der Krankenversorgung über die Krankheitsprävention bis zur Gesundheitsförderung mit Aufgaben in den Bereichen des Arbeitsschutzes, der Umweltpolitik oder des Verbraucherschutzes reicht. Im Rahmen dieses Beitrags beschränken wir uns allerdings auf die „Krankenversorgungspolitik“. Diese stellte nicht nur von Anfang an, also seit der Errichtung der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) im Jahr 1883, stets das zentrale Handlungsfeld der Gesundheitspolitik dar, sondern sie verursacht im Übrigen die mit Abstand höchsten Kosten im deutschen Gesundheitssystem, da es sich hier um den Kernbereich sozialer Umverteilung in diesem Feld handelt
Dimensionen von Gesundheitssystemen: Ein Gesundheitssystem kann auf sehr unterschiedliche Weise organisiert werden. Bei der Analyse von Gesundheitssystemen werden gemeinhin drei Dimensionen unterschieden: die Regulierungsstruktur, die Finanzierungsstruktur und die Versorgungsstruktur (z. B. Wendt 2013). Unter diese Dimensionen fallen jeweils verschiedene Merkmale. Die Regulierungsstruktur beinhaltet die Rolle von Staat, Selbstverwaltung (häufig: Verbänden) und Markt bei der Regulierung des Gesundheitssystems. Die Finanzierungsstruktur bezeichnet die Art der Mittelaufbringung für die Finanzierung von Gesundheitsleistungen, insbesondere die Anteile öffentlich und privat aufgebrachter Mittel sowie die Anteile von Steuermitteln und (bruttolohnbezogenen) Versicherungsbeiträgen. Zentrale Merkmale der Versorgungsstruktur sind der Zugang der Bevölkerung zur Versorgung, die Art der Träger von Versorgungseinrichtungen und die Arbeitsteilung zwischen den Institutionen und Berufen in der Gesundheitsversorgung.
Drei Gesundheitssystemtypen: Nach diesen Kriterien lassen sich drei Typen von Gesundheitssystemen unterscheiden, nämlich staatliche Gesundheitssysteme, Sozialversicherungssysteme und Privatversicherungssysteme. In staatlichen Gesundheitssystemen wird das Gesundheitssystem durch staatliche Institutionen reguliert, über Steuern finanziert und ist der Staat Träger der Versorgungseinrichtungen. Kernmerkmale von Krankenversicherungssystemen sind die starke Rolle einer Selbstverwaltung bei der Regulierung, eine Finanzierung über (bruttolohnbezogene) Versicherungsbeiträge und gemischtwirtschaftliche Trägerschaft bei den Versorgungseinrichtungen. In Privatversicherungssystemen spielt der Markt bei der Regulierung des Gesundheitssystems eine große Rolle, ist die private Finanzierung von Gesundheitsleistungen (private Direktzahlung oder private Versicherung) von besonderer Bedeutung und befinden sich die Versorgungseinrichtungen üblicherweise in privater Trägerschaft
Bei diesen Gesundheitssystemtypen handelt es sich um Idealtypen, denen die realen Gesundheitssysteme nicht vollständig entsprechen. Allerdings lassen sich in den einzelnen Gesundheitssystemen zumeist dominante Merkmale identifizieren, die die Zuordnung zu einem bestimmten Idealtyp rechtfertigen. Deutschland wird im Rahmen dieser Typologie als ein Sozialversicherungssystem charakterisiert. Dabei weist das deutsche Gesundheitssystem eine Besonderheit auf, die es von den anderen Gesundheitssystemen in den reichen Ländern unterscheidet: Neben der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV), bei der es sich um eine soziale, am Grundsatz der Solidarität orientierte Krankenversicherung handelt, existiert für bestimmte Bevölkerungsgruppen noch eine private Krankenvollversicherung, die den Regeln des privaten Versicherungsmarktes folgt.
Versichertenkreis und Leistungen: In der gesetzlichen Krankenversicherung sind weite Teile der abhängig beschäftigten Bevölkerung versichert. Arbeiter und Angestellte, deren Bruttoeinkommen unterhalb der sogenannten Versicherungspflichtgrenze liegt, sind Pflichtmitglieder. Hinzu kommen einige Selbstständigengruppen – Landwirte, Künstler und Publizisten – sowie Studierende und Praktikanten, die in den 1970er bzw. frühen 1980er Jahren in den Kreis der Pflichtversicherten aufgenommen wurden. Im Rahmen der Familienversicherung sind außerdem nicht erwerbstätige Ehegatten und Kinder von GKV-Mitgliedern beitragsfrei mitversichert. Und schließlich sind auch Rentner, sofern sie als Erwerbstätige zuletzt gesetzlich versichert waren, und – seit Inkrafttreten des „Vierten Gesetzes für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt“ (BGBl. I: 2954 – „Hartz IV“) im Januar 2005 – sämtliche Bezieher von Arbeitslosengeld in der GKV pflichtversichert
Zu den nicht pflichtversicherten Berufsgruppen gehören neben den abhängig Beschäftigten mit einem Bruttoverdienst über der Versicherungspflichtgrenze die Selbstständigen – mit Ausnahme der oben genannten Gruppen – und die Beamten. Personen ohne Versicherungspflicht in der GKV können zwischen einer privaten Versicherung gegen Krankheit im Rahmen der PKV oder einer freiwilligen Mitgliedschaft in der GKV wählen. Bis Ende 2008 hatten sie auch noch die Möglichkeit, auf jegliche Krankenversicherung zu verzichten. Diese Option ist allerdings seit dem 1.1.2009 entfallen, denn seither gilt eine generelle Krankenversicherungspflicht für alle Wohnbürger in Deutschland. Dieser Schritt – beschlossen mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz 2007 (GKV-WSG; BGBl. I: 378) – war eine Reaktion auf die zuvor deutlich gestiegene Zahl der Nichtversicherten in Deutschland
Freie Kassenwahl ab 1993: Mit dem Gesundheitsstrukturgesetz („Gesetz zur Sicherung und Strukturverbesserung der gesetzlichen Krankenversicherung“ – GSG, in Kraft getreten am 1. Januar 1993) führte der Gesetzgeber 1993 die freie Wahl der Krankenkasse für GKV-Versicherte ein. Fortan waren diese nicht mehr aufgrund ihres Berufes oder Wohnortes an eine bestimmte Kassenart gebunden, sondern konnten zwischen den Krankenkassen, die unterschiedlichen Kassenarten (Ortskrankenkassen, Betriebskrankenkassen, Innungskrankenkassen, Ersatzkassen, Knappschaftskassen) zugeordnet werden, relativ frei auswählen und die Kasse nach eigenem Belieben wechseln. Die GKV wird derzeit von 118 Krankenkassen getragen (BMG 2016a). Dabei waren im März 2016 71,2 Millionen Menschen in der GKV versichert , darunter 54,9 Millionen Mitglieder und 16,2 Millionen mitversicherte Familienangehörige
Allgemeine Krankenversicherung (AKV): Die Mehrheit – knapp 70 % – der GKV-Mitglieder sind in der Allgemeinen Krankenversicherung (AKV), gut 30 % in der Krankenversicherung der Rentner (KVdR) versichert (BMG 2016a). Im März 2016 waren 84,7 % der GKV-Mitglieder in der Allgemeinen Krankenversicherung Pflichtmitglieder und 15,3 % freiwillige Mitglieder (BMG 2016a: 15). Bei der Unterscheidung nach Kassenarten fällt auf, dass der Anteil der freiwilligen Mitglieder in der AKV zwischen den Kassenarten stark variiert: Im Jahresdurchschnitt 2014 belief er sich bei den Ortskrankenkassen auf nur 9,8 %, bei den Ersatzkassen hingegen auf 19,8 % (BMG 2016a: 15). Daran wird deutlich, dass die Ersatzkassen sich in einer besonders starken Konkurrenz zur PKV befinden, die den freiwillig Versicherten jederzeit als Option offen steht. Die Ortskrankenkassen, die bis Ende der 1980er Jahre besonders mitgliederstark waren, haben seit Beginn der 1990er für einige Jahre deutlich an Boden verloren.
Dies lag vor allem daran, dass der Anteil der Arbeiter, ihre wichtigste Versichertenklientel, an den Erwerbstätigen zurückging. Lediglich die Übertragung der Kassenstrukturen auf die neuen Bundesländer unterbrach diesen Trend. Beschleunigt wurde der Mitgliederverlust außerdem durch die Einführung der freien Kassenwahl, denn seitdem nahmen viele Versicherte die häufig höheren AOK-Beitragssätze zum Anlass, um zu einer Kasse mit niedrigerem Beitragssatz zu wechseln. Aus demselben Grund verzeichneten die Betriebskranken kassen seit Mitte der 1990er Jahre einen starken Zuwachs. Sie konnten angesichts der daher günstigen Risikozusammensetzung ihrer Versichertengemeinschaft in vielen Fällen günstigere Beitragssätze als die Konkurrenz anbieten.
Leistungen der GKV: Die gesetzlich Krankenversicherten haben einen Rechtsanspruch auf alle Leistungen, die für die Behandlung ihrer Krankheit notwendig sind. Entsprechend umfangreich ist der Leistungskatalog der GKV – zu ihm zählen insbesondere: Maßnahmen zur Primärprävention und betrieblichen Gesundheitsförderung, zur Krankheitsfrüherkennung, zur ärztlichen Behandlung und Heilung von Krankheiten, zahnärztliche Behandlung, psychotherapeutische Behandlung, Leistungen bei Schwangerschaft und Mutterschutz etc. Das Leistungsrecht unterscheidet dabei zwischen Regelleistungen und Satzungsleistungen. Regelleistungen sind solche Leistungen, zu deren Finanzierung alle Krankenkassen rechtlich verpflichtet sind. Sie machen gegenwärtig rund 95 % der Leistungsausgaben aus, so dass zwischen den einzelnen Kassen keine nennenswerten Unterschiede im Leistungsumfang bestehen. Satzungsleistungen sind Leistungen, deren Gewährung eine Krankenkasse zusätzlich zu den gesetzlich vorgeschriebenen Leistungen beschließen kann. Dazu zählen z. B. künstliche Befruchtung, Hebammenleistungen bei Schwangerschaft und Mutterschaft oder nicht verschreibungspflichtige Arzneimittel. Mit dem GKV-Versorgungsstrukturgesetz (GKV-VStG) 2015 hat der Gesetzgeber die Möglichkeiten der Krankenkassen zum Angebot von Satzungsleistungen in bestimmten Versorgungsbereichen (z.B. häusliche Krankenpflege und Haushaltshilfe) ausgeweitet. Ziel war dabei die Stärkung des Wettbewerbs zwischen den Kassen. Inwieweit diese indes von den neuen Spielräumen Gebrauch machen, bleibt vorerst ungewiss. So bestand vor dem Hintergrund abnehmender finanzieller Ressourcen bei mehreren Krankenkassen jüngst eher die Neigung, freiwillige Leistungen zu kürzen
Ausweitung des Leistungskataloges bis Mitte der 1970er Jahre: Insbesondere zwischen den 1960er und 1980er Jahren wurde der Leistungskatalog der GKV erheblich ausgeweitet. Im Zuge der in den Nachkriegsjahrzehnten vollzogenen Erweiterung des Versichertenkreises und des Leistungskatalogs („doppelte Inklusion“) verloren vormalige materielle Zugangsbeschränkungen zu den gesundheitlichen Versorgungseinrichtungen weitgehend an Bedeutung. Seit Ende der 1980er Jahre wurde der Leistungskatalog außerdem gezielt um einzelne, jedoch im Umfang eng begrenzte Leistungen erweitert (z. B. Prävention und Gesundheitsförderung, Soziotherapie, ambulante Palliativversorgung).
Allerdings setzten Mitte der 1970er Jahre auch Gegentendenzen ein, die sich in der nachfolgenden Zeit noch verstärkten: Leistungsausweitungen werden seitdem von einer Reihe gesetzlich vorgeschriebener Leistungsausgliederungen sowie einer Erhöhung von Zuzahlungen begleitet. Auf diese Weise sind vor allem für sozial Benachteiligte neue Hürden bei der Inanspruchnahme medizinischer Leistungen errichtet worden. Hinzu kommen wachsende regionale Ungleichgewichte in den Versorgungsstrukturen mit stärker werdenden Tendenzen einer Unterversorgung in strukturschwachen und sozial benachteiligten Regionen. Darüber hinaus lässt sich mitunter auch eine Neigung von Ärzten beobachten, ihren Patienten bestimmte Leistungen vorzuenthalten, weil sie ihrer Meinung nach nicht angemessen vergütet werden. Beide Entwicklungen betreffen zwar nicht das Leistungsrecht, aber den tatsächlichen Zugang zu medizinisch-gesundheitlichen Leistungen. Mit Blick auf das Leistungsrecht zeichnet sich die GKV – auch im internationalen Vergleich – gegenwärtig noch durch einen umfassenden Leistungskatalog aus
Bedarfsprinzip, Solidarprinzip: Grundlegend für den Leistungsanspruch der GKV-Versicherten ist das Bedarfsprinzip. Demzufolge hat jeder Versicherte unabhängig von der Höhe seiner Beiträge und von seinem individuellen Krankheitsrisiko einen Rechtsanspruch auf Krankenbehandlung und die zur Wiederherstellung seiner Gesundheit erforderlichen medizinischen Maßnahmen. Aus dem Bedarfsprinzip leiten sich darüber hinaus auch konkrete Anforderungen in Bezug auf die vom Staat zu gewährleistenden Versorgungskapazitäten für den Krankheitsfall ab: So ist eine gewisse Betten- und Arztdichte sowie eine angemessene regionale Verteilung von Versorgungseinrichtungen erforderlich, um den Patienten den Zugang zu Leistungen in einer angemessenen Zeit zu ermöglichen. Die Orientierung des Leistungsrechts am Bedarfsprinzip und die Orientierung des Finanzierungsrechts an der finanziellen Leistungsfähigkeit der Versicherten machen ihrerseits den Kern des Solidarprinzips aus.
Wirtschaftlichkeitsgebot: Schließlich unterliegt das Leistungsgeschehen auch dem Wirtschaftlichkeitsgebot. Demnach müssen die von der GKV finanzierten Leistungen ausreichend und zweckmäßig sein, sie müssen wirtschaftlich erbracht werden, und sie dürfen das Maß des Notwendigen nicht überschreiten (§§ 2 und 12 Abs. 1 SGB V). Bei der Bewertung ihrer Zweckmäßigkeit und Wirtschaftlichkeit sind der allgemein anerkannte Stand der medizinischen Erkenntnisse und der medizinische Fortschritt zu berücksichtigen (§ 2 Abs. 1 SGB V). Dabei legen die Ärzte, Krankenhäuser und Krankenkassen im Rahmen der Gemeinsamen Selbstverwaltung in der GKV im Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) fest , welche Leistungen diesen Kriterien entsprechen und grundsätzlich von den Krankenkassen zu erstatten sind. Über die im einzelnen Behandlungsfall notwendigen Leistungen entscheidet auf dieser Grundlage dann der Arzt. In der Orientierung der Beitragsbemessung an der individuellen Leistungskraft und der Leistungsgewährung am individuellen Bedarf kommt der Solidarcharakter der GKV zum Ausdruck. Es vollzieht sich damit ein Ausgleich von Risiken zwischen Besserverdienenden und sozial Schwachen (sozialer Ausgleich), Gesunden und Kranken (Risikoausgleich), Jungen und Alten (Generationenausgleich) sowie kinderlosen und kinderreichen Familien (Familienlastenausgleich).
Sachleistungsprinzip: Der überwiegende Teil der GKV-Leistungen wird nach dem Sachleistungsprinzip erbracht. Demzufolge existieren zwischen den Leistungsanbietern (Ärzte, Krankenhäuser, Apotheker, Heil- und Hilfsmittelhersteller etc.) und den Leistungsempfängern (Patienten) keine unmittelbaren finanziellen Beziehungen. Die Patienten weisen mit dem Vorlegen ihrer Krankenversicherungskarte nach, dass sie krankenversichert und damit zur (weitgehend) unentgeltlichen Behandlung berechtigt sind. Die Behandlungskosten werden dabei nicht direkt vom Patienten bezahlt, sondern dem Arzt etc. von der Krankenkasse des Patienten erstattet. Das Sachleistungsprinzip ist selbst Ausdruck des Solidarcharakters der GKV, denn es befreit die Patienten von der Last, die – bisweilen sehr hohen – Behandlungskosten vorstrecken zu müssen.
Kostenerstattungsprinzip: Das Gegenmodell zum Sachleistungsprinzip ist das Kostenerstattungsprinzip. Hier bezahlt der Patient die Gesundheitsleistungen zunächst selbst und erhält seine Auslagen nach Vorlage der Rechnung ganz oder teilweise von seiner Krankenversicherung zurück. Die Kostenerstattung wird in der PKV, vereinzelt auch in der sozialen Krankenversicherung anderer Länder (z. B. in Frankreich) praktiziert. Die konservativ-liberale Koalition hatte bereits 1997 allen Versicherten die Möglichkeit eingeräumt, sich für die Kostenerstattung zu entscheiden und sie im Bereich der zahnärztlichen Versorgung sogar verbindlich gemacht. Diese Regelungen wurden von der rot-grünen Bundesregierung 1999 zuerst wieder aufgehoben und auf den Kreis der freiwillig Versicherten beschränkt. Das „Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung“ (GKV-Modernisierungsgesetz, GMG) (BGBl. I: 2190) erweiterte sodann die Option auf Kostenerstattung zum 1.1.2004 wieder auf alle GKV-Versicherten (§ 13 Abs. 2 SGB V). Dabei gilt, dass Versicherte, wenn sie sich für das Kostenerstattungsprinzip entscheiden, gegenüber ihrer Krankenkasse jeweils für mindestens zwölf Monate daran gebunden sind. Insgesamt spielt das Kostenerstattungsprinzip in der GKV bislang nur eine untergeordnete Rolle. Nur eine kleine Minderheit der Versicherten hat bisher von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht, was vor allem an den damit verbundenen Mehrkosten liegen dürfte.
Finanzierung durch Beiträge: Krankenversicherungssysteme unterscheiden sich von staatlichen Gesundheitssystemen nicht zuletzt dadurch, dass ihre Finanzierung wesentlich auf Beiträgen, nicht auf Steuern, beruht. In der GKV wird der bei weitem größte Teil der Einnahmen durch die Versicherungsbeiträge der Arbeitnehmer und Arbeitgeber aufgebracht. Die Bezugsgröße für die Beitragsbemessung ist das Bruttoarbeitseinkommen. Alter, Geschlecht, Anzahl der Mitversicherten sowie Vorerkrankungen oder persönliches Krankheitsrisiko des Versicherten spielen hingegen keine Rolle. Vom Bruttoarbeitseinkommen wird ein bundeseinheitlicher Prozentsatz von derzeit (2015) 14,6 % an den Gesundheitsfonds abgeführt. War die Beitragsaufbringung zunächst paritätisch, so führte der Gesetzgeber durch das GKV-Modernisierungsgesetz vom November 2003 mit Wirkung zum 30.6.2005 einen Sonderbeitrag von 0,9 Prozentpunkten für die Arbeitnehmer ein. Dieser wurde den Versicherten gleichsam vorweg vom Einkommen abgezogen. Die Regelung hatte bis zur Verabschiedung des Gesetzes zur Weiterentwicklung der Finanzstruktur und der Qualität im Gesundheitswesen (GKV-Finanzstruktur- und Qualitätsweiterentwicklungsgesetz, GKV-FQWG) der großen Koalition vom Februar 2014 Bestand. Das GKV-FQWG schaffte den Sonderbeitrag zum 1. Januar 2015 formal zwar wieder ab, wandelte ihn real aber in einen neu konstruierten Zusatzbeitrag um (s. u.). Vor seiner Abschaffung brachten Arbeitnehmer am einheitlichen Beitragssatz von 15,5 % 8,2 % ihres Einkommens auf und Arbeitgeber zahlten 7,3 %.
Versicherungspflichtgrenze, Beitragsbemessungsgrenze: Die einkommensproportionale Beitragsaufbringung erfolgt nur bis zur Beitragsbemessungsgrenze, also demjenigen Bruttoeinkommensbetrag, von dem höchstens die GKV-Beiträge zu berechnen sind (vgl. Kap. 6.1.1). Sie beträgt derzeit 75 % der Beitragsbemessungsgrenze in der gesetzlichen Rentenversicherung (§ 6 Abs. 1 Nr. 1 SGB V). Die Beitragsbemessungsgrenze wird jährlich durch eine Verordnung des BMAS entsprechend der durchschnittlichen Veränderung der Bruttolohn- und -gehaltssumme der beschäftigten Arbeitnehmer angepasst (§ 159 SGB VI). Sie ist nicht zu verwechseln mit der Versicherungspflichtgrenze, also jenem Bruttoeinkommensbetrag, ab dem Arbeitnehmer in die private Krankenversicherung wechseln können. Im Jahr 2016 liegt die Versicherungspflichtgrenze (Jahresarbeitsentgeltgrenze) bei einem Bruttoeinkommen von 56.250 Euro pro Jahr (4.687,50 Euro pro Monat), die Beitragsbemessungsgrenze bei 50.850 Euro pro Jahr (4.237,50 Euro pro Monat).
Umlageverfahren: Die Ausgaben der GKV werden im Umlageverfahren finanziert, d. h. die Kosten eines gegebenen Jahres werden durch die in diesem Jahr erzielten Einnahmen gedeckt. Dementsprechend gibt es im Verlauf eines jeden Jahres Nettozahler und - empfänger – je nach individueller finanzieller Leistungsfähigkeit und individuellem Versorgungsbedarf. Daher ist das Umlageverfahren auch Bestandteil und Ausdruck des Solidarprinzips. Dabei sind die Einnahmen der GKV so zu bemessen, dass sie die Ausgaben im Jahresverlauf decken. Seit 2007 können die Krankenkassen allen gesetzlich Versicherten optional besondere Tarife für bestimmte Leistung, z. B. hausarztzentrierte Versorgung, anbieten. Ziel ist es, für die Versicherten einen Anreiz zu geringerer Inanspruchnahme oder gar Nichtinanspruchnahme von Leistungen zu setzen. Mit diesen „monetären Wahltarifen“ wollte der Gesetzgeber die Wahlmöglichkeiten der Versicherten erweitern und den Kassen neue Optionen für den Wettbewerb eröffnen. Außerdem sollte damit die Attraktivität der GKV für nicht versicherungspflichtige Personen erhöht und somit die Konkurrenzfähigkeit mit der PKV um wohlhabende Versicherte gestärkt werden.
Staatliche Beteiligung an der GKV-Finanzierung
Der Staat ist als Finanzierungsträger in der GKV – anders als in der Renten- und der Arbeitslosenversicherung – nur von geringer Bedeutung. Bis 2003 waren Versicherungsbeiträge die einzige Finanzierungsquelle der gesetzlichen Krankenversicherung. Erst 2004 wurden diese erstmals durch einen steuerfinanzierten Bundeszuschuss ergänzt. Dieser ist seitdem beträchtlich angestiegen und erreichte im Jahr 2010 mit 15,7 Milliarden Euro – immerhin knapp 9 % der GKV-Gesamteinnahmen – seinen bisherigen Höchststand; seither ist er nur geringfügig gesunken. Ein wichtiges Motiv für diese Verstärkung der staatlichen Zuschüsse zur GKV war das Bestreben der politischen Entscheidungsträger, vor dem Hintergrund der Finanzmarktkrise von 2008 die Belastung vor allem der Arbeitgeber, aber auch der GKV-Mitglieder mit Krankenversicherungsbeiträgen zu begrenzen.
Angesichts der hohen Rücklagen, die die Krankenkassen zwischenzeitlich bilden konnten, und angesichts der (jeweils vorübergehend) stabilen Lage auf dem Arbeitsmarkt, aber auch angesichts der 2016 in Kraft tretenden Schuldenbremse für die öffentlichen Haushalte muss allerdings abgewartet werden, ob der Bund auch zukünftig am bisherigen Umfang des Steuerzuschusses zur GKV festhalten wird. Neben der direkten Bezuschussung ist der Staat noch auf anderen Wegen an der Finanzierung der GKV beteiligt. So sind die Länder für die Investitionskosten der Krankenhäuser, also den Krankenhausbau sowie die Instandhaltung und Einrichtung von Krankenhäusern einschließlich der Anschaffung medizinischer Geräte, verantwortlich (vgl. Kap. 6.3.2). Daneben tragen Bund, Länder und Gemeinden in ihrer Eigenschaft als Arbeitgeber den Arbeitgeberanteil an den GKV-Beiträgen der Angestellten im öffentlichen Dienst. Und außerdem ist der Bund über seine beträchtlichen Zuschüsse zur Renten- und zur Arbeitslosenversicherung indirekt an der Finanzierung der GKV beteiligt, weil diese Sozialversicherungsträger Beiträge für die Krankenversicherung von Rentnern und Arbeitslosengeldempfängern entrichten
Gesundheitsfonds und Zusatzbeiträge
Gesundheitsfonds: Bis Ende 2008 legten die Krankenkassen ihren jeweiligen Beitragssatz individuell fest. Die Beitragseinnahmen flossen direkt an die einzelnen Krankenkassen, zwischen denen diese Einnahmen anschließend im Rahmen des Risikostrukturausgleichs in gewissem Umfang umverteilt wurden. Mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) trat 2009 eine weit reichende Reform dieses Mechanismus in Kraft (Pressel 2012; Schroeder/Paquet 2009; Bandelow/Schade 2009). Dabei entzog der Gesetzgeber den Kassen nicht nur das Recht, die Beiträge individuell festzusetzen – beschlossen wurde nunmehr ein bundeseinheitlicher, staatlich festzusetzender Beitragssatz –, sondern richtete außerdem auch einen Gesundheitsfonds ein, der die Finanzströme in der GKV bündelt und lenkt. In diesem System fließen seither die Beitragseinnahmen und der steuerfinanzierte Bundeszuschuss zunächst in den Fonds und werden von dort anschließend nach gesetzlich vorgeschriebenen Regeln an die Krankenkassen verteilt.
Kassenindividueller Zusatzbeitrag: Daneben sah das GKV-WSG vor, dass Krankenkassen, die mit den Finanzmittelzuweisungen aus dem Fonds nicht auskommen, einen Zusatzbeitrag zur Deckung ihres zusätzlichen Finanzbedarfs erheben sollten. Dieser kassenindividuelle Zusatzbeitrag wurde ausschließlich von den Versicherten – und nicht vom Arbeitgeber – erhoben und konnte sowohl pauschal oder als Prozentsatz vom jeweiligen Bruttoeinkommen festgelegt werden (wobei er ein Prozent des individuellen Bruttoeinkommens nicht übersteigen durfte). Sobald eine Krankenkasse einen Zusatzbeitrag erhob oder ihn erhöhte, hatten die Versicherten ein Sonderkündigungsrecht und konnten die Kasse wechseln. Der Zusatzbeitrag sollte nach dem Willen der damaligen Großen Koalition als Stellschraube für den Wettbewerb zwischen den Krankenkassen um die Versicherten wirken und die Kassen zugleich zur Kosteneinsparung bewegen. Das Instrument des Zusatzbeitrags lief auf eine erhebliche Mehrbelastung für die Versicherten hinaus, denn diese mussten nunmehr sämtliche Zusatzkosten der GKV tragen, soweit sie einen gesetzlichen Schwellenwert von 5 % der Gesamteinnahmen des Gesundheitsfonds nicht überschritten. Gleichzeitig wurde der Beitragssatz der Arbeitgeber festgeschrieben.
Das von der schwarz-gelben Koalition 2010 verabschiedete und 2011 in Kraft getretene GKV-Finanzierungsgesetz (GKV-FinG) hielt an diesem Grundmodell des Gesundheitsfonds fest, nahm aber substanzielle Veränderung an der Konstruktion des Zusatzbeitrags vor. Sie verfolgte damit das Ziel, einen Einstieg in die mittel- bzw. langfristige Umstellung des Finanzierungssystems der GKV auf eine Kopfpauschale vorzunehmen und den Arbeitgeberbeitrag auf diese Weise von der Entwicklung der Krankenversicherungsbeiträge zu entkoppeln. Daher hob die schwarz-gelbe Koalition mit dem GKV-FinG die bis dato gültige Beschränkung des Zusatzbeitrags auf 1 % des Bruttoeinkommens auf und ermöglichte die Erhebung in unbegrenzter Höhe. Am Einfrieren des Beitragssatzes für die Arbeitgeber bei 7,3 % hielt sie fest. Zudem durfte der Zusatzbeitrag nicht mehr als Prozentsatz vom Einkommen, sondern nur noch als Pauschalbetrag erhoben werden, denn man erwartete sich, dass ein Nominal- anstelle eines Prozentualbetrags den ggf. zusätzlichen „Preis“ der jeweiligen Krankenkasse eindeutiger abbilden und damit den Wettbewerb zwischen den Kassen stärken könnte. Für Versicherte, die finanziell überfordert waren, wurde dabei ein steuerfinanzierter Zuschuss („Sozialausgleich“) vorgesehen
Finanzierungsreform der GKV 2014: Die im Herbst 2013 gebildete neuerliche Große Koalition brachte im Frühjahr 2014 erneut eine Finanzierungsreform auf den Weg. Sie wurde am 5. Juni 2014 als „Gesetz zur Weiterentwicklung der Finanzstruktur und Qualität in der gesetzlichen Krankenversicherung“ (GKV-FQWG) verabschiedet und trat in ihren wesentlichen Teilen am 1. Januar 2015 in Kraft. Im Mittelpunkt des GKV-FQWG steht abermals die Reform der GKV-Finanzierung (daneben geht es aber auch um Fragen der Qualitätssicherung), wobei insbesondere die folgenden Bestimmungen von besonderer Bedeutung sind:
der allgemeine Beitragssatz zur GKV wird von zuvor 15,5 % auf 14,6 % gesenkt;
- dabei wird die paritätische Finanzierung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern wiederhergestellt, indem der bisherige Sonderbeitrag der Arbeitnehmer in Höhe von 0,9 Prozentpunkten (zunächst) entfällt;
- der Arbeitgeberbeitragssatz wird (wie bisher) auf 7,3 % festgeschrieben;
- sollte eine Kasse mit den ihr aus dem Gesundheitsfonds zugewiesenen Mitteln nicht auskommen, muss sie zur Defizitdeckung einen Zusatzbeitrag erheben, der (wie bisher) ausschließlich von den Versicherten aufzubringen ist. Dieser darf allerdings nicht mehr (wie bisher) als einkommensunabhängige Pauschale, sondern nur noch als einkommensabhängiger Prozentsatz vom beitragspflichtigen Einkommen erhoben werden. Für den Fall, das eine Kasse einen Zusatzbeitrag erhebt, genießen die Versicherten ein Sonderkündigungsrecht und müssen von ihrer Krankenkasse zudem auf günstigere Kassen hingewiesen werden; und
- der bisherige steuerfinanzierte „Sozialausgleich“ entfällt.
Insgesamt haben die sukzessiven Regierungskoalitionen mit den soeben erläuterten gesetzlichen Änderungen seit Anfang der 2000er Jahre „neue Schichten“ („layering“) auf das bestehende traditionelle Finanzierungssystem der GKV gelegt und damit nach und nach eine Abkehr vom traditionellen Finanzierungsmodus in der gesetzlichen Krankenversicherung eingeleitet. Vor allem der Zusatzbeitrag ist in diesem Zusammenhang zu nennen. Er erhielt insbesondere mit dem GKV-FinG den Charakter einer „kleinen Kopfpauschale“, die unter den sonstigen Finanzierungskomponenten der GKV an Bedeutung gewinnen dürfte.
Durch den Zusatzbeitrag in Kombination mit der Regelung zum Einfrieren des Arbeitgeberbeitrags wird die mittel- und langfristig voraussichtlich wachsende Kluft zwischen bruttolohnbezogenen Einnahmen und Ausgaben einseitig den Versicherten aufgebürdet. Denn alle künftigen Kostensteigerungen in der Krankenversorgung werden unter dieser Regelung vollständig von den Versicherten getragen. Dabei werden Bezieher unterer und mittlerer Einkommen besonders stark belastet werden. Die jüngste Gesundheitsreform, das GKV-FQWG, ändert an dieser Situation kaum etwas, auch wenn sie einzelne der vorherigen Regelungen aufhebt. So schafft die Reform zwar den einkommensunabhängigen Zusatzbeitrag ab, aber alle anderen wesentlichen Komponenten der GKV-Finanzierung, welche die Last der Finanzierung künftiger Kassendefizite den Versicherten auferlegen, bestehen fort. Die Absenkung des Beitragssatzes auf 14,6 % bedeutet außerdem, dass sich der Wettbewerb der Krankenkassen um eine Vermeidung von Zusatzbeiträgen verschärfen wird, weil der bis Ende 2014 gültige Beitragssatz von 15,5 % als ein Puffer wirkte, der die Vermeidung von Zusatzbeiträgen erleichterte. In der Tat hat der weit überwiegende Teil der Krankenkassen bereits im Jahr 2015 einen Zusatzbeitrag erhoben. Zahlreiche Krankenkassen erhöhten ihre Zusatzbeiträge in 2016 weiter, so dass der durchschnittliche Beitragssatz Anfang 2016 auf 15,7 % stieg. Darüber hinaus enthält die jüngste Finanzierungsreform keinerlei Maßnahmen, die auf die Einführung einer Bürgerversicherung oder auf eine Neudefinition der Grenzen zwischen GKV und PKV hindeuten.
Gegliederte Krankenversicherung, freie Wahl der Krankenkasse
Die Träger der GKV sind die Krankenkassen. Hier wiederum gibt es keinen einheitlichen Krankenversicherungsträger, sondern eine Vielzahl rechtlich eigenständiger Krankenkassen. Ihre Zahl hatte sich bereits im Verlauf des 20. Jahrhunderts stark reduziert, von mehr als 20.000 im Jahr 1900
Grundsatz der gegliederten Krankenversicherung: Die Kassenvielfalt, häufig auch als Grundsatz der gegliederten Krankenversicherung bezeichnet, ist kein notwendiges Merkmal von Krankenversicherungssystemen, verfügen doch einige unter ihnen (z. B. Frankreich, Österreich) de facto über eine Einheitskasse. Die Vielfalt der Kassenlandschaft in Deutschland ist auf die Entscheidung der politischen Eliten bei der Gründung der GKV im Jahr 1883 zurückzuführen, sich bei der Organisation des neuen Systems auf die große Zahl der bereits existierenden kommunalen oder berufsgruppenspezifischen Hilfseinrichtungen zu stützen (Tennstedt 1977). Diese Entscheidung wirkt jedoch bis heute fort.68 Die unterschiedlichen Krankenkassen waren und sind dabei zu sechs Kassenarten zusammengefasst:
- den Ortskrankenkassen (AOK),
- den Ersatzkassen (EK),
- den Betriebskrankenkassen (BKK),
- den Innungskrankenkassen (IKK),
- den Landwirtschaftlichen Krankenkassen (LKK) und
- der Knappschaft-Bahn-See (KBS).
Freie Kassenwahl seit 1996: Bis in die 1990er Jahre hinein wurden die Versicherten aufgrund ihrer beruflichen Stellung (Arbeiter/Angestellte), ihrer Zugehörigkeit zu bestimmten Berufsgruppen (z. B. Handwerker) oder zu bestimmten Betrieben oder aufgrund ihres Wohnsitzes bestimmten Kassen fest zugewiesen. Die Ortskrankenkassen fungierten dabei nicht nur als wichtigste Arbeiterkasse, sondern auch als ein Auffangbecken für solche Versicherten, die aufgrund ihres Berufsstatus keinen Zugang zu anderen Kassen hatten. Wahlmöglichkeiten existierten in diesem System nur für Angestellte und einige kleine Arbeitergruppen. Mit dem 1. Januar 1996 trat an die Stelle dieses gewachsenen Systems die freie Kassenwahl der Versicherten. Die bisherige Bestandsgarantie für die Krankenkassen, die mit der festen Zuweisung von Mitgliedern verbunden war, wurde damit aufgehoben. Lediglich den landwirtschaftlichen Krankenkassen werden die Mitglieder noch per Berufsstatus zugewiesen. Die Einführung der freien Kassenwahl stellt eine der weitestreichenden Veränderungen in der Geschichte der GKV dar, denn sie etablierte zwischen den Krankenkassen einen Wettbewerb um Versicherte, der gravierende Veränderungen in ihrer Interessenlage und in ihren Beziehungen zu anderen Akteuren im Gesundheitswesen nach sich zieht. Sie wurde verknüpft mit der Einführung eines Risikostrukturausgleichs (RSA), der aufgrund des GKV-WSG seit 2009 auch Krankheits- oder Morbiditätsmerkmale der Versicherten berücksichtigt
GKV-Spitzenverband: Bildete jede der oben genannten sechs Kassenarten bis zum 1. Juli 2008 einen eigenen Bundesverband (z. B. AOK-Bundesverband), der die Interessen einzelner Mitgliedskassen auf Bundesebene vertrat und hier an der gemeinsamen Selbstverwaltung mit den Ärzteverbänden mitwirkte, so sind die Bundesverbände seither zum GKV-Spitzenverband zusammengefasst. Dieser genießt den Status als Körperschaft öffentlichen Rechts (wie zuvor die einzelnen Bundesverbände) und hat auf dieser Grundlage den gesetzlichen Auftrag zur Wahrnehmung einer Reihe von gesundheitspolitischen Aufgaben. Neben seiner Funktion der Interessenvermittlung gegenüber Politik und Öffentlichkeit hat der GKV-Spitzenverband die Aufgabe, für die einzelnen Kassen „gemeinsam und einheitlich“ zu bestimmten gesundheitspolitischen Handlungsfeldern Entscheidungen zu treffen und Vereinbarungen mit den Leistungserbringern zu schließen. Auf diese Weise soll er an der Gemeinsamen Selbstverwaltung (vgl. unten) mit der Vertragsärzteschaft (Kassenärztliche Bundesvereinigung) und den Krankenhäusern (Deutsche Krankenhausgesellschaft) mitwirken. Sowohl die Krankenkassen als auch ihre Verbände unterliegen der staatlichen Aufsicht. Diese teilen sich Bund und Länder untereinander auf. So beaufsichtigt das Bundesgesundheitsministerium (BMG) den GKV-Spitzenverband und dessen Medizinischen Dienst (MDS), das Bundesversicherungsamt (BVA) beaufsichtigt die bundesunmittelbaren, d. h. die in mehr als einem Bundesland tätigen Krankenkassen, und die zuständigen Ministerien der Länder sind für die Aufsicht über die landesunmittelbaren Kassen und ihre Verbände zuständig.
Aufwertung der Krankenkassen als gesundheitspolitische Akteure: Zwischen 1934, als die Nationalsozialisten den Krankenkassen die Erlaubnis zum Betrieb von Eigeneinrichtungen der Krankenversorgung (z. B. Krankenhäuser) entzogen (Tennstedt 1977), und den 1990er Jahren waren die Kassen weitgehend auf die Rolle von Finanzierungsträgern des Gesundheitswesens beschränkt. Dies änderte sich erst in der ersten Hälfte der 1990er Jahre. Seither hat der Gesetzgeber – in dem Bemühen, die Gesundheitspolitik stärker am Leitbild des regulierten Wettbewerbs auszurichten – die Krankenkassen nach und nach mit Instrumenten ausgestattet, mit deren Hilfe sie die Bedingungen der Leistungserbringung (aktiver als zuvor) beeinflussen können. Ein besonders wichtiges Instrument in diesem Zusammenhang ist der 1989 eingerichtete Medizinische Dienst der Krankenversicherung (MDK). Er hat die Aufgabe, die Krankenkassen in medizinischen und pflegerischen Fragen zu unterstützen und beim Abschluss von Verträgen, bei der Entwicklung neuer Versorgungsstrukturen oder -programme sowie in Fragen der Qualitätssicherung zu beraten. Darüber hinaus wirkt der MDK an der Bewertung individueller Behandlungsfälle (z. B. Feststellung von Pflegebedürftigkeit) mit. Insgesamt erhöhte sich seit den 1990er Jahren bei den Kassen die Bereitschaft und mit dem Kassenwettbewerb auch der Druck –, die Rolle als aktiver Mitgestalter der Gesundheitspolitik anzunehmen (vom „payer“ zum „player“).
Die konkrete Ausgestaltung der Krankenversorgungspolitik erfolgt in Deutschland also nicht – wie z. B. in Großbritannien oder Schweden – durch einen staatlichen Verwaltungsapparat, sondern durch Krankenkassen. Diese sind weder unmittelbar staatliche Einrichtungen noch haben sie einen privaten Erwerbszweck. Es handelt sich vielmehr um Körperschaften des öffentlichen Rechts, die als solche einem gesetzlich definierten, öffentlichen Auftrag verpflichtet sind. Der Staat gibt ihnen für ihr Handeln einen Rahmen vor, den sie in eigener Verantwortung ausfüllen und bei dessen Einhaltung er sie kontrolliert
Selbstverwaltung der Krankenkassen: Die Krankenkassen sind nach dem Grundsatz der (ehrenamtlichen) Selbstverwaltung organisiert (diese ist nicht zu verwechseln mit der Gemeinsamen Selbstverwaltung; vgl. unten). Die Organe der Selbstverwaltung der einzelnen Kassen sind der ehrenamtliche Verwaltungsrat und der hauptamtliche Vorstand. Unterhalb dieser Ebene verfügen die Kassen häufig noch über weitere Strukturen, wie z. B. Vertrauensleute oder Beiräte, die für den Kontakt mit den Versicherten oder auch die Streitschlichtung zuständig sind. Der Verwaltungsrat ist bei den meisten Kassen paritätisch aus Vertretern der Arbeitgeber und der Versicherten zusammengesetzt.69 Seine Mitglieder werden in den alle sechs Jahre stattfindenden Sozialwahlen von den Versicherten und Arbeitgebern gewählt. Er entscheidet über Fragen von grundsätzlicher Bedeutung, wie z. B. die Satzung der jeweiligen Kasse, die Wahl des hauptamtlichen Vorstands sowie die Überwachung seiner Tätigkeit, den Haushalt der Krankenkasse, die Gewährung von satzungsmäßigen Mehrleistungen an die Kassenmitglieder oder auch die Fusion mit anderen Krankenkassen.
Die heutige Struktur der Selbstverwaltung wurde durch das Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) von 1992 geschaffen und stand im Zeichen einer „Professionalisierung“, mit der die Krankenkassen auf den verstärkten Wettbewerb untereinander vorbereitet werden sollten.
Insgesamt hat die ehrenamtliche Selbstverwaltung der Krankenkassen, besonders seit den 1990er Jahren, erheblich an Einfluss auf das Kassenhandeln verloren (Gerlinger 2015). Hintergrund hierfür ist nicht nur die angesprochene gesetzlich forcierte Professionalisierung, sondern auch eine fortgesetzte Kritik an der Selbstverwaltung. So gilt diese zwar einerseits als Beispiel für eine wünschenswerte gesellschaftliche Selbstregelung, also die Beteiligung gesellschaftlicher Gruppen an der Regelung öffentlicher Belange, andererseits ist allerdings die Beteiligung an den Sozialwahlen, in denen die Verwaltungsräte der Kassen von den Kassenmitgliedern gewählt werden und durch die sich die gesellschaftliche Beteiligung am Kassenhandeln materialisiert, kontinuierlich niedrig. Dies schränkt die Legitimation der Selbstverwaltung ein. Die eigentliche Wahl wird hier obendrein häufig durch die sogenannten „Friedenswahlen“ (eine Verständigung der den beteiligten Gruppen über die Kandidatenaufstellung vor der Wahl) ersetzt.
Gemeinsame Selbstverwaltung der Ärzte und Krankenkassen:
Von der skizzierten Selbstverwaltung der Krankenkassen ist die Gemeinsame Selbstverwaltung der Ärzte und Krankenkassen zu unterscheiden. Gemeinsame Selbstverwaltung bedeutet, dass Krankenkassen, Kassenärztliche Vereinigungen (KVen) bzw. Kassenzahnärztliche Vereinigungen (KZVen) sowie Krankenhäuser und Krankenhausgesellschaften gesetzliche Rahmenvorgaben zur Krankenversorgung in gemeinsamer Verantwortung und nach staatlich festgesetzten Entscheidungsregeln konkretisieren. Sie arbeiten dabei innerhalb einer Entscheidungsstruktur zusammen, die in ihrem Aufbau dem föderativen Staatsaufbau der Bundesrepublik entspricht. Auf Bundesebene geht es hier darum, dass der GKV-Spitzenverband zusammen mit den Bundesvereinigungen der Kassenärzte und Kassenzahnärzte sowie der Deutschen Krankenhausgesellschaft Rahmenregelungen zu zentralen Themen der Gesundheitspolitik, wie z. B. der Menge, der Qualität oder der Vergütung von ärztlichen oder anderen gesundheitlichen Leistungen, trifft. Auf Ebene der Länder wiederum geht es u. a. darum, dass die Landesverbände der Krankenkassen auf der Basis dieser Rahmenregelungen gemeinsam mit den Leistungsanbietern (z. B. Ärzte, Krankenhäuser, Physiotherapeuten) Versorgungsverträge aushandeln und Entscheidungen über wichtige Aspekte des tatsächlichen Leistungsgeschehens (Menge, Qualität, Vergütung von gesundheitlichen Leistungen) treffen.
Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA): Der Grundsatz der Gemeinsamen Selbstverwaltung ist in den einzelnen Bereichen der Krankenversorgung unterschiedlich stark ausgeprägt. Insgesamt spielt dabei auf Bundesebene der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) – bis 2002 Bundesauschuss der Ärzte und Krankenkassen – eine besondere Rolle für die Steuerung der GKV. Der G-BA ist ein paritätisch aus Vertretern der Ärzteschaft und der Krankenkassen besetztes und um unparteiische Mitglieder erweitertes Gremium. Seit 2004 zählen auch Patientenvertreter zu seinen Mitgliedern. Sie verfügen allerdings nur über ein Antrags- und Mitberatungsrecht, nicht über ein Stimmrecht. Der G-BA ist für die konkretisierende Rechtsetzung auf nahezu allen Feldern der medizinischen und pflegerischen Versorgung zuständig und hat „Richtlinien über die Gewähr für eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten“ (z. B. über Aspekte der ärztlichen Behandlung) zu verabschieden (§ 92 Abs. 1 SGB V).
Die Richtlinien legt der G-BA dem BMG vor, das sie dann innerhalb einer Frist von zwei Monaten beanstanden kann. Kommen sie nicht oder nicht fristgerecht zustande, kann das BMG sie selbst erlassen. Die Richtlinien werden automatisch Bestandteil der zwischen der Ärzteschaft, den Krankenhäusern und den Krankenkassen geschlossenen Versorgungsverträge auf Bundesebene (Bundesmantelverträge) sowie der Verträge zwischen den Landesverbänden der Krankenkassen und den KVen bzw. den Krankenhäusern. Sie sind also für alle Beteiligten, einschließlich der Ärzte und Versicherten, unmittelbar verbindlich. Außerdem hat der Bundesausschuss seit 1997 eine umfassende Kompetenz, alle Untersuchungs- und Behandlungsmethoden, die zu Lasten der Krankenkassen erbracht werden sollen, zu überprüfen. Er überprüft diese im Hinblick auf ihren diagnostischen und therapeutischen Nutzen sowie auf ihre medizinische Notwendigkeit und ihre Wirtschaftlichkeit und entscheidet damit über den konkreten Umfang des Leistungskatalogs der GKV.
Die Gesamtaufwendungen der GKV beliefen sich im Jahr 2015 auf 213,53 Milliarden Euro (KF16: Bund, Stand März 2016), darunter 202,07 Milliarden Euro für Leistungsausgaben. Auf jeden Versicherten entfielen damit durchschnittliche Leistungsausgaben in Höhe von 3.019,50 Euro (BMG 2016c). Die Verwaltungskosten und sonstigen Aufwendungen ohne den Risikostrukturausgleich (RSA) machten 14,86 Milliarden Euro aus (6,9 % der Gesamtaufwendungen). Der bei weitem größte Teil der Leistungsausgaben (33,0 %) entfiel auf die Ausgaben für stationäre Behandlung. Die ambulante ärztliche Behandlung und die Arzneimittelversorgung machten jeweils rund ein Sechstel der Leistungsausgaben aus. Demgegenüber war der Bereich „Soziale Dienste, Prävention und Selbsthilfe“ mit 2,6 Milliarden Euro (1,2 %) fast bedeutungslos (BMG 2016c). Seit den frühen 1970er Jahren ist für alle Leistungsarten ein starker Ausgabenanstieg zu verzeichnen. 2011 waren die GKV-Leistungsausgaben in den alten Bundesländern nominal fast 14-mal so hoch wie 1970. Im gleichen Zeitraum ist der durchschnittliche allgemeine Beitragssatz ebenfalls kräftig angestiegen – von 8,2 % in 1970 über 10,5 % in 1975 auf 13,2 % in 1995 und 15,5 % in 2011. Diese Entwicklung wird in der Öffentlichkeit immer wieder zum Anlass genommen, um von einer „Kostenexplosion“ im Gesundheitswesen zu sprechen. Über die volkswirtschaftliche Bedeutung der GKV-Ausgaben geben aber weder die nominale Ausgabenentwicklung noch die Entwicklung des Beitragssatzes in der GKV, sondern vielmehr der Anteil der GKV-Leistungsausgaben am Bruttoinlandsprodukt Auskunft, also der Wert der mit GKV-Mitteln produzierten Waren und Dienstleistungen eines Jahres
BIP als Indikator für Gesundheitsausgaben: Beim Blick auf diesen Indikator stellt sich die Ausgabenentwicklung seit 1970 recht undramatisch dar. Lediglich zwischen 1970 und 1975 war ein – absolut und real – steiler Ausgabenanstieg in der GKV zu beobachten. Dies war in erster Linie eine Folge der skizzierten Ausweitungen von Leistungskatalog und Versichertenkreis. Seit 1975 liegt der Ausgabenzuwachs in der GKV nur geringfügig über der des gesamtwirtschaftlichen Wachstums. Seither schwankte der Anteil der GKV-Ausgaben am Bruttoinlandsprodukt (BIP) zwischen 5,8 % und 7,2 %. Dabei wurde die GKV noch durch die Wiedervereinigung in erheblichem Umfang finanziell belastet.
Noch heute liegt der Anteil der GKV-Ausgaben am BIP in den ostdeutschen Bundesländern erheblich über dem des Westens, nämlich bei etwa 10 %. Dies ist vor allem auf die nach wie vor deutlich geringere Wirtschaftskraft und deutlich höhere Arbeitslosigkeit in Ostdeutschland zurückzuführen. Bei der Interpretation der Daten zur GKV-Ausgabenentwicklung darf allerdings der Hinweis nicht fehlen, dass im Betrachtungszeitraum die Zuzahlungen kräftig erhöht und zahlreiche Leistungen aus dem GKV-Katalog ausgegliedert worden sind. Schwankungen des Beitragssatzes sowie des GKV-Ausgabenanteils am BIP sind in vielen Fällen auf die zyklische Wirtschaftsentwicklung und die mit ihr einhergehenden Einnahmeschwankungen und weit weniger auf Veränderungen auf der Ausgabenseite zurückzuführen. Der sprunghafte Anstieg des GKV-Ausgabenanteils am BIP im Jahr 2009 auf 7,2 % ist auf das Zusammentreffen zweier Entwicklungen zurückzuführen: eines in der deutschen Nachkriegsgeschichte einmaligen Wirtschaftseinbruchs und kostentreibender umfangreicher finanzieller Zugeständnisse an die Leistungsanbieter in der GKV angesichts der Bundestagswahl im Herbst 2009.
Beitragssätze: Für den Anstieg der Beitragssätze sind in erster Linie folgende Entwicklungen auf der Einnahmeseite verantwortlich. Die Lohnquote, also der Anteil der Einkommen aus abhängiger Arbeit am Nationaleinkommen, ist seit Mitte der 1970er Jahre stark rückläufig. Dies ist Ergebnis des vergleichsweise geringen Anstiegs der Löhne und Gehälter sowie der stark gestiegenen Arbeitslosenzahlen. Die Entwicklung der Grundlohnsumme, also derjenigen Einkommen, aus denen die Beiträge für die GKV erhoben werden, ist deutlich hinter dem Wirtschaftswachstum zurückgeblieben
Das Krankenversicherungssystem in Deutschland ist durch eine scharfe Grenzziehung zwischen der gesetzlichen und der privaten Krankenversicherung (PKV) gekennzeichnet. Nach Angaben des Verbandes der privaten Krankenversicherung waren im Jahr 2015 in Deutschland knapp 9 Millionen Menschen, also ca. 11 % der Bevölkerung, privat krankenvollversichert (PKV-Verband 2016). Kein anderes Gesundheitssystem in Europa weist einen auch nur annähernd so großen Sektor der privaten Vollversicherung für den Krankheitsfall auf.
Die PKV ist eine Einrichtung, in der überwiegend Bezieher mittlerer und hoher Einkommen ihr zumeist geringeres oder durchschnittliches Krankheitsrisiko versichern. Die GKV ist demgegenüber eine Solidargemeinschaft von Beziehern geringer und mittlerer Einkommen mit durchschnittlichen bis hohen Krankheitsrisiken. Die gesundheitspolitischen Reformen der vergangenen Jahre haben an dieser Trennung nichts geändert. So gibt es z. B. keinen Finanzausgleich zwischen beiden Systemen, und ist es den PKV-Versicherten aufgrund dieser Konstellation möglich, sich aus der Finanzierung des Solidarausgleichs von Krankheit innerhalb der Gesellschaft systematisch auszuklinken.
Den Hintergrund der Unterteilung des Krankenversicherungssystems in GKV und PKV bildet das Konzept der Schutzbedürftigkeit (Böckmann 2011): Der Versicherungspflicht in der GKV unterliegen diejenigen Bevölkerungsgruppen, die aufgrund ihres (durchschnittlich geringeren) Einkommens eine besondere Schutzwürdigkeit vor Krankheit durch den Staat haben. Umgekehrt sind diejenigen Gruppen von der Versicherungspflicht in der GKV befreit, denen die Fähigkeit zugeschrieben wird, für ihren Krankenversicherungsschutz selbst zu sorgen, also Selbstständige, Beamte und abhängig Beschäftigte mit einem Einkommen über der Jahresarbeitsentgeltgrenze (Versicherungspflichtgrenze).
Mitgliederexpansion der PKV seit Anfang der 1990er Jahre: In den zurückliegenden Jahrzehnten war die PKV lange Zeit ein stark expandierendes Segment der Krankenversicherung: Bundesweit stieg die Anzahl der Versicherten hier kontinuierlich an – allein in den zwei Jahrzehnten zwischen 1991 und 2011 um rund 40 %; seither ist sie leicht rückläufig. Der Großteil der privat Versicherten hatte Ende 2014 seinen Wohnsitz in den westdeutschen Bundesländern; nur knapp jeder zehnte privat Versicherte kam aus den ostdeutschen Ländern. An diesem Anstieg wird u. a. deutlich, dass sich seit Jahren eine schleichende Privatisierung des Krankenversicherungssystems in Deutschland vollzogen hatte. Dabei hat die Gruppe der Beamten, die seit 1991 im Verhältnis zu den Erwerbstätigen insgesamt deutlich geschrumpft ist (Statistisches Bundesamt 2013a), eine besonders große Bedeutung für die PKV. Sie und ihre Familienangehörigen machten im Jahr 2014 allein 48,3 % der privat krankenversicherten Personen hierzulande aus (PKV-Verband 2015: 26). Beamte versichern sich beinahe ausschließlich in der PKV, weil sie nur hier die staatliche Beihilfe erhalten, hingegen in der GKV auch den dortigen Arbeitgeberbeitrag selbst aufbringen müssten.
Privatversicherte schließen mit ihrem Versicherungsunternehmen einen individuellen Vertrag ab und können dabei im Unterschied zur GKV zwischen unterschiedlichen Leistungsangeboten wählen. Im Verhältnis zwischen Leistungserbringern (Ärzte, Physiotherapeuten etc.) und privat versicherten Patienten gilt dabei das Kostenerstattungsprinzip: Die Leistungserbringer stellen dem Patienten ihre Leistungen in Rechnung, und diesem werden die ihm damit entstehenden Kosten ex post entsprechend den vertraglich vereinbarten Tarifbedingungen vom Versicherungsunternehmen zurückerstattet. Der Arzt berechnet die Behandlungskosten dabei auf der Grundlage der „Gebührenordnung für Ärzte“ (GOÄ), die feste Euro-Werte für die privaten ärztlichen Leistungen vorsieht. Für identische Leistungen ist die Vergütung in der privatärztlichen Versorgung dabei in der Regel deutlich höher (1,7 bis 3,5-mal so hoch) als in der kassenärztlichen Versorgung. Aus diesem Grund erhalten Privatpatienten in der ambulanten Versorgung häufig schneller einen Behandlungstermin als GKV-Patienten
Beiträge in der PKV: Die Kalkulation der Versicherungsbeiträge in der PKV („Prämien“) beruht auf dem Prinzip der Risikoäquivalenz und nicht, wie in der GKV, auf dem Solidarprinzip. Die Prämienkalkulation unterliegt grundsätzlich den Gesetzen der Marktkonkurrenz. Dabei hat die Große Koalition mit dem GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) mit Wirkung von 2009 an eine wichtige Veränderung an der Binnenstruktur der privaten Krankenversicherung vorgenommen: Die privaten Krankenversicherungen müssen seit 2009 einen Basistarif anbieten, dessen Leistungsumfang dem der GKV entspricht. Die Prämie im Basistarif darf nicht höher sein als der Höchstbeitrag in der GKV (2015=667,95 Euro). Der Tarif steht allen Neuversicherten in der PKV – also auch bisher in der GKV freiwillig Versicherten – und allen PKV-Bestandsversicherten über 55 Jahre offen, wobei die Versicherungen gesetzlich dazu verpflichtet worden sind, Personen dieser Gruppen auf Antrag als Versicherte aufzunehmen; eine individuelle Prüfung des Gesundheitszustands – wie sonst in der PKV üblich – ist in diesem Fall unzulässig. Diese Maßnahme zielt u. a. darauf, älteren PKV-Versicherten eine Option zu bieten, den im Alter in der PKV üblicherweise stark steigenden Prämien auszuweichen.
Obligatorischer Basistarif seit 2009: Die Einführung eines obligatorischen Basistarifs in der PKV ist gesundheitspolitisch bedeutsam, denn mit ihm sind einzelne, aus der GKV bekannte Prinzipien in die PKV-Finanzierung eingebaut worden (z. B. werden die Mehrkosten, die den privaten Versicherungen durch den Verzicht auf die übliche individuelle Gesundheitsprüfung entstehen, auf die Gemeinschaft der PKV-Versicherten umgelegt und müssen mithin solidarisch von dieser finanziert werden). Umgekehrt haben mit der Einführung oder Erhöhung von privaten Zuzahlungen und der Einführung von Wahltarifen auch Prinzipien der PKV in den vergangenen Jahren Eingang in die GKV erhalten, so dass es insgesamt zu einer vorsichtigen Annäherung der beiden Systeme71 gekommen ist. Es wird abzuwarten bleiben, ob die gesundheitspolitischen Reformen der jüngeren Vergangenheit sich tatsächlich als Keimzelle eines einheitlichen Versicherungssystems erweisen werden
Ambulanter Sektor:
Das deutsche Gesundheitssystem lässt sich als ein „System komplexer Vielfachsteuerung“ charakterisieren (Alber 1992: 157). Es zeichnet sich dadurch aus, dass sich für seine einzelnen, relativ autonomen Regelungsbereiche je eigene Steuerungssysteme herausgebildet haben, in denen staatliche, verbandliche (korporatistische) und marktlich-private Akteure auf je spezifische Weise interagieren und dabei eine Vielzahl unterschiedlicher Steuerungsinstrumente einsetzen. Besondere Bedeutung haben hier die Bereiche der ambulanten und der stationären Krankenversorgung, wo in den vergangenen Jahren wettbewerbsbezogene Instrumente eine immer stärkere Rolle gespielt haben
Besondere Bedeutung korporatistischer Regulierung: Bei aller Vielfalt sind für die Gesundheitspolitik in Deutschland korporatistische Regulierungsformen von besonderer Bedeutung. Allgemein sind diese dadurch gekennzeichnet, dass der Staat für einzelne Regelungsbereiche einen allgemeinen Ordnungsrahmen setzt und die Kompetenzen zur konkretisierenden Regelsetzung auf dieser Grundlage an Verbände delegiert. Diese – im Fall der Gesundheitspolitik z. B. die Verbände der Krankenkassen auf Bundes- und Länderebene, die Kassenärztliche (Bundes-) Vereinigung und die Deutsche Krankenhausgesellschaft – werden dabei auf die Verfolgung öffentlicher Ziele verpflichtet und füllen den staatlichen Ordnungsrahmen durch Kollektivverhandlungen und - verträge aus. Zentrales Politikinstrument ist mithin das Recht.
Zugleich stattet der Staat die Verbände zumeist über die Schaffung von Zwangsmitgliedschaften für die vertretene Klientel oder über die Verleihung von Vertretungsmonopolen – dies ist z. B. bei den Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) oder den Krankenkassen und ihren Verbänden der Fall – mit der Fähigkeit aus, den Verhandlungsergebnissen gegenüber den Betroffenen (z. B. Vertragsärzten, Versicherten) Verbindlichkeit zu verleihen. Dabei sichert er sich durch die Einführung von Genehmigungsvorbehalten und Beanstandungsrechten oder durch die Drohung mit Ersatzvornahmen eine Art Letztentscheidungsrecht über den Inhalt der kollektiv-vertraglichen Vereinbarungen zwischen den Verbänden. Es handelt sich also um eine verbandliche Selbststeuerung „im Schatten der Hierarchie“ (Scharpf 2000). Bei der Aufsicht (Rechtsaufsicht) über die Tätigkeit der Verbände und damit die Gemeinsame Selbstverwaltung im ambulanten Sektor gibt es eine Arbeitsteilung zwischen Bund und Ländern Auf dem Wege der korporatistischen Steuerung kann sich der Staat die Handlungsressourcen der Verbände, vor allem das dort vorhandene Expertenwissen, zu Nutze machen.
Allerdings wurden auf diese Weise in den einzelnen gesundheitspolitischen Handlungsfeldern starke Verbände etabliert, die sich ihrerseits überwiegend von den Partialinteressen ihrer Mitglieder leiten lassen und sich den staatlichen Steuerungsansprüchen des Öfteren widersetzen. Dies gilt insbesondere für den Bereich der ambulanten Krankenversorgung. Das Steuerungssystem des ambulanten Sektors kann nachgerade als Musterbeispiel eines korporatistischen Steuerungsmodells gelten. Die zwischen den Verbänden abgeschlossenen kollektivvertraglichen Vereinbarungen beziehen sich vor allem auf die Vergütung, aber auch auf die Qualität und die Menge der zu erbringenden gesundheitlichen (z. B. ärztlichen) Leistungen. Von besonderer Bedeutung ist dabei das bereits erwähnte Wirtschaftlichkeitsgebot.
Mehrebenensystem korporatistischer Steuerung: Grundsätzlich ist die vertragsärztliche Versorgung in den Vereinbarungen zwischen der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) bzw. den KVen und den Verbänden der Krankenkassen so zu regeln, „dass eine ausreichende, zweckmäßige und wirtschaftliche Versorgung der Versicherten unter Berücksichtigung des allgemein anerkannten Standes der medizinischen Erkenntnisse gewährleistet ist und die ärztlichen Leistungen angemessen vergütet werden“ (§ 72 Abs. 2 SGB V). Damit diese Vorgabe erfüllt wird, weisen die gesetzlichen Rahmenvorgaben den Verbänden auf der Bundes- und der Landesebene unterschiedliche Steuerungskompetenzen zu. Die Steuerung der ambulanten Versorgung in der GKV erfolgt damit im Rahmen eines Mehrebenensystems, in dem die Zuständigkeiten auf eine Makro-, Meso- und Mikroebene verteilt sind.
Auf der Makro- oder Bundesebene sind die KBV und der GKV-Spitzenverband die entscheidenden Akteure. Sie vereinbaren im Bundesmantelvertrag die für alle Beteiligten geltenden Rahmenbedingungen der ambulanten Versorgung und treffen Vereinbarungen von grundsätzlicher Bedeutung, wie Vereinbarungen über den Inhalt und Umfang der hausärztlichen Versorgung (§ 73 Abs. 1c SGB V). Als Institution spielt auf dieser Ebene der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) eine herausragende Rolle. Der G-BA ist für die konkretisierende Rechtsetzung in der vertragsärztlichen Versorgung zuständig. Damit entscheidet er über den Leistungskatalog der GKV.
Auf der Meso- oder Länder-Ebene wiederum haben die KVen und die Landesverbände der Krankenkassen bzw. die Verbände der Ersatzkassen die Aufgabe, die bundesweiten Rahmenvorgaben weiter zu konkretisieren, z. B. durch den Abschluss von Gesamtverträgen (§ 82 Abs. 2 SGB V) oder die Vereinbarung über die Höhe der vertragsärztlichen Gesamtvergütung (§ 85 Abs. 2 SGB V).
Auf der Mikro-Ebene oder Ebene der einzelnen Akteure treffen einzelne Krankenkassen oder Gruppen von Leistungserbringern Vereinbarungen zur ambulanten Versorgung. Etwa seit Mitte der 1990er Jahre machte sich in der staatlichen Gesundheitspolitik mit dem Übergang zu einer Politik des regulierten Wettbewerbs ein Trend bemerkbar, Handlungskompetenzen zum Teil wieder auf die einzelwirtschaftliche Ebene zurück zu verlagern.
Krankenhaussektor:
Auch für den stationären oder Krankenhaussektor gilt, dass staatliche, korporatistische und marktbezogene Steuerungsformen auf je eigene Weise miteinander verknüpft werden. Allerdings weist die Steuerung der stationären Krankenversorgung eine Reihe von Besonderheiten auf. So spielt der Staat, d. h. die Länder, hier eine besonders große Rolle. Diese ergibt sich vor allem aus dem Sicherstellungsauftrag der Länder für die Krankenhausversorgung. Jedes Bundesland ist dafür verantwortlich, dass in seinem Einflussbereich ausreichend stationäre Versorgungskapazitäten vorhanden sind. Die Länder nehmen diese Verantwortung über die Aufstellung von Landeskrankenhausplänen und die Gewährung von Investitionsmitteln wahr. Zugleich sind sie wegen der Zustimmungspflicht des Bundesrates zu krankenhausrelevanten Bundesgesetzen wichtige Akteure in der Krankenhauspolitik insgesamt; der Bundesrat ist hier ein „institutioneller Vetospieler“ (Tsebelis 2002). Und schließlich fungieren die Länder und die Kommunen auch als Vertragsparteien bei den oben beschriebenen Kollektivverhandlungen. Sie betreiben ein knappes Drittel der Krankenhäuser in Deutschland und beinahe die Hälfte der Krankenhausbetten in Deutschland
Im Gegensatz zur herausgehobenen Rolle der Länder ist diejenige des Bundes begrenzt. Zwar ist der Bund für Regelungen zur Krankenhausfinanzierung zuständig, er kann hier jedoch gegen den Widerstand der Ländermehrheit keine Reformen durchsetzen. Diese wiederum folgen häufig ihren Eigeninteressen, die, wie das Beispiel der Meinungsverschiedenheiten über die Krankenhausplanung und die Krankenhausfinanzierung zeigt (Klenk/ Reiter 2012)73, mit den Interessen des Bundes nicht immer zusammenfallen. Auch kongruente Mehrheitsverhältnisse in Bundestag und Bundesrat, die zudem nicht allzu häufig anzutreffen sind, stellen also keine hinreichende Voraussetzung für die Durchsetzung von Vorhaben des Bundes dar.
Einführung der Diagnosis Related Groups (DRG): Auch bei den vertragspolitischen Kompetenzen in der Gemeinsamen Selbstverwaltung von Krankenkassen und Krankenhäusern existieren deutliche Unterschiede zur ambulanten Versorgung. Das Gesetz zur wirtschaftlichen Sicherung der Krankenhäuser und zur Regelung der Krankenhauspflegesätze (KHG) schreibt den Krankenkassen eine einheitliche Berechnung der Vergütungen im Krankenhaussektor vor (§ 17 Abs. 1 KHG). Nach Kassen oder Kassenarten unterschiedliche Versorgungs- und Vergütungsverträge sind hier, anders als in der ambulanten Versorgung, also nicht möglich. Berechnungsgrundlage für die Leistungsvergütung im stationären Sektor ist mittlerweile – nach einer schrittweisen Einführung des Systems zwischen 2002 und 2010 – das international verbreitete Klassifikationssystem der Diagnosis Related Groups (DRG). Hier werden die im Krankenhaus erbrachten Leistungen jeweils bestimmten diagnosebezogenen Fallgruppen zugeordnet, die ihrerseits mit einem pauschalierten Vergütungssystem verbunden sind. Die Pflicht zur einheitlichen Vergütung von Leistungen im Krankenhaussektor schließt sogar die private Krankenversicherung ein.
Eine weitere Eigentümlichkeit in der Steuerung der Krankenhausversorgung besteht schließlich darin, dass hier das einzelne Krankenhaus, und nicht ein Kollektivakteur, wie z. B. die Landeskrankenhausgesellschaft (semikorporatistische Steuerung; Lehmbruch 1988), als Vertragspartner der Krankenkassen fungiert. Dabei haben die Krankenkassen die gesetzliche Pflicht, mit denjenigen Krankenhäusern, die in die Krankenhauspläne der Länder aufgenommen worden sind, Versorgungsverträge abzuschließen (Kontrahierungspflicht).
Auch wenn der vom Bundesgesetzgeber und den Krankenkassen ausgehende Druck zur Kosteneinsparung und Ausgabenbegrenzung gerade im Krankenhaussektor in den vergangenen Jahren zugenommen hat, haben die Länder es den Krankenhäusern immer wieder ermöglicht, eigene einrichtungsbezogene Besonderheiten in den Vergütungsverhandlungen geltend zu machen und den individuellen Kostendruck damit zu mildern. Bei der DRG-Einführung in Deutschland ab dem Jahr 2005 kam dies z. B. darin zum Ausdruck, dass die Länder die Möglichkeit zur Zahlung von Sicherstellungszuschlägen der Krankenkassen für bestimmte Krankenhäuser durchsetzten, die sie als unverzichtbar für die Aufrechterhaltung der regionalen Versorgung betrachteten.
Dynamischer Wandel des Regulierungssystems: Das System zur Regulierung der Krankenhausversorgung unterliegt seit Jahren einem dynamischen Wandel. Dabei hat der Gesetzgeber insbesondere die Krankenkassenverbände auf Bundes- und Länderebene sowie – zuungunsten der einzelnen Krankenhäuser – die (Landes-) Krankenhausgesellschaften gestärkt. So gewannen letztere aufgrund diverser Regelungen in den unterschiedlichen Gesundheitsreformgesetzen seit 1989 nach und nach an Verpflichtungsfähigkeit gegenüber den einzelnen, in den Landeskrankenhausplänen zugelassenen Krankenhäusern. Dadurch wurden die Krankenhausgesellschaften in die Lage versetzt, einheitliche Lösungen für ein jeweiliges Land, z. B. in Fragen der Leistungsqualität oder -menge, durchzusetzen. Außerdem wurde die stationäre Krankenversorgung durch das GKV-Modernisierungsgesetz (GMG) im Jahr 2004 in das jahrzehntelang auf den ambulanten Sektor beschränkte Verhandlungsregime des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) einbezogen.
Darüber hinaus regelte das Gesetz auch die Einführung der bundeseinheitlichen Vergütung von Krankenhausleistungen auf DRG-Basis. All diese Schritte haben dazu geführt, dass sich das Steuerungssystem des Krankenhaussektors in den vergangenen Jahren allmählich dem Steuerungssystem des ambulanten Sektors angenähert hat. Dieser Prozess, der bereits in den 1980er Jahren einsetzte, ist auch als „Korporatisierung“ des Krankenhaussektors bezeichnet worden
Tendenz zur Zentralisierung der Steuerung des Krankenhaussektors: Die beschriebenen Regelungen markieren zugleich eine Tendenz zur Zentralisierung des Steuerungssystems im Krankenhaussektor. Dieser Entwicklung liegt das Bestreben des Bundes zugrunde, für den anvisierten Wettbewerb zwischen den Leistungserbringern bundeseinheitliche Ausgangsbedingungen – ein „level playing field“ – zu schaffen. Der Spielraum für spezifische Vereinbarungen auf Landesebene oder mit dem einzelnen Krankenhaus wird damit geringer. Dies kommt nicht nur in der Durchsetzung der Vergütungsreform, sondern z.B. auch in der Umsetzung der sog. Mindestmengenregelungen zum Ausdruck. Der G-BA verabschiedet diese Mindestmengenregelungen mit bundesweiter Geltungskraft. Ihnen zufolge müssen Krankenhäuser bei bestimmten Untersuchungen oder Eingriffen eine Mindestzahl nachweisen, wenn sie diese Leistung künftig zu Lasten der Krankenkassen erbringen möchten. Der Kontrahierungszwang der Krankenkassen mit den vom Land im Landeskrankenhausplan als bedarfsnotwendig festgelegten Krankenhäusern wird auf diese Weise eingeschänkt.
Ein weiterer wichtiger Regulierungsbereich des deutschen Gesundheitswesens, auf den hier allerdings nicht näher eingegangen wird, ist der Arzneimittelsektor. Festzuhalten bleibt lediglich, dass er weniger stark als die ambulante Versorgung und die Krankenhausversorgung durch korporatistische Steuerungselemente und stärker durch Wettbewerb geprägt ist.
Bis in die erste Hälfte der 1970er Jahre und insbesondere zu Zeiten der sozialliberalen Koalition unter Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) zwischen 1969 und 1974 war die deutsche Gesundheitspolitik von einem Ausbau der Gesundheitsversorgung gekennzeichnet. Den Hintergrund hierfür bildete die wirtschaftliche Expansion der Nachkriegsjahrzehnte, die im Anschluss an die erste Ölkrise 1973 und die darauf folgende Weltwirtschaftskrise ein Ende fand. Zu den Konsequenzen zählten durchschnittlich eher niedrige Wachstumsraten und tendenziell steigende Arbeitslosenzahlen ab Mitte der 1970er Jahre – eine Entwicklung, die für das deutsche Gesundheitswesen nicht folgenlos blieb. Ausgehend von der Vorstellung, dass die medizinische Versorgung „zu teuer“ geworden sei, erhoben die aufeinander folgenden Bundesregierungen nunmehr die „Kostendämpfung“ zu einem zentralen Ziel der Gesundheitspolitik.
Strukturkonservierende Kostendämpfungspolitik: Die traditionelle „strukturkonservierende“ Kostendämpfungspolitik im Zeitraum zwischen 1975 und 1992 ist dadurch gekennzeichnet, dass die Einsparziele für die GKV unter Zuhilfenahme der hergebrachten gesundheitspolitischen Instrumente sowie ohne tiefgreifende strukturelle Veränderungen im deutschen Gesundheitswesen verfolgt wurden. Es handelte sich vielfach um einen Wandel erster Ordnung (z. B. Änderung der gesetzlichen Bestimmungen zur Bewertung medizinischer Leistungen, Modifizierungen der Planungspolitik im Krankenhaussektor, Abwandlungen der Vergütung stationärer Leistungen). Ein wichtiges Ziel in diesem Zusammenhang war die systematische Einbindung der Verbandsakteure in die Reformbestrebungen durch den Ausbau des gesundheitspolitischen Korporatismus. Vor dem Hintergrund dieser Integrationsbemühungen verabschiedete der Bundestag zunächst während der Regierungszeit von Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) bis 1982 und sodann während der Regierungszeit von Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) mehrere zentrale Gesetze zur Kostendämpfung in der ambulanten medizinischen Versorgung und in der Krankenhausversorgung:
1977 das Krankenversicherungskostendämpfungsgesetz (KVKG), mit dem u. a. erstmals private Zuzahlungen für Patienten (z. B. zu Krankentransporten) eingeführt wurden;
- 1981 das Kostendämpfungs-Ergänzungsgesetz, das u. a. Höchstbeträge für Arzneimittelverordnungen mit sich brachte;
- 1982, 1983 und 1984 die Haushaltsbegleitgesetze, durch die u. a. die Praxis der privaten Zuzahlungen erweitert wurde;
- 1984 das Krankenhaus-Neuordnungsgesetz (KNHG), durch das die Vergütung stationärer Leistungen verändert wurde (Einführung flexibler Budgets zur verbesserten Vorausplanung der stationären Versorgungsausgaben und Ausgabenbegrenzung);
- 1986 das Gesetz über die kassenärztliche Bedarfsplanung, mit dem der Gesetzgeber erstmals Beschränkungen für die regionale Zulassung von Kassenärzten durch die KVen einführte, also die Praxis der ärztlichen Niederlassung zu regulieren versuchte, und
- 1988 das Gesundheitsreformgesetz (GRG), das nach dem Willen der Regierungsakteure die Finanzierung der Versorgung durch die GKV grundlegend reformieren sollte, letztlich aber lediglich eine Reform der Arzneimittelvergütung brachte und darüber hinaus die Überführung der gesetzlichen Regelungen zur gesundheitlichen Versorgung der Bevölkerung aus der Reichsversicherungsordnung von 1913 (vgl. Kap. 3) in das neu geschaffene Sozialgesetzbuch V (SGB V) regelte.
Wichtige Parameter der Periode der Kostendämpfung: Einnahmeorientierte Ausgabenpolitik….:Die aufgelisteten Gesetze etablierten die zentralen Parameter der Periode der strukturkonservierenden Kostendämpfungspolitik. Sie trugen erstens dazu bei, dass bei Regelungen über die Ausgaben der GKV ab Mitte der 1970er Jahre verstärkt die tatsächlichen GKV-Einnahmen als Orientierungspunkt herangezogen wurden. Der ebenfalls denkbare Versuch, die Mehrausgaben der Leistungserbringer im Gesundheitswesen (Ärzte, Krankenhäuser etc.) strikt zu unterbinden, wurde hingegen nicht gestartet. Vielmehr setzte der Gesetzgeber hier auf Freiwilligkeit. So etablierte er z. B. mit dem KVKG 1977 die Konzertierte Aktion im Gesundheitswesen, deren Aufgabe auch darin bestand, Sparempfehlungen und - appelle an die Ärzte, Krankenhäuser und Krankenkassen zu richten (Wiesenthal 1981: bes. 76ff.). Außerdem waren auch Nachverhandlungen zwischen den Leistungserbringern und Krankenkassen eine typische Erscheinung dieser Zeit. Hier passten beide Seiten die Vergütung medizinischer Leistungen ex post an die Entwicklung der Leistungsmengen an, d. h. die Gemeinsame Selbstverwaltung legimitierte häufig im Nachhinein, ungeachtet bereits zuvor getroffener Vereinbarungen, eine Erweiterung der GKV-Ausgaben durch die (ungeplante) Steigerung der Menge der erbrachten medizinischen Leistungen. Trotz dieser Praktiken gelang es, den Ausgabenanstieg in der GKV spürbar zu drosseln und war die einnahmeorientierte Ausgabenpolitik – nimmt man die Ausgaben- und Beitragssatzentwicklung als Gradmesser – nicht unbedingt erfolglos
Stärkung der Krankenkassen gegenüber den Leistungserbringern…: Zweitens war die vorsichtige, aber spürbare Stärkung der Krankenkassen gegenüber den Leistungserbringern, insbesondere den kassenärztlichen Vereinigungen, ein Kennzeichen dieser Periode, auch wenn tiefer gehende Strukturreformen in der Zeit zwischen 1975 und 1992 ausblieben. Die Krankenkassen waren in den Verhandlungen mit den Ärzten in einer strukturell unterlegenen Position. Denn aufgrund der starken Zersplitterung der Kassenlandschaft (in den 1970er Jahren existierten mehr als 1.000 einzelne Krankenkassen) und der gegliederten Organisation der GKV (vgl. Kap. 6.1.3) war der Koordinationsaufwand der Kassen zur Bestimmung gemeinsamer Standpunkte stets höher als derjenige der Ärzte.
Die unterschiedlichen Regierungsparteien in der Zeit zwischen 1975 und 1992 teilten vor diesem Hintergrund die Überzeugung, dass die Fragmentierung der Kassenseite, aber auch das Vertragsmonopol der Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) zu einer asymmetrischen Machtverteilung innerhalb des Systems der Gemeinsamen Selbstverwaltung geführt hatten. Dies wiederum hatte es der verfassten Ärzteschaft gestattet, die Kassen in einen Aufschaukelungswettbewerb um ausgabenwirksame Zugeständnisse zu treiben (z. B. Mayntz/Derlien 1979: 23ff., 37ff.). Daher war der Gesetzgeber bestrebt, die Krankenkassen als Finanzierungsträger des GKV-Systems in den Verhandlungen mit den Ärzten in eine stärkere Ausgangsposition zu bringen. Beispiele hierfür sind etwa, dass der Gesetzgeber die Vergütungsverhandlungen bei den Orts-, Innungs-, Betriebs- und landwirtschaftlichen Krankenkassen von der einzelnen Kasse auf die Ebene der Landesverbände anhob, oder auch, dass er eine gemeinsame, also für alle Kassenarten geltende kassenärztliche Gebührenordnung schuf. Insgesamt erhoffte man sich, dass durch diese Maßnahmen die Gemeinsame Selbstverwaltung für die übergreifenden Kostendämpfungs- und Einsparziele sensibler gemacht würde
Vorsichtige Korrektur von Fehlanreizen für Ärzte und Krankenhäuser…: Ein drittes Kennzeichen der Periode der traditionellen Kostendämpfungspolitik war die vorsichtige Korrektur von Angebotsstrukturen bzw. von Fehlanreizen auf der Seite der Leistungsanbieter. Handlungsleitend war hier die Erkenntnis, dass ein erheblicher Teil der Ausgabensteigerungen in der GKV durch die Entscheidungen der niedergelassenen Ärzte und die Akteure im Krankenhaus verursacht wurde. Dementsprechend richteten sich die Bemühungen darauf, das Leistungsgeschehen stärker zu regulieren. Ein Beispiel für entsprechende Maßnahmen war etwa die Einführung einer kassenärztlichen Bedarfsplanung. Diese sollte den Anstieg der Arztzahlen und damit auch die arztinduzierte Nachfrage nach Gesundheitsleistungen begrenzen (Deppe 1987b). Ein weiteres Beispiel im Krankenhaussektor war die Einführung von flexiblen Budgets bei der Krankenhausvergütung. Diese sollten Anreize zur Verkürzung der Verweildauer der Patienten im Krankenhaus und zur Begrenzung von Krankenhausaufnahmen schaffe
…beginnende Privatisierung von Behandlungskosten: Schließlich stellte viertens ein Trend zur Privatisierung von Krankenbehandlungskosten ein Kennzeichen der traditionellen Kostendämpfungspolitik dar: Für verschiedene Leistungen wurden nunmehr individuelle Zuzahlungen eingeführt bzw. sukzessive erhöht. Vereinzelt wurden Leistungen auch von der Pflicht der Kassen zur Erstattung ausgenommen (z. B. die so genannten Bagatellarzneimittel) oder der Zugang zu bestimmten Leistungen eingeschränkt.
Im Kern blieben unter dem Dach der einnahmeorientierten Ausgabenpolitik die bisherigen Anreizstrukturen für die Akteure des Gesundheitswesens aber unverändert. Sie unterstützten die weitere Ausweitung der Menge der erbrachten medizinischen Leistungen (und damit der Kosten) oder waren zumindest nicht so beschaffen, dass sie die Ärzte oder Krankenhäuser veranlasst hätten, aus eigenem finanziellem Interesse die Erbringung oder Inanspruchnahme von Leistungen auf das Maß des medizinisch Notwendigen zu beschränken. Insofern war die strukturkonservierende Kostendämpfungspolitik bis 1992 durch den Widerspruch zwischen den globalen Zielen der Kostenbegrenzung und Beitragssatzstabilität einerseits und den tatsächlichen finanziellen Anreizen für die Individualakteure zur Ausweitung der Leistungsmenge gekennzeichnet.
Gesundheitspolitik 1975-1992: Wandel erster Ordnung: Die beschriebenen Veränderungen in der deutschen Gesundheitspolitik lassen sich – in den Kategorien von Peter Hall – als Wandel erster Ordnung charakterisieren. Ein grundlegender Wechsel der Instrumente sowie Strukturreformen im Gesundheitswesen, also solche Maßnahmen, die eine „Umverteilung der Kompetenzen und Zuständigkeiten im Hinblick auf die Finanzierung, die Bereitstellung und auf die Regulierung von medizinischen Leistungen“ (Webber 1988: 157) herbeiführen, blieben in jenen Jahren aus. Zwar waren weiterreichende Reformkonzeptionen durchaus vorhanden (z. B. Enquête-Kommission 1990)74, jedoch machten sich die Akteure des politischen Systems diese meist nur in abgeschwächter Form zu eigen.
Starke Ärzteverbände und Bundesrat als „institutioneller Vetospieler“: Ein wesentlicher Faktor zum Verständnis dieser zurückhaltenden Anpassungs- und Konsolidierungsbemühungen der Politik war das Bestreben der Regierungsakteure, den Widerstand der Verbände im Gesundheitswesen (z. B. Kassenärztliche Vereinigung, Krankenkassenverbände) gegen Reformen möglichst gering zu halten. Dies wiederum geht einerseits auf die Regierungsbeteiligung der FDP zurück (zwischen 1969 und 1998 war die FDP ununterbrochen an den wechselnden Bundesregierungen beteiligt) und hängt andererseits mit der Stärke der Ärzteverbände zusammen (Rosewitz/Webber 1990). Der politische Widerstand aus den Reihen der Ärzteschaft gegen jegliche Strukturreformen war in jener Zeit nicht nur besonders hoch, sondern auch sehr effektiv (ebd.).
So war die organisierte Ärzteschaft aus den oben genannten Gründen (Zersplitterung der Kassenland-schaft, Vertragsmonopol mit den Krankenkassen) ein besonders mächtiger gesundheitspolitischer Akteur, der zudem mit der FDP über einen wichtigen Verbündeten in der Bundesregierung verfügte. Somit kommt der Machtressourcentheorie – in einer angepassten, die Spezifika des Gesundheitswesens berücksichtigenden Variante – zur Erklärung des begrenzten Politikwandels eine besondere Bedeutung zu. Speziell mit Blick auf den Krankenhaussektor spielten darüber hinaus institutionelle Faktoren, insbesondere die Vetomacht der Länder, eine wichtige Rolle. Die Länder nutzten über den Bundesrat ihre Position als „institutioneller Vetospieler“ zur Blockade weiterreichender Reformen. Damit blieben die Steuerungswirkungen der Reformbemühungen zwischen 1975 und 1992 insgesamt recht begrenzt. Der beschriebene Wandel wiederum bestand vor allem in einer Anpassung der gesundheitspolitischen Instrumente. Er bereitete indes den späteren, ebenfalls auf Kostendämpfung abzielenden Strukturwandel bereits vor.
Regulierung des GKV-Systems, Zugang zur Versorgung und Finanzierung der GKV:
Die auf die Struktur des GKV-Regulierungssystems bezogene Gesundheitspolitik steht seit der ersten Hälfte der 1990er Jahre unter den Vorzeichen des „regulierten Wettbewerbs“ („managed competition“ oder „regulated competition“). Kernelemente des reformbedingten Wandels seither sind die Liberalisierung des GKVSystems, seine Zentralisierung bzw. der Einflusszuwachs des Staates auf seine Steuerung und die Veränderung der Handlungsspielräume der Selbstverwaltungsakteure (z. B. Ärzteschaft) mit der Folge, dass sich deren Interessenvermittlungsstrategien ausdifferenziert haben. Mit dem 1992 verabschiedeten und 1993 in Kraft getretenen Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) nahm die Bundesregierung nach gut eineinhalb Jahrzehnten der strukturkonservierenden Kostendämpfungspolitik (Rosewitz/Webber 1990) wichtige Weichenstellungen in Richtung einer Wettbewerbsstärkung vor.
Neue Steuerungsinstrumente: So kamen mit dem GSG Steuerungsinstrumente in der Gesundheitspolitik zum Einsatz, die für die GKV entweder neu waren oder so an Gewicht gewannen, dass sie die Anreizstrukturen für die beteiligten Akteure erheblich veränderten. Hierzu zählten beispielsweise die freie Kassenwahl, die einen Kassenwettbewerb um Versicherte etablierte und den Krankenkassen ihre bis dahin auf dem berufsständischen System beruhende Bestandsgarantie entzog, oder Formen der prospektiven Vergütung für ambulante und stationäre Versorgungsleistungen (Pauschalen, Budgets), mit denen sich das Finanzierungsrisiko der Krankenbehandlung auf die Leistungsanbieter (Ärzte, Krankenhäuser) verlagerte. Begleitet wurde dieser Wandel von einer deutlichen Erhöhung der privaten Zuzahlungen. Ziel des Gesetzgebers dabei war es, den einzelnen Akteuren im Gesundheitswesen Anreize zu schaffen, um die Inanspruchnahme (Patienten), Erbringung (Ärzte) oder Bewilligung (Krankenkassen) von Leistungen zu begrenzen
Vielzahl inkrementeller Reformen: Der mit den Weichenstellungen des GSG 1992 beschrittene Weg hin zur Etablierung einer Wettbewerbsordnung in der GKV wurde in der Folgezeit in einer Vielzahl inkrementeller Reformen weiterverfolgt. Insbesondere wurden die Wettbewerbsbeziehungen, die das GSG zunächst mit der Einführung der freien Kassenwahl auf die Konkurrenz der Krankenkassen um Versicherte begrenzt hatte, in den Folgejahren auf die Beziehungen zwischen Krankenkassen und Leistungsanbietern, also Ärzten, Krankenhäusern etc., ausgeweitet. Das wichtigste Instrument dabei waren die ab 2000 verstärkt eingeführten Selektivverträge mit einzelnen Leistungsanbietern oder Gemeinschaften von Leistungsanbietern („Vertragswettbewerb“) (z. B. Götze et al. 2009). Nach dem Willen des Gesetzgebers sollten diese Verträge (z. B. mit der Gruppe der Hausärzte zur Stärkung der hausarztzentrierten Versorgung durch das GKV-Reformgesetz von 2000 und das GKV-Modernisierungsgesetz von 2004) die Leistungsanbieter unter Druck setzen, weil sie untereinander um den Abschluss von Versorgungsverträgen mit den Krankenkassen konkurrierten. Sie müssten daher – so die Erwartung – bestrebt sein, ihr Leistungsangebot im Hinblick auf Preis und Qualität zu verbessern. Festzuhalten bleibt allerdings, dass auch gegenwärtig der überwiegende Teil der Leistungen noch auf der Grundlage von Kollektivverträgen und Kontrahierungszwängen erbracht wird – nach Schätzungen entfallen derzeit noch mehr als 90 % der Gesamtausgaben der Krankenkassen darauf
Die konservativ-liberale Koalition (2009-2013) verlieh dem Ausbau des Wettbewerbs seit 2009 einen eigenen Akzent. Sie setzte den Trend zur Ausweitung von Selektivverträgen auf dem „Vertragsmarkt“ nicht fort, sondern dehnte die Anwendung des Kartell- und Wettbewerbsrechts auf die Krankenkassen erheblich aus und unterwarf sie damit in stärkerem Maße als zuvor der Zuständigkeit der Kartellbehörden. Diese Wendung vollzog sie in zwei Schritten: 2010 mit dem Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) und 2013 mit der Novellierung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen.
Krankenhausprivatisierung: Neben dem Bedeutungszuwachs wettbewerblicher Politikinstrumente wurde außerdem die Privatisierung von Versorgungseinrichtungen, insbesondere Krankenhäusern, zu einem Charakteristikum des gesundheitspolitischen Wandels seit Beginn der 1990er Jahre. Im Krankenhaussektor stieg der Anteil privat geführter Häuser (aufgestellter Betten) an allen Allgemeinen Krankenhäusern zwischen 1991 und 2014 von 15,2 (4,0) auf 35,1 (18,2) %. Und der Wandel der Trägerstruktur blieb nicht auf das Krankenhaus beschränkt. Mit der Zulassung Medizinischer Versorgungszentren (MVZ) zur ambulanten vertragsärztlichen Versorgung im Jahr 2004 wurde auch der ambulante Sektor für Investitionen privater Unternehmen geöffnet
Erweiterung staatlicher Intervention ins Gesundheitswesen: Der Trend zur Liberalisierung des Vertragsrechts führte allerdings nicht zu einem Abbau der Regelungsdichte. Im Gegenteil, es kam hier zu einer Zentralisierung und Erweiterung der staatlichen Intervention insbesondere durch das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) und – in dessen Auftrag – die Akteure der gemeinsamen Selbstverwaltung auf Bundesebene. Die Erweiterung staatlicher Intervention manifestiert sich vor allem in der zunehmenden Einschränkung des Finanzrahmens der Krankenkassen und Leistungserbringer in den vergangenen Jahren. Die Einschränkung der Finanzautonomie der Krankenkassen erreichte ihren Höhepunkt mit der Gesundheitsreform von 2007. Diese richtete mit Wirkung ab 2009 einen Gesundheitsfonds ein, entzog den Kassen das Recht zur Festsetzung ihres Beitragssatzes und setzte einen bundeseinheitlichen Beitragssatz fest, der bis 2015 von der Bundesregierung per Rechtsverordnung festgelegt wurde und seither gesetzlich geregelt wird (derzeit liegt er bei 14,6 % des Bruttoeinkommens75 ).
Neben dem direkten Eingriff in das Leistungsrecht hat der Bundesgesetzgeber außerdem die Verfahrens- und Entscheidungsregeln in der Gemeinsamen Selbstverwaltung verändert (z. B. Einführung eines Anhörungs- und Mitberatungsrechts für Patientenvertreter im G-BA), und schließlich hat er die Gemeinsame Selbstverwaltung der GKV mit einem immer dichteren Netz gesetzlicher Vorschriften (z. B. zur Vergütung ambulanter und stationärer Leistungen oder zur Qualitätssicherung) überzogen. Jüngstes Beispiel hierfür ist das „Gesetz zur Reform der Strukturen der Krankenhausversorgung“ (Krankenhausstrukturgesetz), das zum 1.1.2016 in Kraft trat und u.a. neue Regelungen zur Qualitätssicherung und Erbringung von Mindestmengen bei bestimmten Krankenhausleistungen vorsieht. Wettbewerb und verstärkte hierarchische Intervention gehen also Hand in Hand. Bei diesen Aktivitäten handelt es sich um eine die Liberalisierung flankierende Re-Regulierung, die auch auf anderen Politikfeldern anzutreffen ist
Liberalisierung, Re-Regulierung, Stärkung des Korporatismus: Beide Prozesse, Liberalisierung und Re-Regulierung, sind verbunden mit einer Transformation korporatistischer Regulierung in der GKV, also der Gemeinsamen Selbstverwaltung durch die Verbände der Ärzte und Krankenkassen. Dabei wurden die Handlungsspielräume der Verhandlungspartner und Akteure (Ärzte, Krankenkassen, Krankenhäuser) einerseits eingeschränkt, andererseits jedoch stärkte der Gesetzgeber die korporatistischen Verhandlungsgremien insgesamt. Dies gilt insbesondere für den Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA). Er hat in den vergangenen Jahren als zentrales Steuerungsgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung von Ärzten und Krankenkassen stark an Bedeutung hinzugewonnen
Schließlich verändern sich mit dem Wandel des Regulierungssystems für die körperschaftlichen Verbände in der GKV die Bedingungen der Interessenvermittlung. Dies betrifft vor allem die Ärzteschaft. Wegen restriktiver staatlicher Vorgaben, vor allem zur Ausgabenentwicklung, bieten ihnen die korporatistischen Verhandlungssysteme weniger Spielräume zur Interessendurchsetzung als in der Vergangenheit. Gleichzeitig werden die Erfolgsaussichten lobbyistischer Interessenvermittlung ungewisser, weil der Staat in der Gesundheitspolitik an strategischer Autonomie gewinnt. Die Interessenverbände im Gesundheitssystem reagieren darauf mit einer Diversifizierung ihrer Interessenvermittlungsstrategien.
Neben dem Agieren in den korporatistischen Verhandlungssystemen und lobbyistischen Beeinflussungsversuchen gewinnen Formen autonomer Interessenvertretung, die mit einer gewachsenen Konfliktbereitschaft gegenüber den politischen Entscheidungsträgern und den Krankenkassen einhergehen, an Bedeutung. Dies betrifft insbesondere die Ärzteschaft, die, vor allem in Honorarkonflikten (z. B. im Herbst 2012 beim Streit mit dem GKV-Spitzenverband über die Rahmenempfehlung für die Honorarentwicklung im Jahr 2013) deutlich häufiger als in der Vergangenheit zu Protestformen wie Demonstrationen, Kundgebungen, bundesund landesweiten Protesttagen und Praxisschließungen greift; begleitet wird dies oft von gezielten Informationen für Patientinnen und Patienten. Andere Akteure, wie z. B. die Krankenkassen, verfügen zwar nicht über ein derartiges Drohpotential, verstärken aber ebenfalls ihre Bemühungen, durch die direkte Ansprache der Öffentlichkeit Einfluss auf gesundheitspolitische Entscheidungen zu nehmen.
Zugang zur medizinischen Versorgung: verstärkte Privatisierung: Die Einführung und Diffusion von Wettbewerbsmechanismen wurde begleitet von diversen Zuzahlungserhöhungen und Leistungsausgliederungen und damit von gesundheitspolitischen Maßnahmen, die den Zugang zur medizinischen Versorgung einschränkten. Vor allem in den Jahren 1996/97 und 2003 nahm der Gesetzgeber hier tiefe Einschnitte vor. Die in der Endphase der letzten Kohl-Regierung ergriffenen Maßnahmen entfalteten keine dauerhafte Wirkung: Einige von ihnen setzte die damalige Bundesregierung unter dem Druck des bevorstehenden Bundestagswahlkampfes 1998 aus. Andere – wie z. B. die Streichung des Zahnersatzes für alle über 18-Jährigen aus dem Leistungskatalog – machte die 1998 neu gebildete rot-grüne Bundesregierung unmittelbar nach ihrem Amtsantritt wieder rückgängig
Den letzten gravierenden Eingriff in das Leistungsrecht brachte das 2003 von einer informellen großen gesundheitspolitischen Koalition unter Beteiligung von Bündnis 90/Die Grünen verabschiedete GKV-Modernisierungsgesetz (GMG). Mit ihm wurde nicht nur die Praxisgebühr eingeführt, sondern es wurden u. a. auch Zuzahlungen auf 10 % der Leistungen (mindestens fünf und maximal zehn Euro je Verordnung) erhöht (Rosenbrock/Gerlinger 2014). Außerdem schränkte die Reform den Zugang zu einer Reihe von Leistungen ein. Die seit Beginn der 1990er Jahre vorgenommenen Leistungsausschlüsse bzw. -kürzungen betrafen allerdings nicht den Kern der medizinischen Versorgung, sondern überwiegend solche Leistungen, die entweder als versicherungsfremd (z. B. Sterbegeld, Entbindungsgeld) oder als unwirtschaftlich galten (z. B. Arzneimittel der Negativliste) oder die im Zusammenhang mit Problemen standen, denen ein Krankheitswert abgesprochen wurde (z. B. künstliche Befruchtung, Sterilisation)
Insgesamt ist der private Anteil an allen Gesundheitsausgaben in den vergangenen Jahrzehnten kontinuierlich gestiegen (Statistisches Bundesamt 2016: 14). Unklar bleibt, inwieweit es sich dabei um private Zahlungen für medizinisch notwendige Leistungen handelt – also um Zuzahlungen oder Aufzahlungen zu GKV-Leistungen bzw. um private Käufe von eigentlich von der GKV zu erstattenden Leistungen – oder um Zahlungen für solche Leistungen, die nicht als medizinisch notwendig einzustufen sind. Dies können etwa private Käufe unwirtschaftlicher Arzneimittel oder Ausgaben für Wellness-Leistungen sein
Einführung prospektiver Vergütungsformen: Jenseits der Instrumente der Zuzahlung und des Leistungsausschlusses gewann mit der Einführung der erwähnten prospektiven Vergütungsformen (Pauschalen, Budgets) die Ebene der Arzt-Patient-Beziehung für die Gewährung von Leistungen erheblich an Bedeutung. Hier kann es für Ärzte Anreize geben, Patienten medizinisch notwendige Leistungen vorzuenthalten oder die betreffenden Leistungen als Privatleistungen anzubieten. Das Volumen solcher Privatleistungen, deklariert als sogenannte „Individuelle Gesundheitsleistungen“ (IGeL), beläuft sich mittlerweile auf rund 1,5 Milliarden Euro, also etwa 5 % der kassenärztlichen Gesamtvergütung
Im Ganzen hat sich im Vergleich zu den 1990er Jahren die Belastung von GKV-Patienten mit Krankheitskosten erhöht. Allerdings sind wirklich tiefe Einschnitte in das Leistungsrecht, die mit den Reformen in der Arbeitslosen- und Rentenversicherung (vgl. Kap. 5 u. 9) vergleichbar wären, ausgeblieben. Auch bewegen sich die Zuzahlungen zu GKV-Leistungen auf einem moderaten, zuletzt sogar noch zurückgehenden Niveau. Es spricht aber vieles dafür, dass die Etablierung neuer Vergütungsmechanismen auf der Ebene der Arzt-Patient-Beziehung dazu geführt habe, dass es zu einer informellen Rationierung von Leistungen gekommen ist; allerdings sind deren Ausmaße nicht zuverlässig abschätzbar.
Finanzierung der GKV: Die Aufbringung der GKV-Finanzmittel blieb vom Übergang zu wettbewerbsorientierten Reformen zunächst unberührt. Erst in den vergangenen Jahren ist es hier zu einigen – allerdings durchaus erheblichen – Veränderungen gekommen. Auch heute noch ist die mit Abstand wichtigste Säule der GKV die Finanzierung durch Versicherungsbeiträge. Allerdings hat sich das System in zweifacher Hinsicht verändert. Erstens hat sich die (bis 2003) ausschließliche Beitragsfinanzierung in eine Mischfinanzierung mit einem steuerfinanzierten Bundeszuschuss und einem zusätzlichen Versichertenbeitrag („Zusatzbeitrag“ seit 2009, neu ausgerichtet seit 2011) verwandelt.
Zweitens sind die Arbeitgeber durch diese neuen Komponenten, die Einführung eines Sonderbetrags der Versicherten (2005), der allerdings 2015 wieder abgeschafft wurde, und die zwischenzeitlich deutlich angehobenen Zuzahlungen von Kosten entlastet worden. Von einer paritätischen Finanzierung, wie sie – ohne Berücksichtigung der Zuzahlungen – bis 2005 noch bestand, hat sich die GKV in nur wenigen Jahren deutlich entfernt. Die Einführung eines steuerfinanzierten Bundeszuschusses im Jahr 2004 stellte in diesem Zusammenhang einen ersten Schritt zur Abkehr vom traditionellen Grundsatz der bruttolohnbezogenen Beitragsfinanzierung dar. Dieser Zuschuss schnellte in kurzer Zeit in die Höhe. Belief er sich 2008 noch auf 2,5 Milliarden Euro, so stieg er über 7,2 (2009) auf 15,7 Milliarden Euro (2010) an. In den folgenden Jahren bis 2015 wurde er zwar reduziert (11,5 Milliarden Euro in 2015 bei einem GKV-Gesamtüberschuss von mehr als 15 Milliarden Euro), jedoch hob ihn der Bundesgesetzgeber im Haushaltsbegleitgesetz 2014 für das Jahr 2016 erneut auf 14,5 Milliarden Euro an. Im bisherigen ‚Spitzenzuschussjahr‘ 2010 machte der Bundeszuschuss damit rund 9 % der GKV-Leistungsausgaben aus
Einkommensunabhängiger Zusatzbeitrag: Als mittel- und langfristig von sehr weitreichender Bedeutung könnte sich die Einführung eines einkommensunabhängigen Zusatzbeitrages bei der GKV-Finanzierung durch die Große Koalition im Jahr 2009 erweisen (Gerlinger/Simon 2012). Die konservativ-liberale Koalition veränderte diesen noch einmal deutlich. Zudem froren CDU/CSU und FDP ab 2011 den Arbeitgeberbeitragssatz explizit bei den damals bestehenden 7,3 Prozent ein. Künftige Defizite der Krankenkassen müssen demnach über die Erhebung des Zusatzbeitrages ausschließlich von den Versicherten getragen werden. Der Zusatzbeitrag ist seit 2011 in seiner Höhe nicht mehr begrenzt und konnte zwischen 2011 und 2015 nur noch pauschal erhoben werden; er stellt somit gleichsam eine „kleine Kopfpauschale“ dar. Zwar hat die dritte Große Koalition den Zusatzbeitrag mit dem Gesetz zur Weiterentwicklung der Finanzstruktur und der Qualität in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV-FQWG) im Januar 2015 formal aufgehoben, doch ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass die Krankenkassen eventuelle Mehrkosten durch prozentuale Aufschläge auf die Beiträge zu decken versuchen werden. Diese Erwartung ergibt sich daraus, dass das GKV-FQWG auch den Sonderbeitrag für die Versicherten von 0,9 % aufgehoben und gleichzeitig den Arbeitgeberbeitrag weiterhin auf 7,3 % beschränkt hat. Wie sich die Beiträge tatsächlich entwickeln, kann zum gegenwärtigen Zeitpunkt allerdings nicht vorhergesagt werden
Die GKV 1992: „Exhaustion“ und anschließender Wandel zweiter Ordnung durch das GSG 1993: Der Zustand der GKV, der den Wandel 1992/93 auslöste, lässt sich am besten als „exhaustion“ charakterisieren (Streeck/Thelen 2005). Insbesondere galt dies für das berufsständische Mitgliederzuweisungssystem, das nicht nur untragbare Verwerfungen in der GKV ausgelöst hatte, sondern mehr und mehr dazu beitrug, die gesetzliche Krankenversicherung insgesamt zu delegitimieren. Der daraufhin einsetzende Politikwechsel kann in der Terminologie Peter Halls recht treffend als ein Übergang von einem Wandel erster Ordnung zu einem Wandel zweiter Ordnung charakterisiert werden (Hall 1993). Nachdem die traditionelle Kostendämpfungspolitik bemüht gewesen war, die Probleme der Krankenversicherung durch eine Modifikation und Anpassung bestehender Anreize und Instrumente zu lösen, erfolgte nun ein Wechsel der Steuerungsinstrumente. Die Einleitung eines grundlegenderen Wandels in der Gesundheitspolitik mit dem Gesundheitsstrukturgesetz (GSG) 1992 ging dabei primär auf politikfeldspezifische Problemlagen zurück (hierzu und zum Folgenden: Reiners 1993) und könnte insofern unter Zuhilfenahme der sozioökonomischen Schule erklärt werden
Die Beitragssätze zwischen den Krankenkassen, insbesondere zwischen den Ortskrankenkassen und den Ersatzkassen, klafften immer weiter auseinander, und dies bei nahezu identischen Leistungskatalogen. Dies war vor allem für die in der AOK versicherten Arbeiter von Nachteil: Sie erzielten nicht nur im Durchschnitt ein geringeres Arbeitseinkommen, sondern mussten von diesem geringeren Einkommen einen deutlich höheren Beitragssatz als die meisten Angestellten zahlen. Auch verfügten sie im Unterschied zu den Angestellten nicht über das Recht der freien Kassenwahl – ein Sachverhalt, der insbesondere der SPD ein Dorn im Auge war; er galt unabhängig davon aber auch als verfassungsrechtlich höchst bedenklich. Zudem traten mit dem weitgehenden Scheitern des 1989 in Kraft getretenen und anfangs als „Jahrhundertreform“ apostrophierten Gesundheitsreformgesetz (GRG) die Grenzen traditioneller Kostendämpfungspolitik immer deutlicher zu Tage. Hier traf ein erneuter Ausgabenanstieg zusammen mit konjunkturell bedingten Mindereinnahmen der Krankenkassen und daraus resultierenden kräftigen Beitragssatzanhebungen im Jahr 1992. Die erhebliche Belastung der öffentlichen Haushalte durch die Wiedervereinigung, die Globalisierung der Wirtschaftsbeziehungen und der bevorstehende Internationalisierungsschub vor dem Hintergrund der Schaffung des europäischen Binnenmarktes taten ein Übriges, um den wahrgenommenen Handlungsdruck zu erhöhen.
Informelle Große Koalition in der Gesundheitspolitik 1992: Dass nunmehr Elemente eines regulierten Wettbewerbs in die Gesundheitspolitik eingeführt wurden, ging wiederum entscheidend auf die Existenz einer großen Sachkoalition aus CDU/CSU und SPD zurück. Um die Liberalisierung des GKV-Systems zu erreichen, brauchte die Union als ‚große‘ Regierungspartei die SPD, denn die von ihr regierten Länder verfügten über eine Mehrheit im Bundesrat, was der damaligen Oppositionspartei ein institutionelles Vetopotential verschaffte. Die mit der informellen Einbeziehung der SPD 1992 geschaffene Konstellation drängte allerdings die FDP, den damaligen Koalitionspartner der Union, im Reformprozess an den Rand. Dies führte dazu, dass die FDP ihre häufig zugunsten der Ärzteschaft ausgeübte Blockadefunktion nicht in der gewohnten Weise wahrnehmen konnte. Die Kernelemente der von Union und SPD avisierten Wettbewerbsordnung – die freie Kassenwahl und der Risikostrukturausgleich – setzte diese Sachkoalition gegen erhebliche Vorbehalte und bisweilen scharfe Kritik der Akteure der Selbstverwaltung durch. Dabei standen zwei Motive im Vordergrund: Zum einen ging es darum, die Arbeiter mit denselben Wahlrechten auszustatten wie die Angestellten, zum anderen die Krankenkassen in Konkurrenz um Versicherte zu bringen, um auf diese Weise Einsparpotentiale zu erschließen.
Die Ortskrankenkassen befürchteten starke Mitgliederabwanderungen zu den Ersatzkassen; die Ersatzkassen wiederum argwöhnten, dass ein Zustrom aus anderen Kassen ihren herausgehobenen Status als Angestelltenkrankenkassen oder Arbeiterersatzkassen gefährden könnte und opponierten überdies gegen den Risikostrukturausgleich. Noch entschiedeneren Widerstand leisteten die Leistungsanbieter, allen voran die niedergelassenen Ärzte und die Kassenärztlichen Vereinigungen. Deren Kritik richtete sich vor allem auf die geplanten Budgetierungen und die Reform von Vergütungsregeln. Vermutlich war nur eine solche informelle „große Koalition“ in der Lage, eine derart weit reichende Reform gegen derart breiten und heftigen Widerstand durchzusetzen.
Wiederaneignung staatlicher Gestaltungskraft in der Gesundheitspolitik: Nicht zu Unrecht wurde das GSG als Ausdruck einer Wiederaneignung staatlicher Gestaltungskraft in der Gesundheitspolitik interpretiert (Perschke-Hartmann 1994). Zuvor hatte das Gesundheitssystem häufig als Beispiel für die in Politik, Wissenschaft und Öffentlichkeit seinerzeit populären Befunde einer „Verbändemacht“ oder gar einer „Unregierbarkeit“ in der deutschen Politik gegolten. Auch einschlägige Untersuchungen über Reformprozesse im Gesundheitswesen hatten die vielfältigen Reformblockaden in der GKV herausgearbeitet.
Nach der Verabschiedung des GSG war die freie Kassenwahl unter den Akteuren sehr bald weithin unumstritten. Auch stellten sich die Krankenkassen rasch auf den bevorstehenden Wettbewerb um Versicherte ein. Allerdings wurde auch schnell deutlich, dass die Akteure des GKV-Systems sich 1992 zwar der langfristigen Bedeutung bewusst waren, die die Reform haben würde, es wurde aber ebenfalls ersichtlich, dass insbesondere die Politik nicht über einen ‚Masterplan‘ für die weitere Ausgestaltung einer Wettbewerbsordnung verfügte. Weder wurden die vielfältigen Folgewirkungen und -probleme auf dem neu beschrittenen Wettbewerbspfad antizipiert noch war über Maßnahmen nachgedacht worden, die über die verabschiedeten Regelungen hinausgehen könnten (z. B. die Einführung von Selektivverträgen und eines darauf gründenden Anbieterwettbewerbs). In der nun einsetzenden Debatte über die weitere Ausgestaltung der Wettbewerbsordnung gerieten schnell die Beziehungen zwischen den Krankenkassen und den Leistungsanbietern, insbesondere den Ärzten, in den Mittelpunkt. Damit wurde die Kritik am fehlenden Wettbewerb also auf den „Markt der Verträge“ zwischen Kassen, Ärzten und Krankenhäusern ausgeweitet. Und dieser Aspekt, steht auch heute noch im Zentrum der Auseinandersetzung um eine erweiterte Wettbewerbsordnung in der GKV.
Einflussfaktoren des gesundheitspolitischen Wandels seit 1993: Parteienwettbewerb…: Gewachsener Problemdruck, die Erfahrung der Unwirksamkeit der Kostendämpfungsinstrumente und eine bis dato eingeschränkte Rolle der Politik waren vor allem bei den Weichenstellungen des GSG im Jahr 1992 bedeutsam. Im weiteren Verlauf der Reformen bis heute spielten andere, auf unterschiedlichen Ebenen angesiedelte Einflussfaktoren eine wesentliche Rolle für den Wandel in der Gesundheitspolitik. Sie begünstigten das Voranschreiten auf dem neuen Pfad. Dazu zählte erstens der Parteienwettbewerb. Zwar teilten alle Regierungsparteien die Überzeugung, dass es keine weiteren Beitragserhöhungen geben und die Lohnkosten durch Anhebung der Beiträge nicht weiter belastet werden sollten, darüber hinaus waren die von den Parteien befürworteten Konzepte zur künftigen Wettbewerbsordnung vielfach unterschiedlich; dies galt auch für die beiden großen „Sozialstaatsparteien“ (Schmidt 2006: 111), die Union aus CDU und CSU sowie die SPD
Institutionelles Erbe des gegliederten Krankenkassensystems…: Zweitens stellte das institutionelle Erbe des gegliederten Krankenkassensystems (s. o.) einen wichtigen Einflussfaktor dar, denn mit den Krankenkassen existierten nicht nur bereits die institutionellen Träger des anvisierten Wettbewerbs, sondern auch – wie sich bald herausstellte – wichtige Verbündete in den unvermeidlichen politischen Konflikten um dessen weitere Ausgestaltung.
…Politiktransfer: Wettbewerbseuphorie…: Drittens ließ sich der Ruf nach mehr Wettbewerb im Gesundheitswesen in die von einer verbreiteten Wettbewerbseuphorie (Rosa 2006) geprägten ideologischen Hegemoniekonstellationen sowie in internationale Trends zur Reform von öffentlichem Sektor und Gesundheitswesen („new public management“, „managed competition“) einfügen, auch wenn Politiktransfer und Politiklernen in der Gesundheitspolitik gerade in Deutschland nur eine geringe Rolle spiele
…Die Idee des Wettbewerbs…: Viertens konnte sich hinter der Formel „mehr Wettbewerb“ eine große Zahl von Akteuren mit zum Teil ganz unterschiedlichen Zielen zusammenschließen: Sozialdemokraten und Grüne, die auf eine Effizienzsteigerung im GKV-System hofften; Krankenkassen, die ihre Gestaltungsmacht gegenüber Leistungsanbietern stärken wollten; von den Wohlfahrtseffekten des Wettbewerbs überzeugte Christdemokraten und Liberale, sofern sie sich nicht an Klientelinteressen binden wollten; Patientenvertreter und Verbraucherschützer, die sich eine bessere Versorgungsqualität wünschten; Kritiker des Gesundheitswesens, denen die dortige Anbietermacht schon immer ein Dorn im Auge gewesen war; Ärztegruppen, die ihre Interessen von ihrer jeweiligen KV nicht ausreichend vertreten fühlten; Ökonomen, die im Vertragswettbewerb einen Schritt zu einer wünschenswerten Privatisierung der gesamten Krankenversicherung sahen. Diese und andere Akteure bildeten in der Frage des Vertragswettbewerbs gleichsam ein informelles Bündnis
Interessenfragmentier ung innerhalb der Ärzteschaft und Einschränkung der Machtressourcen: Und fünftens verloren die Kassenärztlichen Vereinigungen als wichtigster und mächtigster Gegner eines Vertragswettbewerbs im weiteren Reformprozess an Veto-Macht, vor allem, weil durch das Wirksamwerden einzelner Reformmaßnahmen der innere Zusammenhalt der Vertragsärzteschaft erodierte (Pannowitsch 2012). Zum einen rief die strikte Budgetierung der vertragsärztlichen Gesamtvergütung heftige Verteilungskonflikte in den KVen hervor, vor allem zwischen Hausärzten und Fachärzten – Konflikte, die in der Vergangenheit angesichts komfortabler Einkommenszuwächse für beide Gruppen zumeist nur geschwelt hatten. Zum anderen beförderte die mit der Öffnung der Vertragspolitik für Selektivverträge einhergehende Pluralisierung der Akteure eine weitere Interessenfragmentierung in der Ärzteschaft. Auch hier standen die Interessen von Hausärzten und Fachärzten im Mittelpunkt. Dürfte es sich bei den Auswirkungen der Budgetierung auf die Kohäsion der Ärzteorganisationen noch um eine politisch unbeabsichtigte, gleichwohl nicht unerwünschte Wirkung gehandelt haben, so setzte das Bundesgesundheitsministerium gerade unter sozialdemokratischer Leitung gezielt darauf, insbesondere Hausarztverbände gegenüber den KVen zu stärken
Der Bund und die Krankenkassen als Treiber einer erweiterten Wettbewerbsordnung: Wirft man einen chronologisch systematischen Blick auf die Reformentwicklung seit 1993, so zeigt sich, dass seither insbesondere der Bundesgesetzgeber und die Krankenkassen die wichtigsten Treiber einer um Selektivverträge erweiterten Wettbewerbsordnung waren. Der Bundesgesetzgeber war besonders dann engagiert, wenn SPD oder Grüne an der Regierung beteiligt waren oder das Bundesministerium für Gesundheit führten, während die Union sich deutlich – und die FDP noch deutlicher – zurückhielt. Die Befürworter wurden unterstützt von einer breiten Mehrheit in den Wirtschaftswissenschaften, insbesondere in der Gesundheitsökonomie, die in unterschiedlichsten Formen und in großer Intensität in der Politikberatung für die Akteure in Staat und Selbstverwaltung tätig wurden. Die Hauptgegner einer solchen Entwicklung waren die Kassenärztlichen Vereinigungen und mit Blick auf den Krankenhaussektor die Bundesländer und die Deutsche Krankenhausgesellschaft.
Die konzeptionellen Grundlagen für die weitere Umgestaltung des Gesundheitswesens wurden zunächst in den Jahren 1993-1997 in der Debatte um die sogenannte „Dritte Stufe der Gesundheitsreform“76 gelegt. Vor allem die Krankenkassen taten sich hier als programmatische Akteure hervor. Sie nahmen mit dem Konzept einer „solidarischen Wettbewerbsordnung“ eine strategische Neuorientierung im Hinblick auf die Ausgestaltung der gesetzlichen Krankenversicherung vor (z. B. Rebscher 1994). Kernpunkte dieses Konzepts waren das Festhalten an den Grundsätzen einer sozialen Krankenversicherung sowie die Forderung nach einer Ausweitung des Wettbewerbs auf die Vertragspolitik zwischen Krankenkassen und Leistungserbringern. Damit war die Erwartung verbunden, effizientere Versorgungsformen auf den Weg bringen und günstigere Konditionen mit der Ärzteschaft aushandeln zu können. Auch SPD und Grüne machten sich diese Forderungen zueigen.
derungen zueigen. Jedoch folgten auf das GSG zunächst keine weiteren Strukturreformen. Die Union, nach den Konfrontationen über die GSG-Verabschiedung um eine Wiederannäherung an die Leistungserbringer, vor allem die Ärzteschaft, bemüht und von der FDP dazu verpflichtet, nicht noch einmal, wie beim GSG, mit wechselnden Mehrheiten zu regieren, folgte diesen Vorschlägen zur Ausweitung der Wettbewerbsbeziehungen nicht. Stattdessen setzte sie unter Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer (CSU) bei ihren Kostendämpfungsbemühungen auf die erwähnten Leistungsausgrenzungen und Zuzahlungsanhebungen. Diese waren insbesondere Bestandteil des 1996 verabschiedeten und 1997 in Kraft getretenen Beitragsentlastungsgesetzes
Internationaler Trend zum Gesundheitssystemwandel: Insgesamt entsprach die in den 1990er Jahren laut gewordene Forderung nach einer Einführung von Wettbewerb auf dem „Vertragsmarkt“ bei gleichzeitiger Implementierung daran angelehnter Steuerungsinstrumente (prospektive Vergütungsformen, Behandlungsleitlinien, Qualitätssicherung) einem internationalen Trend des Gesundheitssystemwandels. Sie war u. a. der sektorspezifische Ausdruck jener Modernisierung öffentlicher Verwaltungen, der unter dem Begriff des „New Public Management“ bereits weite Teile der EU- und OECD-Welt ergriffen hatte.
Der Ausbau von Wettbewerbsmechanismen in der GKV erhielt erst nach dem Regierungsantritt von SPD und Grünen einen neuen Schub. Ihr Bundestagswahlkampf 1998 hatte stark auf soziale Themen gesetzt, wofür gerade die Leistungskürzungen und Zuzahlungsanhebungen in der letzten Phase der Kohl-Regierung reichlich Anlass geboten hatten. Aus der Perspektive von SPD und Grünen kam der Ausweitung des Wettbewerbs auf die Leistungsanbieter, vor allem die Ärzte und Krankenhäuser, eine Schlüsselrolle zu. Diese sollte die Tür für die Modernisierung der Versorgungsstrukturen öffnen. Hiervon erhoffte man sich die Erschließung jener Rationalisierungsreserven, die es gestatten sollten, auch unter den Bedingungen des demografischen Wandels und gleichzeitigen medizinischen Fortschritts an einem einheitlichen, alles medizinisch Notwendige umfassenden Leistungskatalog bei stabilen Beitragssätzen – zwei zentrale Ziele der Koalition – festzuhalten.
1998-2009: das Gesundheitsministerium unter rot-grüner Führung: Die Jahre 1998 bis 2009, in denen das Bundesgesundheitsministerium – ob unter rot-grüner oder unter Großer Koalition – von den Grünen oder der SPD geführt wurde (1998-2001: Andrea Fischer [Bündnis 90/GRÜNE], 2001-2009: Ulla Schmidt [SPD]), markierten jene Periode, in der einzelne Versorgungsbereiche für Selektivverträge und damit für den Leistungsanbieterwettbewerb geöffnet wurden. Der gesundheitspolitisch bedingte Wandel des GKV-Systems in dieser Zeit ließe sich – in der Terminologie von Streeck/Thelen (2005) – als „layering“, also die Ergänzung bestehender Institutionen durch das „Auftragen“ einer neuen „Regelungsschicht“, beschreiben. Dies geschah mit dem Ziel, die sektorenübergreifende („integrierte“) Versorgung zu fördern, die Koordinationsfunktion des Hausarztes zu stärken und die medizinische Versorgung stärker an Behandlungsleitlinien zu orientieren.
GKV RefG 2000, GMG 2004 und Fallpauschalengesetz 2002: Diese Liberalisierung des Vertragsrechts forcierte die rot-grüne Koalition erstens mit dem GKV-Gesundheitsreformgesetz (GKV RefG), das 1999 verabschiedet wurde und am 1. Januar 2000 in Kraft trat, sowie zweitens mit dem GKV-Modernisierungsgesetz (GMG), das nach seiner Verabschiedung im Jahr 2003 zum 1. Januar 2004 in Kraft trat. Die Regelungen in beiden Gesetzen brachten zugleich den Trend zu einer Stärkung der Krankenkassenseite gegenüber den Leistungsanbietern mit sich. Auf diese Weise sollten die Kassen in die Lage versetzt werden, stärker auf die Ausgaben und Qualität der medizinischen Versorgung Einfluss zu nehmen. Im Krankenhaussektor fällt in diesen Zusammenhang ebenfalls das Fallpauschalengesetz (FPG) vom April 2002, das Anfang 2003 wirksam wurde.
Hier führte der Gesetzgeber im Sinne eines Wandels zweiter Ordnung (Hall 1993) ein neues Instrument, die diagnosebezogenen Fallpauschalen (Diagnosis Related Groups, DRG), in die Finanzierung der Krankenhäuser ein. Anders als das GKV RefG und das GMG, die beide Ausdruck der spezifischen Auslegung des Wettbewerbsbegriffs der rot-grünen Koalition waren und insofern als Beispiel für die Wirkung der Parteiendifferenz auf Politikentscheidungen betrachtet werden können, steht das Fallpauschalengesetz u. a. beispielhaft für Politiktransfer und die Wirkung internationaler Einflüsse auf die Regelungen im deutschen Gesundheitswesen. So verbreitete sich das Fallpauschalen- oder DRG-System, ausgehend von den USA, seit Beginn der 1990er Jahre in zahlreichen Gesundheitssystemen im OECD-Raum zur Abrechnung von Krankenhausleistungen (vgl. Chevalier/Lévitan et al. 2008: 91-92). Begleitet wurde die Öffnung des GKV-Systems in Deutschland zwischen 1998 und 2005 durch Versuche, die Versorgungsqualität durch die gesetzliche Formulierung von Pflichten insbesondere der Leistungserbringer zu verbessern.
Zweite Große Koalition ab 2005: das GKV-WSG: Auch die zweite Große Koalition verfolgte diese Linie ab 2005 weiter. Mit den Pflichten der Krankenkassen zum Angebot neuer Versorgungsformen wie der hausarztzentrierten Versorgung in Verbindung mit dem obligatorischen Angebot von Wahltarifen für die Versicherten und mit der Einführung freiwilliger Wahltarife der Krankenkassen (Beitragsrückerstattung, Selbstbehalt) erweiterte der Gesetzgeber schrittweise die Wettbewerbsfelder der Krankenkassen. Bei der Finanzierung der GKV, dem zentralen Aspekt der Erweiterung des Regulierungssystems um Wettbewerbselemente, änderte sich in der Zeit der Großen Koalition 2005-2009 allerdings nicht viel.
Das 2007 auf den Weg gebrachte und 2009 vollends in Kraft getretene GKV-Wettbewerbsstärkungsgesetz (GKV-WSG) verhalf aber weder dem von der SPD favorisierten Konzept der Bürgerversicherung und des Qualitätswettbewerbs der Kassen untereinander noch dem von der Union bevorzugten Konzept der Finanzierung der GKV durch eine pauschale „Gesundheitsprämie“ zum Durchbruch. Die mit dem Gesetz implementierten instrumentellen und strukturellen Neuerungen (Festlegung des Beitragssatzes durch die Bundesregierung, Einführung des Zusatzbeitrags, Einführung des Gesundheitsfonds zur Bündelung der Versichertenbeiträge und des Bundeszuschusses zur GKV) sind insofern auch Ausdruck eines parteipolitischen Kompromisses zwischen den Koalitionären
Schwarz-gelbe Koalition 2009-2013: Die unter der schwarz-gelben Koalition vorangetriebene Neugestaltung der GKV-Finanzierung trägt klassische Züge konservativ-liberaler Sozialpolitik. Tragende Motive waren die Entlastung der Arbeitgeber von Sozialabgaben und eine Intensivierung des Kassenwettbewerbs. Hingegen wurde der Wettbewerb zwischen den Leistungsanbietern um Versorgungsverträge mit den Krankenkassen nicht weiter forciert. Die erneute, 2013 angetretene Große Koalition nahm insgesamt nur geringfügige Korrekturen an diesem Kurs vor. Zwar konnte die SPD die Abschaffung des Sonderbeitrags und des einkommensunabhängigen Zusatzbeitrags durchsetzen. Allerdings waren die Veränderungen in der GKV-Finanzierung überwiegend kosmetischer Natur: Der Sonderbeitrag wurde in den Zusatzbeitrag überführt, der Arbeitgeberbeitrag blieb eingefroren, und die Versicherten würden allein künftige Kassendefizite zu tragen haben. Zudem führte die Große Koalition die vorsichtige Annäherung von GKV und PKV, die sich noch im GKV-WSG 2007 hatte erkennen lassen, nicht fort. Allerdings sah der Koalitionsvertrag von CDU, CSU und FDP eine stärkere Beachtung von Qualitätsaspekten in der Versorgung sowie vorsichtige Schritte zu einer Ausweitung von Selektivverträgen auf den stationären Sektor vor.
Parteienparadox“ in der GKV-Wettbewerbspolitik: Somit lässt sich mit Blick auf die GKV-Wettbewerbspolitik in der jüngeren Vergangenheit auch ein „Parteienparadox“ konstatieren: Hier ist eine Differenz im Policy-Output zu beobachten, die jene parteipolitischen Unterschiede, die die klassische Parteiendifferenzhypothese nahe legt, gleichsam umkehrte. So waren es in diesem Fall eben gerade die Parteien links der Mitte, die auf wettbewerbliche Instrumente und De-Regulierung setzten, während Konservative und Liberale sich dem gegenüber eher abgeneigt zeigten. Dabei waren Gesundheitsreformen für Regierungsparteien vor allem dann riskant, wenn sich die große Oppositionspartei mit mächtigen Interessenverbänden auf der Leistungsanbieterseite verbündete und das Reformvorhaben gleichzeitig in für die Öffentlichkeit leicht nachvollziehbarer Weise starke Wählerinteressen (z. B. die Erhöhung privater Ausgaben) berührte. In großen Koalitionen war diese Gefahr stets geringer, weil die parteipolitische Unterstützung für die Reform größer war und es keine große Oppositionspartei gab, die von ihrer Durchsetzung profitieren könnte. Allerdings war und ist das tatsächliche Reformpotential in dieser Konstellation umso stärker von der inhaltlchen Übereinstimmung der Koalitionäre abhängig
Problemdruck als Wandel auslösendes Moment zu Beginn der 1990er: Nach fast zwei Jahrzehnten strukturkonservierender Kostendämpfungsmaßnahmen erfolgte in der ersten Hälfte der 1990er Jahre in der deutschen Gesundheitspolitik eine Weichenstellung in Richtung eines regulierten Wettbewerbssystems. Wichtige Voraussetzungen für den Wandel in diese Richtung waren der steigende und mit den bisherigen Instrumenten kaum noch zu bewältigende Problemdruck, die Erfahrung der Grenzen vorheriger Steuerungsbemühungen und der Wille politischer Entscheidungsträger, die „Suprematie der Politik“ (Trampusch 2009: 140) wiederherzustellen. In nicht wenigen Gesundheitssystemen Europas lassen sich vergleichbare Konstellationen identifizieren und folgte die Reformpolitik seit 1975 einer ähnlichen Sequenz: Auf vorsichtige Veränderungen bestehender Anreize und Strukturen bis Ende der 1980er Jahre folgten wettbewerbsorientierte Strukturreformen seit der ersten Hälfte der 1990er Jahre.
Dabei erfolgte dieser Wandel – abgesehen von manchen ehemals sozialistischen Staaten – überwiegend im Rahmen der in den jeweiligen Systemen historisch gewachsenen institutionellen Strukturen (z. B. Wendt et al. 2005). Auch das deutsche Gesundheitssystem bildet hier keine Ausnahme. So wurde das neue, verstärkt wettbewerblich regulierte GKV-System seit Beginn der 1990er Jahre auf inkrementellem Wege ausgestaltet, es vollzog sich also ein evolutiv-pfadabhängiger Wandel, der im Ergebnis zu nachhaltigen Strukturveränderungen führt.
Während der Kassenwettbewerb um Versicherte von allen Parteien getragen wurde, war der Vertragswettbewerb unter Leistungsanbietern, wie z. B. den Ärzten, primär ein Anliegen von SPD und Grünen, weniger der Union und kaum der FDP. Unter den Akteuren der GKV-Selbstverwaltung sind die Krankenkassen entschiedene Anhänger eines solchen Wettbewerbs, die betroffenen Leistungsanbieter, insbesondere die Kassenärztlichen Vereinigungen, dessen schärfste Gegner
Intensivierte hierarchische Steuerung der GKV seit den 1990ern: Die Einführung von Wettbewerbselementen in der GKV wird begleitet von einer intensivierten hierarchischen Steuerung. Diese manifestierte sich seit Beginn der 1990er Jahre zum einen in Ansätzen zur direkten staatlichen Re-Regulierung des GKV-Systems (z. B. staatliche Festsetzung des Beitragssatzes in der GKV). Zum anderen zeigte sich das verstärkte Eingreifen des Staates in die Regulierung der GKV in den vom Gesetzgeber vorgenommenen Strukturveränderungen der Gemeinsamen Selbstverwaltung; konkret wurde die staatliche Interventionsstrategie insbesondere in der Zentralisierung des korporatistischen Entscheidungssystems durch die Aufwertung der Kompetenzen des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) 2004 und die schrittweise Erweiterung seiner Kompetenzen sichtbar.
Diese mit Hilfe des G-BA vollzogene Stärkung der staatlichen Kontrolle über die GKV geht zurück auf die Erfahrung, dass sowohl unter der Ärzteschaft als auch unter den Krankenkassen die egoistisch-rationale Umgehung gesetzlicher Regelungen unter gleichzeitiger Verletzung von Gemeinwohlbelangen (z. B. Risikoselektion, implizite Rationierung, private Abrechnung von Kassenleistungen, Rückzug von Versorgungseinrichtungen aus der Fläche) weit verbreitet ist. Die flankierende Re-Regulierung wettbewerblicher Reformen soll solchen Handlungsstrategien entgegenwirken und damit negative Rückkopplungseffekte für die politischen Entscheidungsträger vermeiden.
Hohe Legitimationsrisiken bremsen konsequente Liberalisierung der GKV: Genau dieser Grund wirkt auch als Hindernis für die Ausweitung der Wettbewerbsordnung auf die vertragsärztliche Regelversorgung und die Krankenhausversorgung, die durch eine konsequent von Selektivverträgen zwischen Krankenkassen und Ärzten oder Krankenhäusern getragene Versorgungsstruktur umgesetzt würde: Es ist kein tragfähiges Konzept in Sicht, das für den Fall einer durchgreifenden Liberalisierung tiefgreifende Verwerfungen in der Krankenversorgung und damit Legitimationsrisiken für die politisch Verantwortlichen vermeiden könnte. Im Falle der Krankenhausversorgung sind es die Länder, die sich den wiederholten Liberalisierungsvorstößen des Bundes verweigern (Klenk/Reiter 2012). Letzteres verweist darauf, dass auch die große Zahl der Veto-Punkte und Veto-Spieler in der Gesundheitspolitik zur Diffusionsbegrenzung selektivvertraglicher Steuerung beiträgt.
Die mit dem Übergang zum regulierten Wettbewerb geschaffenen Anreize, Interessen und Handlungszwänge bringen Dynamiken hervor, die eine Abkehr wichtiger Akteure von der gesetzlichen Krankenversicherung als einer Sozialversicherung begünstigen. Krankenkassen verstehen sich immer häufiger als Unternehmen, die nach Unabhängigkeit von staatlicher Regulierung drängen. Unter der Ärzteschaft wächst die Unzufriedenheit mit den GKV-Institutionen vor allem wegen der als ungenügend empfundenen Vergütung und der zunehmenden Bürokratisierung. Damit steigt ihre Bereitschaft, dem öffentlich-rechtlich regulierten Versorgungssystem den Rücken zu kehren. Krankenhäuser fordern eine Rückführung staatlicher Krankenhausplanung, um ihre Spielräume für die Verfolgung lukrativer Handlungsstrategien auf dem Leistungsmarkt zu vergrößern. Insbesondere aus Sicht der Vertragsärzte schwinden angesichts restriktiver staatlicher Rahmenvorgaben die Möglichkeiten, ihre Interessen im Rahmen der korporatistischen Konfliktlösungsmechanismen durchzusetzen. In ihren Interessenvermittlungsstrategien gewinnen daher Formen und Instrumente der autonomen Interessendurchsetzung jenseits der öffentlich-rechtlichen Verhandlungssysteme (Streiks, Demonstrationen etc.) an Bedeutung
Drift des GKV-Systems in Richtung eines privatrechtlich organisierten Systems: Neben diese endogen induzierten Dynamiken treten exogene Faktoren, die einen drift des GKV-Systems in Richtung eines privat und privatrechtlich organisierten Krankenversicherungssystems erzeugen. Zum einen ging dieser Trend von der Politik aus, vor allem von der konservativ-liberalen Bundesregierung. Die Einführung des Zusatzbeitrags als einer einkommensunabhängigen Beitragskomponente stellte eine Abkehr von der bruttolohnbezogenen Finanzierung der GKV dar und kann den Übergang zu einer risikoäquivalenten Beitragskalkulation, ähnlich derjenigen in der PKV, einleiten. Zudem drängt die partielle Unterwerfung der Krankenkassen unter die Zivilgerichtsbarkeit und die Kartellaufsicht die sozialrechtliche Regulierung der GKV zurück. Zum anderen wirken ökonomische Veränderungen im Gesundheitssystem in Richtung einer Privatisierung der GKV. Vor allem im Krankenhaussektor vollzieht sich eine rasche Privatisierung, richten die Träger ihre Investitions- und Versorgungsstrategien an ihren Gewinninteressen aus und streben nach einer größeren Unabhängigkeit von staatlichen Vorgaben.
Kapitalistische „Landnahme“ in der GKV: Das Eindringen privaten Kapitals in das Gesundheitswesen lässt sich – gerade in Krisenzeiten – als Ausdruck einer übergreifenden Tendenz kapitalistischer Ökonomien deuten, die mit dem Begriff der „Landnahme“ beschrieben werden kann (Dörre 2009). Dabei geht es um die Erschließung neuer Investitionsbereiche, d. h. um Landnahme, für die Ausweitung der Kapitalakkumulation auf solche gesellschaftlichen Bereiche, die – wie weite Teile der sogenannten Daseinsvorsorge, darunter auch das Gesundheitswesen – bisher ganz oder weitgehend der Kapitalverwertung vorenthalten geblieben sind. In der Gesundheitspolitik werden die Wachstumspotentiale seit mehr als eineinhalb Jahrzehnten mit dem Hinweis, das Gesundheitssystem sei nicht nur „Kostenfaktor“, sondern auch „Zukunftsbranche“ (SVR 1998), popularisiert
Seit dem Übergang zu wettbewerbsorientierten Reformen ist also ein deutlicher Privatisierungstrend in der GKV zu erkennen. Dennoch hat die gesetzliche Krankenversicherung bisher ihren Charakter als öffentlich-rechtlich regulierte Sozialversicherung mit Selbstverwaltung im Kern bewahrt. Sie präsentiert sich somit als ein Gebilde, in dem wettbewerbliche Mechanismen an Bedeutung gewinnen und zugleich im Zusammenwirken mit exogenen Faktoren eine Dynamik in Richtung eines Privatversicherungssystems freisetzen. Dabei ist es primär die Furcht vor negativen Rückkopplungseffekten, die politische Entscheidungsträger zur Zurückhaltung bei der weiteren Verbreitung wettbewerblich-selektivvertraglicher Regulierungsmechanismen und einer noch stärkeren Privatisierung des Krankenversicherungssystems veranlasst
Die Versorgung Pflegebedürftiger ist in Deutschland – wie in den meisten anderen europäischen Gesellschaften – seit geraumer Zeit ein Problem von erheblicher und in Zukunft vermutlich weiter wachsender Bedeutung. Unterschiedliche Entwicklungen greifen hier ineinander:
- Der demografische Wandel führt zu einem Anstieg der Zahl Pflegebedürftiger. - Mit den sinkenden Bevölkerungszahlen im mittleren Lebensalter verringert sich gleichzeitig die Zahl derjenigen, die – ob als Angehörige, Ehrenamtliche oder Professionelle
– für die Durchführung der pflegerischen Versorgung in Frage kommen.
- Der soziale Wandel trägt über unterschiedliche Mechanismen (v. a. Individualisierung, Bedeutungsverlust der Familie, Anstieg der Frauenerwerbstätigkeit, Zunahme räumlicher Mobilität) dazu bei, dass die Potentiale familiärer und nachbarschaftlicher Hilfe erodieren.
- Schließlich ist der Pflegeberuf aufgrund schlechter Arbeitsbedingungen (geringe Entlohnung, ungünstige Arbeitszeiten, hohe körperliche und psychische Belastungen) und eines geringen gesellschaftlichen Ansehens unattraktiv, was wiederum dazu beiträgt, dass das Fachkräfteangebot hier deutlich hinter dem gesellschaftlichen Bedarf zurückbleibt. Somit stehen auf dem Feld der Pflegepolitik zwei Probleme im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit: Wie soll die Pflege gewährleistet werden? Und: Wie soll sie finanziert werden?
Errichtung und Ziele der sozialen Pflegeversicherung:
Nach einer mehr als 20 Jahre andauernden öffentlichen und politischen Diskussion verabschiedete der Deutsche Bundestag im April 1994 das „Gesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit (Pflege-Versicherungsgesetz – PflegeVG)“ (BGBl. I: 1014). Es trat am 1.1.1995 in Kraft und wurde als elftes Buch in das Sozialgesetzbuch integriert (SGB XI)78. Die Pflegeversicherung war damit als „fünfte Säule“ der gesetzlichen Sozialversicherung neben der Kranken-, Renten-, Unfall- und Arbeitslosenversicherung etabliert.
Problemhintergrund der Errichtung der sozialen Pflegeversicherung: Vor 1995 hatte Pflegebedürftigkeit – mit einigen wenigen Ausnahmen im Bereich der Kranken- und Unfallversicherung sowie der Kriegsopferversorgung – keinen sozialversicherungsrechtlichen Leistungsanspruch begründet. Dies war unter mehreren Gesichtspunkten problematisch. Für die Pflege von Familienmitgliedern war kaum eine sozialstaatliche Unterstützung verfügbar. Eine große Zahl von Familien musste die notwendig gewordenen professionellen Pflegeleistungen aus dem laufenden Haushaltseinkommen oder dem Privatvermögen finanzieren. Dabei waren immer mehr Pflegebedürftige und ihre Angehörigen gezwungen, zur Finanzierung professioneller Pflege auf die Sozialhilfe zurückzugreifen. Die Landkreise und Kommunen mussten als Sozialhilfeträger somit den größten Teil der Pflegekosten tragen, wodurch deren ohnehin chronische Finanzkrise weiter verstärkt wurde.
Ein generelles Problem bestand zudem darin, dass die Zahl der zur Versorgung pflegebedürftiger Personen zur Verfügung stehenden Pflegekräfte und -einrichtungen zum Zeitpunkt der Schaffung der sozialen Pflegeversicherung insgesamt viel zu gering war (Schölkopf 1999). Der demografische und soziale Wandel ließen zudem erwarten, dass sich diese Situation in den nachfolgenden Jahren und Jahrzehnten noch verschärfen würde. Und darüber hinaus war mit der deutschen Vereinigung bereits eine Zuspitzung des Problems der angemessenen Versorgung von Pflegebedürftigen eingetreten, war doch angesichts der spärlichen Pflegeinfrastruktur in der DDR der kurzfristige Ausbau entsprechender ambulanter und stationärer Kapazitäten in Ostdeutschland notwendig geworden
Ziele der Pflegeversicherung: Mit der Einführung der Pflegeversicherung erhielten Pflegebedürftige erstmals eine eigenständige soziale Absicherung. Allerdings blieb das mit der Pflegeversicherung erreichte Unterstützungs- und Sicherungsniveau weit hinter dem anderer Versorgungszweige (insbesondere der medizinischen Versorgung auf Grundlage der GKV, vgl. Kap. 6) zurück. So unterschied sich die SPV von Anfang an von den anderen Sozialversicherungszweigen grundlegend durch ihren Charakter als Teilkaskoversicherung. Neben der Absicherung des Pflegebedürftigkeitsrisikos standen für den Gesetzgeber noch weitere, nur teilweise mit dem Verständnis einer klassischen Sozialversicherung kompatible Ziele im Vordergrund:
- Die Pflegeversicherung sollte das Risiko der Pflegebedürftigkeit eigenständig absichern, dabei aber die Finanzierung über Pflichtbeiträge, insbesondere die Belastung der Arbeitgeber, in engen Grenzen halten.
- Sie sollte die Abhängigkeit Pflegebedürftiger von der Sozialhilfe vermindern und die Sozialhilfeträger von ihren hohen Ausgaben für Pflegeleistungen entlasten.
- Sie sollte bei Pflegebedürftigkeit primär die gesellschaftliche Selbsthilfe durch Angehörige, Freunde und Nachbarn mobilisieren.
- Sie sollte durch die öffentlich finanzierte Stärkung der Nachfrage zum Ausbau einer bedarfsgerechten Pflegeinfrastruktur und zur Verbesserung der Pflegequalität beitragen.
Das Motiv der (verstärkten) Mobilisierung privaten Engagements, das ab den 1990er Jahren für den Politikwandel in anderen Sozialversicherungszweigen eine herausragende Rolle spielte, war für die Errichtung der Pflegeversicherung von großer Bedeutung – das lässt dieser Zielkatalog erkennen, und das wird auch beim Blick auf die Strukturen der SPV deutlich.
Leistungen und Leistungsinanspruchnahme
Das Pflegeversicherungsgesetz definiert die „pflegerische Versorgung der Bevölkerung“ als „gesamtgesellschaftliche Aufgabe“ (§ 8 Abs. 1 SGB XI). Freilich bedeutet dies nicht, dass die Gesellschaft den Betroffenen die entstehenden Lasten so weit wie möglich abnimmt. Vielmehr steht die Verantwortung der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen im Zentrum. Ihnen soll die Gesellschaft bei der eigenverantwortlichen Wahrnehmung ihrer Aufgaben unter die Arme greifen. Länder, Kommunen, Pflegeeinrichtungen und Pflegekassen sollen „die Bereitschaft zu einer humanen Pflege und Betreuung durch hauptberufliche und ehrenamtliche Pflegekräfte sowie durch Angehörige, Nachbarn und Selbsthilfegruppen“ (§ 8 Abs. 2 SGB XI) fördern und so „auf eine neue Kultur des Helfens und der mitmenschlichen Zuwendung hinwirken“
Die Pflegeversicherung als soziale Grundsicherung: Die soziale Pflegeversicherung ist – anders als die gesetzliche Krankenversicherung – als eine Grundsicherung konzipiert, d. h., sie deckt weder bei der ambulanten noch bei der stationären Pflege den gesamten Versorgungsbedarf ab. Leistungen der Pflegeversicherung tragen also von vornherein nur ergänzenden Charakter; sie sollen die Hilfe durch Familienangehörige, Nachbarn oder soziale Netzwerke nicht ersetzen (§ 3 SBG XI). Es handelt sich bei der Pflegeversicherung mithin um eine „Barmherzigkeit mit beschränkter Haftung“ (Strünck 2000). Sofern es zur professionellen Hilfe keine Alternative gibt, müssen Familieneinkommen oder -vermögen zur Kostendeckung herangezogen werden. Falls diese nicht vorhanden oder durch die Übernahme von Pflegeaufwendungen aufgezehrt sind, müssen die Betroffenen auf die Hilfe zur Pflege, eine besondere Form der Sozialhilfe, die im SGB XII geregelt ist, zurückgreifen. Die Prinzipien der Leistungsgewährung in der sozialen Pflegeversicherung orientieren sich damit stark am Konzept der Subsidiarität und an den Merkmalen des liberalen Wohlfahrtsstaatsmodells
Abkehr vom Grundsatz solidarischen Absicherung von Lebensrisiken: Der mit dem SGB XI verfolgte Ansatz zur Absicherung des Pflegebedürftigkeitsrisikos wird häufig als Ausgangspunkt für die Entwicklung einer neuen Balance von staatlichen, marktförmigen, familiären und nachbarschaftlichen freiwilligen Beiträgen und Leistungen interpretiert („Wohlfahrtspluralismus“, „neuer Wohlfahrtsmix“; Hämel 2012). Aus dieser Perspektive eröffnet das Gesetzbuch vielfältige Möglichkeiten zur Entwicklung von Konzepten, mit denen professionelle Hilfen und familiäre, nachbarschaftliche oder andere soziale Hilfen miteinander verbunden werden können. Man kann in dieser Charakterisierung der Pflegeversicherung aber auch mit guten Gründen eine beschönigende Umschreibung für die Abkehr vom Grundsatz einer solidarischen Absicherung von Lebensrisiken sehen
Leistungsgrundsätze
Die Leistungen der Pflegeversicherung sollen den Pflegebedürftigen helfen, trotz ihres Hilfebedarfs ein möglichst selbstständiges, selbstbestimmtes und menschenwürdiges Leben zu führen (§ 2 SGB XI). Sie werden einkommens- und vermögensunabhängig gewährt. Versicherte, die Pflegeleistungen erhalten, können ungeachtet dessen auch andere soziale Leistungen (z. B. Leistungen der Krankenversicherung, Leistungen der Bundesagentur für Arbeit, Rente, Wohngeld, Sozialhilfe) in Anspruch nehmen. Durch die Pflege sollen Pflegebedürftige aktiviert werden, um vorhandene Fähigkeiten so weit wie möglich zu erhalten oder verlorene Fähigkeiten wiederzuerlangen (§ 28 Abs. 4 SGB XI). Dabei gilt das Selbstbestimmungsrecht des Pflegebedürftigen: Er wählt selbst sowohl die Art der an ihm, für ihn oder zu seinen Gunsten erbrachten Pflegeleistung (ambulant, teilstationär oder vollstationär, Geld- oder Sachleistung) als auch die Einrichtung oder den Pflegedienst, der die Leistung erbringt.
Ein wichtiges Prinzip der Pflegeversicherung ist der grundsätzliche Vorrang der häuslichen vor der stationären Pflege: Die Pflegebedürftigen sollen so lange wie möglich in ihrer häuslichen Umgebung bleiben können, und zu diesem Zweck soll die familiäre und nachbarschaftliche Pflegebereitschaft in besonderer Weise unterstützt werden (§ 3 SGB XI). Auch die Leistungen der teilstationären Pflege und Kurzzeitpflege genießen Vorrang gegenüber der vollstationären Pflege. Der Vorranggrundsatz steht im Einklang mit den Wünschen der Mehrzahl der Pflegebedürftigen und der Angehörigen. Auch durch die unterschiedlichen Reformen der Pflegeversicherung, zuletzt durch die beiden 2015 und 2016 sukkzessive in Kraft getretenen Pflegestärkungsgesetze, ist er nicht angetastet worden.
Pflegebedürftigkeitsbegriff und Pflegestufen
Die Definition des Pflegebedürftigkeitsbegriffs war von Anfang an umstritten. So legt das ursprüngliche PflegeVG von 1995 ein funktional orientiertes Begriffsverständnis zugrunde, das krankheits- oder behinderungsbedingte Pflegebedürftigkeit in den Vordergrund rückt. Darin heißt es, dass solche Personen als pflegebedürftig gelten, „die wegen einer körperlichen, geistigen oder seelischen Krankheit oder Behinderung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen im Ablauf des täglichen Lebens auf Dauer, voraussichtlich für mindestens sechs Monate, in erheblichem oder höherem Maße der Hilfe bedürfen“ (§ 14 Abs. 1 SGB XI). Diesem Verständnis entsprechend finanziert die Pflegeversicherung Hilfen bei alltäglichen Verrichtungen in den Bereichen der Körperpflege, Ernährung, Mobilität und hauswirtschaftlichen Versorgung (§ 14 Abs. 3 SGB XI).
Dabei unterscheidet das Pflegeversicherungsgesetz ursprünglich je nach Schwere der Pflegebedürftigkeit zwischen drei Pflegestufen:
Leistungen der Pflegestufe I (erheblich Pflegebedürftige) erhalten solche Personen, die mindestens einmal täglich bei wenigstens zwei Verrichtungen aus den vier genannten Bereichen auf fremde Hilfe angewiesen sind und außerdem mehrmals wöchentlich bei der hauswirtschaftlichen Versorgung Unterstützung benötigen. Der zeitliche Aufwand muss wöchentlich im Tagesdurchschnitt mindestens 90 Minuten betragen.
- Leistungen der Pflegestufe II (Schwerpflegebedürftige) erhalten diejenigen Personen, die mindestens dreimal täglich zu verschiedenen Tageszeiten bei ebenfalls wenigstens zwei Verrichtungen aus einem oder mehreren Bereichen der Körperpflege, Ernährung oder Mobilität Hilfe benötigen, wobei der tagesdurchschnittliche Zeitaufwand mindestens drei Stunden betragen muss.
- Leistungen der Pflegestufe III (Schwerstpflegebedürftige) schließlich erhalten jene Personen, die bei Verrichtungen aus den genannten Bereichen täglich rund um die Uhr Hilfe benötigen, wobei der tägliche Zeitaufwand hier im Durchschnitt mindestens fünf Stunden betragen muss.
Der Pflegebedürftigkeitsbegriff, der dieser Einstufung zugrunde gelegt ist, wurde in Wissenschaft und Politik schon früh übereinstimmend als zu eng und damit unzureichend kritisiert, weil er sich auf die Verrichtungen des täglichen Lebens beschränkt und den allgemeinen Beaufsichtigungs- und Betreuungsbedarf von Pflegebedürftigen ebenso unberücksichtigt lässt wie spezifische Unterstützungsbedarfe, z. B. von Demenzkranken und ihren Angehörigen. Allerdings hat die Politik erst jüngst damit begonnen, sich dieses Problems anzunehmen. So hat die zweite Große Koalition im Jahr 2008 mit dem Pflege-Weiterentwicklungsgesetz (PfWG) erstmals einen Rechtsanspruch auf Unterstützung für solche Personen geschaffen, deren Bedarf an Grundpflege zwar nicht das Niveau der Pflegestufe I erreicht, die aber einen erhöhten Betreuungsbedarf aufweisen („Pflegestufe 0“). Außerdem beauftragte das zuständige Bundesgesundheitsministerium (BMG) im Jahr 2006 einen Expertenbeirat mit der Überprüfung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs. Diesem folgte im Jahr 2012 ein von der schwarz-gelben Koalition eingesetzter Expertenbeirat, der damit beauftragt wurde, konkrete Vorschläge für die Begriffsausgestaltung zu erarbeiten (Expertenbeirat zur konkreten Ausgestaltung des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs). Anknüpfend an den im Juni 2013 vorgelegten Bericht des Expertenbeirats verabschiedete die dritte Große Koalition schließlich im Jahr 2015 eine umfassende Reform der Pflegeversicherung.
Pflegestärkungsgesetz II 2017: neuer Pflegebedürftigkeitsbegriff und Pflegegrade: Die Neuregelung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs sowie auch des Verfahrens zur Begutachtung und Einstufung der Betroffenen ist in diesem Zusammenhang Gegenstand des Pflegestärkungsgesetzes II (PfSG II), das am 01.01.2017 in Kraft tritt. Konkret wird hier der bisherige Pflegebedürftigkeitsbegriff um geistige und psychische Einschränkungen erweitert. Zentraler Bezugspunkt für den Anspruch auf Pflegeleistungen ist zukünftig nicht mehr die Fähigkeit der Betroffenen zur Durchführung von bestimmten Alltagsverrichtungen, sondern der Grad der Selbständigkeit. Das neue Begutachtungsverfahren beurteilt die Selbständigkeit in sechs Teilbereichen, nämlich 1.) Mobilität, 2.) kognitive und kommunikative Fähigkeiten, 3.) Verhaltensweisen und psychische Problemlagen, 4.) Selbstversorgung, 5.) Bewältigung von und selbstständiger Umgang mit krankheits- oder therapiebedingten Anforderungen und Belastungen und 6.) Gestaltung des Alltagslebens und sozialer Kontakte. Auf Grundlage des Gesamtergebnisses der entsprechend angelegten Begutachtung erfolgt eine Einteilung der Pflegebedürftigen nun nicht mehr in eine der drei oben genannten Pflegestufen, sondern in einen von insgesamt fünf neu definierten Pflegegraden. Die Neuregelungen müssen sich im Alltag der Pflegepraxis erst noch bewähren.
Leistungsformen, Leistungsumfang und Inanspruchnahme von Pflegeleistungen
Vier Formen von Pflegeleistungen: Grundsätzlich wird der Anspruch auf Pflegeleistungen auf der Basis einer Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) von der jeweiligen Pflegekasse gewährt. Liegt Pflegebedürftigkeit vor, so stehen für den Betroffenen vier Formen von Pflegeleistungen zur Verfügung: die ambulante (häusliche) Pflege, die teilstationäre Pflege (Tages- und Nachtpflege), die stationäre Kurzzeitpflege (z. B. bei urlaubsbedingter Verhinderung pflegender Angehöriger) und die vollstationäre Pflege. Anstelle von ambulanten Pflegeleistungen, die als Sachleistungen von einem professionellen Pflegedienst erbracht werden, kann auch Pflegegeld, also eine Geldleistung, in Anspruch genommen werden. Dazu muss allerdings sichergestellt sein, dass die gewährten Pflegeleistungen auch tatsächlich erbracht werden (z. B. von Angehörigen) (§§ 36 u. 37 SGB XI). Außerdem können Pflegesachleistungen und Pflegegeld auch kombiniert werden („Kombinationsleistung“; § 38 SGB XI)). Selbstverständlich gilt dies nicht für vollstationäre Pflege; sie kann per definitionem keine Kombinationsleistung sein (vgl. §§ 36-40 SGB XI). Das SGB XI legt für entsprechende Pflegeleistungen Geldbeträge fest (vgl. §§ 36 u. 37 SGB XI); hierbei handelt es sich um Höchstbeträge, die nicht immer ausgeschöpft werden müssen
Geringe Leistungsverbesserungen seit 2008: Zwischen 1995 und 2008 sind die Geld- und Sachleistungen in der Pflegeversicherung – von einigen geringfügigen Verbesserungen abgesehen – nicht angehoben worden. Daher erlitten die Leistungen der Pflegeversicherung seit ihrer Einrichtung einen Kaufkraftverlust von etwa 15 bis 20 %. Erst ab 2008 änderte sich die Situation allmählich. Zunächst legte das Pflege-Weiterentwicklungsgesetz eine Anhebung der meisten Geld- und Sachleistungen in einem zweijährigen Rhythmuszwischen 2008 und 2012 fest. Darüber hinaus sah die Reform vor, dass ab 2015 die Pflegeversicherungsleistungen in einem dreijährigen Rhythmus an die Preisentwicklung angepasst werden sollen (Dynamisierung); die dritte Große Koalition hat mit dem Ersten Pflegestärkungsgesetz 2015 eine solche Anpassung zum 01.01.2016 erstmals vorgenommen. Eine weitere Anpassung erfolgt ab 2017 auf Basis des Zweiten Pflegestärkungsgesetzes. Weder die gesetzliche Anhebung der Leistungsbeträge noch die Dynamisierung können allerdings den seit 1995 eingetretenen Kaufkraftverlust kompensieren.
„Pflegestufe 0“: Daneben hat der Gesetzgeber auch die Leistungen für Pflegebedürftige mit Demenz angehoben. Nach der erstmaligen Einbeziehung von Pflegebedürftigen der „Pflegestufe 0“ im Jahr 2008 (s.o.) wurden die Leistungen für diesen Personenkreis mit dem Pflege-Neuausrichtungsgesetz (PNG 2012) und dem Ersten Pflegestärkungsgesetz (2015) verbessert. Mit diesen Reformen wurden auch die Geldund Sachleistungen für Personen mit erhöhtem Betreuungsaufwand in den Pflegestufen I bis III erhöht. So sieht das Pflegestärkungsgesetz I (PfSG I) eine Erhöhung der ambulanten Pflegeleistungen (Pflegegeld und Pflegesachleistungen) um ca. 4 % vor. Nichtsdestotrotz blieben die Leistungen insbesondere für Demenzkranke unzureichend. Im Kern handelte es sich bei den Leistungsverbesserungen um den Versuch, die Zeit bis zum Inkrafttreten des neuen, erweiterten Pflegebedürftigkeitsbegriffs zu überbrücken.
Soziale Absicherung von Angehörigen: Schließlich sind mittlerweile auch auf anderen Gebieten Leistungsverbesserungen eingetreten. Dies betrifft die soziale Absicherung von Angehörigen und ehrenamtlichen Pflegepersonen (v. a. bei der Alterssicherung, aber auch in der Arbeitslosenversicherung), die Rechte zur Freistellung von der Arbeit bei der Übernahme der Pflegeorganisation oder bei der häuslichen Pflege und die finanzielle Unterstützung bei pflegegerechten Umbaumaßnahmen der eigenen Wohnung. Darüber hinaus sind die Rechte von Pflegebedürftigen und deren Angehörige auf Pflegeberatungsleistungen seit 2008 kontinuierlich erweitert worden. Führte der Gesetzgeber mit dem PfWG 2008 einen entsprechenden Beratungsanspruch für Betroffene erstmals ein, so schuf er im PNG mit dem Beratungsgutschein ein darauf abgestimmtes neues Instrument. Das PfSG II etablierte schließlich im Jahr 2016 einen eigenständigen Beratungsanspruch für ehrenamtlich Pflegepersonen und pflegende Angehörige.
Insgesamt fällt dabei auf, dass bei der Leistungsveränderung bislang stets solche Maßnahmen im Mittelpunkt standen, die darauf zielen, die Bereitschaft von Angehörigen und ehrenamtlichen Pflegepersonen zur Übernahme der häuslichen Pflege zu erhöhen. Auch die jüngste Pflegereformen 2015/16 änderten daran nicht grundsätzlich etwas, auch wenn der Gesetzgeber hier im PfSG I (2015) Mittel für die Einstellung zusätzlicher Pflegekräfte sowie eine verbesserte Personalvergütung im Pflegesektor einschließlich einer Nachweispflicht für Pflegeeinrichtungen vorsah, dass das zusätzliche Geld tatsächlich bei den Pflegekräften ankommt. Opposition und Sozialverbände werten diese Leistungsverbesserungen insgesamt als unzureichend
Leistungen der SPV in 2013Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung in 2013: Ende 2014 erhielten insgesamt rund 2,73 Millionen Personen Leistungen aus der sozialen und der gewinnwirtschaftlichen privaten Pflegeversicherung. Darunter bezog die große Mehrheit – rund 2,56 Millionen Personen – Leistungen aus der sozialen Pflegeversicherung (BMG 2016a). Die Zahl der Leistungsbezieher aus der SPV ist damit seit 1996 um rund 1,5 Millionen oder 61,2 % angestiegen. Unter den Beziehern sozialer Pflegeleistungen erhielten Ende 2014 ca. 1,6 Millionen Personen Leistungen der Pflegestufe I, rund 802.000 Personen erhielten Leistungen der Pflegestufe II und gut 298.000 Personen bezogen Leistungen der Pflegestufe III (ebd.). Dabei nahm der Anteil der Leistungsempfänger in Stufe I stark zu (von 40,1 % auf 57,1 %), während die Anteile der Pflegestufen II (43,3 % auf rund 31,3 %) und III (von 16,6 % auf 11,6 %) jeweils zurückgingen (ebd.; Rosenbrock/Gerlinger 2014: 355). Gleichzeitig stieg der Anteil der stationär versorgten Personen zwischen 1996 und 2014 von 24,9 auf 29,2 % und ging (bis 2011) der Anteil der Leistungsempfänger, die Pflegegeld in Anspruch nahmen, von 60,4 auf 45,1 % zurück, allerdings bei gleichzeitigem Bedeutungsgewinn der Kombinationsleistungen (BMG 2016a; Rosenbrock/Gerlinger 2014: 356). Diese Entwicklungen lassen sich als Hinweise darauf deuten, dass die Potentiale für die informelle Pflege durch Angehörige oder das soziale Umfeld stagnieren. Allerdings ist der Beitrag von Angehörigen zur Deckung des Pflegebedarfs nach wie vor bemerkenswert hoch
Mehr als die Hälfte (52,3 %) aller Pflegeeinrichtungen (ambulant und stationär) wurde Ende 201379 von privaten, 44,5 % von freigemeinnützigen und lediglich 3,1 % von öffentlichen – zumeist kommunalen – Trägern betrieben (Statistisches Bundesamt 2015a: 12, 21). Dabei sind bei den Pflegeheimen die freigemeinnützigen und öffentlichen Träger stärker, die privaten bzw. gewinnwirtschaftlichen Träger schwächer vertreten als bei den ambulanten Pflegediensten. Die professionelle Altenpflege hat seit Einführung der Pflegeversicherung stark an Bedeutung gewonnen, wobei von diesem Aufschwung insbesondere private Träger profitiert haben.
„Pflegeversicherung folgt Krankenversicherung: In der Pflegeversicherung existiert ebenso wie in der Krankenversicherung eine Trennung zwischen gesetzlichem (sozialem) und privatem System. Die Zugangsregeln zu beiden Zweigen sind mit denen in der Krankenversicherung (vgl. Kap. 6) identisch. Die Pflegeversicherung erfolgt stets dort, wo die betreffende Person auch krankenversichert ist (Grundsatz „Pflegeversicherung folgt Krankenversicherung“). Für die Versicherten bedeutet dies, dass
- alle Pflichtmitglieder der GKV automatisch auch Mitglied in der sozialen Pflegeversicherung sind (§ 20 Abs. 1 SGB XI) und auch die Regelungen zur Familienmitversicherung entsprechend den Regelungen in der GKV gelten (§ 25 SGB XI);
- auch die freiwilligen GKV-Mitglieder grundsätzlich einer Versicherungspflicht in der sozialen Pflegeversicherung unterliegen (§ 20 Abs. 3 SGB XI);
- die privat Krankenversicherten verpflichtet sind, auch eine private Pflegeversicherung abzuschließen und aufrechtzuerhalten
Die Pflegeversicherung wurde unter dem Dach der Krankenversicherung eingerichtet (§ 46 SGB XI). Jede Krankenkasse hat daher auch eine Pflegekasse gebildet. Die Pflegekassen sind dabei – ebenso wie die Krankenkassen – selbständige Körperschaften öffentlichen Rechts und nach dem Grundsatz der Selbstverwaltung organisiert (§ 46 Abs. 2 SGB XI). Anders als in der ambulanten und stationären Krankenversorgung, hat der Gesetzgeber den Pflegekassen allerdings auch den Sicherstellungsauftrag für eine bedarfsgerechte Versorgung im Bereich der Pflege zugewiesen (in der ambulanten Krankenversorgung haben die Kassenärztlichen Vereinigungen diesen Auftrag und in der stationären Versorgung der Staat, d. h. die Länder; vgl. Kap. 6)
Finanzierung und Ausgabenentwicklung
Die Finanzierung der sozialen Pflegeversicherung lehnt sich in wichtigen Merkmalen an das aus der Krankenversicherung bekannte Verfahren an:
- Die SPV wird durch die Beiträge der Mitglieder finanziert, wobei es sich – anders als in der GKV seit 2004 – um eine reine Beitragsfinanzierung ohne steuerfinanzierten Bundeszuschuss handelt.
- Alle Mitglieder zahlen den Beitrag für die aktuell leistungsberechtigten Pflegebedürftigen (Umlageverfahren).
- Die Höhe der Beiträge richtet sich nach dem beitragspflichtigen Bruttoeinkommen jedes Mitglieds. Es wird jährlich eine Beitragsbemessungs- und eine Versicherungspflichtgrenze festgelegt, die mit der in der GKV identisch ist
In der SPV gilt wie in der GKV der Grundsatz der paritätischen, also gleichteiligen Beitragsaufbringung durch die Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Bei näherem Hinsehen wird allerdings deutlich, dass die Arbeitnehmer seit der Einführung der SPV 1995 einseitig belastet sind, denn das Pflegeversicherungsgesetz sah als finanziellen Ausgleich für den Arbeitgeberanteil die Streichung eines Feiertags vor (Ausnahme: Land Sachsen), so dass die Arbeitnehmer den Arbeitgeberbeitrag seither de facto durch unbezahlte Überstunden finanzieren. Neben den aufgelisteten Gemeinsamkeiten, die die SPV mit der GKV teilt, sind auch einige Unterschiede hervorzuheben; sie betreffen die Regeln der Finanzierung und der Leistungsgewährung. So sind es in der SPV nicht die Pflegekassen, welche die Höhe des Beitragssatzes festlegen, sondern der Staat, der dies durch den Gesetzgeber tut (§ 55 Abs. 1 SGB XI). Beitragssatzunterschiede sind dabei in der Pflegeversicherung von Anfang an bewusst ausgeschlossen worden; der Beitragssatz ist vielmehr einheitlich für alle Pflegekassen und kann auch nur einheitlich für alle Pflegekassen durch Gesetzesänderung angepasst werden (seit 2009 auch in der GKV, vgl. Kap. 6). Derzeit liegt der Beitragssatz in der SPV bei 2,3 % für Mitglieder mit Kindern und 2,55 % für kinderlose Mitglieder. Er ist seit 2008 mehrfach angehoben worden: Von ursprünglich 1,7 % stieg er ab 1. Juli 2008 mit Inkrafttreten des Pflege-Weiterentwicklungsgesetzes (PfWG) auf 1,95 %, wurde sodann mit dem PNG zum 1. Januar 2013 auf 2,05 % erhöht und stieg schließlich mit dem Ersten Pflegestärkungsgesetz zum 1. Januar 2015 auf 2,35 % bzw. 2,6 % (für kinderlose Versicherte. (§ 55 Abs. 1 SGB XI). Diese Anhebungen sollen u. a. zur Finanzierung der Leistungsverbesserungen dienen, die mit diesen Gesetzen jeweils ebenfalls beschlossen wurden. Außerdem soll aus der jüngsten Beitragssatzanhebung der Aufbau eines ebenfalls im PfSG I 2015 beschlossenen Pflegevorsorgefonds finanziert werden. Ziel des Fonds, für den 20 Jahre lang aus Beitragsmitteln angespart werden soll, ist es, die Kostensteigerungen durch den demografischen Wandel abzudämpfen. Seit 1. Januar 2005 müssen Kinderlose dabei einen um 0,25 Prozentpunkte erhöhten Beitragssatz zahlen.
Private Pflegezusatzversicherung: Mit dem Inkrafttreten des Pflege-Neuordnungsgesetzes (PNG) zum 1. Januar 2013 wurde das System der Beitragsfinanzierung in der sozialen Pflegeversicherung durch kapitalgedeckte Elemente ergänzt. Versicherte können nun freiwillig mit staatlicher Unterstützung eine private Pflegezusatzversicherung abschließen. Das von der schwarz-gelben Regierungsmehrheit verabschiedete PNG sieht dabei vor, dass Versicherte für den Abschluss einer solchen Zusatzversicherung einen steuerfinanzierten Zuschuss von fünf Euro pro Monat („Pflege-Bahr“) erhalten, wobei die durchschnittliche Monatsprämie mindestens zehn Euro betragen muss. Derartige private Zusatzversicherungen müssen bestimmte Bedingungen erfüllen: die Versicherer dürfen keinen Antragsteller aufgrund möglicher gesundheitlicher Risiken ablehnen; Risikozuschläge und Leistungsausschlüsse sind nicht erlaubt; die Versicherungsleistung muss sich im Pflegefall in der Pflegestufe III auf mindestens 600 Euro monatlich belaufen, wobei ein Leistungsanspruch erst nach einer Karenzzeit von fünf Jahren besteht.
Die Einführung dieser privaten Pflegezusatzversicherung markiert in mehrfacher Hinsicht eine Abkehr von den Grundsätzen der solidarischen Beitragsfinanzierung: Die Höhe der Versicherungsprämie ist unabhängig vom Einkommen, kann nach dem Alter differenziert werden und wird ausschließlich vom Versicherten aufgebracht. Zudem sind nicht erwerbstätige Familienmitglieder nicht beitragsfrei mitversichert. Daher ist diese Zusatzversicherung bei Sozialverbänden, bei der Opposition und auch in der Wissenschaft auf deutliche Kritik gestoßen. Daneben ist auch der Nutzen dieser Zusatzversicherung äußerst ungewiss
Ausgaben der SPV: Die Gesamtausgaben der sozialen Pflegeversicherung beliefen sich im Jahr 2014 auf 25,45 Milliarden Euro, davon waren 24,24 Milliarden Euro Leistungsausgaben (BMG 2016b). Gegenüber 1997, als erstmals ganzjährig ambulante und stationäre Leistungen finanziert wurden, stiegen die Gesamtaufwendungen damit um rund 9,1 Milliarden Euro, also um rund 37,5 %. Gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist der Anteil der Ausgaben für die soziale Pflegeversicherung seitdem aber nur geringfügig angestiegen: 1997 betrug er 0,79 %, im Jahr 2014 rund 0,83 % des BIP (BMG 2016b; Statistisches Bundesamt 2016). Im Jahr 2014 entfielen 43,4 % der Ausgaben in der sozialen Pflegeversicherung auf die vollstationäre Pflege, weitere 24,5 % machten die Geldleistungen der SPV im Rahmen der ambulanten Pflege aus. Der große Rest entfiel auf Pflegesachleistungen z. B. von ambulanten Pflegediensten (14,68 %) und sonstige Aufwendungen, darunter – mit einem Anteil von 3,46 % an den Gesamtausgaben der SPV in 2014 – Ausgaben für die Verwaltung der sozialen Pflegeversicherung (BMG 2016b; eigene Berechnungen).
Finanzielle Entlastung der Betroffenen: Die soziale Pflegeversicherung hat seit ihrer Einführung zwar für eine spürbare finanzielle Entlastung bei den Betroffenen gesorgt, da es sich jedoch lediglich um eine Grundsicherung handelt, müssen die Pflegebedürftigen nach wie vor einen erheblichen Eigenanteil an den Pflegekosten leisten. Dieser Eigenanteil betrug nach Abzug der von den Kommunen getragenen Hilfe zur Pflege im Durchschnitt der Jahre 2000 bis 2009 412 Euro bei ambulanter und 3.154 Euro bei stationärer Pflege pro Jahr und Pflegebedürftigem
Entlastung der Sozialhilfeträger: Mit der Einführung der Pflegeversicherung entfiel zunächst für einen großen Teil der Pflegebedürftigen die Abhängigkeit von der Sozialhilfe – dies trifft insbesondere auf Pflegebedürftige in der häuslichen Pflege zu, in geringerem Maße aber auch auf diejenigen in der Heimpflege. Die Zahl der Bezieher von Hilfe zur Pflege ist sank von knapp 580.000 im Jahr 1995 auf rund 315.000 im Jahr 2002, um anschließend allmählich wieder anzusteigen (Rosenbrock/Gerlinger 2014: 376). Im Jahr 2013 belief sie sich auf etwa 444.000 Personen
In einem ähnlichen Rhythmus veränderte sich auch der Umfang der Zahlungen im Rahmen der Hilfe zur Pflege, die die Kommunen als Sozialhilfeträger leisten müssen. Zunächst wurden die Haushalte der Sozialhilfeträger, also der Kommunen, in erheblichem Umfang entlastet. Zwischen 1994, dem letzten Jahr vor Einführung der Pflegeversicherung, und 1997, dem ersten Jahr, in dem ganzjährig ambulante und stationäre Leistungen von der Pflegeversicherung finanziert wurden, gingen die kommunalen Ausgaben für die spezielle Sozialhilfeart der „Hilfe zur Pflege“ im Bundesgebiet von 9,1 Milliarden Euro auf 3,5 Milliarden Euro zurück. Dieser Trend setzte sich bis zum Ende der 1990er Jahre fort. Seitdem steigen die Ausgaben für Hilfe zur Pflege allerdings wieder an. Den Hintergrund für diese Entwicklung bildet zum einen der Anstieg der Zahl der Pflegebedürftigen von gut 2 Millionen auf gut 2,5 Millionen Personen zwischen 1999 und 2011 (Gesundheitsberichterstattung des Bundes 2015). Zum anderen hat aber auch der langjährige Verzicht auf eine Dynamisierung der Pflegeleistungen und die Verbreitung von Armut in der Gesellschaft zum Anstieg der Hilfe zur Pflege beitragen
Ausbau der Pflegeinfrastruktur: Schließlich besteht eine dritte Wirkung der Einführung der Pflegeversicherung im Ausbau der Pflegeinfrastruktur. Die mit der Pflegeversicherung geschaffene Nachfrage nach professioneller Hilfe hat maßgeblich dazu beigetragen, dass die ausgeprägte Unterversorgung im Bereich ambulanter und stationärer Pflegeangebote spürbar gelindert wurde und sich die Versorgungssituation vieler Pflegebedürftiger verbessert hat. Neben der Infrastruktur dürfte sich auch die Qualität der Pflege im Vergleich zu den frühen 1990er Jahren erheblich verbessert haben. Allerdings lässt insbesondere die Ergebnisqualität in vielfältiger Hinsicht noch zu wünschen übrig. Einen Eindruck von der ambulanten und stationären Pflegequalität vermitteln die Prüfberichte des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen auf Bundesebene MDS (§ 114a Abs. 6 SGB XI). Der vierte Prüfbericht zeigt für 2013 Verbesserungen gegenüber dem vorherigen Berichtszeitraum, stellt nichtsdestotrotz aber nach wie vor sowohl in der ambulanten als auch in der stationären Pflege Mängel fest
Wie in der gesetzlichen Krankenversicherung steuert der Staat in der sozialen Pflegeversicherung über gesetzliche Rahmenvorgaben und delegiert Kompetenzen zu deren Konkretisierung an die gemeinsame Selbstverwaltung. Hier sind die Pflegekassen, die Kommunen und die Leistungserbringer sowie deren jeweilige Verbände von besonderer Bedeutung. Im SGB XI legt der Gesetzgeber die Rechte und Pflichten der beteiligten nachgeordneten Akteure fest. Sie verhandeln z. B. über die Bedingungen der Leistungserbringung und der Leistungsvergütung. Der Staat übt nicht nur die Rechtsaufsicht über das Handeln dieser gemeinsamen Selbstverwaltung von Leistungserbringern, Finanzierungsträgern (Pflegekassen) und ihren Verbänden aus, sondern behält sich auch die Genehmigung ihrer Vereinbarungen und Entscheidungen vor; zudem ist er mit dem Recht zur Ersatzvornahme ausgestattet. Die Verteilung der staatlichen Aufsicht auf Bund und Länder (§§ 46 Abs. 6, 52 Abs. 3, 53 Abs. 2 SGB XI) folgt dabei den in der GKV geltenden Prinzipien (vgl. Kap. 6). Die Aufgaben der Pflegekassen werden von den Krankenkassen wahrgenommen (s. o.). Dies gilt nicht nur für die einzelne Pflegekasse, sondern auch für deren Landesverbände (§ 52 Abs. 1 SGB XI) und den Spitzenverband Bund der Pflegekassen
Sicherstellungsauftrag
Ein wichtiges Instrument zur Steuerung in der SPV ist der Sicherstellungsauftrag bei der pflegerischen Versorgung. Diesen Sicherstellungsauftrag hat der Gesetzgeber den Pflegekassen übertragen: Sie haben für eine bedarfsgerechte und dem Stand der medizinisch-pflegerischen Erkenntnisse entsprechende Versorgung mit Pflegeleistungen zu sorgen (§ 69 SGB XI) („Verschaffungspflicht“). Zu diesem Zweck schließen die Kassen bzw. ihre Verbände – gemeinsam und einheitlich – Versorgungsverträge mit den Trägern von Pflegeeinrichtungen oder mit sonstigen Leistungserbringern ab (§ 72 Abs. 2 SGB XI). Dabei sollen sie örtliche und regionale Arbeitsgemeinschaften bilden und zur Bereitstellung der erforderlichen Hilfen mit allen Beteiligten (z. B. Anbieter von ambulanten Pflegeleistungen, Pflegeheime, Kommunen) partnerschaftlich zusammenarbeiten sowie deren Handeln koordinieren
Neben den Pflegekassen weist das Pflegeversicherungsgesetz auch anderen Akteuren wichtige Aufgaben bei der Gewährleistung der pflegerischen Versorgung zu. So sind die Länder dafür verantwortlich, dass eine leistungsfähige, zahlenmäßig ausreichende und wirtschaftliche pflegerische Versorgungsstruktur vorgehalten wird (§ 9 SGB XI). Länder, Kommunen, Pflegeeinrichtungen und Pflegekassen sind aufgefordert, eng zusammenzuwirken, „um eine leistungsfähige, regional gegliederte, ortsnahe und aufeinander abgestimmte ambulante und stationäre pflegerische Versorgung der Bevölkerung zu gewährleisten“ (§ 8 Abs. 2 SGB XI). Die Verpflichtung zu diesen Formen partnerschaftlicher Kooperation verweist darauf, dass kein striktes hierarchisches Über- und Unterordnungsverhältnis bei der Sicherstellung von Pflegeleistungen existiert. Auch wenn sich das Koordinations- und Kooperationsgebot an alle beteiligten Akteure richtet, stehen die Pflegekassen im Zentrum des Sicherstellungsauftrags
Besonderheiten des Regulierungssystems
Das Regulierungssystem der sozialen Pflegeversicherung ist – wie das der GKV – ein komplexer Mix aus staatlichen, wettbewerblichen und korporatistischen Elementen. Ungeachtet aller Ähnlichkeiten, die das SPV- und das GKV-System teilen, weist das Regulierungssystem der sozialen Pflegeversicherung doch einige markante Eigenheiten auf. In der SPV verfügte der Staat von Anfang an über ein im Vergleich zur GKV deutlich umfangreicheres direktes Instrumentarium zur Gestaltung von und Intervention in die politischen Entscheidungsprozesse. So wird der Beitragssatz per Gesetz festgelegt und ist der Gesetzgeber ermächtigt, für die ambulante Pflege selbst eine verbindliche Gebührenordnung zu erlassen. Die gesetzliche Beschränkung der Leistungen auf eine Grundsicherung beinhaltet zudem einen größeren Einfluss des Staates auf Leistungsumfang und Ausgabenentwicklung als in der GKV, wo das Bedarfsprinzip und der medizinische Fortschritt als ‚unsichere‘, tendenziell die Ausweitung der Leistungsmengen begünstigende Faktoren wirken
Wie in der GKV spielen Wettbewerbselemente auch bei der Steuerung der sozialen Pflegeversicherung eine wichtige Rolle. Allerdings ist der Wettbewerb hier anders zugeschnitten als in der GKV (Rothgang 2009: 133ff.). Weder stehen in der SPV die Pflegekassen in Konkurrenz um die Versicherten noch konkurrieren hier die Leistungsanbieter um Verträge mit den Kassen. Vielmehr stehen die Leistungsanbieter, also ambulante Pflegedienste, Pflegeheime etc., untereinander in Konkurrenz um die in der SPV versicherten Pflegebedürftigen; mit diesen wollen sie einen Versorgungsvertrag abschließen. Der Wettbewerb findet also „in der direkten Interaktion mit den Endverbrauchern – den Pflegebedürftigen und Angehörigen statt …“ (Rothgang 2000: 444). Er wird dabei dadurch verschärft, dass jenseits der allgemeinen Zulassungsvoraussetzungen für Pflegeeinrichtungen keine weiteren Beschränkungen für deren Tätigwerden, z. B. in Form von Bedarfsplänen etc., bestehen
Korporatistische Strukuren:Neben wettbewerblichen sind auch korporatistische Regulierungsstrukturen in der Pflegeversicherung von Bedeutung (Roth 1999). Der Staat hat in wichtigen Bereichen Kompetenzen zur Konkretisierung von gesetzlichen Rahmenvorgaben an die zuständigen Verbände auf Bundes- und Landesebene delegiert. Deren Vereinbarungen für die Individualakteure (einzelne Pflegekassen, Pflegeeinrichtungen, Versicherte, Pflegebedürftige) sind verbindlich, wobei für den Fall, dass sich die Verbände der Pflegekassen und der Leistungsanbieter nicht einigen, Schiedsstellenentscheidungen oder staatliche Ersatzvornahmen vorgesehen sind. Darin ähnelt es in den Grundzügen den aus der ambulanten und stationären Krankenversorgung im Rahmen der GKV bekannten Systemen
Allerdings verfügen die Pflegekassen in der Pflegeversicherung über eine im Vergleich zur GKV deutlich stärkere Machtposition. So haben sie erstens aufgrund ihres Sicherstellungsauftrags recht große Freiheiten in der Vertragspolitik. Die Kassen sind zwar verpflichtet, einheitlich und gemeinsam zu handeln, jedoch haben sie größere Spielräume bei der Wahl der Regelungsebene, als dies in der ambulanten und stationären Krankenversorgung der Fall ist. Versorgungs- und Vergütungsverträge in der SPV können sowohl auf einzelwirtschaftlicher Ebene, also zwischen einer Pflegekasse und einem bestimmten Anbieter, als auch zwischen den beteiligten Verbänden auf Landesebene abgeschlossen werden.
Zweitens haben die Pflegekassen gegenüber den Leistungserbringern und den Antragstellern einen großen Einfluss auf die Definition des pflegerischen Versorgungsbedarfs. Dies liegt an der Zuständigkeit des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) für die Feststellung der Pflegebedürftigkeit und die Einstufung des Pflegebedürftigen. Zwar sollen die Ärzte des MDK allein nach medizinischen Kriterien urteilen, auch genießt der MDK gegenüber den Kassen formale Autonomie, doch ist eine Interessenaffinität des MDK und der Pflegekassen nicht von der Hand zu weisen. Dieser von vornherein institutionalisierte Einfluss auf die Definition des Versorgungsbedarfs unterscheidet den Bereich der Pflege ebenfalls von dem der ambulanten und stationären Krankenversorgung. Schließlich haben drittens die Verbände der Pflegekassen in einigen Bereichen, wie z. B. bei der Festlegung von Richtlinien zur Abgrenzung der Pflegebedürftigkeit, der Pflegestufen oder auch der Qualifikation von Pflegeberatern in den lokalen Pflegestützpunkten, das Recht, verbindliche Regelungen ohne Zustimmung der Leistungserbringer zu treffen.
Die Entstehung der Pflegepolitik lässt sich als Reaktion auf ein seit den 1970er Jahren neu heraufziehendes Problem von erheblicher gesellschaftlicher Bedeutung interpretieren, für das die etablierten Regelungen und Institutionen keine geeigneten Lösungskapazitäten bereitstellten: das Problem eines wachsenden Anteils pflegebedürftiger Personen in der Bevölkerung. Dabei erstaunt zunächst zwar der Umstand, dass gerade in einer Zeit, in der Forderungen nach Deregulierung und finanzieller Entlastung der Arbeitgeber von Lohnnebenkosten allgegenwärtig waren, das soziale Sicherungssystem um ein neues Handlungsfeld erweitert wurde. Jedoch trägt das Leistungsrecht der Pflegeversicherung mit seiner Beschränkung auf eine Grundsicherung selbst schon Merkmale des in den 1990er Jahren forcierten wohlfahrtsstaatlichen Um- und Abbaus
Tatsächlich ist die Errichtung der SPV ein politischer Kompromiss, der die von allen wichtigen parteipolitischen und verbandlichen Akteuren wahrgenommene politische Handlungsnotwendigkeit ebenso widerspiegelt wie die unterschiedlichen Interessen dieser Akteure (z. B. Meyer 1996). So hatte das Arbeitgeberlager seinerzeit eine weitere Belastung mit Sozialabgaben ebenso strikt abgelehnt wie die Mehrheit der damaligen Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP. Daher verständigte man sich mit den SPD-regierten Ländern im Bundesrat darauf, dass als Kompensation für die Arbeitgeber ein Feiertag gestrichen werden sollte.
Die Entscheidung für eine Sozialversicherungslösung – und gegen das Modell einer ebenfalls diskutierten staatlichen, steuerfinanzierten Absicherung – kann man als Ausdruck einer pfadabhängigen Entwicklung im Sozialversicherungsstaat sehen. So fügt sich die Pflegeversicherung auf der einen Seite mit ihren Finanzierungsmodalitäten und ihrer organisatorischen Anbindung an die Krankenversicherung in die Sozialversicherungstradition des deutschen Wohlfahrtsstaates ein. Auf der anderen Seite steht sie mit ihrer Beschränkung auf eine Grundsicherung leistungsrechtlich aber auch für die Abkehr von einem hergebrachten Prinzip des deutschen Wohlfahrtsstaates, dem Bedarfsprinzip (vgl. Kap. 2 und 6). Darüber hinaus sahen Experten in dem skizzierten Finanzierungsmodell der SPV nicht zu Unrecht einen Einstieg in den Ausstieg aus dem für die Sozialversicherung in der Bundesrepublik seit 1951 konstitutiven Grundsatz der paritätischen Finanzierung (z. B. Priester 1993). So sehr die soziale Pflegeversicherung und die damit neu vorgenommene, eigenständige Absicherung eines weiteren Lebensrisikos (Pflegebedürftigkeit) also für eine Ausweitung der sozialen Sicherung steht, so deutlich trägt sie in ihrer Ausgestaltung doch auch Merkmale eines in seinem Sicherungsniveau spürbar reduzierten Wohlfahrtstaates
Züge des liberalen Wohlfahrtsstaates erkennbar: Die wohlfahrtsstaatstypologische Zuordnung der Pflegeversicherung fällt widersprüchlich aus. Leistungsrechtlich sind mit ihrem nur ergänzenden Charakter und dem Zwang, für eine umfassende Sicherung Direktzahlungen zu leisten oder eine private Zusatzversicherung abzuschließen, Züge des liberalen Wohlfahrtsstaates (vgl. Kap. 2) klar erkennbar. In anderer Hinsicht bleibt der Zuschnitt der Pflegeversicherung aber dem konservativen Wohlfahrtsstaatstypus verhaftet, nämlich in der starken Betonung familiärer Hilfen bei Pflegebedürftigkeit. Hier unterscheidet sich die SPV deutlich vor allem von skandinavischen Wohlfahrtsstaaten, die im Bereich der Pflege weit stärker auf vom Staat bereitgestellte Dienstleistungen setzen (z. B. Theobald 2012). Sowohl finanzielle Motive als auch die große Beharrungskraft eines konservativ geprägten Familien- und Frauenbildes spielen hier eine Rolle.
Keine klare Zuordnung des Wandels möglich: Die Errichtung der Pflegeversicherung lässt sich damit als ein Fall des sozialstaatlichen Wandels nicht eindeutig zuordnen. Einerseits handelt es sich um einen Wandel erster Ordnung insoweit, als der deutsche Sozialstaat unter Rückgriff auf die bekannten Institutionen und Instrumente um einen neuen Zweig der sozialen Risikoabsicherung ergänzt wurde. Andererseits könnte man aber auch von einer paradigmatischen Veränderung sprechen, weil die soziale Pflegeversicherung keine bedarfsorientierte Risikoabsicherung bietet, sondern nur eine pauschalierte Grundsicherung.
Kein struktureller Wandel seit 1995: Die seit der Schaffung der Pflegeversicherung durchgeführten Reformen haben die Kernmerkmale der SPV nicht angetastet, im Gegenteil, diese wurden z.T. noch stärker ausgeprägt. Der mehr als ein Jahrzehnt währende Verzicht auf Leistungsanhebungen und die nur moderaten Erhöhungen der Pflegeleistungen seit 2008 waren vom Willen geprägt, eine höhere Belastung mit Versicherungsbeiträgen – vor allem für Arbeitgeber – möglichst zu vermeiden. Auch die skizzierten Leistungsverbesserungen, die die Bereitschaft zur Übernahme häuslicher Pflege fördern sollen, speisen sich aus diesem Motiv, bringt doch die ambulante Pflege, insbesondere wenn sie von Angehörigen oder Ehrenamtlichen geleistet wird, niedrigere Kosten mit sich als die stationäre Pflege. Zumindest bei Liberalen und Konservativen spielen aber das sozialpolitische Leitbild der Subsidiarität und ein traditionelles Familienbild bei der Förderung häuslicher Pflege ebenfalls eine große Rolle. Politische Differenzen zwischen den Parteien, die seit der Schaffung der Pflegeversicherung im Bund Regierungsverantwortung trugen, waren insgesamt von untergeordneter Bedeutung, wenn man einmal von der Bewertung des „Pflege-Bahr“ absieht. Die Entwicklung, die die Pflegeversicherung seit 1995 eingeschlagen hat, markiert überwiegend einen Wandel erster Ordnung.
Insbesondere im Bereich der Finanzierung wurden bestehende Instrumente zumeist abgewandelt, jedoch nicht ausgetauscht oder gar eine neue Grundorientierung für die Pflegeversicherung gesucht. Lediglich mit den jüngsten Reformen, dem PNG 2012 und den beiden Pflegestärkungsgesetzen 2015 und 2016, sind wenige neue Instrumente („Pflege-Bahr“; Pflegevorsorgefonds) geschaffen worden. Diese sind allerdings für den Charakter des Gesamtsystems bislang nicht von prägender Bedeutung und tragen zur Stärkung der liberalen Anteile der Absicherung des Pflegebedürftigkeitsrisikos bei. Im Bereich der Leistungen stellt die 2016 mit dem PflSG II beschlossene Erweiterung des Pflegebedürftigkeitsbegriffs eine bemerkenswerte Neuerung dar, die sich allerdings in keine der eingangs dargestellten analytischen Kategorien zur Einordnung von Wandel einfügt. Sie trägt einer lange vorgetragenen Kritik Rechnung, indem sie den Bedürftigkeitsbegriff und damit vorhandene Lücken im Leistungsrecht der SPV verkleinert. Insgesamt hat sich die SPV mit großer Kontinuität entwickelt und sich dabei weiterhin – und dies vielleicht noch stärker als in den Anfangsjahren – am Leitbild der Subsidiarität orientiert.
Die Pflegeversicherung stellt eine Antwort auf ein neues Problem dar, für dessen Bearbeitung bis in die 1990er Jahre hinein keine wirksamen Instrumente und Institutionen bereitstanden. Dabei war die Risikoabsicherung über die Schaffung eines neuen Sozialversicherungszweiges Ausdruck institutioneller Kontinuität und entsprach auch den Interessen der wichtigen parteipolitischen und verbandlichen Akteure. Organisation, Finanzierung und Regulierung bewegen sich in der Tradition des deutschen Sozialversicherungsstaates, während das Leistungsrecht mit seinem Grundsicherungsmodell durch Merkmale eines liberalen Wohlfahrtsstaatstyps gekennzeichnet ist. Die Priorität für familiäre und häusliche Pflege ist Ausdruck sowohl der großen Bedeutung von Kostendämpfung als auch eines traditionellen Familienbildes. Die Pflegeversicherung hat zu einer Verbesserung der Pflegeinfrastruktur und der Pflegequalität geführt sowie die Abhängigkeit der Pflegebedürftigen und ihrer Angehörigen von der Sozialhilfe verringert. Außerdem wurden die Sozialhilfeträger entsprechend entlastet.
Allerdings hat die SPV ihre Ziele nur teilweise erreicht: Pflegeinfrastruktur und Pflegequalität weisen nach wie vor Mängel auf, und die Abhängigkeit der Betroffenen von der Sozialhilfe hat sich nach einem zwischenzeitigen Rückgang wieder erhöht. Angesichts der zu erwartenden Entwicklung der Altersarmut muss eine Fortsetzung dieses Trends befürchtet werden. Aufgrund der während der 18. Legislaturperiode beschlossenen Reform des Pflegebedürftigkeitsbegriffs wird der spezifische Pflegebedarf von Demenzkranken zukünftig besser berücksichtigt. Indes ist ungeachtet der jüngsten Reform und der angekündigten Verbesserungen für das Pflegepersonal der Einsatz wirkungsvoller Instrumente zur Beseitigung des Fachkräftemangels in der Pflege noch nicht in Sicht. Gerade auf diesem Feld besteht großer Handlungsbedarf
Transformativ-radikaler Wandel in der Familienpolitik: Die Familienpolitik in Deutschland ist politikfeldanalytisch ein interessanter Fall, weil sie einer der sozialpolitischen Bereiche ist, für die seit den 2000er Jahren transformativ-radikaler Policy-Wandel identifiziert wurde. Familienpolitische Regelungen und Leistungen betreffen einen sehr großen Teil der Bevölkerung und zeigen oft direkte Auswirkungen, indem z. B. die lokale Kinderbetreuungssituation über die individuellen Möglichkeiten zur Vereinbarkeit von Beruf und Familie entscheidet. Insofern wundert es nicht, dass die weitreichenden familienpolitischen Veränderungen, die v. a. in den Jahren der Großen Koalition (2005-2009) und unter Familienministerin Ursula von der Leyen vorgenommen wurden, eine hohe öffentliche Aufmerksamkeit erfuhren.
Auch politisch hat die Familienpolitik in diesem Kontext einen Bedeutungsaufschwung erfahren. So titelte etwa Spiegel Online (30.12.2009): „Vom Gedöns zur Mission: Wie das Kinderkriegen zum Politikum wurde.“ Noch Gerhard Schröder hatte als Bundeskanzler die zuständige Familienministerin Christine Bergmann 1998 als Ministerin „für Frauen und das Gedöns“ vorgestellt – und damit zumindest vordergründig eine gewisse Geringschätzung des Ressorts zum Ausdruck gebracht. Später bedauerte er diesen Ausdruck; dieser habe nicht seiner tatsächlichen Haltung zum Politikfeld Familie entsprochen (Die Welt, 12.1.2013). Tatsächlich aber deutet vieles darauf hin, dass Schröder dem Politikfeld noch zum Zeitpunkt seines Amtsantritts keine hohe Priorität beimaß, sich dies aber um das Jahr 2001 grundlegend ändern sollte. Wie kam es zu diesem Bedeutungsaufschwung?
Bedeutungsaufschwung im Kontext des demografischen Wandels: Insbesondere die Vereinbarkeit von Beruf und Familie – als „neues soziales Risiko“ – war im deutschen Sozialstaat mit seinem Sozialversicherungssystem und seinem Fokus auf „traditionelle soziale Risiken“ (Alter, Arbeitslosigkeit etc.) zu wenig abgesichert worden. Vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und eines insgesamt als „zu wenig effektiv“ eingeschätzten Mitteleinsatzes in der deutschen Familienpolitik (vgl. Kap. 8.2) gewann das Politikfeld an Bedeutung. Die Reformen zeugten dabei von veränderten familienpolitischen Zielvorstellungen und einer sehr viel stärkeren Verknüpfung mit arbeitsmarktpolitischen Motiven. In diesem Kontext sprach Leitner (2008) etwa von einer „ökonomischen Funktionalität der Familienpolitik“ oder Ristau-Winkler, damals Abteilungsleiter im Familienministerium, von einem „ökonomischen Charme der Familie“ (Ristau-Winkler 2005). So war es eines der Hauptziele der familienpolitischen Reformen, die „Beschäftigungsfähigkeit“ und Arbeitsmarktpartizipation von Müttern zu erhöhen, z. B. durch Anreize für eine kürzere Elternzeit und durch Bereitstellung öffentlicher Kinderbetreuung.
Vor diesem Hintergrund ist die Familienpolitik – „untypisch“ für die dritte Phase der wohlfahrtsstaatlichen Entwicklung in Deutschland (vgl. Kap. 1.1) – nicht primär durch Rückbaumaßnahmen, sondern v. a. durch den Ausbau von Rechten und Leistungen gekennzeichnet. Zentrale Reformen waren hierbei die Einführung des Elterngelds (2007) und das Kinderförderungsgesetz zum Ausbau der Kindertagesbetreuung für unter Dreijährige (2008). Die Einführung des Betreuungsgeldes demonstriert jedoch gleichzeitig, dass der transformativ-radikale Wandel in der deutschen Familienpolitik nicht „widerspruchsfrei“ geblieben ist und sehr verschiedene Faktoren die familienpolitischen Entwicklungen beeinflussen.
Definition: Familienpolitik lässt sich definieren80 als „die Summe aller Handlungen und Maßnahmen, die im Rahmen einer feststehenden Verfahrens-, Kompetenz- und Rechtfertigungsordnung eines Staates normativ und/oder funktional begründbar die Situation von Familien im Hinblick auf eine als wünschenswert definierte Erfüllung von deren Teilfunktionen hin beeinflussen“ (Gerlach 2010: 417). Betrachtet man die einzelnen Aspekte dieser Definition, so lässt sich erstens festhalten, dass Familienpolitik nach wie vor primär nationalstaatlich bestimmt ist und – wie andere sozialpolitische Felder auch – einen vergleichsweise niedrigen Europäisierungsgrad aufweist.81 Der zweite und der dritte Aspekt beziehen sich auf die normative bzw. funktional-„sachlogische“ Begründung familienpolitischen Handelns
Vor diesem Hintergrund kann zwischen verschiedenen Teilmotiven familienpolitischen Handelns differenziert werden, darunter v. a.:
- familial-institutionelle Motive - demografische Motive
- ökonomische Motive
- sozialpolitische Motive
- geschlechterpolitische Motive
- Kindeswohlfahrtsmotive
Familial-institutionelle Motive: Familial-institutionelle Motive haben die Familienpolitik im konservativ-korporatistischen deutschen Wohlfahrtsstaat traditionell stark geprägt: Das Ziel ist hier die Förderung und Bewahrung der Familie als Institution, mitunter auch als „Keimzelle der Gesellschaft“ bezeichnet. Verbunden werden mit diesem Motiv eher konservative Policies und ein traditionelles Familienbild. In einem allgemeineren Verständnis ließe sich unter diesem Motiv aber durchaus auch die Festlegung von „rechtlichen Rahmenbedingungen für den Schutz der Familie und für das Zusammenleben in Familien“ (Bäcker et al. 2010: 249) fassen, so v. a. das Eherecht, das Kindschaftsrecht und das Unterhaltsrecht
Demografische Motive: Mit demografischen Motiven wurde in der deutschen Familienpolitik vor dem Hintergrund der rassistischen Bevölkerungspolitik der NS-Zeit lange Zeit nicht explizit argumentiert. Dies ist allerdings insofern ergänzungsbedürftig, als dass demografische Motive trotzdem häufig eine nicht zu vernachlässigende Rolle in der deutschen Familienpolitik gespielt haben. So wurde, um nur ein Beispiel zu nennen, das erste Familienministerium 1953 u. a. mit dem Ziel eingerichtet, die Institution Familie vor ihrer konstatierten Krise zu schützen und einer Überalterung der Bevölkerung entgegenzuwirken. Nichtsdestotrotz: Vor dem Hintergrund familialer Veränderungen und des demografischen Wandels (siehe Kap. 8.2) haben demografische Motive seit den 2000er Jahren sichtbar an Bedeutung gewonnen und wurde beispielsweise im Kontext der Elterngeld-Einführung auch dessen möglicher Beitrag zu einer Steigerung der Geburtenrate diskutiert.
Ökonomische Motive: Unter ökonomischen Motiven in der Familienpolitik wird das Bemühen verstanden, Leistungen auszugleichen, die Familien für die Gesellschaft erbringen, z. B. für die „Humanvermögensproduktion“ (vgl. Gerlach 2010: 48). In jüngerer Zeit ließe sich unter ökonomischen Motiven auch der oben diskutierte verstärkte Fokus auf der „ökonomischen Funktionalität“ fami:lienpolitischer Maßnahmen subsumieren. So ist die Familien- und v. a. die Vereinbarkeitspolitik ein wesentlicher Eckpfeiler hinter der Idee des sogenannten „social investment state“ bzw. des „aktivierenden Wohlfahrtsstaats“ (vgl. Morgan 2012), z. B. indem durch einen Ausbau der institutionellen Kindertagesbetreuung das Arbeitskräftepotential erhöht werden soll
Sozialpolitische Motive: Sozialpolitische Motive im engeren Sinne fokussieren darauf, Armut zu bekämpfen sowie die strukturellen Benachteiligungen abzubauen, die für Familien als Gruppe bestehen. Entsprechende soziale Ungleichheiten können ihre Ursache in der Schichtzugehörigkeit der Familie haben, in der Anzahl der Kinder oder auch im Familienstand (Gerlach 2009a). Beispielsweise weisen Kinder von Alleinerziehenden in Deutschland ein deutlich erhöhtes Armutsrisiko auf (vgl. Kap. 8.2). Bestimmt werden durch die Lebenslagen der Familien nicht nur die Möglichkeiten zur Existenzsicherung (sowie die entsprechenden Folgen für die einzelnen Familienmitglieder), sondern auch die sozialen Chancen der Kinder
Geschlechterpolitische Motive: In Verfolgung geschlechterpolitischer bzw. emanzipatorischer Motive wird ein Blick auf die einzelnen Mitglieder von Familien geworfen. Ziel ist es hierbei, ökonomische und soziale Benachteiligungen insbesondere von Frauen abzubauen. Durch Förderung einer ökonomischen Selbstständigkeit beider Partner soll die ungleiche Machtverteilung innerhalb der Familie gesenkt werden. Der traditionelle Blick auf die Förderung der weiblichen Erwerbstätigkeit wird hierbei in jüngerer Zeit zunehmend um die Perspektive einer Förderung der männlichen Sorgearbeit ergänzt, z. B. über die Partnermonate beim Elterngeld (vgl. Kap. 8.4). Ziel ist es, eine partnerschaftliche Aufteilung von Erwerbs- und Sorgearbeit zwischen Müttern und Vätern zu fördern. Wie Forschungsergebnisse gezeigt haben, wünschen sich viele junge Paare eine solche egalitäre Aufgabenteilung. Häufig kommt es aber mit der Geburt des ersten Kindes zu einer Traditionalisierung, was u. a. in den geschlechtsspezifischen Einkommensdifferenzen begründet liegt
Kindeswohlfahrtsmotive: Als letzte der o. g. familienpolitischen Leitgedanken sind Kindeswohlfahrtsmotive zu nennen. Natürlich können sich Bestrebungen, die Situation von Kindern zu verbessern, auch in anderen familienpolitischen Teilmotiven mehr oder weniger stark widerspiegeln. Unter expliziten Kindeswohlfahrtsmotiven sind daher Bemühungen zu fassen, die ihren Hauptansatzpunkt in der Stärkung von Kinderrechten oder kindlichen Bedürfnissen haben. Eine Abgrenzung ist hierbei von der Kinder- und Jugendpolitik vorzunehmen, die in der Regel als eigenständiges Politikfeld und nicht als Teilbereich der Familienpolitik verstanden wird. Die genannten familienpolitischen Motive sind nicht als abschließende Auflistung zu verstehen. Zudem könnten sie teils in andere Teilmotive gegliedert oder zu Übergruppen zusammengefasst werden. Sie verdeutlichen aber einige der grundlegenden Argumentationsmuster und der verschiedenen Schwerpunktsetzungen in der Familienpolitik, die sich nach Akteursgruppen und im Zeitverlauf unterscheiden. Zum Teil sind die familienpolitischen Teilmotive kombinierbar und können parallel verfolgt werden, zum Teil stehen sie jedoch auch in Konkurrenz zueinander.
Steuerungsinstrumente in der Familienpolitik: Mit den genannten familienpolitischen Teilmotiven sind je bestimmte, zur Verfügung stehende Steuerungsinstrumente verknüpft. Zwar besteht zwischen politischen Zielen und den zu ihrer Verfolgung ausgewählten Instrumenten kein direkter Zusammenhang. Dennoch eignen sich für bestimmte Ziele einige Instrumente besser bzw. schlechter oder werden traditionell in diesem Bereich eingesetzt, so dass bestimmte Pfadabhängigkeiten bestehen. Vor diesem Hintergrund finden sich in Bezug auf die in der Einleitung benannten sozialpolitischen Steuerungsinstrumente in der Familienpolitik bestimmte Muster, die sich von anderen sozialpolitischen Feldern unterscheiden. In der folgenden Abbildung (Abb. 8.1) sind zentrale familienpolitische Steuerungsinstrumente, jeweils mit beispielhaften Maßnahmen aus der deutschen Familienpolitik, aufgeführt. Gegebenenfalls könnte die Auflistung um weitere Steuerungsinstrumente ergänzt werden, z. B. das der Kommunikation
Steuerungsinstrumente: Recht, finanzielle Leistungen, steuerliche Leistungen, Dienst- und Sachleistungen, Zeit-Leistungen wie Elternzeit oder Teilzeitanspruch
Bestandsaufnahme familien- und ehebezogener Maßnahmen: In einer Bestandsaufnahme83 kam das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) für das Jahr 2010 zu dem Ergebnis, dass die Familienpolitik insgesamt 156 ehe- und familienbezogene Einzelmaßnahmen mit einem Volumen von 200,3 Mrd. Euro umfasste. Hierbei wurde zwischen familienbezogenen und ehebezogenen Leistungen unterschieden, wobei ehebezogene Leistungen einen Anteil von etwa 75 Mrd. Euro aufwiesen. Den stärksten Posten unter den ehebezogenen Leistungen stellte das Ehegattensplitting dar, das nicht an das Vorhandensein von Kindern gebunden ist, sondern verheiratete Paare grundsätzlich adressiert
Elternzeit und Elterngeld: Unter „Zeit-Leistungen“ (time rights) werden hier primär alle Formen der arbeitsrechtlichen Freistellung aus Gründen der Elternschaft oder auch allgemeiner familiärer Verpflichtungen gefasst. In Österreich wird hierfür der Begriff der Karenz bzw. Karenzierung verwendet. Im Deutschen ist – entsprechend der momentan geltenden Regelung – der Begriff Elternzeit gebräuchlich (vormals: Erziehungsurlaub), der vom Mutterschutz einerseits und vom Elterngeld-Bezug andererseits zu unterscheiden ist (vgl. Kap. 8.4.2). Der Mutterschutz beinhaltet in Deutschland ein Beschäftigungsverbot für Mütter von sechs Wochen vor und bis zu 12 Wochen nach der Geburt eines Kindes bei vollem Lohnausgleich. Die Elternzeit hingegen umfasst einen Anspruch auf Arbeitsfreistellung für bis zu drei Jahre nach der Geburt eines Kindes.
Die Elternzeit kann auch mit einer Teilzeitarbeit von bis zu 30 Wochenstunden verbunden werden. In beiden Fällen besteht ein Rückkehrrecht zur Arbeit bzw. zur vorherigen Arbeitszeit. Das Elterngeld hingegen wird nur für einen Zeitraum von maximal 14 Monaten ausbezahlt. In anderen Ländern gelten z. T. noch andere Formen solcher arbeitsrechtlichen „Zeit-Leistungen“ bzw. Karenzierungen, z. B. eigenständige „Väterzeit“-Ansprüche (paternity leave). Ein genauerer Überblick über die verschiedenen Teilbereiche der deutschen Familienpolitik wird in Kapitel 8.3.1 gegeben. Zunächst sollen im Folgenden einige strukturelle Grunddaten zur Situation von Familien in Deutschland und im internationalen Vergleich diskutiert werden. Da unser Schwerpunkt hier auf der politikfeldanalytischen Erklärung sozialpolitischer Entwicklungen liegt, kann an dieser Stelle kein umfassender Blick auf die Situation von Familien in Deutschland geworfen, sondern sollen vielmehr exemplarisch einige Eckdaten diskutiert werden.
Mit der Entwicklung von Familienleben in Deutschland werden im Allgemeinen die Schlagwörter der „Individualisierung“ und „Pluralisierung“ verbunden. Versteht man unter „Familie“ das generationenübergreifende Leben mit Kindern, so sind v. a. seit den 1970er Jahren neben die traditionelle „Normalfamilie“ aus verheirateten Eltern und Kindern zunehmend andere Familienformen getreten, z. B. Alleinerzieherfamilien oder Patchwork-Familien. Die folgende Tabelle zur Entwicklung der Familienformen seit 1996 bildet die Kontinuität dieser Entwicklungen ab. Hinzuzufügen ist, dass sich seit den 1970er Jahren auch der Anteil der Familienhaushalte an allen Haushaltsformen deutlich verringert hat, während der Anteil der Einpersonenhaushalte stark angestiegen ist.
Zu beachten ist bei Tabelle 8.1, dass es sich hier um die Familienformen zu einem einzelnen Stichtag handelt, die also die Längsschnittperspektive und somit die Veränderungen im familialen Zusammenleben über die Zeit nicht widerspiegelt. Das heißt, dass z. B. im Jahr 2014 nach wie vor 69,3 % der Familien mit minderjährigen Kindern als Ehepaar zusammenlebten, aber z. T. werden diese Familien natürlich vorher eine Lebensgemeinschaft gebildet haben oder sie werden in Zukunft, nach einer Scheidung, zu einem Alleinerzieherhaushalt und anschließend, nach Beginn einer neuen Partnerschaft, wieder zu einer Lebensgemeinschaft
Merkmale des familialen Wandels: Weitere Merkmale des familialen Wandels sind eine gesunkene Heiratshäufigkeit, eine höhere Scheidungshäufigkeit sowie eine allgemeine „Aufschiebung“ familialer Ereignisse im Lebensverlauf: Das durchschnittliche Heiratsalter wie auch das Alter bei der Geburt des ersten Kindes ist sowohl bei Männern als auch bei Frauen deutlich gestiegen, was u. a. auf verlängerte Ausbildungszeiten zurückzuführen ist. Ein wichtiger, in diesem Kontext in der Regel verwendeter Indikator ist die zusammengefasste Geburtenziffer oder kurz: die Geburtenrate. Ausgehend von einem vergleichsweise hohen Niveau von durchschnittlich etwa 2,5 Kindern pro Frau in den 1960er Jahren – d. h. deutlich oberhalb des Reproduktionsniveaus88 von durchschnittlich 2,1 Kindern pro Frau –, ist die Geburtenrate seit Ende der 1960er bis in die 1980er Jahre kontinuierlich abgsunken und lag seitdem relativ stabil bei durchschnittlich etwa 1,3 bis 1,4 Kindern pro Frau. Im Jahr 2014 war ein Anstieg der Geburtenrate auf 1,47 je Frau zu verzeichnen – der bis dahin höchste gemessene Wert im vereinigten Deutschland. Dies hängt u.a. mit dem gestiegenen Erstgebärendenalter von Frauen zusammen: Bisher aufgeschobene Kinderwünsche wurden nun im höheren gebärfähigen Alter realisiert.
Entwicklung der Geburtenrate: Abbildung 8.2 stellt die Entwicklung der Geburtenrate getrennt nach den westdeutschen und ostdeutschen Bundesländern seit 1990 dar. Sie zeigt, dass infolge der Wiedervereinigung die Geburtenrate v. a. in den ostdeutschen Bundesländern stark absank, seit 1995 aber wieder zugenommen hat und mittlerweile leicht oberhalb des westdeutschen Niveaus liegt. Einen besonderen Anteil an der Entwicklung der Geburtenrate in Deutschland hat der Anteil von Kinderlosen. Nach Daten des Mikrozensus 2012 hatten 22 % der 40- bis 44-jährigen Frauen (noch) kein Kind geboren (23 % in West- und 15 % in Ostdeutschland), was im Vergleich zu den Werten von 2008 (20 %) eine weitere Steigerung bedeutete. Besonders häufig waren Akademikerinnen in den westdeutschen Bundesländern kinderlos
Armutsgefährdung verschiedener Haushaltsformen: Betrachtet man die ökonomische Situation von Familien in Deutschland, so weisen, wie Tabelle 8.2 zeigt, neben Alleinlebenden v. a. Alleinerziehende eine sehr hohe Armutsgefährdung auf. Nach Definition des EU-SILC89 gilt als armutsgefährdet, wer weniger als 60 % des Medianeinkommens zur Verfügung hat. Unter den Haushalten mit Kindern weisen allerdings auch Familien mit drei und mehr Kindern ein erhöhtes Armutsrisiko auf. Tabelle 8.2 stellt die Armutsgefährdungsquoten nach Sozialleistungen dar, beinhaltet also deren Umverteilungswirkungen. Würden Sozialleistungen nicht berücksichtigt, so läge die Armutsgefährdungsquote für die Gesamtbevölkerung 2014 bei 25,0 %. Die größten Unterschiede ergäben sich dabei für unter 18-Jährige: Für sie lag die Armutsgefährdungsquote vor Sozialleistungen 2014 bei 30,2 % (gegenüber 15,1 % nach Sozialleistungen). Als Haupteinflussfaktoren auf Verarmungsprozesse von Familien sind in erster Linie „Arbeitslosigkeit und die zeitweise Beschränkung auf nur ein Einkommen, Niedrigeinkommensbezug und Trennung bzw. Scheidung“ zu nennen. Ein zentraler Faktor ist also die Arbeitsmarktpartizipation von Müttern und Vätern bzw. aus familienpolitischer Sicht: die Vereinbarkeit von Erwerbs- und Familienarbeit.
Erwerbstätigkeit von Müttern: Einen Überblick über die Arbeitsmarktpartizipation von Müttern im internationalen OECD-Vergleich gibt Abbildung 8.3. Sie zeigt, dass sowohl die Erwerbsbeteiligung von Frauen insgesamt (2011: 77,8 %) als auch diejenige von Müttern mit Kindern unter 15 Jahren (2011: 67,2 %) in Deutschland oberhalb des OECD-Durchschnitts liegen. Allerdings besteht zwischen beiden Werten ein deutlicher Unterschied. Hinzu kommt: Hiermit ist noch nichts über das Ausmaß der Erwerbsbeteiligung gesagt. So arbeiten Frauen in Deutschland im internationalen Vergleich weit überdurchschnittlich in Teilzeit. Männer tun dies in sehr viel geringerem Ausmaß. Allerdings ist über die letzten 20 Jahre gesehen nicht nur die Teilzeitquote von Frauen, sondern auch diejenige von Männern deutlich angestiegen. Dies muss zum einen im Kontext atypischer Beschäftigungsverhältnisse diskutiert werden (vgl. Kap. 4 und 5).
Zum anderen kann „unfreiwillige Teilzeitarbeit“ von „freiwilliger Teilzeitarbeit“ unterschieden werden, d. h. Teilzeitarbeit wird natürlich auch oft als Strategie gesehen, um Familie und Beruf besser miteinander vereinbaren zu können. Allerdings kann diese Strategie auch dazu beitragen, Erwerbs- und Karrierechancen von Frauen negativ zu beeinflussen, das Armutsrisiko von Familien zu erhöhen sowie die ungleiche Arbeitsverteilung zwischen Frauen und Männern aufrechtzuerhalten. Vor diesem Hintergrund wird in jüngerer Zeit in Deutschland verstärkt über „vollzeitnahe Teilzeit“ im Umfang von 25 bis 30 Wochenstunden diskutiert. So hob etwa der Achte Familienbericht „Zeit für Familie“ 2012 hervor, es bestehe ein hoher Bedarf an vollzeitnahen Teilzeitarbeitsplätzen, da viele teilzeitbeschäftigte Mütter tendenziell etwas mehr und viele vollzeitbeschäftigte Väter tendenziell etwas weniger arbeiten wollten
Bedeutungsgewinn des internationalen Vergleichs: In der Forschung zu Familien und Familienpolitik, v. a. aber auch in der familienpolitischen Diskussion, hat der internationale Vergleich ab den 2000er Jahren stark an Bedeutung gewonnen. Dies kann u. a. auf ein verstärktes Engagement von EU und internationalen Organisationen wie der OECD in diesem Bereich zurückgeführt werden. Auch standen zunehmend – z. B. über die „OECD Family Database“– leicht zugängliche und harmonisierte Datenbanken für OECD-Länder bzw. die europäischen Mitgliedsstaaten zur Verfügung. Über verschiedene Programme wie die Offene Methode der Koordinierung oder auch die „Europäische Allianz für Familien“91 wurden ein Wettbewerbsdruck befördert und „gute Praktiken“ anderer Mitgliedsstaaten kommuniziert
Wie bereits deutlich wurde, handelte es sich bei der Familienpolitik in Deutschland traditionell um ein vergleichsweise normativ geprägtes Politikfeld, das stark von den zugrundeliegenden Familienleitbildern beeinflusst war und sich weniger an einer „Leistungsbilanz“ orientierte. Dies änderte sich spätestens mit der Familienpolitik zu Zeiten der zweiten rot-grünen Legislaturperiode (2002-2005) und der anschließenden Großen Koalition (2005-2009). Zu diesem Zeitpunkt ließ sich eine Ablösung normativ-ideologischer Begründungen durch eine vermehrt (ökonomische) Kontrolle von Ziel-Mittel-Zusammenhängen beobachten. Dies hing u. a. auch mit der Zunahme und dem Bedeutungsgewinn länder-vergleichender Leistungsbilanzen zusammen
Öffentliche Ausgaben für Familienpolitik im Ländervergleich: In der „OECD Family Database“ bildet ein Indikator die öffentlichen Ausgaben für Familien in Prozent des BIP ab und differenziert dabei zwischen Geld-, Sach- und Steuerleistungen. Wie Abbildung 8.4 zeigt, liegen die Familienleistungen Deutschland insgesamt auf einem vergleichsweise hohen Niveau. Auffällig ist im internationalen Vergleich v. a. der überdurchschnittliche Einsatz von steuerlichen Leistungen für Familien. Bei den Ausgaben für Sachleistungen – also v. a. institutionellen Kinderbetreuungsangeboten – liegt Deutschland etwas unterhalb des OECD-Schnitts, wobei gerade in diesem Bereich die Ausgaben in den letzten Jahren deutlich gesteigert wurde
Geld-, Sach- und Steuerleistungen: Gerade angesichts solcher internationaler Vergleiche wurde die Familienpolitik in Deutschland z. T. als wenig „effektiv“ in Anbetracht des hohen Mitteleinsatzes wahrgenommen (vgl. Blum 2012), z. B. aufgrund der vergleichsweise niedrigen Geburtenraten und hohen Armutsgefährdungsquoten von Kindern. Vor allem wurden verschiedene familienpolitische Steuerungsinstrumente bzw. Leistungstypen in Bezug zueinander und zur Zieldimension, der Outcome-Ebene, gesetzt. Diskutiert wurde dabei die Effektivität einzelner Steuerungsinstrumente bzw. die sinnvolle Balance zwischen den eingesetzten Instrumententypen. So ist im Zuge der Diskussionen um eine „Nachhaltige Familienpolitik“ (vgl. Ahrens 2012) in den vergangenen Jahren viel von einem „Instrumenten-Dreiklang“ gesprochen worden, den Familien benötigten. Wie Bertram, Rösler und Ehlert ausführten, könne eine „integrative Konzeption aus Zeitoptionen, Infrastrukturangeboten und Geldtransfers“ dem Anliegen einer nachhaltigen Familienpolitik gerecht werden
Die Familienpolitik ist durch einen starken Querschnittscharakter geprägt, d. h. sie existiert zwar in Deutschland – im Gegensatz zu vielen anderen Ländern, z. B. in Skandinavien – als eigenständiges Ressort. Familien werden jedoch auch durch Maßnahmen in einer Reihe von anderen Politikfeldern maßgeblich tangiert, z. B. der Frauenpolitik, Jugendpolitik, Bildungspolitik oder der Arbeitsmarktpolitik. Fokussiert man hingegen auf die Familienpolitik im engeren Sinne, so lässt sich zumindest zwischen folgenden Handlungsbereichen differenzieren:
- Familienrecht
Familienlastenausgleich (FLA)
- Soziale Sicherung und Armutsvermeidung
- Vereinbarkeit von Beruf und Familie
- Unterstützungsleistungen für Familien
Die Zuordnung von familienpolitischen Maßnahmen zu einzelnen dieser Handlungsbereiche ist dabei nicht trennscharf zu verstehen, da sie in vielen Fällen unterschiedliche Aspekte beinhalten
Familienrecht und verfassungsrechtlicher Schutz von Ehe und Familie: Nach Art. 6 Abs. 1 des deutschen Grundgesetzes stehen Ehe und Familie unter dem besonderen Schutz der staatlichen Ordnung. Mit diesem verfassungsrechtlichen Schutz der Ehe wird beispielsweise auch regelmäßig das Ehegattensplitting begründet. Art. 6 GG ist – auch in seinen weiteren Absätzen93 – seit 1949 unverändert geblieben. Die Hauptentwicklungslinien des Familienrechts bestanden v. a. darin, zum einen seit den 1970er Jahren Individualrechte von Frauen und Kindern innerhalb der Familie zu stärken und zum anderen den Anpassungsnotwendigkeiten gerecht zu werden, die sich „mit den geänderten sozialen Verhaltensformen, der Pluralisierung von Lebensformen und nicht zuletzt mit den Fortschritten der Reproduktionsmedizin ergaben“
Sozialausgaben für ehe- und familienbezogene Leistungen: Für das Jahr 2014 weist das Sozialbudget des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales (BMAS 2015) für die Funktion „Kinder, Ehegatten und Mutterschaft“ Sozialleistungen in Höhe von insgesamt 90,9 Mrd. Euro aus. Der Bereich der ehe- und familienbezogenen Leistungen stellt damit den drittgrößten Ausgabenposten im Sozialbudget nach den Bereichen „Alter und Hinterbliebene“ sowie „Krankheit und Invalidität“ dar. Tabelle 8.3 gibt einen Überblick über die verschiedenen Ausgabenposten sowie deren Entwicklung in den letzten Jahren. Daneben werden in vielen anderen sozialpolitischen Feldern die Leistungen bei Vorhandensein von Kindern angehoben, so z. B. das Arbeitslosengeld
Familienlastenausgleich und Kindergeld: Der Familienlastenausgleich nimmt hier, noch vor der Kinder- und Jugendhilfe, den größten einzeln ausgewiesenen Posten ein. Er hat das Ziel, die wirtschaftlichen Belastungen, die für Menschen mit Kindern im Unterschied zu Alleinstehenden oder Paaren ohne Kinder entstehen, auszugleichen (vgl. § 6 SGB I). Klassische Steuerungsinstrumente des Familienlastenausgleichs – seit einiger Zeit wird verstärkt auch der Begriff Familienleistungsausgleich verwendet (vgl. auch Tab. 8.3) – sind das Kindergeld bzw. die Steuerfreibeträge. Das Kindergeld wird in Deutschland einkommensunabhängig und nach der Zahl der Kinder gestaffelt gezahlt. Dies spiegelt den Gedanken der horizontalen Umverteilung wider, der hinter dem System des Familienlastenausgleichs steht. Das Kindergeld beträgt aktuell 184 Euro monatlich für das erste und zweite Kind, 190 Euro für das dritte sowie 215 Euro für das vierte und jedes weitere Kind
Finanzierung: Der Bereich der Familienpolitik ist weder über ein Sozialversicherungssystem organisiert noch existiert eine Form der „Familienkasse“95 wie in einigen anderen Ländern (z. B. Frankreich, Österreich), in der familienpolitische Leistungen verwaltet und aus der sie finanziert würden. Vielmehr werden die Familienleistungen in Deutschland überwiegend aus allgemeinen Steuermitteln finanziert. Dies gilt auch für das Elterngeld, obgleich es im Vergleich zum früheren Erziehungsgeld als Umverteilungsmaßnahme weniger auf den Familienlasten- bzw. Familienleistungsausgleich gerichtet, sondern vielmehr als Einkommensausgleich im Fall von Elternschaft konzipiert ist – vergleichbar zu den de-kommodifizierenden Leistungen im Fall von Alter, Arbeitslosigkeit oder Krankheit.
Eine Ausnahme bezüglich der Finanzierung bildet das Mutterschaftsgeld, das nur im Fall einer abhängigen Beschäftigung ausbezahlt wird (und nicht für Selbstständige): Die gesetzlichen Krankenkassen zahlen hier Mutterschaftsgeld in Höhe von 13 Euro pro Tag (d. h. 390 Euro pro Monat), die Differenz zum Nettoeinkommen vor der Geburt – also in der Regel der höhere Betrag – wird vom Arbeitgeber aufgestockt. Arbeitnehmerinnen, die nicht Mitglied einer gesetzlichen Krankenkasse sind, erhalten Mutterschaftsgeld in Höhe von höchstens 210 Euro durch das Bundesversicherungsamt.
Die Bereitstellung von Dienstleistungen erfolgt in der Familienpolitik v. a. in den Bereichen Kinderbetreuung sowie Familienbildung und -beratung. Die Hauptzuständigkeit für die Bereitstellung der sozialen Infrastruktur liegt bei den Kommunen. Hierunter fallen also auch Maßnahmen zur Unterstützung von Eltern in ihrer Erziehungsleistung, z. B. Angebote der Familienbildung oder der Erziehungsberatung
Die Familienpolitik in Deutschland wird durch verschiedene öffentliche und nicht-öffentliche Akteure geprägt und mit gestaltet. Unter den öffentlichen Akteuren ist an erster Stelle der Bund und hier v. a. das Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ) zu nennen. Ein eigenständiges Familienministerium existiert in Deutschland seit 1953. Bei den Bundesländern liegt die Zuständigkeit v. a. für die Bereiche Bildung, öffentliche Kinderbetreuung und Elternberatung. Daneben treffen die Bundesländer auch ergänzende Leistungen und setzen so eigene familienpolitische Schwerpunkte, z. B. zahlen die Bundesländer Bayern, Baden-Württemberg, Thüringen und Sachsen ein bedarfsgeprüftes „Landeserziehungsgeld“ aus, das nach Ende des Bundeselterngeldbezugs einsetzt. Die Aufgabenfelder der kommunalen Familienpolitik liegen v. a. in den Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe (insbesondere Kinderbetreuung), aber im weiteren Sinne z. B. auch in der Wohnungspolitik, Siedlungsplanung, Sozial- und Gesundheitspolitik (Gerlach 2010: 145). In jüngerer Zeit wurden verschiedene Initiativen zur Stärkung der kommunalen Familienpolitik gestartet, so z. B. die „Lokalen Bündnisse für Familie“96 oder das Audit „Familiengerechte Kommune“
Europäische Union: Die EU als supranationaler Akteur hat, trotz fehlender direkter Kompetenzen in der Sozial- und Familienpolitik, wiederholt bindende und nicht-bindende Vorgaben in diesem Bereich getroffen. Ein Beispiel für eine bindende Vorgabe ist die europäische Elternzeitrichtlinie (2010/18/EU), die bestimmte europaweite Mindeststandards festlegt, darunter v. a. ein individuelles Recht auf eine mindestens viermonatige Elternzeit im Falle einer Geburt bzw. Adoption. Ein Beispiel für eine nicht-bindende Vorgabe sind die sogenannten Barcelona-Ziele zur institutionellen Kinderbetreuung, die 2002 auf dem Europäischen Rat von Barcelona beschlossen wurden. Hiernach sollten die EU-Mitgliedsstaaten „bestrebt sein, nach Maßgabe der Nachfrage nach Kinderbetreuungseinrichtungen und im Einklang mit den einzelstaatlichen Vorgaben für das Versorgungsangebot bis 2010 für mindestens 90 % der Kinder zwischen drei Jahren und dem Schulpflichtalter und für mindestens 33 % der Kinder unter drei Jahren Betreuungsplätze zur Verfügung zu stellen.“ (Europäischer Rat 2002)
Bundesverfassungsgericht: Auch das Bundesverfassungsgericht hat sich wiederholt als wichtiger familienpolitischer Akteur erwiesen, der v. a. in den 1990er Jahren teils sehr konkrete Policy-Vorgaben getroffen hat (vgl. Ahrens/Blum 2012). Gerlach spricht in Bezug auf die verschiedenen Urteile des Bundesverfassungsgerichts im Bereich des Familienlastenausgleichs von einer „Ersatzgesetzgebung“ (Gerlach 2010: 439). Ein Beispiel hierfür ist das Urteil zum Kinderleistungsausgleich von 1998, mit dem z. B. die Höhe des Existenzminimums von Kindern festgelegt wurde, die von der Besteuerung freizustellen ist
Familienverbände: Zu den nicht-öffentlichen Akteuren der Familienpolitik gehören die Familienverbände, darunter der Deutsche Familienverband, der Familienbund der Katholiken, die Evangelische Aktionsgemeinschaft für Familienfragen, der Verband alleinerziehender Mütter und Väter sowie der Verband bi-nationaler Familien und Partnerschaften. Diese fünf großen Verbände98 haben sich in der AGF, der Arbeitsgemeinschaft der deutschen Familienorganisationen, zusammengeschlossen. Die AGF wiederum ist Mitglied der COFACE (Confederation of Family Organisations in the European Union), dem europäischen Dachverband von Familienorganisationen. Vor dem Hintergrund, dass die Interessen von Familien sehr heterogen sind, ist das Durchsetzungspotential der Familienverbände eher gering.
Neben den Familien- sind auch die Wohlfahrtsverbände100 als familienpolitische Akteure zu nennen, denen hier v. a. als Träger sozialer Einrichtungen im Bereich der Kinderbetreuung eine gewichtige Rolle zukommt. Weitere zentrale Akteure im Bereich dieser sozialen Dienstleistungen für Familien sind auch die Kirchen oder Selbsthilfeinitiativen (Bäcker et al. 2010: 250). Im Vergleich zu früheren Jahrzehnten ist die Bedeutung der evangelischen und v. a. der katholischen Kirche als familienpolitische Akteure zurückgegangen, waren doch zunächst in erster Linie die „C-Parteien“, Kirchen und kirchliche Familienverbände „starke politische Akteure in der Familienpolitik (...), heute jedoch faktisch alle Parteien“ – und andere neue „Player“
Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften: Mit dem Bedeutungsgewinn der Vereinbarkeitspolitik sind auch Arbeitgeberverbände und Gewerkschaften seit den 2000er Jahren verstärkt als familienpolitische Akteure aktiv. Als konkrete verbandliche Akteure zu nennen sind hier die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände (BDA), der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK), der Zentralverband des Deutschen Handwerks (ZDH) sowie auf Gewerkschaftsseite der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) als die größten Dachorganisationen. Unternehmen, Wirtschafts- und Gewerkschaftsverbände haben seit den 2000er Jahren die familienfreundliche Gestaltung der Arbeitswelt zunehmend als neues Handlungsfeld wahrgenommen – eine Entwicklung, die seitens des BMFSFJ aktiv forciert wurde, beginnend mit Familienministerin Renate Schmidt und fortgesetzt von ihrer Nachfolgerin Ursula von der Leyen (Blum 2012: 125-126). Hierdurch zeigten sich z. T. neue Akteurskonstellationen und Allianzen für familienpolitische Reformen, z. B. zum Ausbau der Kindertagesbetreuung, wie sie auch für andere Länder bzw. korporatistisch-konservative Wohlfahrtsstaaten insgesamt beobachtet worden sind. Dies umfasst auch frauenpolitische Akteure, konnte doch die „neue Familienpolitik“ verstärkt in Kooperation und nicht in Konkurrenz zu Frauen- und Geschlechterpolitik verstanden werden – wenngleich auch die Gefahr frauenpolitischer „Leerstellen“ durch den Bedeutungsgewinn der Familienpolitik gesehen wurde und wird
Unternehmen: Daneben sind seit den 2000er Jahren auch Unternehmen als familienpolitische Akteure verstärkt ins Blickfeld geraten, hängt doch die Vereinbarkeit von Beruf und Familie entscheidend von der betrieblichen Situation ab. Verstärkt wurden positive betriebswirtschaftliche Effekte einer familienbewussten Personalpolitik diskutiert, etwa in Hinblick auf niedrigere Fluktuationsraten, einen geringeren Krankenstand oder höhere Rückkehrquoten aus der Elternzeit. Ein wichtiges Instrument in Hinblick auf eine familienfreundliche Personalpolitik ist dabei das Managementinstrument „Audit berufundfamilie“, das seit Ende der 1990er Jahre von der „berufundfamilie gGmbH“ verliehen wird
Reformvoraussetzungen: Die Familienpolitik ist nicht Teil des Sozialversicherungssystems, das – insbesondere in der Rentenpolitik (vgl. Kap. 9) – in besonderem Maße mit Pfadabhängigkeiten assoziiert wird, u. a. aufgrund der hohen Umstellungskosten. Vor diesem Hintergrund könnte angenommen werden, dass dem „Politik-Erbe“ in der Familienpolitik eine geringere Bedeutung zukommt als in anderen sozialpolitischen Feldern. So schrieb auch Clasen: „Family policy is less institutionally entrenched than pension or labour market policy. […] It left governments more of an ‘open field’ and thus choice for designing new types of public intervention and deciding on their scope.“ (Clasen 2005: 182) Hinzu kommt: Die Familienpolitik ist ein „Spätzünder“ unter den sozialpolitischen Feldern – das gilt für Deutschland, in stärkerem Maße aber noch für viele andere europäische Wohlfahrtsstaaten. So waren im Jahr 1974 zwar bereits viele grundlegende Strukturen geschaffen, viele aus heutiger Sicht zentralen Maßnahmen existierten jedoch noch nicht (z. B. Erziehungsurlaub bzw. Elternzeit). Anfang der 1970er Jahre waren v. a. die monetären und steuerlichen Familienleistungen, also der traditionelle Familienlastenausgleich, in Kraft. Seit 1954 existierten das Kindergeld als universale familienpolitische Leistung bzw. die steuerlichen Kinderabsetzbeträge. Daneben bestanden wesentliche familien- bzw. ehebezogene Leistungen, darunter v. a. das Ehegattensplitting, die Mitversicherung von Familienangehörigen in der Krankenversicherung sowie die Hinterbliebenenversicherung.
Sozialliberale Koalition: Rechtliche Reformen
Institutionalisierung der Familienpolitik in den 1950er Jahren: In den ersten Jahren nach ihrer expliziten Institutionalisierung mit der Gründung eines eigenständigen Familienministeriums 1953 war die Familienpolitik in Deutschland stark normativ betrieben worden. Insbesondere der erste Familienminister Franz-Josef Wuermeling (1953-1962) verstand sich als ideologischer Vorstreiter für die Familie. Für den finanziellen Familienlastenausgleich stritt er u. a. deshalb, „weil wir unsere Mütter von dem Gewissenszwang befreien wollen, sich gegen ihren Wunsch und Willen ihrer hohen Mutteraufgabe zu entziehen, in der sie im Grunde unersetzlich sind“ (Wuermeling 1957: 59). Vor diesem Hintergrund stand die SPD dem Feld der Familienpolitik insgesamt skeptisch gegenüber: Noch im Bundestagswahlkampf 1969 hatte sie angekündigt, das Ressort bei Regierungsübernahme abzuschaffen. Das geschah entgegen der Ankündigung nicht – Käte Strobel (SPD) übernahm das neu zusammengelegte Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit.
Von der Institutionenpolitik zur Familienmitgliederpolitik: Mit dem Antritt der sozialliberalen Koalition (1969-1982) wird retrospektiv von einem Wechsel von einer Institutionenpolitik hin zu einer Familienmitgliederpolitik gesprochen (Gerlach 2010: 187). Auf die familienpolitischen Teilmotive rückbeziehend, wurden also familial-institutionelle Motive verstärkt durch z. B. geschlechterpolitische Motive abgelöst. Im Hinblick auf Steuerungsinstrumente bestand dieser Wechsel jedoch primär aus Policy-Veränderungen auf rechtlicher Ebene. So trat 1969 ein Gesetz in Kraft, das zu einer weitgehenden rechtlichen Gleichstellung ehelicher und nicht-ehelicher Kinder führte. Ebenfalls wurde z. B. eine Reform des Adoptionsrechtes zur Gleichstellung leiblicher und adoptierter Kinder durchgeführt sowie Reformen des Ehe- und Familienrechts, des Namensrechts und des Rechts elterlicher Sorge (Gerlach 2010: 189). So wurde erst mit der Eherechtsreform 1977 das Leitbild einer gleichberechtigten Ehe rechtlich umgesetzt, in der die Ehepartner im gegenseitigen Einvernehmen über die Aufgabenteilung zwischen Erwerbs- und Sorgearbeit entscheiden. Zuvor galt das Prinzip der Hausfrauenehe, wobei der Ehemann das Entscheidungsrecht über alle das gemeinschaftliche eheliche Leben betreffende Angelegenheiten wie Erwerbstätigkeit und Wohnort besaß.
Mit Blick auf andere familienpolitische Instrumententypen wurde der Familienlastenausgleich unter der sozialliberalen Koalition weitgehend fortgeführt, allerdings ab 1975 der Kinderfreibetrag103 ausgesetzt. Im Gegenzug wurde das Kindergeld erhöht und auf Wunsch der FDP einkommensunabhängig gestaltet. In den Folgejahren wurden wiederholt Kindergelderhöhungen vorgenommen, 1982 allerdings auch im Zuge von Sparprogrammen eine Kürzung beim Kindergeld beschlossen
Mutterschaftsurlaub: Während sich in den 1970er Jahren die familienpolitischen Diskussionen um einen „Erziehungsurlaub für Eltern“ intensiviert hatten (Kolbe 2002: 292), führte die sozialliberale Koalition im Jahr 1979 zunächst einen Mutterschaftsurlaub für abhängig erwerbstätige Frauen ein. Dieser galt über den Mutterschutz hinaus „bis zu dem Tag, an dem das Kind sechs Monate alt wird“ (BGBl. 1979 Nr. 32). Eine Erwerbstätigkeit war während dieser Zeit ausgeschlossen; es wurde ein Mutterschaftsurlaubsgeld in Höhe von monatlich max. DM 750 bezahlt.104 Die Kosten trug der Bund. Für die Zeit des Mutterschaftsurlaubs und bis zu zwei Monate danach wurde ein Kündigungsschutz eingeführt. Der Mutterschaftsurlaub stand somit nur für erwerbstätige Mütter zur Verfügung und schloss Väter (wie auch Adoptiveltern) grundsätzlich von einem Leistungsbezug aus. Vor diesem Hintergrund, und da die Maßnahme vorrangig am gesundheitspolitischen und arbeitsrechtlichen Mutterschutzdiskurs anknüpfte und nicht am – zu dieser Zeit dominierenden – Kindeswohldiskurs, stieß sie „auf heftige Kritik der Opposition und vieler gesellschaftlicher Gruppen“
Policy-Wandel auf rechtlicher Ebene: Betrachtet man diese kurze Zusammenfassung der familienpolitischen Neuerungen während der sozialliberalen Regierungszeit, so lässt sich schlussfolgern, dass auf rechtlicher Ebene tatsächlich weitreichende und transformative Policy-Veränderungen durchgeführt wurden. Der Gesamtblick auf die verschiedenen familienpolitischen Steuerungsinstrumente zeigt jedoch starke Kontinuitäten im Bereich des Familienlastenausgleichs bzw. evolutiv-pfadabhängige Veränderungen auf. Unter anderem lässt sich dies auch auf einen geringen Kompetenzrahmen bzw. ein geringes „Standing“ des Familienministeriums zurückführen, was z. T. mit Modellprojekten im Bereich der Tagesmütterbetreuung, Frauenförderung und Schwangerschaftsberatung auszugleichen versucht wurde (Gerlach 2010: 193 f.). Insgesamt lässt sich kein paradigmatischer familienpolitischer Wandel während dieser Zeit konstatieren , auch wenn wichtige neue Schwerpunkte gesetzt wurden.
Christlich-liberale Koalition: Erziehungsurlaub und Erziehungsgeld:
Erziehungsurlaub und Erziehungsgeld: Noch 1979 hatte die sozialliberale Regierungskoalition den Mutterschaftsurlaub als ein ausschließlich auf erwerbstätige Frauen abzielendes, arbeitsmarktpolitisches Instrument geschaffen (Bleses/Rose 1998). Mitte der 1980er Jahre wurde die Maßnahme von der christlich-liberalen Koalition grundlegend reformiert und anstelle dessen ein Erziehungsurlaub bzw. Erziehungsgeld eingeführt. Wie die Bezeichnung bereits andeutet, intendierte die neue Regelung nicht mehr länger (nur) eine Freistellung berufstätiger Mütter von der Erwerbsarbeit, sondern auch eine finanzielle Anerkennung der erbrachten Erziehungsleistung. Von christdemokratischer Seite war der Mutterschaftsurlaub in die Kritik geraten, da er nichterwerbstätige Mütter diskriminiere. Hinzu kam, dass in den 1980er Jahren, in einem veränderten Kontext struktureller Arbeitslosigkeit, familienpolitische Zielsetzungen mit Arbeitsmarkt-entlastenden Zielsetzungen verknüpft wurden
Der unter Kündigungsschutz stehende Erziehungsurlaub betrug anfangs zehn Monate und wurde bis 1992 sukzessive auf einen Zeitraum von drei Jahren pro Kind ausgeweitet. Die geleisteten Erziehungszeiten wurden mit dem Kindererziehungszeitgesetz ab 1987 erstmals äquivalent zu durch Erwerbsarbeit gesammelten Ansprüchen als Pflichtbeitragszeit in der Rentenversicherung angerechnet. Parallel zum Erziehungsurlaub wurde ein Erziehungsgeld in Höhe von monatlich 600 DM (307 Euro) eingeführt. Unabhängig von einer vorangegangenen Berufstätigkeit konnte das Erziehungsgeld von Müttern oder Vätern bezogen werden; beim Bezug der Leistung konnten sich die Elternteile ein Mal abwechseln. Das Erziehungsgeld konnte einkommensabhängig reduziert werden. Es wurde anfangs für eine Dauer von 12 Monaten gezahlt und in Stufen auf bis zu 24 Monate verlängert.106 Das Bundeserziehungsgeldgesetz erlaubte eine parallele Teilzeitarbeit von anfangs 18 Wochenstunden; drei Jahre später wurde diese auf 19 Wochenstunden und damit den Umfang einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung ausgedehnt.
Wahlfreiheit als Leitmotiv: Argumentativ sollte mit Erziehungsurlaub und Erziehungsgeld in erster Linie eine „Wahlfreiheit“ geschaffen bzw. gestärkt werden: Wahlfreiheit zwischen Erwerbs- und Familienarbeit in den ersten Lebensjahren eines Kindes; Wahlfreiheit aber auch in der Arbeitsteilung zwischen Müttern und Vätern, da letztere – im Gegensatz zum Mutterschaftsurlaub – nun auch anspruchsberechtigt waren. Grundsätzlich ist der Begriff der „Wahlfreiheit“ insofern problematisch, als er nunmehr seit mehreren Jahrzehnten in den politischen Debatten eingesetzt wird und als höchst politisiert gelten kann. Nimmt man ihn als Leitvorstellung für die Erziehungsurlaubs- und Erziehungsgeldreform dennoch auf, so sind hiermit einige Anmerkungen zu verbinden: Bezüglich einer Wahlfreiheit zwischen Erwerbs- und Familienarbeit reichte das Erziehungsgeld von maximal 600 DM nicht als Einkommensersatz. Vielmehr erforderte es, wie in der Literatur wiederholt angemerkt wurde, einen „komplementären Ernährer“, der das Familieneinkommen erwirtschaftete.
Diese Policy-Ausgestaltung wiederum hatte Auswirkungen auf die zweite thematisierte Wahlfreiheit, nämlich die Inanspruchnahme durch Mütter bzw. Väter: Wie die international-vergleichende Forschung zu Elternzeit-Regelungen mittlerweile gezeigt hat (vgl. Ray et al. 2010; Dearing i.E.), wird die Väterbeteiligung erstens dadurch befördert, dass die Elternzeit mit einer Einkommensersatzleistung begleitet wird, d. h. mit einer sich prozentual am Einkommen bemessenden Geldleistung oder einer hohen Pauschalleistung. Und zweitens dadurch, dass exklusive Zeiten für Väter reserviert sind, z. B. über sogenannte „Partnermonate“. Vor diesem Hintergrund wies das deutsche Erziehungsgeld ungünstige Bedingungen für die Väterbeteiligung auf: Nicht nur bestand es in einer niedrigen Pauschalleistung, darüber hinaus existierte auch kein individueller Anspruch auf Erziehungsurlaub und Erziehungsgeld, sondern ein Familienanspruch. Innerhalb dieses Familienanspruchs wiederum waren keine exklusiven Zeiten für den jeweiligen Elternteil reserviert, sondern konnten z. B. die 24 Monate vollständig durch die Mutter in Anspruch genommen werden – was in aller Regel auch erfolgte. Die Väterbeteiligung am Erziehungsurlaub stieg zwischen 1986 und 2001 nie über 2
Erziehungsurlaub und Erwerbstätigkeit von Müttern: Von Seiten der SPD und der Grünen wurde kritisiert, Erziehungsurlaub und Erziehungsgeld drängten Frauen aus dem Arbeitsmarkt. Dem ist jedoch hinzuzufügen, dass seit 1992 – zurückgehend auf einen Verfassungsgerichtsentscheid – die Rentenansprüche von drei Jahren pro Kind additiv zu Ansprüchen aus Erwerbsarbeit bis zur oberen Beitragsbemessungsgrenze gesammelt werden können: Aus ökonomischer Sicht sind seither somit gewisse Anreize gesetzt, parallel Sorge- und Erwerbsarbeit zu leisten und hierdurch ggf. höhere Rentenansprüche zu erwerben. De facto haben jedoch verschiedene Studien gezeigt, dass der Erziehungsurlaub in Deutschland lange Auszeiten von Müttern beförderte und sich dies z. B. auch negativ auf die mittel- und längerfristigen Karrierechancen von Müttern auswirkte
Erziehungsurlaub als evolutiv-pfadabhängiger Wandel: Vor diesem Hintergrund ist die Einführung von Erziehungsurlaub und Erziehungsgeld als evolutiv-pfadabhängiger Wandel zu bewerten. Aus politikfeldanalytischer Sicht „überrascht“ die Einführung gewissermaßen nicht weiter: So entsprach es der Parteiendifferenzhypothese, dass v. a. unter der Ägide der CDU/CSU der von der sozialdemokratischen Koalition eingeführte Mutterschaftsurlaub reformiert und die neue Regelung auch auf nicht-erwerbstätige Mütter bzw. Väter ausgeweitet wurde. Klassisch konservativen Policy-Ideen entsprach überdies die Einführung einer vergleichsweise langen Freistellungszeit zur Ermöglichung von „Wahlfreiheit“, v. a. auch der Wahlfreiheit, während der ersten Lebensjahre eines Kindes nicht erwerbstätig zu sein. Auch waren, vom späteren Standpunkt aus gesehen, die Policy-Instrumente konform mit typologischen Einordnungen des deutschen Wohlfahrtsstaates, als konservatives Wohlfahrtssystem (Esping-Andersen 1990) bzw. als starkes Ernährermodell
Antritt der rot-grünen Koalition: Als 1998 die erste rot-grüne Bundesregierung antrat, hätten entsprechend der Parteiendifferenzhypothese grundlegende Veränderungen u. a. in der Familienpolitik erwartet werden können. Für die erste Legislaturperiode (1998-2002) ist jedoch eine „überraschende(n) Kontinuität“ mit der schwarz-gelben Vorgängerregierung konstatiert worden. Auffällig war v. a. die unvermindert hohe Konzentration auf Geldleistungen für Familien, u. a. indem 2002 das Kindergeld bzw. die Kinderfreibeträge erhöht und eine stärkere Berücksichtigung von Kin-dererziehungszeiten in der Rentenversicherung eingeführt wurde. Beides ging jedoch u. a. auf Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zurück, was auf die hohe Bedeutung dieses „institutionellen Vetospielers“ in der Familienpolitik v. a. in den 1990er Jahren verweist. Diese familienpolitische „Kontinuität“ wurde mit den Reformen in der zweiten rot-grünen Legislaturperiode (2002-2005) durchbrochen.
Grundlagen des Wandels durch Elternzeit und TAG: Die 2001 durchgeführte Reform des Erziehungsurlaubs bzw. Erziehungsgeldes hin zur Elternzeit ist – in der Terminologie Peter Halls – als second-order change zu bewerten: Es wurden in mehrfacher Hinsicht neue gleichstellungspolitische Akzente gesetzt, das bestehende System jedoch weitgehend beibehalten. Der arbeitsrechtliche Freistellungsanspruch blieb bei drei Jahren, und auch die Geldleistung (307 Euro) wurde nicht erhöht. Allerdings wurde eine sogenannte „Budget-Variante“ geschaffen: In dieser Alternativvariante konnte das Erziehungsgeld für 12 statt für 24 Monate bezogen werden. Die monatliche Geldleistung lag dann höher (450 Euro), die gesamte Geldleistung jedoch niedriger als bei der „klassischen“ Bezugsvariante.
Mit der Elternzeit-Reform wurde die Teilzeiterlaubnis auf 30 Wochenstunden ausgeweitet. Außerdem wurde ein Anspruch auf Verringerung der Arbeitszeit im Rahmen von 15 bis 30 Wochenstunden eingeführt, der in Betrieben ab 15 Mitarbeitern gilt. Nach Ende der Elternzeit besteht ein Anspruch, zur vorherigen Arbeitszeit zurückzukehren. Und schließlich wurde mit der Elternzeit die Möglichkeit für beide Elternteile geschaffen, gleichzeitig in Elternzeit zu gehen, sich bis zu dreimal abzuwechseln und ein Jahr der Elternzeit später, nämlich bis zum achten Geburtstag des Kindes, in Anspruch zu nehmen. Was stand einer weitreichenderen Reform – z. B. der auch damals bereits diskutierten Einführung einer Einkommensersatzleistung nach der Geburt eines Kindes – entgegen?
Reform im Kontext sozialpolitischen cost containments: Diskutiert wurde die Reform des Erziehungsurlaubs und Erziehungsgeldes ab 1998 im Kontext einer ausgeprägten Debatte um die hohe Arbeitslosigkeit, Lohnnebenkosten, notwendige Strukturreformen – und v. a.: sozialpolitisches cost containment (Kostendämpfung). Ein solcher Kontext bot ungünstige Voraussetzungen für eine kostensteigernde familienpolitische Reform, die – v. a. über den Teilzeitanspruch während der Elternzeit – auch Beschränkungen für die Wirtschaft vorsah. Um den Teilzeitanspruch entbrannten dann auch die größten Konflikte, als Familienministerin Christine Bergmann im November 1999 den Referentenentwurf zum Gesetz vorlegte. Der Entwurf sah zunächst lediglich bei „zwingenden betrieblichen Gründen“ Ausnahmen vom Teilzeitanspruch vor. Wirtschaftsminister Werner Müller trat – wie auch der Zentralverband des Deutschen Handwerks – demgegenüber für eine Grenze von 50 Beschäftigten ein, ab der der Anspruch gelten sollte. Auf Vermittlung des SPD-Fraktionsvorsitzenden Peter Struck kam schließlich die Einigung auf einen Schwellenwert von 15 Beschäftigten zustande
Strittige Reformpunkte: Budgetvariante, Arbeitszeitgrenze, Teilzeitanspruch: In dieser Form einigte sich das Bundeskabinett im März 2000 auf die Novelle, im April folgte die erste Beratung des Gesetzentwurfs im Bundestag. Seitens der Vertreter aus der CDU/CSU und einiger Familienverbände wurde die Budgetvariante sowie v. a. auch die vergleichsweise hohe Arbeitszeitgrenze von 30 Wochenstunden abgelehnt – wobei letztere v. a. vom Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) mit forciert worden war. Der Zentralverband des Deutschen Handwerks sowie die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) lehnten die Grenze von 15 Beschäftigten für den Teilzeitanspruch als zu niedrig ab. Interessanterweise kritisierte die BDA auch die Erhöhung der möglichen Wochenarbeitszeit auf 30 Wochenstunden und trat auch nicht für die Budgetvariante von 12 Monaten ein – die Arbeitgebervertreter zeigten also offensichtlich (noch) kein gesteigertes Interesse an einem möglichst schnellen Wiedereinstieg von Müttern nach der Babypause. Dies lässt sich im Kontext hoher Arbeitslosenzahlen zum damaligen Zeitpunkt verstehen; demografische Argumente spielten eine untergeordnete Rolle.
Tagesbetreuungsausbaugesetz: Diese Kontextbedingungen hatten bei Beschluss des Tagesbetreuungsausbaugesetzes (TAG) bereits angefangen, sich zu verändern. Hinzu kamen die PISA-Testergebnisse und andere internationale Leistungsvergleiche, die zu einem veränderten Bild frühkindlicher Betreuungsangebote beitrugen. Auch der Ausbau der Ganztagsschule rückte in diesem Kontext auf die politische Agenda: So wurde im Mai 2003 das Investitionsprogramm „Zukunft Bildung und Betreuung“ beschlossen, mit dem von 2003 bis 2007 Bundeszuschüsse in Höhe von 4 Mrd. Euro für den Ausbau von Ganztagsschulen bereitgestellt wurden.109 Im Bereich der Kleinkindbetreuung entfalteten auch die sogenannten Barcelona-Ziele Wirkung: Auf dem Europäischen Rat von Barcelona war 2002 für die EU-Mitgliedsstaaten das Ziel festgelegt worden, bis 2010 eine Betreuungsquote von mindestens 33 % für unter Dreijährige und von mindestens 90 % für Kinder im Alter von drei Jahren bis zum Schuleintritt bereitzustellen. In ihrem Koalitionsvertrag legte Rot-Grün im Oktober 2002 fest, noch in der laufenden Legislaturperiode „eine bedarfsgerechte Betreuungsquote für Kinder unter drei Jahren von mindestens 20 %“ (SPD/Bündnis 90/Die Grünen 2002: 30) zu erreichen
Von diesem – angesichts der Betreuungsquote in den westdeutschen Bundesländern (vgl. Kap. 8.2) – ambitionierten Plan rückte SPD-Familienministerin Renate Schmidt in den Folgemonaten wieder ab. Im März 2004 wurde ein Referentenentwurf mit den kommunalen Spitzenverbänden diskutiert. Hierin war u. a. vorgesehen, den Bundeszuschuss für den Betreuungsausbau nicht direkt zur Verfügung zu stellen, sondern die Kommunen indirekt um 1,5 Mrd. Euro über Einsparungen durch die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe zu entlasten (vgl. Kap. 5) – zum Unmut der kommunalen Spitzenverbände, die dagegen hielten, die zu erwartenden Einsparungen lägen niedriger und die Kosten des Betreuungsausbaus höher (Blum 2012: 154 ff.). Der Gesetzentwurf von Juni 2004 hielt jedoch an diesen Finanzierungsplänen fest. Der Zeithorizont des Betreuungsausbaus wurde auf das Jahr 2010 verlängert; bis dahin hätten die Kommunen ein „bedarfsgerechtes Angebot“ an U3-Betreuungsplätzen bereitzuhalten (spezifiziert hieß dies laut Gesetzentwurf: v. a. für berufstätige Eltern).
Umgehung des Bundesrats als institutioneller Vetospieler: Nach Beschluss durch das Kabinett wurde der Gesetzentwurf im September 2004 eingebracht. Aufgrund der vorgesehenen Novelle des SGB VIII110, die mit dem TAG ebenfalls beschlossen werden sollte, war allerdings auch der Bundesrat zustimmungspflichtig – und die unionsgeführten Länder kündigten an, den Gesetzentwurf geschlossen abzulehnen. Nachdem das Gesetz im Oktober 2004 im Bundesrat im ersten Durchgang gestoppt wurde, kündigte Renate Schmidt an, es in einen zustimmungspflichtigen und einen zustimmungsfreien Teil zu splitten und so für den Betreuungsausbau die Länderkammer zu umgehen. Im Oktober wurde das Gesetz mit den Stimmen der Regierung sowie der PDS beschlossen (CDU/CSU und FDP enthielten sich) und trat 2005 in Kraft.
Elternzeit und Tagesbetreuungsausbaugesetz als Policy-Experimente: Mit dem TAG trat der Bund erstmals offensiv für den Ausbau von Betreuungsplätzen für unter Dreijährige ein und stellte Mittel für diesen Aufgabenbereich der Länder bereit, deren Ausmaß allerdings unklar blieb. Aufgrund dieser unklaren Finanzierungsgrundlage und fehlender klarer Zielmaßstäbe (bzw. eines Rechtsanspruchs) war das Gesetz regulativ eher verhalten, bereitete umgekehrt aber retrospektiv den Boden für eine weiterreichende Reform (s. u.). Es lässt sich vergleichsweise gut mit traditionellen Erklärungsansätzen der Staatstätigkeitsforschung wie der Parteiendifferenzhypothese fassen und zeigt auch die Rolle des Bundesrates als klassischem Vetospieler im deutschen Föderalismus auf. In der Terminologie Peter Halls können Reformen wie das TAG oder die ab 2001 geltende Elternzeit als Ausdruck des „Policy-Experimentierens“ bezeichnet werden: Sie weisen bereits veränderte Logiken und Ideen im Vergleich zur traditionellen Policy auf, setzen allerdings noch keinen paradigmatischen Wandel um.
Während also die Elternzeit-Reform sowie das Tagesbetreuungsausbaugesetz in der Literatur eher als evolutiv-pfadabhängiger Wandel beschrieben worden sind, wurde die Einführung des Elterngeldes zum 1. Januar 2007 – in der Terminologie Peter Halls – als third-order change bewertet
Elterngeld als transformativ-radikaler Wandel: Die Policy-Veränderung war in mehrfacher Hinsicht transformativ-radikal: Die mit 24 Monaten vergleichsweise lang gezahlte Pauschalleistung von 300 Euro wurde mit dem Elterngeld durch eine steuerfinanzierte Einkommensersatzleistung ersetzt. Für einen Zeitraum von 12 Monaten nach der Geburt eines Kindes werden 67 % des vorherigen Nettoeinkommens gezahlt. Dieser Zeitraum verlängert sich auf 14 Monate, wenn das Elterngeld mindestens zwei Monate durch den jeweils anderen Elternteil bezogen wird („Partnermonate“). Das Mindestelterngeld liegt bei 300 Euro, die Höchstgrenze der Leistung bei 1.800 Euro. Während des Bezugs kann nach wie vor bis zu 30 Wochenstunden gearbeitet werden, wobei dann 67 % des entfallenen Teileinkommens bis zu einer Bemessungsgrenze von 2.700 Euro gezahlt werden. Die Elternzeit blieb von der Reform unberührt und beträgt nach wie vor drei Jahre. Das Elterngeld enthält eine Geringverdiener-Komponente: Für jede 2 Euro, die das monatliche Einkommen vor der Geburt unterhalb von 1.000 Euro lag, erhöht sich der Einkommensersatz um 0,1 Prozentpunkte
Kürzungen im Rahmen des Sparpakets: Umgekehrt besteht seit 2011 ein Abschlag für mittlere und höhere Einkommen: Für jede 2 Euro, die das monatliche Einkommen oberhalb von 1.200 Euro lag, sinkt die Einkommensersatzrate um 0,1 Prozentpunkte bis zu einer Mindestrate von 65 %. Diese Kürzung für mittlere und höhere Einkommen wurde 2010 im Rahmen eines Sparpakets und als Reaktion auf die Wirtschaftskrise vorgenommen, was somit auf die Bedeutung sozio-ökonomischer Einflussfaktoren verweist. Ebenfalls wurde in diesem Zuge das Elterngeld für Bezieher von ALG-II gestrichen.
Wiedereinstieg und Väterbeteiligung: Das Elterngeld setzt sowohl Anreize für einen schnelleren Wiedereinstieg in den Beruf als auch, über die Partnermonate, für eine höhere Väterbeteiligung. Bei beiden Aspekten haben sich seit Einführung des Elterngeldes deutliche Veränderungen vollzogen. So zeigte beispielsweise eine Evaluationsstudie von Geyer et al. (2012), dass die Erwerbstätigkeit von Müttern im ersten Jahr nach der Geburt nach Einführung des Elterngeldes gesunken ist, aber Mütter mit Kindern ab dem Alter von einem Jahr aufgrund der Einführung des Elterngeldes eine signifikant höhere Wahrscheinlichkeit haben, in den Beruf zurückzukehren. Auch die Beteiligung von Vätern am Elterngeld-Bezug ist deutlich gestiegen: 29,3 % der Väter von im zweiten Quartal 2012 geborenen Kindern nahmen Elterngeld in Anspruch, die Mehrheit davon (78,3 %) allerdings nicht länger als die beiden „Partnermonate“
Erklärungsansätze für den familienpolitischen Wandel: Das Elterngeld stellte also sowohl in seiner Konzeption als auch in seinen Wirkungen einen transformativ-radikalen Wandel der bisherigen Familienpolitik dar, der so in dieser Form nicht erwartet worden war. Vielmehr hätte, in Anlehnung an die Parteiendifferenzhypothese, ein weitgehender „Stillstand“ in der Familienpolitik der Großen Koalition erwartet werden können, da sich doch die familienpolitischen Präferenzen von CDU, CSU und SPD traditionell deutlich unterschieden. Wodurch also ist dieser Wandel zu erklären? Erstens ist, wie auch bereits für die Elternzeit- und TAG-Reform (Kap. 8.4.2.1) beschrieben, die fortgesetzte Bedeutung von „Sachzwängen“ wie dem demografischen Wandel und veränderten Familienformen zu konstatieren. Allerdings hätte diese „sozioökonomische Determination“ sechs Jahre zuvor in gleichem Maße gelten müssen. Entscheidend war daher eine veränderte Wahrnehmung durch die politischen Akteure – also eine Form politischen Lernens – sowie der Parteienwettbewerb. Während einzelne Personen nur eine sehr begrenzte politisch-gestaltende Kraft besitzen, so zeigte sich doch außerdem ein unterstützender Einfluss personeller Faktoren.
Policy-Transfer aus Skandinavien: Noch 1998 hatte Gerhard Schröder im Wahlkampf Christine Bergmann als zuständige Ministerin für „Frauen und das ganze andere Gedöns“ vorgestellt. Diese Aussage ist seither oft zitiert worden, um die Geringschätzung des Kanzlers für die „weichen Themen“ der Familienpolitik und benachbarter Felder zum Ausdruck zu bringen. Tatsächlich aber änderte Schröder seine Haltung zur Familienpolitik spätestens ab der zweiten Legislaturperiode grundlegend; Christine Bergman wurde durch Renate Schmidt als Familienministerin abgelöst. Schmidt entwickelte bereits bis 2004 klare Pläne zur Ablösung des Erziehungsgeldes durch eine einkommensabhängige Leistung nach skandinavischem Vorbild
Kritik am Elterngeld: Die Familienministerin kündigte allerdings an, die Elterngeld-Pläne erst nach den für Herbst 2006 anstehenden Bundestagswahlen umsetzen zu wollen. Unter anderem wohl deshalb, weil das Elterngeld innerhalb der rot-grünen Koalition nicht unumstritten geblieben war: Vor allem traditionelle Sozialpolitiker in der SPD kritisierten die Ablösung einer Pauschalleistung durch ein einkommensabhängiges Modell, das also für Familien mit höherem Einkommen eine entsprechend höhere Leistung vorsah (siehe für eine kritische Diskussion des Elterngelds: Farahat et al. 2006). Auch bei den Grünen blieb das Elterngeld lange umstritten, es galt vielen als „Mittelschichtprojekt“ (Blum 2012: 142). Bei den vorgezogenen Neuwahlen im September 2005 ging die SPD mit der Forderung nach einem Elterngeld in den Wahlkampf, während CDU und CSU das Modell ablehnten.
Parteienwettbewerb und personelle Faktoren: Umso mehr überraschte es, dass – nach Antritt der Großen Koalition – die neue Familienministerin von der Leyen das Elterngeld zu ihrem Projekt machte und gegen z. T. große Widerstände durchboxte. Diese Widerstände stammten interessanterweise v. a. aus der eigenen Partei, da zahlreiche namhafte Unionspolitiker das Elterngeld und v. a. die vorgesehenen „Partnermonate“ (die z. T. als „Zwangs-Verpflichtung“ der Väter bezeichnet wurden) ablehnten. Dies zeigt zum einen die unterschiedlichen familienpolitischen „Ideen“, die hier miteinander konkurrierten. Zum anderen verweist es aber auch auf die Bedeutung von vote-seeking-Motiven im Parteienwettbewerb: Vor diesem Hintergrund unterstützte auch Angela Merkel die Familienministerin bei der Einführung des Elterngeldes (vgl. Blum 2012: 144). Seit den verlorenen Bundestagswahlen von 1998 und 2002 hatte Merkel die programmatische Erneuerung der CDU mit vorangetrieben und dabei die fehlende Mobilisierung v. a. der jüngeren und urbanen weiblichen Wählerschaft im Blick gehabt – eine moderne Familienpolitik mit dem Elterngeld wurde hier als wichtiges Instrument im Kampf um Wählerstimmen gesehen (Fleckenstein 2011). Profitieren konnte Ursula von der Leyen dabei auch von einer sogenannten „Nixon-goes-to-China“-Strategie113 (vgl. Ross 2000): Als konservative Familienministerin und Mutter von sieben Kindern konnte ihr nicht unterstellt werden, die traditionelle Familie untergraben zu wollen. Überdies musste sie das Elterngeld nur gegen die „eigenen Leute“ verteidigen, nicht aber gegen den Koalitionspartner oder die Opposition.
Kinderförderungsgesetz: Ausbau der Kinderbetreuung für unter Dreijährige: Noch einmal verstärkt zeigten sich diese eben beschriebenen Muster beim Ausbau der Kindertagesbetreuung für unter Dreijährige, der mit dem „Sondervermögen Kinderbetreuungsausbau“ (2007) bzw. dem Kinderförderungsgesetz (2008) umgesetzt wurde. Das Kinderförderungsgesetz (KiföG) führte einen Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz ab dem Alter von einem Jahr ein, der allerdings erst seit August 2013 gilt. Ziel war es, bis dahin Betreuungsplätze für deutschlandweit 35 % der unter Dreijährigen bereitzustellen. Hierfür wurde mit insgesamt 12 Mrd. Euro kalkuliert. Über das „Sondervermögen Kinderbetreuungsausbau“ stellte der Bund den Ländern von 2008 bis 2013 insgesamt 2,15 Mrd. Euro an Investitionsmitteln zur Verfügung. Außerdem entlastete der Bund die Länder in diesem Zeitraum über eine Änderung im Finanzausgleichsgesetz um jährlich 1,85 Mrd. Euro bei der Finanzierung der Betriebskosten. Zudem einigten sich Bund und Länder darauf, dass der Bund sich ab 2014 weiterhin mit jährlich 770 Mio. Euro an den Betriebskosten für Kinderbetreuungseinrichtungen beteiligt.
Fortsetzung des transformativ-radikalen Wandels: Angesichts einer deutschlandweiten U3-Betreuungsquote von 15,3 % im Jahr 2008 kann die 2007 gesetzte Zielmarke von 35 % für das Jahr 2013 v. a. für die westdeutschen Bundesländer als sehr ambitioniert bezeichnet werden. Als weitreichend kann auch die Einführung eines Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz ab dem Alter von einem Jahr bewertet werden – zumal dieser gerade auch im Vergleich zum TAG einen wesentlich höheren Handlungsdruck für die Kommunen schaffte, die Kindertagesbetreuung für unter Dreijährige signifikant auszubauen. Das Kinderförderungsgesetz ist somit für den Bereich der institutionellen Kinderbetreuung als Fortsetzung des transformativ-radikalen Wandels zu bewerten, der im Bereich der Elternzeit spätestens mit dem Elterngeld eingeleitet wurde. Die politikfeldanalytischen Erklärungsfaktoren sind ähnlich einzuordnen wie bei der Elterngeld-Reform, d. h. identifizierbar sind Prozesse des politischen Lernens sowie der Parteienkonkurrenz (und weniger der Parteiendifferenz), letzteres verbunden mit einer „Nixon-goes-to-China“-Strategie.
So trat Familienministerin von der Leyen im Februar 2007 überraschend mit der Forderung an die Öffentlichkeit, bis 2013 müsse es in Deutschland Betreuungsplätze für 35 % der unter Dreijährigen geben, was etwa 500.000 neu zu schaffenden Plätzen entspreche. Die konkrete Zielmarke von 35 % verweist auf den Einfluss des Barcelona-Ziels der Europäischen Union, so dass sich hier ein Policy-Transfer konstatieren lässt (Blum 2014). Zudem hatte das Deutsche Jugendinstitut (DJI) eine Bedarfsanalyse vorgenommen, die für das Jahr 2013 von einem durchschnittlichen U3-Betreuungsplatzbedarf in dieser Höhe ausging
Streit um den Betreuungsausbau: Während die Forderung in den Folgemonaten seitens der SPD und – im Sinne von Policies gegen „neue soziale Risiken“ – auch seitens der Wirtschaft Unterstützung fand, kam der stärkste Widerstand abermals aus der Union selbst sowie auch von einzelnen Vertretern der katholischen Kirche. Auf einem „Krippengipfel“ im April 2007 einigte sich von der Leyen mit Vertretern der Länder und Kommunen auf den Betreuungsausbau bis 2013 unter finanzieller Beteiligung des Bundes. Ein Rechtsanspruch jedoch war zum damaligen Zeitpunkt noch nicht vorgesehen. Von der Familienministerin wurde er tendenziell abgelehnt, von der SPD hingegen gefordert. Gleichzeitig fasste die CSU einen Vorstandsbeschluss darüber, dass man dem Betreuungsausbau nur dann zustimmen werde, wenn gleichzeitig ein Betreuungsgeld – z. B. in Höhe des Elterngeld-Sockelbetrags – für diejenigen Eltern gezahlt würde, die ihre ein- und zweijährigen Kinder zuhause selbst betreuen. Beides wurde letztlich im Mai 2007 im Koalitionsausschuss beschlossen: Die SPD und Finanzminister Steinbrück hatten dem Betreuungsausbau nur bei Einführung eines Rechtsanspruchs, die CSU nur bei gleichzeitiger Schaffung eines Betreuungsgeldes zugestimmt
Der Streit um das Betreuungsgeld schwelte allerdings noch lange weiter, v. a. als von der Leyen im November 2007 den KiföG-Entwurf vorlegte, der das Betreuungsgeld enthielt: Die SPD wollte die Nennung in der Einigung des Koalitionsausschusses lediglich als Prüfauftrag verstanden wissen, die CSU hingegen als abschließende Einigung. Erst im Februar 2008 einigten sich von der Leyen und Steinbrück, die Formulierung aus dem Koalitionsausschuss im KiföG beizubehalten, das Betreuungsgeld somit als „Soll-Bestimmung“ ins Gesetz aufzunehmen und die endgültige Entscheidung der nächsten Bundesregierung zu überlassen.
Betreuungsgeld als „Köder“ für den parteipolitischen Vetospieler: In seiner letztlichen Ausgestaltung mit Einbezug des Betreuungsgeldes weist das KiföG einen starken Einfluss der CSU als parteipolitischer Vetospieler auf – unterstützt aber auch von Politikern aus der CDU (Henninger/von Wahl 2010: 375). Gleichzeitig agierte von der Leyen strategisch geschickt, band die relevanten Akteure (z. B. die Bundesländer) frühzeitig ein und nutzte letztlich ja auch die Verankerung des Betreuungsgeldes im KiföG als „Köder, um die Unterstützung der CSU sowie von konservativen Parteigängern in der CDU zu gewinnen“ (ebd.: 376). Somit gelang schließlich ein transformativ-radikaler Wandel in der Betreuungspolitik, der als third-order change auch veränderte Ideen zur frühkindliche Betreuung aufzeigt und Ausdruck politischen Lernens ist – auch im Sinne eines Policy-Transfers des europäischen Barcelona-Ziels. Nicht zuletzt trug „sachlogisch“ auch die Einführung des Elterngelds mit zur Durchsetzungsfähigkeit des KiföG bei: Da nun vom Elterngeld starke Anreize für Mütter gesetzt wurden, ein Jahr nach der Geburt auf den Arbeitsmarkt zurückzukehren, erforderte dies umso dringender einen entsprechenden Ausbau der Betreuungsinfrastruktur
Schwarz-gelbe Koalition: Wie oben geschildert, wurde die Einführung des Betreuungsgelds im Kinderförderungsgesetz als „Soll-Bestimmung“ verankert, die endgültige Entscheidung also der zukünftigen Bundesregierung übertragen. Im Dezember 2008 nahm die CDU das Betreuungsgeld in ihr Grundsatzprogramm auf und konkretisierte es dabei: 150 Euro sollten ab 2013 monatlich denjenigen zugute kommen, die ihre ein- und zweijährigen Kinder zu Hause betreuen. Familienministerin von der Leyen – eine kaum verhohlene Gegnerin der Maßnahme – hatte zuvor bereits eine „Gutscheinvariante“ als taktischen Ausweg in die Debatte eingebracht, in der das Betreuungsgeld nicht bar, sondern in Form von Gutscheinen, z. B. für musikalische Früherziehung oder Sportangebote, ausbezahlt werden könnte. Nach den Bundestagswahlen vom September 2009 wurde das Betreuungsgeld in den Koalitionsverhandlungen zu einem der Knackpunkte: Die FDP lehnte die Einführung der Maßnahme ab, allerdings nicht so entschieden, als dass die Verankerung im Koalitionsvertrag letztlich verhindert worden wäre. Diese sah vor: „Um Wahlfreiheit zu anderen öffentlichen Angeboten und Leistungen zu ermöglichen, soll ab dem Jahr 2013 ein Betreuungsgeld in Höhe von 150,- Euro, gegebenenfalls als Gutschein, für Kinder unter drei Jahren als Bundesleistung eingeführt werden.“ (CDU, CSU, FDP 2009: 68)
Betreuungsgeld im Koalitionsvertrag: Die Frage, in welchen Fällen und wie genau diese Leistung ausbezahlt werden sollte blieb damit weiter offen und wurde sowohl innerhalb der CDU/CSU als auch der FDP in der Folgezeit kontrovers diskutiert. Nicht unwesentlich wurde der weitere Verlauf des Policy-Prozesses nun durch veränderte personelle Konstellationen mitbestimmt: So stand die neue Familienministerin Kristina Schröder dem Betreuungsgeld im Vergleich mit ihrer Amtsvorgängerin weniger kritisch gegenüber. Zwar trat sie nicht offensiv für die Maßnahme ein, fand aber stets auch Pro-Argumente (v. a. mit Rekurs auf die Wahlfreiheit) und verwies v. a. regelmäßig auf die Verankerung im Koalitionsvertrag. Anfang November 2011 einigte sich die Koalition beim Koalitionsgipfel in Berlin, ab 2013 ein Betreuungsgeld in Höhe von monatlich 100 Euro für Eltern einzuführen, die für ihre ein- und zweijährigen Kinder keine Krippe bzw. subventionierte Kindertagespflege in Anspruch nehmen. Ab 2014 solle die Leistung dann auf monatlich 150 Euro angehoben werden
CSU als parteipolitischer Vetospieler: Interessant an diesem Beschluss – und der letztlichen Einführung des Betreuungsgeldes – ist v. a. die Tatsache, dass die Policy kaum politische oder gesellschaftliche Advokaten hatte. Wie bereits bei Verabschiedung des Kinderförderungsgesetzes, blieb die CSU als parteipolitischer Vetospieler der Akteur, der „im Alleingang“ die Maßnahme gegen Widerstände durch brachte. Und die Widerstände im folgenden Verlauf waren durchaus beachtlich.
Streit um das Betreuungsgeld: Nach dem Koalitionsgipfel vom November 2011 stellten sich die CDU-Frauen mit einem Antrag gegen die Einführung des Betreuungsgeldes und forderten Alternativen (z. B. Nutzung des Geldes zur Rentenaufstockung von daheim erziehenden Eltern). Im Januar 2012 rügte die EU-Kommission die geplante Maßnahme: Sie gefährde das gemeinsame Ziel, die Frauenerwerbstätigkeit zu fördern. Mit diesem Argument stellten sich auch BDA und DGB gemeinsam gegen das Betreuungsgeld. Auch aus der Wissenschaft wurden Studienergebnisse gegen das Betreuungsgeld ins Spiel gebracht, so z. B. über einen durch die Friedrich-Ebert-Stiftung publizierten Beitrag, der auf die negativen Effekte der Leistung in Finnland, Norwegen und Schweden aufmerksam machte (Ellingsaeter 2012) – in allen drei Ländern werde das Betreuungsgeld v. a. von Müttern mit geringem Einkommen, niedrigem Bildungsniveau und Migrationshintergrund in Anspruch genommen. Auch zeige es negative Effekte auf die Beschäftigung von Müttern. Im April 2012 kündigten 23 CDU-Abgeordnete in einem offenen Brief an, im Bundestag gegen die Einführung des Betreuungsgeldes stimmen zu wollen – damit hätte die Mehrheit im Parlament gefehlt. Daraufhin legte auch die FDP nochmals nach und äußerte verfassungsrechtliche Bedenken bezüglich der Einführung eines Betreuungsgeldes: Der Bund sei ihrer Ansicht nach nicht zuständig, so die Vorsitzende des Familien-Ausschusses Sibylle Laurischk. Daran knüpfte die SPD an und verlautbarte, gegebenenfalls vor dem Bundesverfassungsgericht gegen das Betreuungsgeld zu klagen – sie drohte also gewissermaßen mit diesem institutionellen Vetospieler
Sachliche und sachfremde Kompromisse: Vor diesem Hintergrund wurden in den folgenden Wochen verschiedene Kompromisslösungen angeboten, die weniger inhaltlich motiviert als vielmehr dazu gedacht waren, verschiedene Lager innerhalb der Koalition zu befrieden. So schlug Schröder beispielsweise vor, die Auszahlung des Betreuungsgeldes an Besuche beim Kinderarzt zu knüpfen. Unionsfraktionschef Kauder kündigte parallele Verbesserungen bei den Rentenansprüchen von Eltern an. Einen dieser Kompromisse band Schröder letztlich in den Gesetzentwurf ein: Das Betreuungsgeld sollte nun auf die Sozialhilfe angerechnet werden, so dass Hartz IV-Empfänger die Leistung nicht erhielten – deren Kinder von frühkindlicher Bildung und Betreuung insbesondere profitieren könnten. Im Juni 2012 folgte der Kabinettsbeschluss, aber die erste Lesung zum Betreuungsgeld boykottierte die Opposition kreativ. Sie forderte eine Auszählung nach dem Hammelsprung, gleichzeitig blieben aber so viele Abgeordnete der Sitzung fern, dass die notwendige Beteiligung nicht gegeben war. Damit konnte das Betreuungsgeld nicht mehr, wie geplant, vor der Sommerpause beschlossen werden.
Nach der Sommerpause brach allerdings auch innerhalb der Union wieder ein Streit zum Betreuungsgeld auf und wurde um eine Kompromisslösung gerungen, die allerdings wiederum die FDP nicht akzeptieren wollte – die Lage der Regierungskoalition sei „schwierig und ernst“, so CSU-Chef Seehofer (SZ, 24.9.2012). Die Zustimmung des kleinen Koalitionspartners hatte ihren Preis (namentlich: die Abschaffung der Praxisgebühr), und im November 2012 wurde im Bundestag schließlich das Betreuungsgeld beschlossen, mit nur noch wenigen Abweichlern aus den eigenen Reihen
Das Betreuungsgeld als „Politikerbe“ und Instrument im Parteienwettbewerb: So stellte das im August 2013 eingeführte Betreuungsgeld eine deutliche „Kontinuität“ des vorherigen familialistischen Systems innerhalb des durch Elterngeld und KiföG vollzogenen Wandels auf. Die CSU bekämpfte bereits bei der Einführung des Elterngeldes die Kürzung des Bezugszeitraums von 24 auf 12 Monate; eine Verlängerung (z. B. mit Pauschalleistung) konnte sie hier jedoch nicht durchsetzen (Blum 2012). Das gelang gewissermaßen durch die „Hintertür“ beim KiföG und konnte, nach langem Streit, Ende 2012 schließlich festgezurrt werden. Entscheidend war v. a. die CSU als parteipolitischer Vetospieler, die den Fortbestand der schwarz-gelben Koalition an die Einführung des Betreuungsgeldes knüpfte. In Hinblick auf die CSU wird die Einführung des Betreuungsgeldes in diesem Sinne auch noch vergleichsweise gut durch die Parteiendifferenzhypothese erklärt. Auch hing die Einführung des Betreuungsgeldes mit veränderten personellen Konstellationen zusammen und hätte von der Leyen, als taktisch versierte Gegnerin der Maßnahme, die Einführung möglicherweise unterbunden. Vielleicht aber auch nicht: So interpretieren Henninger und von Wahl die „Rolle rückwärts“ in der Familienpolitik als „erfolgreiche Wahlkampfstrategie, da die Unionsparteien sowohl Aufgeschlossenheit für moderne als auch Anerkennung für konservative Familienbilder signalisierten“. Diese Strategie sei durch die veränderten Kräfteverhältnisse in der schwarz-gelben Koalition virulent geworden und habe sich, rückblickend, mit der Bundestagswahl 2013 letztlich als erfolgreich erwiesen
Finanz- und Wirtschaftskrise: Die Einführung des Betreuungsgeldes ist, wie auch der fortgesetzte Ausbau der U3-Betreuung, ein Hinweis darauf, dass der expansive Charakter der jüngeren deutschen Familienpolitik auch infolge der Finanz- und Wirtschaftskrise bestehen blieb. Die international-vergleichende Familienpolitik-Forschung hat sich in den letzten Jahren mit den familienpolitischen Reaktionen auf die Krise auseinandergesetzt, die in vielen Ländern einschneidend waren. In Deutschland wurden im Zuge des Wachstumsbeschleunigungsgesetzes 2009 Kinderfreibetrag und Kindergeld erhöht. Die spätere Austeritätspolitik war aufgrund der guten Entwicklung von Konjunktur und Arbeitsmarkt in Deutschland gering ausgeprägt – auch in der Familienpolitik. Zu nennen ist hier allerdings die Elterngeld-Reform von 2010 im Rahmen des Sparpakets, mit der die Einkommensersatzrate für mittlere und höhere Einkommen leicht gesenkt wurde (stufenweise auf bis zu 65%). Außerdem wird seither das Elterngeld auf staatliche Transferleistungen angerechnet, so dass Langzeitarbeitslose die Leistung nicht mehr erhalten
Antritt der Großen Koalition:Aus Sicht von Parteiendifferenz und Parteienkonkurrenz ist abschließend interessant, wie sich die erneute Regierungsbeteiligung der SPD seit Antritt der dritten Großen Koalition 2013 auf die weitere familienpolitische Entwicklung auswirkt. Das Betreuungsgeld wieder abzuschaffen, war einer der Hauptpunkte der SPD im Bundestagswahlkampf (nach Umfragen lehnte auch eine Mehrheit der Bevölkerung die Maßnahme ab). Letztlich akzeptierte sie in den Koalitionsverhandlungen jedoch vorerst zugunsten anderer Policies das Fortbestehen der Leistung.
Bundesverfassungsgericht kippt Betreuungsgeld: Jedoch hatte die SPD, wie oben beschrieben, bereits 2012 mit einer Klage gegen das Betreuungsgeld und damit mit dem Bundesverfassungsgericht als „Vetospieler“ gedroht. Der Hamburger Senat reichte eine entsprechende Normenkontrollklage ein. Im Juli 2015 urteilten die Richter tatsächlich, dass der Bund nicht die Kompetenz gehabt habe, das Betreuungsgeld einzuführen. Im September 2015 wurde beschlossen, dass die freiwerdenden Mittel aus der Abschaffung des Betreuungsgeldes an die Länder fließen, die entsprechend über deren Verwendung entscheiden können: So soll das Betreuungsgeld etwa in Bayern weiter gezahlt werden, nachdem die CSU als größter Verfechter der Leistung gelten kann. Andere Länder kündigten an, die Mittel im Zuge der „Flüchtlingskrise“ im Bildungsbereich einzusetzen, z.B. für zusätzliche Betreuungsplätze oder Sprachförderung
Elterngeld Plus als Fortsetzung des Wandels: Beschlossen wurde von der Großen Koalition ein „Elterngeld Plus“, das es Eltern erleichtern soll, Elterngeldbezug und Teilzeitarbeit miteinander zu kombinieren. Im Juni 2014 brachte das Bundeskabinett den Gesetzentwurf von Familienministerin Manuela Schwesig (SPD) auf den Weg: Während das klassische Elterngeld lediglich das entfallene Teileinkommen ersetzt (s. o.), kann von Teilzeit arbeitenden Eltern seit Juli 2015 ElterngeldPlus bezogen werden, das für den doppelten Zeitraum gezahlt wird und dabei maximal die Hälfte des Elterngeldes beträgt, das den Beziehern ohne Teilzeiteinkommen zustünde. Eltern können nun zwischen dem klassischen Elterngeld und ElterngeldPlus wählen bzw. beide Varianten auch kombinieren. Zugleich wurde ein sogenannter Partnerschaftsbonus eingeführt, durch den die Eltern, wenn sie beide Elterngeld beziehen und dies über die Dauer von zumindest vier Monaten jeweils mit einer Teilzeittätigkeit von 25 bis 30 Stunden pro Woche verbinden, vier zusätzliche Monate Elterngeld Plus erhalten. Das Elterngeld Plus fokussiert also darauf, einen frühen Wiedereinstieg in Teilzeit noch während des Elterngeld-Bezugs attraktiver zu gestalten und gleichzeitig eine partnerschaftliche Teilung von Erwerbs- und Sorgearbeit zwischen den Eltern zu fördern. Es setzt damit den transformativ-radikalen Reformkurs der deutschen Familienpolitik fort
Aus heutiger Sicht mag es angesichts der weitreichenden Reformen, die in vielen sozialpolitischen Bereichen seit den 2000er Jahren durchgeführt wurden, überraschen, dass diese noch um die Jahrtausendwende als wenig wahrscheinlich eingeschätzt wurden. Nicht nur die öffentliche Diskussion wurde zu diesem Zeitpunkt vom Begriff „Reformstau“ dominiert (Wort des Jahres 1997), auch in der Policy-Forschung und der vergleichenden Sozialpolitikanalyse kam man für Deutschland zu ähnlichen Bewertungen, die in Esping-Andersens Bilanzierung der „eingefrorenen“ wohlfahrtsstaatlichen Landschaften ihren Ausdruck fanden. Umso stärker wurde angesichts der weitreichenden familienpolitischen Reformen hervorgehoben, dass viele traditionelle politikfeldanalytische Ansätze diesbezüglich keine zufriedenstellenden Erklärungen lieferten, z. B. Parteiendifferenzhypothese oder Machtressourcenansatz. So können z. B. Familieninteressen als höchst fragmentiert gelten und weisen kein hohes Konfliktpotential auf
Refokussierung auf „neue soziale Risiken“: Diese Interessensschwäche ändert sich allerdings ein Stück weit mit der Refokussierung von Familienpolitik auf „neue soziale Risiken“, wie v. a. die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, die – vor dem Hintergrund des demografischen Wandels und des Fachkräftemangels – zu einer höheren Bedeutung von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerorganisationen als familienpolitische Akteure beigetragen hat. Dass in „reifen Wohlfahrtsstaaten“ die Parteien anstelle der Wählerinteressen v. a. die Interessen der gesellschaftlich durchsetzungsstärksten Gruppen im Blick hätten, wurde zwar von Paul Pierson mit seiner „New Politics of the Welfare State“- These für den Bereich von „blame avoidance“ formuliert. Die Einführung des Elterngeldes und der Ausbau der U3-Betreuung entsprach jedoch als „credit-claiming“-Policy ebenfalls starken Sozialpartnerinteressen und arbeitsmarktpolitischen Motiven.
Wandel in der Vereinbarkeitspolitik, aber Kontinuität in anderen Bereichen: Der Fokus auf die Vereinbarkeitspolitik und den transformativ-radikalen Wandel der deutschen Familienpolitik v. a. in diesem Bereich darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich andere familienpolitische Bereiche durch eine sehr viel höhere Kontinuität und durch Politikerbe geprägt sehen. Das gilt in besonderem Maße für das Ehegattensplitting (immerhin einen der größten Ausgabenposten der ehe- und familienbezogenen Leistungen), das trotz der seit Jahrzehnten regelmäßig diskutierten Reformvorschläge – sei es in Richtung eines Individualsteuersystems, etwa wie in den skandinavischen Ländern, sei es in Richtung eines Familiensplittings, wie etwa in Frankreich – nahezu unverändert geblieben ist.118 Mit den jüngsten Entwicklungen rückt die Frage der weiteren Re-Formulierung der deutschen Familienpolitik bzw. der Vereinbarkeitspolitik im Speziellen in den Fokus. Wie die kontinuierliche Restrukturierung von Erziehungsurlaub bzw. Elternzeit, von Erziehungsgeld bzw. Elterngeld und Betreuungsgeld zeigt, sind Problemwahrnehmung und Sichtweise auf bestimmte Policy-Instrumente höchst zeit- und situationsspezifisch und einem ständigen Wandel unterlegen, so dass auch Problemlösungsprozesse „prinzipiell nie zum Abschluss kommen und Probleme immer nur für eine gewisse Zeit“ gelöst werden können
Rentenversicherung – die Anfänge: Was wir heute in Deutschland als Gesetzliche Rentenversicherung (GRV) kennen, wurde 1889 vom Reichstag beschlossen und zwei Jahre später in Kraft gesetzt. Aber noch für mehrere Jahrzehnte stand nicht das Ziel im Vordergrund, älteren Menschen einen auskömmlichen Ruhestand zu ermöglichen. Vielmehr war die Sozialversicherungsrente gedacht als ein Zuschuss zur Lebensführung, der vorrangig mittels eigener Ersparnisse, Betriebsrenten, (verringerter) Einkünfte aus fortgeführter Erwerbstätigkeit, Naturalwirtschaft und nicht zuletzt durch die Unterstützung im Familienverband gesichert werden sollte. Die bescheidenen Leistungen richteten sich auch nicht vorrangig auf die Absicherung im Alter. Vielmehr ging es um das typische Lohnarbeiterrisiko der Invalidität, in dessen Folge den (Industrie-) Arbeitern die absolute Verarmung drohte, wenn – was damals häufig vorkam – bereits ab dem 40. Lebensjahr die Marktgängigkeit ihrer Arbeitskraft nachließ oder gänzlich verloren ging.
Diese Priorität kommt auch in der gesetzlichen Grundlage der heutigen Rentenversicherung zum Ausdruck. Es wurde als „Gesetz betreffend die Invaliditäts- und Altersversicherung“ (IAVG) verabschiedet, und tatsächlich dominierten noch bis in die 1960er Jahre hinein unter den Neubewilligungen die Erwerbsunfähigkeits- gegenüber den Altersrenten.119 „Alter“ stellte zunächst nur einen Unterfall von „Invalidität“ dar, denn eine Altersrente wurde erst ab dem 70. (nach 1916: dem 65.) Lebensjahr gewährt – ein Lebensalter, das damals nur von wenigen Versicherten erreicht wurde –, und ihr Bezug setzte eine wesentlich längere Versicherungszeit voraus (nach 1900: 24 Jahre; im Fall von Invalidität bis heute unverändert lediglich fünf Jahre; Hentschel 1983: 24-25).120 Die Festlegung eines chronologischen Lebensalters für den Anspruch auf eine Altersrente war demzufolge Ausdruck einer generalisierten Invaliditätsvermutung, dessen Erreichen bedeutete, dass auf eine medizinische Überprüfung der tatsächlichen Arbeitsfähigkeit verzichtet wurde. Allerdings war in der Definition einer Grenze für das Recht auf eine Altersrente die Perspektive eines tatsächlichen Ruhestands angelegt
Angestellte und Beamte: Einen arbeitsfreien Ruhestand bei Aufrechterhaltung des gewohnten Lebensstandards genossen im 19. Jahrhundert nur die Beamten. Seit 1882 konnten sich preußische Beamte nach 40 Dienstjahren und Vollendung des 65. Lebensjahres mit einem Ruhegehalt in Höhe von 75 % ihrer letzten Bezüge vom aktiven Dienst entpflichten lassen (Ehmer 1990: 40-44). Diese großzügige Regelung galt bis vor gut zwei Jahrzehnten für alle Beamten und stellte einen Bezugspunkt für Forderungen anderer Berufsgruppen nach vergleichbaren Rentenleistungen dar, so unter anderem von den Angestellten, die von der Arbeiterrentenversicherung nur zum Teil (bei Einkommen unter 2.000 RM p. a.) erfasst wurden. Für sie wurde 1911 eine eigenständige Angestelltenversicherung geschaffen, die sie gegenüber den Arbeitern privilegierte. Denn den Angestellten wurden von Anfang an eine Altersrente bereits ab dem 65. Lebensjahr und höhere, an den Pensionen der Beamten orientierte Leistungen versprochen, wofür ihnen und ihren Arbeitgebern allerdings auch ein deutlich höherer Beitragssatz abverlangt wurde. So wurde sozialrechtlich eine ständische Differenzierung der Erwerbstätigen begründet, nämlich in Beamte, Angestellte und Arbeiter sowie die (prinzipiell) nicht schutzbedürftigen Selbstständigen. Erst die Organisationsreform von 2005 beseitigte die administrative Trennung nach Arbeitern und Angestellten unter dem Dach der Deutschen Rentenversicherung Bund.
Dreigeteilter Lebenslauf: Wenngleich in der Formationsphase der Rentenversicherung das soziale Elend der invaliden und alten Arbeiter nur sehr begrenzt gelindert wurde und von sozialer Sicherung kaum die Rede sein konnte, war es doch so, dass – wie Hentschel (1983: 21) feststellt – „gegen das Nichts an sozialem Schutz, das ihm voranging, (…) es ein bedeutender sozialer Fortschritt (war), dessen Wohltat die Betroffenen trotz vielfältig-berechtigter Kritik auch anerkannten und den man im Ausland rühmte“. Verglichen mit dieser Anfangsphase hat sich die soziale Situation der Leistungsempfänger grundlegend gewandelt: Weniger körperlich belastende Arbeitsbedingungen und ein generell verbesserter Gesundheitszustand der Bevölkerung haben dazu geführt, dass zunehmend die Arbeitsfähigkeit bis zum Erreichen der aktuell geltenden Regelaltersgrenze erhalten bleibt. Dem schließt sich als Folge steigender Restlebenserwartung eine immer längere Ruhestandsphase bei guter Gesundheit bis zum 75. oder 80. Lebensjahr an, denn das Risiko der Gebrechlichkeit – abzulesen am Anteil der auf Pflege angewiesenen Menschen – steigt erst ab dem 80. Lebensjahr deutlich an (Statistisches Bundesamt 2013: 9). Dafür, dass es überhaupt zu einer Universalisierung des Ruhestandes als letzter Phase eines dreigeteilten Lebenslaufs (nach Kindheit/Jugend und Erwerbsphase) kam, war die Expansion des Alterssicherungssystems entscheidend, das für die große Mehrheit älterer Menschen (noch) Rentenleistungen auf einem Niveau generiert, welches den im Erwerbsleben erreichten sozialen Status absichert und regelmäßig kein zusätzliches Arbeitseinkommen nach Erreichen des Rentenalters erfordert.
Funktionen des Alterssicherungssystems: Alterssicherungssysteme erfüllen regelmäßig vier Funktionen: Sie dienen zuallererst der Vermeidung von Armut im Alter (und bei Invalidität). In einigen Ländern ist die staatliche Verantwortung auf diese Funktion beschränkt, wenn lediglich eine bedürftigkeitsgeprüfte oder universelle Grundrente ab einem bestimmten Lebensalter gezahlt wird. Dies ist beispielsweise in den Niederlanden, Dänemark oder Australien der Fall. Die Einkommensverstetigung im Lebenslauf stellt ein weiteres Ziel dar. Es soll ein starker Einkommensabfall nach Eintritt in den Ruhestand vermieden und die Aufrechterhaltung des bisherigen Lebensstandards ermöglicht werden (Lohnersatzfunktion). Alterssicherungssysteme versichern drittens gegen so genannte biometrische Risiken: Langlebigkeit, Tod und Invalidität. Wegen des Risikos, die durchschnittliche Lebenserwartung zu übertreffen, ist es bedeutsam, dass die Leistung bis zum Ableben als „Leibrente“ und nicht nur für einen bestimmten Zeitraum gezahlt wird. Hinterbliebenenrenten hingegen versichern gegen das Risiko des (vorzeitigen) Todes des Versicherten bzw. Rentenempfängers, und Invalidenrenten kommen zum Tragen, wenn der Risikotatbestand der Erwerbsunfähigkeit vor Erreichen einer festgelegten Regelaltersgrenze eintritt. Schließlich erfüllen Alterssicherungssysteme regelmäßig eine Umverteilungsfunktion, die dem Ziel der Armutsvermeidung eng verbunden ist. Umverteilung in der vertikalen Dimension kann bedeuten, ehemaligen Geringverdienern eine höhere Lohnersatzrate zuzugestehen als Versicherten mit höherem Verdienst (so z. B. in den USA). Horizontale Umverteilung findet statt, wenn bestimmte Tatbestände zu einer höheren Rentenleistung führen, wie z. B. Kindererziehung oder die unverschuldete Nicht-Zahlung von Beiträgen aus eigenem Verdienst wegen Kriegs-/Wehrdienst, Krankheit oder Arbeitslosigkeit.
public-private mix: Armutsvermeidung und Umverteilung sind nur staatlich zu organisieren, da die dafür erforderlichen Mittel durch Steuern oder Zwangsbeiträge aufgebracht werden müssen. Grundsätzlich jedoch können alle vier Zielsetzungen von einer öffentlichen Einrichtung erfüllt werden, wie dies beispielsweise von der GRV in Deutschland ab 1957 geleistet wurde, als massiv erhöhte Leistungen sowohl Lebensstandardsicherung nach einem „erfüllten“ Arbeitsleben gewährleisteten als auch das Problem der Altersarmut ganz wesentlich reduzierten. Im internationalen Vergleich finden sich aber auch nach Funktionen getrennte öffentliche Einrichtungen (Grundrenten- und verdienstbezogenes System oder die Zuordnung des Erwerbsunfähigkeitsrisikos zum Krankenversicherungssystem) sowie eine geplante oder naturwüchsige Arbeitsteilung zwischen staatlichen und privaten Einrichtungen, wobei die privaten Komponenten eines Alterssicherungssystems sich auf die Einkommensverstetigung oder die Absicherung biometrischer Risiken richten und regelmäßig keine Umverteilung über den versicherungstechnischen Risikoausgleich hinaus kennen. Kapital- und Risikolebensversicherungen, Berufsunfähigkeitsversicherungen und nicht zuletzt von den Arbeitgebern (mit-) finanzierte Betriebsrenten sind die entsprechenden Instrumente. Faktisch zeichnen sich alle Alterssicherungssysteme durch einen „public-private mix“ aus, wobei das Mischungsverhältnis im Ländervergleich stark variiert und sich auch im Zeitablauf verändert, die Einkommensungleichheit im Alter aber regelmäßig geringer ist, wenn die staatliche Komponente einen größeren Anteil am Gesamteinkommen ausmacht.
Aufbau der Alterssicherung in Deutschland
3-Säulen-Modell: Dieser „public-private mix“ wird häufig in einem 3-Säulen-Modell abgebildet. Dessen Urheberschaft reklamieren die Schweizer für sich, aber auch in anderen Ländern – so in den USA Ende der 1940er Jahre als „dreibeiniger Hocker“ (three-legged stool) – wurde das Konzept zur Beschreibung eines aus mehreren Komponenten bestehenden Alterssicherungssystems verwendet . Als „Mehr-Säulen-System“ (multi-pillar system) fand es nachhaltig Eingang in die internationale Rentendiskussion durch eine Studie der Weltbank (World Bank 1994). Die Weltbank-Initiative richtete sich vor allem an lateinamerikanische Länder sowie die Transformations-Staaten in Mittel- und Osteuropa. Propagiert wurde eine bestimmte Ausgestaltung des Alterssicherungssystems, dessen Einführung und Umsetzung die Weltbank mit Krediten und organisatorischen Hilfestellungen vorantrieb. Das Modell entfaltete aber auch politische Wirkungen in den entwickelten westlichen Wohlfahrtsstaaten, insbesondere was den Bedeutungszuwachs privater Komponenten und des Kapitaldeckungsverfahrens im Gesamtsystem angeht (Kap. 9.2.3).
In der Bundesrepublik Deutschland war das Drei-Säulen-Konzept stets ein Topos, entsprach aber nur bedingt der Realität. Gemeint war damit die GRV als erste Säule (Regelsystem), die aufstockenden Leistungen aus der betrieblichen Altersversorgung für abhängig Beschäftigte des privaten Sektors und des öffentlichen Dienstes als zweite Säule (Zusatzsystem), abgerundet durch die individuelle private Vorsorge als dritte Säule (Ergänzungssystem). Seit Inkrafttreten der Rentenreform 1957 bestimmt bis heute allerdings eindeutig die erste Säule die finanzielle Situation der älteren Menschen, denn die zweite und dritte Säule sind nicht flächendeckend verbreitet
Struktur des Alterssicherungssystems: 125 Jahre nach der Einführung des IAVG stellt sich die Struktur des deutschen Alterssicherungssystems recht komplex dar (Abb. 9.1). Das ist typisch für konservativ-korporatistische Wohlfahrtsstaaten (wie z. B. auch Frankreich, Italien oder Belgien), die zumeist nach Berufsgruppen und Erwerbsstatus gegliederte Einrichtungen schufen. Demgegenüber sind in liberalen (USA, Großbritannien) und sozialdemokratischen Wohlfahrtsstaaten (Schweden, Norwegen) nahezu alle Erwerbstätigen einschließlich der Selbstständigen in ein öffentliches System der Regelsicherung einbezogen. In Abbildung 9.1 findet sich das „3-Säulen-Konzept“ wieder, wobei es sich – wie auch im Weltbank-Modell – tatsächlich eher um „Schichten“ als um „Säulen“ handelt. Die Übersicht zeigt auch eine vierte, allerdings zuunterst liegende Schicht, nämlich die 2003 eingeführte „Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung“ (vgl. Kap. 4). Sie stellt eine gruppenspezifische Sozialhilfeleistung für bedürftige Menschen jenseits des Rentenalters sowie dauerhaft voll erwerbsgeminderte Personen dar. Im Jahr 2014 belief sich der monatliche Anspruch einer Einzelperson (einschließlich durchschnittlicher Unterkunfts- und Heizkosten) auf etwa 700 Euro
Die in jeder Hinsicht bei weitem bedeutendste Einrichtung der Alterssicherung ist die GRV, und innerhalb des in die GRV einbezogenen Personenkreises stellen ausgerechnet die „Sonstige(n)“ die größte Gruppe dar. Das waren Ende 2013 etwa 28,9 Millionen abhängig Beschäftigte. Zusätzlich waren in der GRV 283.000 Selbstständige pflichtversichert und entrichteten Beiträge, und knapp 2,6 Millionen Empfänger von Sozialversicherungsleistungen (u. a. Krankengeld, Arbeitslosengeld I) erwerben Rentenansprüche als so genannte. „Anrechnungszeitversicherte“. Die GRV erfasst damit insgesamt etwa 81 % aller Erwerbspersonen in Deutschland. Verschiedene Sondersysteme decken einen großen Teil der übrigen Erwerbstätigen ab.
Alterssicherung der Selbstständigen: So wurden für nicht in der GRV pflichtversicherte Selbstständige eigenständige Einrichtungen geschaffen, z. B. im Jahr 1957 die Altershilfe für die Landwirte, und seit jeher sind die in den so genannten „Freien Berufen“ tätigen Anwälte, Apotheker, Ärzte, Architekten usw. verpflichtet, Beiträge zur Alterssicherung an ihre jeweiligen berufsständischen Versorgungswerke zu leisten. Es gibt jedoch weiterhin eine Mehrheit unter den Selbstständigen, die nicht – wie Handwerker (ab 1938) oder Künstler (ab 1983) – verpflichtet sind, für das Alter vorzusorgen. Sie können freiwillig der GRV beitreten, (ausschließlich) privat vorsorgen oder es auch ganz unterlassen. Geschätzt wird, dass 75 bis 80 % der insgesamt 4,3 Millionen Selbstständigen nicht zur Altersvorsorge verpflichtet sind
Beamtenpensionen: Die Beamtenversorgung (die auch Soldaten, Richter, Kirchenbeamte und Abgeordnete einschließt) stellt das größte Sondersystem neben der GRV dar. Erfasst werden dadurch etwa 5 % aller Erwerbstätigen. Beamte leisten keine Beiträge für ihre Altersversorgung. Ihr Anspruch auf eine steuerfinanzierte Pension ergibt sich aus der lebenslangen Anstellung beim Dienstherrn und dessen Alimentationspflicht. Die Höhe der Brutto-Pension bemisst sich nach dem aktuellen Wert der Bezüge der Besoldungsgruppe, die sie zwei Jahre vor der Pensionierung innehatten. Nach 40 Dienstjahren wird (derzeit) ein Höchstversorgungssatz von 71,75 % erreicht. Dieses Sicherungsniveau ist damit deutlich höher als für Versicherte der GRV mit gleichlanger Beschäftigungsdauer, weil die Beamtenpensionen „bi-funktional“ sind, d. h. Leistungen einer betrieblichen Zusatzversorgung gewissermaßen schon „eingebaut“ sind. Ähnliches gilt für die im Bergbau Beschäftigten (Knappschaft), für die ebenfalls vor 1889 öffentliche Alterssicherungseinrichtungen etabliert wurden (so 1854 in Preußen). Ihre Arbeitgeber zahlen in diesem Zweig der Rentenversicherung einen erhöhten Beitragssatz (2016: 15,45 %; regulär: je 9,35 % für Arbeitgeber und Arbeitnehmer), und sie erhalten gegenüber den Beschäftigten in anderen Wirtschaftszweigen eine um ein Drittel höhere Altersrente
Betriebliche Altersversorgung: Einrichtungen der betrieblichen Altersversorgung in Deutschland sind älter als die GRV (Ehmer 1990: 60f.). Vornehmlich waren es Großunternehmen, die Betriebsrenten in Aussicht stellten, um die Rekrutierung von Arbeitskräften zu erleichtern, deren Arbeitsmotivation zu fördern und sie an das Unternehmen zu binden. Seit Mitte der 1970er Jahre war der Anteil der Unternehmen in der Privatwirtschaft mit Betriebsrentenplänen bzw. der Prozentsatz der Beschäftigten mit einer entsprechenden Anwartschaft rückläufig. Zu einer Trendumkehr kam es nach 2001, als mit der in dem Jahr verabschiedeten Rentenreform die Möglichkeiten erweitert wurden, steuer- und sozialversicherungsfrei Teile des Bruttoarbeitsentgelts (maximal 4 % und höchstens bis zur Beitragsbemessungsgrenze) in einen Beitrag zu einem Betriebsrentenplan umzuwandeln. Binnen zehn Jahren stieg der Anteil der Betriebe in der Privatwirtschaft, die eine zusätzliche Altersversorgung anbieten, von 31 auf 50 % – geschuldet vor allem einer größeren Verbreitung unter den kleineren Betrieben. Deshalb fiel der Zuwachs der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten mit einer Anwartschaft aus dem Zusatzrentensystem deutlich geringer aus: Deren Anteil stieg von 49 % im Jahr 2001 auf knapp 60 % in 2013
Die 3. Säule: Die ergänzende individuelle Altersvorsorge, die „3. Säule“, ist seit 2002 zweigeteilt. Neben die traditionellen Instrumente individueller Vorsorge (wie Lebensversicherungen oder Ersparnisse, auch in Form von Wohneigentum) ist die steuerlich geförderte zertifizierte private Alterssicherung getreten, die als „Riester-Rente“ bekannt ist (dazu Kap. 9.2.3 und 9.3.2). Sie soll das sinkende Leistungsniveau der umlagefinanzierten GRV kompensieren.
Ein wohlfahrtsstaatliches Programm wie die GRV lässt sich recht vollständig beschreiben, wenn vier institutionelle Variablen betrachtet werden: (1) die Art des Zugangs zu Leistungen, (2) die Struktur der Leistungen, (3) der Finanzierungsmechanismus, (4) die Management-Struktur bzw. „governance“
Leistungszugang: (1) Der Zugang zu Leistungen der GRV und denen anderer Sozialversicherungszweige wird nicht qua Staatsbürgerrecht gewährt, sondern prinzipiell nur nach vorheriger Zahlung von Beiträgen aus versicherungspflichtigem Entgelt. Denn Vorleistungsabhängigkeit ist ein Merkmal jeder Sozialversicherung, genau wie die Zuerkennung von Leistungen unabhängig von der individuellen Bedürftigkeit. Der tatsächliche Anspruch auf eine Alters-, Erwerbsminderungs- oder Hinterbliebenenrente entsteht jedoch erst nach einer Mindestbeitragszeit („allgemeine Wartezeit“) von fünf Jahren.
Verdienstbezogene Renten: (2) Die Leistungen der GRV sind nicht einheitlich wie in Grundrentensystemen. Vielmehr bemisst sich die Höhe der individuellen Rente nach der Dauer der versicherungspflichtigen Beschäftigung und dem in jedem Versicherungsjahr erzielten Verdienst. Ihre Berechnung hat sich seit 1957 (Kap. 9.2.1) nicht grundsätzlich geändert und geschieht – stark vereinfacht – folgendermaßen: Es wird für jedes einzelne Jahr des gesamten Versicherungslebens der individuelle Verdienst in Beziehung gesetzt zum durchschnittlichen Bruttoarbeitsentgelt aller Versicherten und so die persönlichen Entgeltpunkte (pEP) ermittelt. Ein unterdurchschnittlicher Verdienst ergibt also weniger als einen pEP in einem bestimmten Jahr, ein über dem Durchschnitt liegender mehr als einen pEP. 124 Die Entgeltpunkte aus allen Vercherungsjahren werden addiert und mit dem aktuellen Rentenwert (ARW) multipliziert. Der ARW ist eine Rechengröße, die die relative Rentenhöhe des Versicherten in einen Monatsbetrag der Rente umwandelt. Im Jahr 2014 lag er bei 28,61 Euro in Westdeutschland, so dass sich für Neu- wie Bestandsrentner nach 45 Versicherungsjahren und einem stets erzielten Durchschnittsverdienst eine Brutto-Standardrente von 1.287 Euro ergab. Der ARW wird normalerweise jährlich entsprechend einer Formel angepasst, in die als zentraler Faktor die allgemeine Lohnentwicklung im Vorjahr eingeht. Dies macht die Lohnbezogenheit der Rente aus.
Äquivalenzprinzip und Umverteilung: Die GRV kombiniert das Versicherungs- und das Solidaritätsprinzip (vgl. Kap. 2.2). Das „soziale“ Element zeigt sich in diversen Mechanismen interpersoneller Umverteilung; der Versicherungscharakter kommt in der Äquivalenzbeziehung zwischen Beiträgen und Leistungen zum Ausdruck und materialisiert sich in intertemporaler Umverteilung. Die strikt an der Höhe des versicherungspflichtigen Einkommens orientierte Beitragserhebung ohne individuelle Risikoabschätzung (einheitlicher Beitragssatz) macht die Absicherung auch für Personen mit einem überdurchschnittlichen Invaliditätsrisiko und solche Versicherte erschwinglich, die im Todesfall (Ehe-) Partner oder (Halb-) Waisen hinterlassen.Umverteilung innerhalb des Kollektivs der Versicherten mit dem Ziel angemessener Renten findet auch dadurch statt, dass für Zeiten, in denen ohne eigenes Verschulden ein geringer oder gar kein Verdienst erzielt wird, höhere oder überhaupt Rentenansprüche generiert werden.
Schließlich schlägt sich die Übernahme gesamtgesellschaftlich „nützlicher“ Aufgaben, wie Kindererziehung, Versorgung von Pflegebedürftigen oder Wehr-/Zivildienst, in höheren Anwartschaften nieder. Die darauf zurückzuführenden Rentenbestandteile werden (oder sollten zumindest) durch steuerfinanzierte Zuschüsse an die Rentenversicherung gedeckt (werden).
Dagegen wird durch das Äquivalenzprinzip dem Grundsatz der Leistungsgerechtigkeit Rechnung getragen. Die starke Verankerung der Leistungsgerechtigkeit als Verteilungsregel in der Bevölkerung und die Erwartung, nach einer durchgängigen Erwerbskarriere im Alter eine Rente zu erhalten, die den Lebensstandard sichert und von (zusätzlichen) bedürftigkeitsgeprüften Leistungen unabhängig zu sein, hat in der Vergangenheit wesentlich zur „moralischen Anspruchslosigkeit“ und damit der Legitimation der Rentenversicherung beigetragen
Rentenfinanzierung: (3) Die Finanzierung staatlicher Rentenprogramme erfolgt üblicherweise nach dem Umlageverfahren, das auch als (fiktiver) Generationenvertrag bekannt ist: Die eingehenden Beiträge (oder Steuereinnahmen) der aktuell erwerbstätigen Generation werden unmittelbar für die Zahlung der Renten an die jetzige Altengeneration verwandt. Daneben verfügen die meisten Rentenversicherungen über teils erhebliche Kapitalreserven, die in einigen Ländern die Rentenzahlungen für mehrere Jahre auch ohne laufende Beitragseinnahmen sicherstellen könnten (z. B. in Kanada oder Schweden). In Deutschland ist die sogenannte „Nachhaltigkeitsrücklage“ der GRV dagegen sehr gering; sie soll lediglich 1,5 Monatsausgaben betragen. Sieht man von solchen mehr oder minder großen Reserven ab, dann sind im Umlageverfahren vier Größen entscheidend, die sich vereinfacht in folgender Gleichung ausdrücken lassen:
b = (R : B) * (P : W) * (1 – S)
Der Beitragssatz (b) ergibt sich aus der Multiplikation von drei Faktoren, nämlich dem Verhältnis der Rentenbezieher (R) zu den beitragspflichtig Beschäftigten (B), der durchschnittlichen Rentenhöhe (P) zum Durchschnittslohn (W) und den Zuwendungen an die Rentenversicherung aus Steuermitteln (S). Diese vier Größen stellen zugleich die „Stellschrauben“ dar, mittels derer das System an demografische, arbeitsmarktbedingte oder andere Herausforderungen angepasst werden kann. So kann der Beitragssatz, bei dem die Zahlung der Renten in einem Jahr gewährleistet ist, die abhängige Variable bilden und entsprechend erhöht oder gesenkt werden. Auf der anderen Seite der Gleichung lassen sich drei Anpassungsoptionen ausmachen: Die Rentner-Beitragszahler-Relation (R/B) kann durch eine Verschiebung des Renteneintrittsalters oder die Erhöhung der Zahl beitragspflichtig Beschäftigter verändert werden. Die Variation des Rentenniveaus (P/W) ist ein weiterer Ansatzpunkt, und schließlich ist es möglich, den steuerfinanzierten Ausgabenanteil anzuheben oder zu senken.
Bundeszuschüsse an die GRV: Anders als die übrigen Sozialversicherungszweige war die GRV von Anfang an nicht ausschließlich beitragsfinanziert, sondern verbuchte zusätzlich Reichs- bzw. Bundeszuschüsse auf der Einnahmenseite (S). Ursprünglich sollte damit ein monatlicher Grundbetrag, der bis 1957 in jeder Rentenzahlung enthalten war, abgedeckt werden; später war die dominante Zielsetzung, damit Rentenbestandteile, die nicht durch Beitragszahlungen aus eigenem Verdienst erworben worden waren, zu finanzieren (so z. B. die Berücksichtigung von Zeiten des Kriegsdienstes und der Gefangenschaft). Der Anteil des steuerfinanzierten Zuschusses an den Einnahmen der GRV schwankte im Zeitablauf recht stark, war aber noch nie so hoch wie in den letzten Jahren, ging es in der Rentenpolitik der letzten 25 Jahre doch ganz wesentlich darum, auf diese Weise den Anstieg des Beitragssatzes zu begrenzen. Im Jahr 2014 wurde fast ein Drittel der Ausgaben der GRV durch Zahlungen des Bundes gesichert. Zu diesen steuerfinanzierten Einnahmen gehörte bis 1999 auch die Erstattung von Renten(anteilen), die durch die Anrechnung von Kindererziehungszeiten bedingt waren. Seitdem zahlt der Bund für diese gesamtgesellschaftliche Aufgabe jährlich Beiträge entsprechend der Zahl der unter 3-jährigen Kinder
Akteure in der Rentenpolitik: (4) Wie in den anderen Sozialversicherungszweigen als Körperschaften öffentlichen Rechts gilt ebenfalls in der GRV das Prinzip der Selbstverwaltung als Korrelat der Beitragsfinanzierung. Die Bedeutung der Arbeitgeber und der Versicherten in den Organen der GRV (Vorstand, Vertreterversammlung) hat sich jedoch deutlich gewandelt. Immer detailliertere gesetzliche Vorgaben und Kompetenzverlagerungen zu Gunsten der Aufsichtsbehörden haben ihren Gestaltungsspielraum im Rahmen des Selbstverwaltungskorporatismus stetig eingeengt. Jedoch verschafft die formale Beteiligung den Arbeitgebern und den Gewerkschaften (als maßgebliche Repräsentanten der Versicherteninteressen) eine nach wie vor privilegierte Position in der Auseinandersetzung um die Fortentwicklung der GRV, die beide Seiten – zumindest in der Vergangenheit – „gleichermaßen als ‚ihre’ Institution“ begriffen. Neben den Verbänden von Kapital und Arbeit spielten in dem bis Ende der 1990er Jahre sehr geschlossenen rentenpolitischen Netzwerk nur wenige weitere Akteure eine entscheidende Rolle – so die Rentenversicherungsträger selbst, das Bundesarbeitsministerium, Experten aus den Bundestagsfraktionen und (über den Sozialbeirat als Beratungsgremium) ausgewählte Wissenschaftler. Sie bildeten die durch die 1957er Reform begründete „große (…) Koalition der Pfadabhängigen“ (Conrad 1998: 112). Diese Akteure konnten in der politischen Auseinandersetzung eine interpretative Hegemonie dergestalt behaupten, dass notwendige Anpassungen der GRV sich im Rahmen des sehr dehnbaren Sozialversicherungsparadigmas bewerkstelligen lassen würden – durch Justierung der relevanten Parameter oder Instrumentenvariation, oder in den Begriffen von Hall (1993): mittels Veränderungen erster und zweiter Ordnung. Die Deutungshoheit der etwa 30 „Rentenmänner“ ging mit dem Wandel von der Renten- zur Alterssicherungspolitik – manifestiert in der Rentenreform von 2001 (Kap. 9.2.3) – verloren
Zur Erklärung der formativen Phase der GRV tragen der sozioökonomische und der Machtressourcen-Ansatz nur wenig bei (vgl. Kap. 1.2.1 und 1.2.2). Die tatsächliche ökonomische und politische Situation in den 1880er Jahren im Deutschen Reich steht gar im Widerspruch zu diesen Theorieansätzen: Obwohl „Pionier“ bei der Entwicklung moderner Sozialpolitik, war das Kaiserreich damals nicht die am stärksten industrialisierte Nation, und das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf lag in dieser Dekade u. a. in Australien, Großbritannien und Belgien deutlich über dem in Deutschland. Mit dem Machtressourcen-Ansatz wenig vereinbar ist die Tatsache, dass die – wenngleich minimalen – sozialen Bürgerrechte in Deutschland vor den politischen Bürgerrechten etabliert wurden.
Demokratische Rechte waren weniger weit entwickelt als in anderen Ländern zu dem Zeitpunkt, als sie ihre ersten Sozialgesetze auf den Weg brachten (Schmidt 2005: 181-191). Es ging dem autoritären Regime zweifellos darum, die wachsende Zahl von Industriearbeitern an das Reich zu binden und die erstarkende Arbeiterbewegung niederzuhalten. Die Schaffung der GRV (und zuvor der Kranken- und Unfallversicherung) war aber eben auch Staatspolitik im Sinne einer „inneren Reichsgründung“. So ging es darum, die Kommunen von der Armenhilfe zu entlasten und Aufgaben für eine reichseinheitliche Erledigung mit entsprechender Finanzierung für sich zu reklamieren (Tennstedt 1997). Das IAVG wurde von der Ministerialbürokratie ausgearbeitet (beeinflusst durch Ideen der Kirchen sowie der Wissenschaft), nach langwierigen Auseinandersetzungen mit den Ländern und im Reichstag mit einer Stimmenmehrheit von 185 zu 165 verabschiedet und umgesetzt durch eine effektive Staatsbürokratie
Die formative Phase der GRV war mit der Errichtung der Angestelltenversicherung im Jahr 1911 abgeschlossen. Ihr folgte eine Phase weitgehender Stagnation, die – sieht man von der Einführung der Krankenversicherung für Rentner im Kriegsjahr 1941 ab – bis in die Mitte der 1950er Jahre andauerte (Hentschel 1983: 119-144). Erst mit der Reform von 1957 fand ein entscheidender Entwicklungsschub statt. Es wird sich im folgenden Durchgang durch die Entwicklung bis 2014 zeigen, dass zur Erklärung von Kontinuität und Wandel der Alterssicherung insbesondere an zwei Theorieansätze angeknüpft werden kann, nämlich einmal an den der Pfadabhängigkeit bezüglich der Dauerhaftigkeit grundlegender Prinzipien der GRV (vgl. Kap. 1.2.6) und zum anderen an solche Ansätze, die sich im Rahmen der Parteiendifferenz-Hypothese (vgl. Kap. 1.2.3) bewegen. Parteienkonkurrenz und Parteienkonsens zweier sozialstaatsfreundlicher Volksparteien waren wesentliche Faktoren im Hinblick auf den Wandel der GRV nach 1945.
Perspektiven:
Die Betrachtung der Rentenversicherungspolitik der letzten 60 Jahre hat gezeigt, dass eine Expansion in drei Dimensionen stattfand. Einmal erhöhte sich der Kreis der in die staatliche Alterssicherung einbezogenen Erwerbstätigen. Weiterhin vergrößerte sich das Leistungsspektrum durch vielfältigere (flexible) Zugangsmöglichkeiten zu einer Altersrente vor Erreichen der Regelaltersgrenze. Schließlich wurde die Generosität der Rentenleistung bis zu einem Wendepunkt gesteigert, ab dem eine in ihrer kumulativen Wirkung bedeutsame Serie von inkrementellen Veränderungen zu beobachten war, die als „creeping disentitlement“ bezeichnet werden kann (van Kersbergen 2000: 28f.): Beginnend mit der Rentenreform 1992 wurden die Beitrags-Leistungs-Beziehung gestärkt und somit die rentenversicherungsinterne Umverteilung (und damit das individuell erreichbare Sicherungsniveau) reduziert.
Der Übergang zur Alterssicherungspolitik im Jahr 2001 bedeutet, dass die Rentenbezieher nicht mehr in vollem Umfang an der (Netto-) Lohnentwicklung teilhaben, also das (Eck-)Rentenniveau sinkt. Beide Entwicklungen haben zur Konsequenz, dass die GRV ihre „strukturelle Armutsfestigkeit“ wie ihre lebensstandardsichernde Funktion verloren hat (Dedring et al. 2010), während die Leistungsfähigkeit der aufgewerteten 2. und 3. Säule derzeit ganz offensichtlich zu begrenzt ist, um die wachsende Lücke zu schließen.
Dazu merkt die OECD – einer allzu „sozialstaatsfreundlichen“ Orientierung gewiss unverdächtig – in ihren letzten Deutschland-Berichten an (OECD 2014b: 118f.; 2016: 45, 111), dass die Lohnersatzquote für die künftigen Rentner niedriger liegen wird als in den allermeisten anderen OECD-Staaten und insbesondere Niedriglohn- und Teilzeitbeschäftigte wegen der strikten Verdienstbezogenheit der GRV-Leistungen einem hohen Altersarmutsrisiko ausgesetzt sind. Kritisiert werden aber auch die 2014 beschlossenen Maßnahmen (Kap. 9.2.4), da sie zum einen die Frühverrentung (wieder) attraktiver machen, zum anderen die verbesserte Anrechnung von Kindererziehungszeiten nicht sachgerecht finanziert ist und sie drittens das Risiko derAltersarmut nicht vermindern. Stattdessen werden steuerfinanzierte Maßnahmen zur Reduzierung des Altersarmutsrisikos gefordert sowie solche, die zu höheren Rentenansprüchen führen, z. B. durch Verringerung der Verdienstungleichheit, Ermöglichung möglichst lückenloser Vollzeitbeschäftigung, Verlängerung des Erwerbslebens und eine Vorsorgepflicht für alle Selbstständigen
Die OECD nimmt damit Themen auf, die auch von den nationalen Akteuren als emergente Probleme vorangegangener Problemlösungen wahrgenommen werden und die erneut zu einer politisch aktiven Phase auf dem Feld der Alterssicherung geführt haben. Im Frühjahr 2016 sind nachdrückliche Reformbestrebungen in mehreren Teilbereichen zu verzeichnen: In der Koalitionsvereinbarung von CDU/CSU und SPD vom Dezember 2013 taucht die ein halbes Jahr zuvor gescheiterte Zuschussrente als „solidarische Lebensleistungsrente“ wieder auf, die – wenngleich auch zwischen den Koalitionspartnern nach wie vor umstritten – vermutlich demnächst das Stadium parlamentarischer Beratungen erreichen wird. Der langjährige Vorsitzende des Sozialbeirats (1986-2000), Winfried Schmähl (2012: 312f.), fürchtete, dass eine solche, explizit auf die Folgen des sinkenden Rentenniveaus gerichtete Einrichtung die GRV weiter zu ihrem ursprünglichen Ziel, lediglich einen „Zuschuss zum Lebensunterhalt“ zu leisten, zurückführen wird – also Armutsvermeidung statt Lohnersat
Dass es dagegen zu einem „Besinnen auf die Grundgedanken der Rentenreform von 1957“, einer radikalen Umkehr in der Alterssicherungspolitik kommen wird, wie ihn neben Schmähl vor allem die Gewerkschaften und DIE LINKE fordern,156 erscheint derzeit jedoch fraglich. Statt eines erneuten Pfadwechsels in Richtung auf das hergebrachte Ein-Säulen-Modell dominieren in der Diskussion solche Reformvorschläge, die die Effektivität und Effizienz der 2. und 3. Säule steigern sollen. Der Anteil der Beschäftigten mit Ansprüchen aus der privaten geförderten Altersvorsorge und/oder aus der betrieblichen Altersversorgung stagniert seit Anfang dieses Jahrzehnts und hat bislang am wenigsten diejenigen erreicht, die der einen oder anderen Variante ergänzender Vorsorge am ehesten bedürfen. Denn gerade sie sind es, die aufgrund ihrer Erwerbskarriere mit nur einer niedrigen GRV-Rente rechnen können. Die schwarz-rote Bundesregierung plant, die Verbreitung der prinzipiell kostengünstigen Betriebsrente durch Tarifverträge („Sozialpartner-Modell“) zu fördern. Die OECD (2016: 45, 111-3) empfiehlt, zur Steigerung der Bereitschaft der Beschäftigten freiwillig an einem Betriebsrentenplan teilzunehmen, verhaltensökonomische Erkenntnisse zu nutzen, nämlich das so genannte „automatic enrolment“, das in verschiedenen Ländern bereits erfolgreich praktiziert wird. Dabei werden die Beiträge für eine Betriebsrente automatisch vom Arbeitgeber abgeführt, es sei denn, der Beteiligung wird vom Beschäftigten ausdrücklich widersprochen. Die Entwicklung der Riester-Verträge hat u. a. wegen der hohen, die reale Rendite stark schmälernden Verwaltungskosten an Dynamik verloren. Eine (bislang) sehr eingeschränkte Vergleichbarkeit der Produkte und ihrer Kosten sowie der nur schwach ausgebildete Wettbewerb unter den Anbietern sind dafür verantwortlich). Als Alternative zur Riester-Rente wurde Ende 2015 von drei Ministern der schwarz-grünen Landesregierung Hessens die „Deutschland-Rente“ ins Spiel gebracht, eine Vorsorge-Variante der Betriebsrente, die auf das „automatic enrolment“ setzt, keine spezielle Förderung (wie bei Riester-Verträgen) vorsieht, das angesammelte Kapital in einem zentralen Rentenfonds ohne eigene Gewinnabsichten anlegt und die Arbeitgeber davon entlastet, sich aktiv um das Angebot eines Betriebsrentenplans für seine Beschäftigten zu kümmern. Ob ein solches kostengünstiges Standardprodukt eine Chance erhält, zur Verbreitung freiwilliger zusätzlicher Altersvorsorge entscheidend beizutragen, lässt sich im April 2016 nicht beantworten. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt erscheint lediglich sicher, dass Korrekturen an den „zu weit“ gegangenen Reformen des Alterssicherungssystems der letzten Dekade bevorstehen
„alt gleich arm“: In den Jahren bis zur Gründung der Bundesrepublik und darüber hinaus war eine „Rentenangst“ weit verbreitet, vor allem unter Arbeitern und ihren Witwen. Denn die Durchschnittsrente der Arbeiterrentenversicherung betrug 1956 nur etwa 25 % des Nettoverdienstes (Angestellte erreichten immerhin ca. 40 % – Alber 1989: 183), so dass oftmals „alt“ mit „arm“ gleichzusetzen war. Zudem waren in dieser Zeit weder die soziale Marktwirtschaft noch die (neue) demokratische Ordnung vollauf gefestigt und von der Bevölkerung akzeptiert. Umso wichtiger war es deshalb, dass auch die älteren Menschen an den Wohlstandszuwächsen des Wirtschaftswunders partizipierten und die demokratischen Institutionen ihre Fähigkeit demonstrierten, tatsächlich soziale Sicherheit zu gewährleisten.
Lebensstandardsicherung – der Durchbruch: Beides gelang, weil das bis dahin statische System der GRV „dynamisiert“ wurde. Die Rente sollte – was einer neuen Zielbestimmung gleichkam – künftig nicht mehr nur einen Zuschuss zum Lebensunterhalt bieten, sondern tatsächlich einen Lohnersatz leisten, und zwar über die gesamte Rentenlauf zeit hinweg. Dazu wurde die Rentenberechnung geändert, die bislang an die nicht-dynamisierten Nominallöhne des früheren Erwerbslebens anknüpfte. Nach der neuen Rentenformel wurde über die gesamte Versicherungsdauer hinweg das individuelle Bruttoarbeitsentgelt zum Durchschnittsentgelt aller Versicherten in Beziehung gesetzt und so die relative Lohnposition (oder: „Lebensleistung“) in der Rentenhöhe widergespiegelt (sogenannte „Teilhabeäquivalenz“) (Kap. 9.1.2). Zusätzliche Ansprüche wurden für Zeiten des Wehrdienstes, der Arbeitslosigkeit und Krankheit sowie der Ausbildung erworben. Die Anpassung der laufenden Renten folgte fortan der vorangegangenen Bruttolohnentwicklung, so dass die Altenbevölkerung ebenfalls am ökonomischen Fortschritt teilhatte
Rentenreform 1957: Resultate: Unmittelbares Resultat dieser Strukturreform war eine Erhöhung der laufenden Versichertenrenten im Durchschnitt um 59 % (Arbeiter) bzw. 65 % (Angestellte) im April 1957 (Hentschel 1983: 167f.), so dass das statistische Artefakt des „Eckrentners“ (45 Versicherungsjahre und stets den Durchschnittsverdienst erzielt) auf einen Ersatz seines früheren Nettoverdienstes von etwa 66 % bauen konnte. Altersarmut wurde infolgedessen zu einem weitaus weniger drängenden Problem. Möglich wurde diese enorme Steigerung durch den (allerdings erst 1969 endgültig vollzogenen) Übergang zum Umlageverfahren: Der Beitragssatz stieg von 11 % (1956) auf 14 % (1957), und der Bundeszuschuss wurde auf ein Drittel der GRV-Ausgaben angehoben. Die Aufwertung der Altersrente zum echten Lohnersatz nach einem „erfüllten Arbeitsleben“ war zugleich die Geburtsstunde des Ein-Säulen-Modells.
Das erhöhte Leistungsniveau reduzierte die Notwendigkeit, nach weiteren Einkünften zu streben und ermöglichte der großen Mehrheit der Versicherten den arbeitsfreien Ruhestand für einen immer längeren Zeitraum. Denn während zuvor ein Mix aus verschiedenen Alterseinkünften eher auf beengte finanzielle Verhältnisse hindeutete, war nach 1957 eine vielfältigere Zusammensetzung des Alterseinkommens ein Indikator für Wohlstand. Ergänzende Betriebsrenten, Ansprüche aus Lebensversicherungsverträgen, Zinseinkünfte oder Hauseigentum waren (und sind) vorrangig bei den besser gestellten Schichten der Erwerbstätigen konzentriert. Insoweit hat die Reform – jedenfalls bis zur Jahrtausendwende – die Ausdehnung der betrieblichen und privaten Vorsorge gebremst, abzulesen an dem nach wie vor hohen Anteil von knapp 80 % öffentlicher Rentenleistungen (inklusive der Beamtenversorgung) an den gesamten Alterseinkünften
Parteienwettbewerb und Rentenkonsens: Die Reform von 1957 begründete einen (bis 1996 währenden) Rentenkonsens zwischen der CDU/CSU und der damals oppositionellen SPD. Das Gesetz wurde letztlich mit den Stimmen beider Parteien angenommen. Dennoch war der Parteienwettbewerb zentral (und blieb es auch bei nachfolgenden Reformen). Nachdem die SPD von – selbst innerparteilich nicht mehrheitsfähigen – Forderungen nach einer am britischen Vorbild angelehnten, weitgehend steuerfinanzierten Einheitsversicherung Abschied genommen hatte, preschte sie 1956 mit einem Gesetzentwurf vor. Damit forderte sie die Adenauer-Regierung heraus, einen eigenen, nicht grundsätzlich abweichenden Entwurf vorzulegen, der generöser ausfiel, als man ursprünglich plante und der innerhalb der Regierung (insbesondere vom Wirtschafts- sowie Finanzminister) sowie von außen (Bundesbank und private Versicherungswirtschaft) heftig kritisiert wurde. Bundeskanzler Adenauer setzte sich jedoch gegen alle Widerstände durch, und nicht zuletzt wegen der in der Bevölkerung höchst populären Rentenreform erreichte die CDU/CSU bei der Bundestagswahl im September 1957 zum ersten und bislang einzigen Mal die absolute Mehrheit
Die zweite große Rentenreform: Ein zweiter Expansionsschub erfolgte im Jahr 1972 im Vorfeld der vorgezogenen Bundestagswahl, als die SPD/FDP-Koalition bereits ihre Mehrheit im Parlament verloren hatte. Angesichts der damals herrschenden Überbeschäftigung sowie hoher wirtschaftlicher Wachstumsraten und der damit verbundenen Erwartung steigender Rücklagen in der Rentenkasse glaubten die Politiker aller Parteien, ausgabenträchtige Reformmaßnahmen finanzieren zu können. Mit Blick auf die anstehende Wahl und die jeweils begünstigte Klientel begaben sich die drei Parteien in einen „hemmungslosen“ Überbietungswettbewerb. Ein zentrales Element des in der Schlussabstimmung ohne Gegenstimme angenommenen Reformpakets war die „Rente nach Mindesteinkommen“. Sie bedeutete, dass aus niedrigen Arbeitsentgelten resultierende Ansprüche langjährig Versicherter (mindestens 25 Jahre) heraufgestuft wurden – so als hätten die Geringverdiener in den Jahren vor 1973 75 % des Durchschnittsverdienstes erzielt. Diese Leistungsverbesserung, die auch den Bestandsrentnern zugute kam, wurde von der SPD wie der CDU/CSU befürwortet, während die „flexible Altersgrenze“ ein Kernanliegen der SPD war.
Dadurch wurde Beschäftigten mit mindestens 35 Versicherungsjahren die Möglichkeit eröffnet, eine abschlagfreie Altersrente bereits nach Vollendung des 63. Lebensjahres zu beziehen (anerkannte Schwerbehinderte letztlich schon ab dem 60. Lebensjahr). Sie verzichteten dann lediglich auf höhere Ansprüche aus weiteren Beitragsjahren. Ein zentrales Anliegen der CDU/CSU war das Vorziehen der jährlichen Rentenanpassung um ein halbes Jahr vom 1. Januar auf den 1. Juli, erstmals im Jahr 1972.129 Die FDP dagegen machte sich erfolgreich für die Öffnung der GRV für Selbstständige stark. Ihnen wurde zugestanden, zu sehr günstigen Bedingungen und zum Teil bis 1956 zurück freiwillig Beiträge nachzuentrichten und damit Rentenansprüche zu erwerben, die die GRV noch auf Jahrzehnte hinaus belasteten. Einzig die Anrechnung von Kindererziehungszeiten („Baby-Jahr“), eine Forderung der CDU/CSU, fiel im Streit der Parteien um das Reformgesetz durch (Hockerts 1992: 927f.) und wurde erst 1986 beschlossen (s. u.).
Beginn der Frühverrentungspolitik: Die durch die Ölkrise vom Herbst 1973 ausgelöste Rezession ließ die Vorausberechnungen zur Finanzierbarkeit der 1972er Reform Makulatur werden. Man hatte sich „reich gerechnet“, aber tatsächlich sprudelten die Einnahmen wegen des abrupten Endes der Vollbeschäftigung im Jahr 1974 weit weniger stark als erwartet, während die Ausgaben rapide anstiegen. Dazu trug auch die kurz zuvor eingeführte „flexible Altersgrenze“ bei, die sich von der ursprünglichen Intention her vornehmlich an „ausgelaugte“, aber nicht vollständig erwerbsunfähige Beschäftigte richtete.
Faktisch entwickelte sie sich zu einem zentralen Instrument der Personalanpassung und Belegschaftsverjüngung in den Betrieben. Im Verein mit der weiteren Möglichkeit, nach einjähriger Arbeitslosigkeit ebenfalls ohne Abschläge ab dem 60. Lebensjahr eine Altersrente beantragen zu können130, wurde eine Frühverrentungskultur begründet, die erst in den 1990er Jahren wieder politisch umzukehren versucht wurde. Gerechtfertigt wurde die „sozialverträgliche“, da finanziell attraktive Ausgliederung älterer Beschäftigter mit dem Argument, auf diese Weise jüngeren Arbeitskräften den Arbeitsplatz zu erhalten oder ihnen Beschäftigung zu verschaffen. Tatsächlich lässt sich auch im internationalen Vergleich kein Zusammenhang derart nachweisen, dass dort, wo die Beschäftigungsquote der Älteren niedrig, diejenige der Jüngeren hoch ist. Vielmehr zeigt sich eher ein positiver Zusammenhang
Die Finanzierungsprobleme der GRV ab dem Jahr 1975 wurden vor allem auf der Ausgabenseite angegangen, um aus beschäftigungspolitischen Gründen möglichst Beitragssatzerhöhungen zu vermeiden. So wurde mehrmals willkürlich die Rentenanpassungsformel geändert, der Anpassungstermin verschoben, und es wurden zwischen 1983 und 1991 schrittweise die Rentner zur Zahlung der Hälfte des Beitrags zur Krankenversicherung herangezogen, den die GRV bis dahin zur Gänze getragen hatte. Im Ergebnis lief das Drehen an den vorhandenen Stellschrauben darauf hinaus, dass nach 1975 die Entwicklung der Renten weitgehend dem Anstieg der Nettoverdienste folgte. Die in dem Zeitraum bis zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten erfolgten Einschränkungen im Bereich der GRV (und auch in anderen Zweigen der sozialen Sicherung) wurden von Offe (1991) als „smooth consolidation“ bezeichnet, da die Kürzungsmaßnahmen nicht in den Kern der Leistungssysteme eingriffen und die (partei-) politischen Konflikte kaum prinzipieller Art waren, sondern eher einen „pflichtschuldigen“ Protest der jeweiligen Opposition ausdrückten.
Reform der Hinterbliebenenrente: Auslöser einer kleinen, aber dennoch Weichen stellenden Rentenreform im Jahr 1985 war ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts aus dem Jahr 1975. Das Gericht verlangte, die Ungleichbehandlung von Witwen und Witwern zu beenden: Überlebende Ehefrauen hatten einen unbedingten Anspruch auf die Hinterbliebenenrente, Witwer dagegen nur, wenn der Unterhalt der Familie überwiegend durch die verstorbene Ehefrau bestritten worden war. Eine kostenneutrale Lösung wurde angestrebt und mit dem sogenannten „Anrechnungs-Modell“ realisiert. Seit 1986 gilt für Witwen wie Witwer gleichermaßen, dass eigene Einkünfte (anfangs nur eigene Versichertenrenten und Arbeitsentgelte, heute nahezu alle Einkommensarten) oberhalb eines Freibetrags zu 40 % angerechnet werden und somit den Anspruch auf eine Hinterbliebenenrente mindern oder ganz ruhen lassen.
Gegenüber dem status quo ante bedeutete die Neuregelung grundsätzlich eine Schlechterstellung von Frauen bzw. Witwen, was die damalige Familienministerin Rita Süssmuth (CDU) veranlasste, gewissermaßen als Kompensation das 1972 noch gescheiterte „Baby-Jahr“ einzufordern – mit Erfolg. Einem Elternteil (im Regelfall: der Mutter) wurde ab 1986 pro Kind ein Jahr Kindererziehungszeit rentensteigernd angerechnet (in Höhe von 75 % des Durchschnittsverdienstes aller Versicherten) sowie bei der allgemeinen Wartezeit berücksichtigt. Allerdings verminderte nach der ab 1986 geltenden Regelung ein versicherungspflichtiges Entgelt während des ersten Lebensjahres des Kindes die Ansprüche. Begünstigt wurden auch alle Mütter (sehr selten: Väter), die bereits eine Rente bezogen und deren Leistung entsprechend erhöht wurde
Kindererziehungszeiten: Das Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeiten-Gesetz von 1985 – wiederum im Konsens der Regierungsparteien und der SPD verabschiedet – stellt eine Innovation in dreierlei Hinsicht dar: Zum einen wird der Anspruch auf eine Sozialversicherungsleistung – hier: die von der Höhe der Versichertenrente des Verstorbenen abgeleitete Hinterbliebenenrente – von einer Einkommensprüfung abhängig gemacht. Einkommens- bzw. bedürftigkeitsgeprüfte Leistungen finden sich üblicherweise nur außerhalb des Sozialversicherungssystems. Zum anderen wird in der GRV erstmals neben der Erwerbsarbeit auch Arbeit, die gesellschaftlich nützlich, aber nicht entgolten ist, als Leistung anerkannt.
Die Anrechnung von Zeiten der Kindererziehung (und ab 1995 auch von Pflegezeiten) im Rentenrecht stellt damit das einzig expansive Element der Rentenpolitik nach der 1972er Reform dar, dessen Generosität sogar schrittweise verstärkt wurde, als andere Neuregelungen bereits auf Ausgabenstabilisierung zielten (Abb. 9.2): Für Geburten ab 1992 gelten drei Jahre als mit Pflichtbeiträgen belegte Zeiten. Seit 1999 mindern Ansprüche aus versicherungspflichtigen Entgelten nicht mehr die Anrechnung von Kindererziehungszeiten. Stattdessen werden beide Ansprüche bis maximal zur Beitragsbemessungsgrenze addiert. Ab Juli 2000 wird ein fiktives Bruttoentgelt von 100 statt 75 % des Durchschnittsverdienstes unterstellt, und schließlich wurden 2014 die Kindererziehungszeiten für Eltern von vor 1992 geborenen Kindern von einem auf zwei Jahre ausgedehnt
Die dritte Innovation liegt darin, dass es ganz wesentlich das Bundesverfassungsgericht war, das mit mehreren Urteilen zwischen 1992 und 2001 die großzügigere Berücksichtigung von Erziehungsleistungen im Rentenrecht für den Gesetzgeber verbindlich angeordnet hat, fußend auf dem Argument, dass das Aufziehen von Kindern die für den Fortbestand der GRV notwendige nächste Generation von Beitragszahlern sichert und daher honoriert werden muss (Lenze 2001). Deshalb kam im politisch-institutionellen System der Bundesrepublik in diesem Zeitraum dem Bundesverfassungsgericht eine bedeutende Rolle als Veto-Player zu, das den Gestaltungsspielraum der etablierten Akteure im Feld der Alterssicherung erheblich einengte.
Die dritte große Rentenreform: Die nach 1957 und 1972 dritte „große“ Rentenreform wurde am 9. November 1989 im Bundestag verabschiedet und trat 1992 in Kraft. Sie stellte eine sehr frühzeitige Reaktion auf die fortschreitende Alterung der Gesellschaft dar – nur in den USA wurden eher (1983) Maßnahmen ergriffen, um die Rentenversicherung langfristig finanziell zu stabilisieren. Die Vorbereitungen begannen bereits 1985 mit der Einsetzung einer Reformkommission aus Vertretern der Sozialpartner und der Verwaltung der Rentenversicherungsträger. Eine von der Kommission in Auftrag gegebene Studie beim PROGNOS-Institut kam zu dem Ergebnis, dass sich ohne Reformen der Beitragssatz zur GRV von damals gut 18 % bis 2030 auf mindestens 36 % verdoppeln würde oder – was eine gleichermaßen inakzeptable Alternative darstellte – die Renten nur noch halb so hoch ausfallen könnten.
Die Reformvorschläge der Kommission, die eine Verteilung der aus der demografischen Entwicklung erwachsenden Belastungen auf die (künftigen) Rentner, die Beitragszahler und den Staat vorsahen, bildeten die Grundlage für das nachfolgende Gesetzgebungsverfahren (vgl. dazu Heine 1990). Dieser Prozess war vom Bemühen getragen, die Reform im Konsens zu beschließen; und tatsächlich wurde ein interfraktioneller Gesetzentwurf von CDU/CSU, FDP und SPD verabschiedet (gegen die Stimmen der Grünen), wobei das Paket bereits vorher die weitgehende Zustimmung der Sozialpartner und der Rentenversicherungsträger erfahren hatte. Dieser „depolitisierte“ Prozess ist umso bemerkenswerter, als es – anders als 1957 und 1972 – nicht um Leistungsverbesserungen, sondern hauptsächlich um Kürzungen ging. Zu erklären ist dies einmal damit, dass allseits der Anspruch geteilt wurde, vor 2010 keine weitergehenden Reformüberlegungen anstellen zu müssen, das Reformpaket also über mehrere Legislaturperioden hinweg „halten“ sollte. Zum anderen handelt es sich bei der Rentenpolitik um eine sehr komplexe, oftmals „technische“ Materie, die es nahe legte, die Konsenssuche und Entscheidungsprozesse den Experten aus den Parteien, dem zuständigen Ministerium, den Verbänden und den Rentenversicherungsträgern zu überantworten. Wegen der Verlagerung des relevanten Geschehens in andere als parlamentarische Verhandlungsgremien sprechen Nullmeier/Rüb (1993: 220-223) von einer De-Parlamentarisierung des Gesetzgebungsprozesses
Rentenreform 1992 – die Inhalte: Zentrale Inhalte der Rentenreform 1992 (RRG92) waren die folgenden (vgl. Abb. 9.2): Die jährliche Anpassung der Renten sollte fortan explizit der Nettolohnentwicklung folgen und nicht mehr der Veränderung der Bruttoverdienste. Die Erhöhungen fielen also niedriger aus, wenn die Beschäftigten höhere Sozialversicherungsbeiträge und Steuern zu zahlen hatten. Das Standardrentenniveau (nach 45 Versicherungsjahren mit jeweils dem Durchschnittsverdienst) würde auf diese Weise bei 70 % des Nettoverdienstes stabilisiert werden. Weiterhin sollte langfristig jeder Erstbezug einer Altersrente vor Erreichen des 65. Lebensjahres mit Abschlägen von 0,3 % pro Monat belegt werden. An diesem Punkt insistierte die SPD erfolgreich auf einen späteren Beginn der Altersgrenzenanhebung (2001 statt 1995). Die Anrechnung von Zeiten der Schul- und Hochschulausbildung wurde von maximal 13 auf sieben Jahre reduziert, und nur vier statt bisher fünf der ersten Versicherungsjahre wurden mit 90 % des Durchschnittseinkommens aller Versicherten bewertet.
Leistungsverbesserungen resultierten aus der verlängerten Anrechnung von Kindererziehungszeiten (s. o.), und die rechnerische Anhebung von Pflichtbeiträgen auf 75 % des Durchschnittsverdienstes wurde auf den Zeitraum 1973 bis 1991 ausgedehnt (allerdings nur für Geringverdiener mit 35 Versicherungsjahren und maximal um den Faktor 1,5). Der Finanzierungsbeitrag des Bundes wurde erhöht (auf nahezu 20 % der Ausgaben) und nachfolgend an die Entwicklung der Bruttoverdienste sowie des Beitragssatzes gekoppelt. Auch die Beitragszahler sollten belastet werden: Erwartet wurde ein Anstieg des Beitragssatzes bis 2030 auf 26,9 %, also etwa zehn Prozentpunkte weniger als ohne die Reform.
Reformen nach der Vereinigung: Als die Reform 1992 in Kraft trat, hatten sich die Voraussetzungen durch die Vereinigung der beiden deutschen Staaten massiv verändert. Das westdeutsche Rentensystem war mit dem konsensuell verabschiedeten Rentenüberleitungsgesetz (1991) auf die ostdeutschen Länder übertragen worden (wenngleich eine vollständige Angleichung immer noch aussteht).134 Finanzierungsprobleme, denen mit einem höheren Beitragssatz begegnet wurde, resultierten daraus, dass die GRV einen Gutteil der Vereinigungslasten zu schultern hatte. Denn der dramatische Arbeitsplatzverlust in Ostdeutschland, gleichbedeutend mit weniger Beitragszahlern, wurde durch Frühverrentungen in bislang nicht gekanntem Ausmaß abgefedert. Gleichzeitig rückten in der aufkommenden Debatte um den internationalen Standortwettbewerb die steigenden Lohnnebenkosten in den Vordergrund (1996 war erstmals der Gesamtbeitragssatz zur Sozialversicherung über die Schwelle von 40 % geklettert).
Mit dem Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz von 1996 (WFG) sollte die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft gestärkt werden. Neben arbeitsrechtlichen Neuregelungen enthielt dieses Omnibus-Gesetz auch Einschränkungen im Bereich der Arbeitsmarktpolitik und der GRV, die die SPD veranlassten, den „Rentenkonsens“ aufzukündigen. Sie stimmte dem Gesetz nicht zu, das u. a. ein beschleunigtes Auslaufen der Regelungen für einen abschlagfreien Renteneintritt vor dem 65. Lebensjahr vorsah sowie weitere Einschränkungen bei der Bewertung von Ausbildungszeiten, ersten Berufsjahren und Phasen der Arbeitslosigkeit ohne Leistungsbezug
Demografischer Faktor: Ein weiterer Schritt wurde von der Bundesregierung gleich darauf ins Auge gefasst und 1997 (wie schon zuvor das WFG) gegen die Stimmen der Oppositionsparteien und den Protest der Gewerkschaften durchgesetzt: Das Rentenreformgesetz 1999 (RRG99) enthielt als Kernstück das neue Instrument des „demografischen Faktors“ – eine strategische Ergänzung der Rentenformel, die die Ruheständler in begrenztem Umfang für die längere Laufzeit ihrer Renten aufgrund gesunkener Mortalität in Form eines sinkenden Rentenniveaus in die Pflicht zu nehmen vorsah. Weitere wesentliche Elemente des RRG99 waren eine erhöhte Finanzierungsbeteiligung des Bundes sowie Einschnitte bei der Absicherung des Invaliditätsrisikos
Das Ende des Rentenkonsenses: Statt wie erhofft mit Inkrafttreten des RRG92 eine bis ca. 2010 währende Ruhe an der „Rentenfront“ zu schaffen, waren die Gesetzgebungen der Jahre 1996 und 1997 (sowie das damit einhergehende Ende des „Rentenkonsenses“ zwischen CDU/CSU und SPD) Ausdruck einer veränderten, aber nicht allseits geteilten Situationsdeutung gegenüber dem Jahr 1989, wie folgendes Zitat aus der Rede der FDP-Abgeordneten Gisela Babel während der ersten Lesung des RRG99 belegt: „Die damalige Debatte ließ keine Kritik an einem Rentenversicherungsbeitrag von 26 Prozent oder 28 Prozent im Jahr 2030 erkennen. Das hat man damals schlankweg für akzeptabel gehalten. Wir halten es heute nicht mehr für akzeptabel.“ (Deutscher Bundestag 1997b: 16780f.) Überdies wurde in dem Gesetzentwurf erstmals die Frage der Generationengerechtigkeit thematisiert und das – wie vorgesehen – sinkende Rentenniveau damit gerechtfertigt, die künftigen Generationen von Beitragszahlern nicht überfordern zu wollen (Deutscher Bundestag 1997a: 47). Unter Einschluss der Wirkungen des RRG99 wurde für das Jahr 2030 ein GRV-Beitragssatz von 23,5 % prognostiziert
Ein Paradigmenwechsel naht: Selbst unter Berücksichtigung der höheren Bundesbeteiligung an den GRV-Ausgaben muss eine Verminderung des für 2030 prognostizierten Beitragssatzes um 13 Prozentpunkte als Folge der zwischen 1989 und 2007 beschlossenen parametrischen Reformen deutliche Spuren im künftigen Leistungsgefüge und bei den tatsächlichen Rentenhöhen hinterlassen – inscherten intransparenten Einschnitte hatten dennoch nicht die von der Regierung erhofften Effekte: Die künftig niedrigeren Renten wurden nicht als „sicherer“ wahrgenommen, und verloren gegangenes Vertrauen in die Verlässlichkeit der GRV kehrte nicht zurück. Diese Tatsache und die Erkenntnis, dass sich Beitragssatzstabilisierung und Lebensstandardsicherung zunehmend ausschlossen, es also mit Reformen im System nicht mehr getan sein würde, stellten zwei Faktoren dar, die eine „Erschöpfung“ des Sozialversicherungsparadigmas als neue Situationsdeutung nahe legten (Bönker 2005). Die neue Deutung setzte Lernprozesse in Gang, an deren Ende (im Jahr 2001) eine Reform „beyond incrementalism“ stand, mit welcher der hergebrachte Pfad des Ein-Säulen-Modells verlassen wurde
Rentenreformgesetz 1992 (RRG92) – beschlossen: 1989; wirksam: 1992ff
Rentenanpassung entsprechend der Entwicklung der Nettoentgelte des Vorjahres
- Erhöhung des Bundeszuschusses auf ~ 20 % der Rentenausgaben (dauerhaft)
- Auslaufen aller Möglichkeiten zum Rentenbezug ohne Abschläge vor Erreichen des 65. Lebensjahres ab 2001 (Ausnahme: Schwerbehinderte); Abschläge: 0,3 % pro Monat
- Anrechnung von Ausbildungszeiten (Schule, Hochschule) max. 7 statt 13 Jahre zu höchstens 75% des Ø Einkommens aller Versicherten
- Aufwertung der ersten 4 Jahre versicherungspflichtiger Beschäftigung auf 90 % des Ø Einkommens aller Versicherten (bisher: 5 Jahre)
- Anrechnung von Kindererziehungszeiten für Geburten nach 1991: 3 Jahre zu 75 % des Ø Einkommens aller Versicherten (bisher: 1 Jahr)
- Aufwertung von Pflichtbeiträgen der Jahre 1973 bis 1991 auf 75 % des Ø Einkommens aller Versicherten, wenn 35 Versicherungsjahre
Wachstums- und Beschäftigungsförderungsgesetz (WBG) – beschlossen: 1996; wirksam: 1997ff:
beschleunigtes Auslaufen abschlagfreien Rentenbezugs vor dem 65. Lebensjahr: Dezember 2004 statt Dezember 2012
- Anrechnung von Ausbildungszeiten nach dem 17. Lebensjahr reduziert von max. 7 auf 3 Jahre
- Aufwertung der ersten Pflichtversicherungsjahre: 3 statt 4 Jahre zu max. 75 % des Durchschnittsverdienstes (bisher: 90 %)
- keine Anrechnung von Zeiten der Krankheit und Arbeitslosigkeit ohne Leistungsbezug; Bezieher von Arbeitslosenhilfe: Ansprüche auf der Basis der gezahlten Leistung
Rentenreformgesetz 1999 (RRG99) – beschlossen: 1997; geplante Umsetzung: 1999ff:
Anhebung des Rentenalters für Schwerbehinderte von 60 auf 63 Jahre ab 2000 (mit Abschlägen bei Rentenbezug zwischen 60. und 63. Lebensjahr)
- ungünstigere Berechnung von Erwerbsminderungsrenten und verschärfte Voraussetzungen für die Gewährung von EM-Renten
- Berücksichtigung der steigenden Lebenserwartung im Alter 65 bei der Berechnung von Neu- und Anpassung von Bestandsrenten („demografischer Faktor“); Absenkung Netto-Standardrentenniveau nicht unter 64 %
- Entgeltpunkte aus Kindererziehungszeiten und Beschäftigung können bis zur Betragsbemessungsgrenze addiert werden; Bewertung von Kindererziehungszeiten angehoben von 75 % auf 100 % des Ø Entgelts
Altersvermögens- und Altersvermögensergänzungsgesetz (RRG2001) – beschlossen: 2001; wirksam: 2002ff:
Renten(anpassungs)formel berücksichtigt Veränderungen des Beitragssatzes zur GRV und zur geförderten zertifizierten privaten Vorsorge (Wirkung: sinkendes Rentenniveau)
- umfassendere Anrechnung von eigenem Einkommen auf Hinterbliebenenrenten; höhere Hinterbliebenenrente, wenn Kinder erzogen
- Aufwertung von niedrigen Arbeitsentgelten wenn gleichzeitig Kind(er) zwischen 3 und 10 Jahren erzogen werden; alternativ für nicht-erwerbstätige Eltern: zusätzliche Ansprüche, wenn 2 oder mehr Kinder im Alter von unter 10 Jahren erzogen werden
- steuerfinanzierte Grundsicherung für Personen oberhalb der Regelaltersgrenze und vollständig Erwerbsgeminderte; bedürftigkeitsgeprüft, aber ohne Rückgriff auf unterhaltsverpflichtete Kinder (Eltern)
- zertifizierte private Vorsorge („Riester-Rente”): Beiträge (zwischen 2002 und 2008 ansteigend von 1 auf 4 % des Bruttoentgelts) steuerlich gefördert
- Vorgabe: Maßnahmen sind zu ergreifen, wenn absehbar ist, dass der Beitragssatz bis 2020 auf über 20 % (bis 2030 über 22 %) ansteigen oder wenn bis 2030 das Standardrentenniveau unter 67 % fallen wird
Nachhaltigkeitsgesetz (RRG2004) + Alterseinkünftegesetz – beschlossen: 2004; wirksam: 2005ff:
Renten(anpassungs)formel berücksichtigt zusätzlich „Nachhaltigkeitsfaktor“ (Verhältnis Rentenbezieher zu Beitragspflichtigen) (Wirkung: sinkendes Rentenniveau)
- keine Anrechnung von Ausbildungszeiten (Schule, Hochschule) mehr ab 2008
- Aufwertung der ersten drei Pflichtversicherungsjahre nur, wenn Berufsausbildung vorliegt
- Übergang zur nachgelagerten Besteuerung der Renten: Arbeitnehmerbeiträge zunehmend steuerlich abzugsfähig, volle Besteuerung der Renten ab 2040
- geförderte private Altersvorsorge: geschlechtsneutrale Berechnung der Leistungen für Verträge ab 2006
Altersgrenzenanpassungsgesetz (RRG2007) – beschlossen: 2007; wirksam: 2012 - 2029:
Anhebung der Regelaltersgrenze von 65 auf 67 Jahre zwischen 2012 und 2029 (gilt für Geburtsjahrgang 1964ff.)
- Rente für besonders langjährig Versicherte: mit 65 Jahren und nach 45 Pflichtversicherungsjahren (ohne Arbeitslosigkeitszeiten) + inklusive Zeiten der Erziehung von Kindern unter 10 Jahren
Leistungsverbesserungsgesetz (RRG2014) – beschlossen: 2014; wirksam: ab Juli 2014:
Altersrente für besonders langjährig Versicherte ab 63 nach 45 Pflichtversicherungsjahren, nun auch inklusive Zeiten des Leistungsbezugs der Arbeitslosenversicherung (ALG I); schrittweise Anhebung auf 65 Jahre für Geburtsjahrgänge 1953 bis 1964
- Anrechnung von Kindererziehungszeiten für Geburten vor 1992 von 1 auf 2 Jahre ausgedehnt („Mütterrente“)
- günstigere Berechnung von Erwerbsminderungsrenten durch Verlängerung der Zurechnungszeit
An diesem Lernprozess mochte die SPD vor der Bundestagswahl 1998 noch nicht teilnehmen. Man versuchte, die Reformen der christlich-liberalen Koalition in den Jahren 1996 und 1997 zu blockieren (stimmte lediglich der Steigerung des Bundeszuschusses aus einer Mehrwertsteuererhöhung um einen Prozentpunkt ab April 1998 zu, um einen GRV-Beitragssatz von über 21 % zu vermeiden) und versprach sogar, nach einer Regierungsübernahme die im RRG99 enthaltenen Kürzungen nicht wirksam werden zu lassen und stattdessen eine Reformalternative zu präsentieren. Beide Versprechen wurden eingelöst. Die erste Fassung des rot-grünen Reformgesetzes wurde im Juni 1999 vorgelegt und trug eindeutig die Handschrift der „Modernisierer“ in der SPD um Kanzler Gerhard Schröder und den Bundesarbeitsminister Riester
Rentenreform 2001: Der Prozess vielfältiger Änderungen des Entwurfs als Reaktion auf Einwände von verschiedener Seite und Bemühungen, wieder an den bis zum RRG92 währenden überparteilichen „Rentenkonsens“ anzuknüpfen, zog sich bis zum Mai 2001 hin, als der Bundesrat die letzten Teile des Reformpaketes (RRG2001) passieren ließ. Weitgehend parallel zu diesem Reformprojekt wurden in verschiedenen Gesetzgebungsakten recht bedeutsame Änderungen im Bereich der GRV vorgenommen – so die Einführung und Erhöhung der sogenannten „Ökosteuer“ als Maßnahme zur Abdeckung der nicht durch Beiträge gedeckten Leistungen und Ermöglichung eines niedrigeren Beitragssatzes, weitere Einnahmeverbesserungen durch die Versicherungspflicht für „Scheinselbstständige“ sowie von geringfügigen Beschäftigungsverhältnissen, ein verminderter Anspruchserwerb für Empfänger von Arbeitslosenhilfe, das Aussetzen der Nettolohnanpassung im Jahr 2000 (nur Inflationsausgleich) oder das Inkrafttreten einer weniger drastischen Neuregelung der Erwerbsminderungsrenten am 1.1.2001.
Es sind drei Änderungen, mittels derer die rot-grüne Bundesregierung einen Paradigmenwechsel exekutierte und die bisherige Rentenversicherungs- zur Alterssicherungspolitik erweiterte:
- Beitragssatzdeckelung: (1) Während bislang der Beitragssatz als abhängige Variable aller Veränderungen der Einnahmen- und Ausgabensituation der Rentenversicherung fungierte, wurden für diese Größe jetzt Obergrenzen fixiert – nicht höher als 20 % bis zum Jahr 2020 und als 22 % bis 2030. Um diesen Wechsel zur „einnahmenorientierten Ausgabenpolitik“ zu realisieren, blieben neben einem höheren Finanzierungsanteil aus Steuermitteln (s. o.) nur noch Einsparungen auf der Leistungsseite. Die neuen „Bremsfaktoren“ in der Rentenanpassungsformel sollten zu einem ähnlichen Ergebnis führen wie der im RRG99 enthaltene „demografische Faktor“, nämlich einer Absenkung des Nettorentenniveaus auf 64 % (auch wenn aufgrund einer veränderten Berechnungsweise ein Wert von 67 % genannt wurde).Damit wurde eindeutig mit dem Dogma der Lebensstandardsicherung nach einem „erfüllten Arbeitsleben“ allein durch die Leistungen der GRV gebrochen.
Grundsicherung im Alter: (2) Die Bundesrepublik war das einzige westliche Land, das bis 2003 kein spezielles Auffangnetz für alte Menschen mit unzureichenden Einkünften kannte. Sie waren im Rentenalter ebenfalls auf die „Hilfe zum Lebensunterhalt“ im Rahmen der Sozialhilfe angewiesen. Die neu eingeführte Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung beinhaltet keine höheren Leistungen oder den Verzicht auf eine Bedürftigkeitsprüfung, wohl aber die faktische Abschaffung des Rückgriffs auf unterhaltsverpflichtete Angehörige. Damit sollte der „verschämten Armut“, also dass gerade ältere Menschen ihnen zustehende Hilfeleistungen nicht beantragen, entgegengewirkt werden. Die wichtigere Rolle, die diesem Instrument bereits jetzt zukommt, ist die auch in der Gesetzesbegründung genannte (Bundesregierung 2000: 43), nämlich für Rentenbezieher die Konsequenzen der diversen Rentenreformen sowie der Veränderungen der Erwerbslandschaft sozial (v)erträglicher zu machen, wenn häufiger als derzeit Alterseinkünfte unterhalb der Armutsgrenze liegen werden
Riester-Rente: (3) Kernstück der Reform 2001 ist jedoch die Förderung der zusätzlichen Altersvorsorge, die zum einen die Inanspruchnahme einer bedarfsorientierten Grundsicherung begrenzen und zum anderen die sich vergrößernde Lücke bei der Lebensstandardsicherung schließen soll. Mit der Institutionalisierung der steuerlich geförderten privaten Altersvorsorge wurde nicht lediglich der von der Vorgänger-Regierung im RRG99 „vergessene“ Ausgleich des sinkenden Rentenniveaus nachgeholt, sondern innovativ durch Hinwendung zum „Mehr-Säulen-System“ der Schritt von der Rentenversicherungs- zur Alterssicherungspolitik vollzogen. Die nach dem damaligen Bundesarbeitsminister benannte Riester-Rente startete im Jahr 2002. Beiträge von zunächst einem, ab 2008 dann 4 % des Bruttoverdienstes zu zertifizierten Altersvorsorgeprodukten werden mit steuerfinanzierten Zulagen belohnt (oder – was für Beschäftigte mit höherem Verdienst vorteilhafter ist – mindern das zu versteuernde Einkommen). Ergänzend (oder als oftmals kostengünstigere Alternative) können Entgeltbestandteile als Beiträge in Betriebsrentenpläne eingebracht und gegebenenfalls vom Arbeitgeber aufgestockt werden. Durch die Reform von 2001 verändert sich der Charakter der 2. und 3. Säule: Statt wie bisher das „Sahnehäubchen“ zu liefern, sollen sie die schrumpfende Bedeutung der GRV-Rente im Alterseinkommensmix kompensieren
Pfadwechsel: Alterssicherungs- statt Rentenpolitik: Insofern führt die Reform von 2001 eindeutig vom bisherigen Pfad der Rentenversicherungspolitik weg und entspricht einem Typus transformativen institutionellen Wandels, der als „layering“ bekannt ist. Die Pfaddynamik entsteht im konkreten Fall durch die unterschiedliche Wachstumsrichtung der einzelnen Komponenten des Alterssicherungssystems, denen jeweils eine neue Zielbestimmung unterliegt – verringerte (relative ) Bedeutung der 1. Säule (GRV) einerseits, allmähliches Anwachsen der 2. und 3. Säule mit ihren neuen Komponenten (Riester-Rente und die – überwiegend – von den Beschäftigten finanzierten Varianten der betrieblichen Altersversorgung) andererseits. Gleichwohl ist der Übergang zur Alterssicherungspolitik nicht einfach mit (Teil-) Privatisierung oder Entstaatlichung gleichzusetzen. Denn der fiskalische Aufwand hat sich erhöht (größerer Finanzierungsbeitrag des Bundes an den Ausgaben der GRV, für die bedarfsorientierte Grundsicherung sowie die Zulagen bzw. die entgangenen Steuern im Zusammenhang mit der zusätzlichen Altersvorsorge). Ebenfalls wuchs der staatliche Regulierungsbedarf, da die privaten Komponenten im Alterseinkommensmix nicht lediglich eine an sich ausreichende öffentliche Rentenleistung ergänzen, sondern genau das kompensieren sollen, was der Sozialstaat nicht mehr leistet und stattdessen dem Markt überlässt. Genau dies zeichnet „Wohlfahrtsmärkte“ aus (Nullmeier 2001; Berner 2009), die deshalb zur Erreichung der ihnen zugedachten Ziele (Definition der Altersvorsorgeprodukte, Schutz der Anleger usw.) reguliert, wiederholt nachreguliert und kontrolliert werden müssen
Neue Akteure: Aus diesen Gründen bringt die institutionelle Dynamik auch neue Akteure, Themen, Konflikte und Modi der Konfliktaustragung in das Politikfeld Alterssicherung. So sind in der neuen politics der Alterssicherung u. a. als Akteure hinzugekommen bzw. haben an Relevanz gewonnen das Finanzdienstleistungsgewerbe als Anbieter zertifizierter Altersvorsorgeprodukte, das Bundesfinanzministerium, das mehr Steuergelder im Bereich der Alterssicherung bewegt als zuvor, weiterhin mit der Regulierung und Aufsicht des entstehenden „Wohlfahrtsmarkts“ betraute Behörden, Verbraucherorganisationen, welche die Interessen der Vorsorgesparer schützen, und die Sozialpartner als Tarifparteien, die Kollektivverträge zur betrieblichen Alterssicherung aushandeln
Vom alten zum neuen Paradigma: Die Ersetzung des einstmals kohärenten Sozialversicherungs-Paradigmas durch das Mehr-Säulen-Paradigma war das Ergebnis verschiedener Entwicklungen. Ende der 1990er Jahre war die Rentenpolitik an einem Punkt („critical juncture“) angelangt, wo ihr nicht nur die Optionen für weitere Reformen zur Lösung der langfristigen Finanzierungsprobleme ausgegangen waren, wie Lamping/Rüb (1996: 468) feststellen, sondern ihr war auch die Glaubwürdigkeit und der Institution GRV als solcher die Plausibilität abhanden gekommen. Gleichzeitig diffundierte, angestoßen durch den Bericht der Weltbank (World Bank 1994), ein transnationaler Diskurs über die Vorteilhaftigkeit des Mehr-Säulen-Modells, der insbesondere dem Finanzdienstleistungsgewerbe in Deutschland Rückenwind verlieh, erfolgreich an der Zerstörung des Vertrauens in die Rentenversicherung mitzuwirken und den aktuellen Reformdiskurs zu beeinflussen. Darin zeigt sich genau die Macht von Interessengruppen, nämlich Denksysteme („interpretative frames“ – Hall 1993: 290) zu verändern.
In dem Maße, wie diese soziale Konstruktion eines policy-Problems und einer innovativen Lösung gelang, verlor das etablierte Politiknetzwerk der „Rentenmänner“ an Boden und war nicht mehr in der Lage, verbindlich die Probleme und ihre Lösung im Hinblick auf hergebrachte Ziele der GRV zu definieren (Hinrichs 2004). Begünstigt wurde der Ideenwandel weiterhin durch einen Generationenwechsel der sozialpolitischen Elite: Zuvor dominierten Politiker und Bürokraten mit langen Karrieren in Gewerkschaften, Wohlfahrtsverbänden oder Sozialversicherungseinrichtungen im Arbeitsministerium und im Ausschuss für Arbeit und Soziales des Bundestags, und zu den Verteidigern des Sozialversicherungs-Paradigmas gehörten ebenfalls die Mitglieder in den Beratungsgremien wie dem Sozialbeirat. Ihnen folgte eine neue Generation professioneller Parteipolitiker, die traditionellen Werten weniger verpflichtet waren, sich stärker an Wahlkalkülen orientierten und wirtschaftsliberalen Vorstellungen offener gegenüberstanden – im konkreten Fall einer teilweisen Privatisierung und Vermarktlichung der Alterssicherung als Modernisierungsstrategie
Der Weg zur Rentenreform 2001: Der Vorlage des Eckpunktepapiers im Juni 1999 durch den als „Modernisierer“ in die rot-grüne Regierung berufenen Arbeitsminister Walter Riester folgte ein von kreativem Opportunismus geleiteter „experimenteller Gesetzgebungsprozess“, wie ihn Lamping/Rüb (2006) zutreffend beschreiben. Das Bundeskanzleramt war dabei in die Suche nach einem neuen Rentenkonsens so stark eingebunden wie seit der Reform von 1957 nicht mehr. Die Linken innerhalb der SPD („Traditionalisten“) waren kaum davon zu überzeugen, das Quasi-Monopol der GRV preiszugeben, und die Gewerkschaften waren ebenfalls nur widerwillig bereit, die Reform 2001 zu akzeptieren. Sie wurden letztlich mit der Klausel ruhig gestellt, dass das Rentenniveau nicht unter die Marke von 67 % (eigentlich 64 %) fallen dürfe. Entgegen kam ihnen weiterhin die spezielle Förderung von Betriebsrentenregelungen, welche vor allem der gewerkschaftlichen Kernklientel nützt und zugleich ein attraktives Feld für tarifvertragliche Lösungen eröffnete.
Lange Zeit bestand Hoffnung auf einen Konsens mit der CDU/CSU. Sie unterstützte im Prinzip die Neuausrichtung, „mäkelte“ aber trotz erheblicher Zugeständnisse der Regierung fortgesetzt an der Ausgestaltung herum – und mochte dennoch nicht die für die künftigen Rentner eindeutigen Verbesserungen aufgrund der zusätzlichen Altersvorsorge im Bundesrat blockieren. Denn die Bundesregierung hatte die Reform in zwei Gesetzesvorhaben aufgeteilt, einmal das Altersvermögensergänzungsgesetz, das alle die GRV unmittelbar betreffenden Änderungen beinhaltete, zum anderen das Altersvermögensgesetz, welches die geförderte Altersvorsorge betraf, und nur diesem musste der Bundesrat zustimmen. Es kam letztlich nicht zu einem Kompromiss, aber doch zu einer latenten Zustimmung, denn die CDU-Parteispitze verzichtete darauf, die eigenen Reihen zu schließen und eine Ablehnung im Bundesrat durchzusetzen. So erhielt dann durch das Stimmverhalten mehrerer Bundesländer mit einer Regierungsbeteiligung der CDU das Gesetz eine Mehrheit
Reform 2004: Nachhaltigkeitsfaktor: Der Pfadwechsel wurde 2004 mit dem Nachhaltigkeitsgesetz als Bestandteil der 2003 verkündeten „Agenda 2010“ konsolidiert. Denn es hatte sich nach Verabschiedung der Reform von 2001 herausgestellt, dass die zugrunde gelegten demografischen und ökonomischen Annahmen zu optimistisch gewesen waren und die Beitragssatzobergrenzen nicht einzuhalten sein würden. Die Vorschläge der 2002 eingesetzten Rürup-Kommission bildeten die Grundlage, aber es wurden 2004 auch Maßnahmen beschlossen, die die 1989 begonnenen Einschränkungen verstärkten. So entfiel die Anrechnung von Zeiten der Schul- und Hochschulausbildung komplett ab 2008, eine Höherbewertung der ersten 36 Pflichtbeitragsmonate findet nur bei Berufsausbildung statt, und ab 2008 ist kein abschlagfreier Altersrentenzugang vor Erreichen des 63. Lebensjahres mehr möglich.
Das Kernelement der Reform war jedoch eine Veränderung der 2001 geschaffenen Rentenanpassungsformel durch den Einbau eines „Nachhaltigkeitsfaktors“. Dadurch beeinflusst nun auch das Zahlenverhältnis von Rentnern und Beitragszahlern den „aktuellen Rentenwert“: Entwickelt sich die Rentner/Beitragszahler-Relation ungünstig, folgt er nicht eins zu eins der Lohnentwicklung des Vorjahres, sondern bleibt hinter dieser zurück.Auf diese Weise sollen die 2001 festgesetzten Beitragssatzobergrenzen eingehalten, aber gleichzeitig das „Netto-Standardrentenniveau vor Steuern“ bis 2020 nicht unter 46 % und bis 2030 nicht unter 43 % sinken.139 Im Jahr 2004 belief sich dieser Wert auf etwa 53 %, so dass „Eckrentner“, wenn sie im Jahr 2030 erstmals eine Altersrente beziehen, ein um etwa 18 % vermindertes Leistungsniveau der GRV zu vergegenwärtigen haben werden, welches durch entsprechende private (individuell oder betrieblich) Altersvorsorge ausgeglichen werden müsste, um wenigstens das Rentenniveau von 2003 zu erreichen (die höhere Besteuerung noch außen vor).
Die Konflikt- und Konfliktlösungsmuster im Jahr 2004 waren ähnlich denen aus den Jahren 1999 bis 2001: Die CDU/CSU stimmte mit den Zielen und Maßnahmen inhaltlich weitgehend überein, hatte doch die vom Alt-Bundespräsidenten Roman Herzog geleitete Kommission mit ganz ähnlichen Vorschlägen aufgewartet. Sie votierte im Bundestag dennoch dagegen. Eine Zustimmung des Bundesrates war nicht erforderlich. So konnte die rot-grüne Mehrheit im Parlament nur durch Zugeständnisse an die „Traditionalisten“ in der SPD gesichert werden (u. a. durch die ins Gesetz aufgenommene Verpflichtung, Maßnahmen zu ergreifen, wenn eine Unterschreitung der genannten Niveauuntergrenzen droht), und weil der zweite wesentliche Vorschlag der Rürup-Kommission, nämlich die Regelaltersgrenze anzuheben, (zunächst) nicht aufgegriffen wurde. Dieses höchst unpopuläre Vorhaben wurde erst 2007 vom damaligen Bundesarbeitsminister in der Großen Koalition, Franz Müntefering, in Angriff genommen, als eine Stimmenmehrheit im Bundestag auch bei zahlreichen Abweichlern aus den eigenen Reihen gesichert war
„Rente mit 67“: Beginnend mit dem Geburtsjahrgang 1947 (also fünfjähriger Vorlaufzeit) wird die Regelaltersgrenze im Zeitraum 2012 bis 2029 vom 65. auf das 67. Lebensjahr angehoben. Diese Grenze gilt dann erstmalig für den Jahrgang 1964. Ausgenommen blieben die „besonders langjährig Versicherten“ mit 45 Pflichtbeitragsjahren (einschließlich Wehr-/Zivildienst- und Kinderberücksichtigungszeiten) und anerkannte Schwerbehinderte. Für letztere steigt allerdings die Grenze für den abschlagfreien Altersrentenbezug von 63 auf 65 Jahre. Insbesondere die Gewerkschaften begegneten dem Altersgrenzenanpassungsgesetz mit strikter Ablehnung, und dessen Verabschiedung führte zu einer anhaltenden Entfremdung zwischen ihnen und der SPD.
Die Gegner brandmarkten die „Rente mit 67“ als „Rentenkürzung“, da aus gesundheitlichen Gründen und wegen der ungünstigen (Wieder-) Beschäftigungssituation älterer Arbeitnehmer viele Versicherte bereits vorzeitig und mit Abschlägen bei der Rente aus dem Erwerbsleben ausscheiden müssten und die Abschläge ab 2012 zunehmend größer ausfielen. Andererseits erhöhen sich die Rentenanwartschaften für diejenigen, die über das 65. Lebensjahr in Beschäftigungsverhältnissen bleiben können (oder wollen), da sie letztlich mehr Beitragsjahre aufzuweisen haben. Der Vorteil für die GRV liegt darin, dass einmal die Beitragsbasis gestärkt wird (Einnahmenseite) und sich – bei weiter steigender Lebenserwartung – die Rentenbezugsdauer in geringerem Maße verlängert
Manipulationen bei der Rentenanpassung: Das Altersgrenzenanpassungsgesetz war das bislang letzte Element in der Reihe der ab 1989 beschlossenen Maßnahmen zur Begrenzung der demografisch bedingten Ausgabesteigerungen der GRV. Die rentenpolitisch aktive Phase war dennoch nicht beendet, und auch die regelgebundene Anpassung mit dem eingebauten Nachhaltigkeitsfaktor führte nicht zu der erwarteten De-Politisierung. So war, um angesichts der ungünstigen Arbeitsmarktsituation eine Beitragssatzerhöhung zu vermeiden, bereits im Dezember 2003 die Rentenanpassung für das folgende Jahr ausgesetzt worden. Außerdem kam es für die Rentner in den Jahren 2005 und 2006 zu weiteren unerfreulichen „Nullanpassungen“, als die Renten aufgrund der Dämpfungskomponenten sogar nominal hätten gesenkt werden müssen. Eine im Nachhaltigkeitsgesetz enthaltene Schutzklausel verhinderte dies
Deshalb wurde 2007 ein „Nachholfaktor“ beschlossen, durch den die unterbliebenen Kürzungen in den Folgejahren nachgeholt werden, wenn ausreichend hohe Lohnsteigerungen dies zulassen. Denn ansonsten kann die angestrebte Absenkung des Rentenniveaus nicht stattfinden. In den beiden Folgejahren wurden erneut die Anpassungsregeln geändert, so dass 2008 die Rentenerhöhung höher als bei regelkonformer Berechnung ausfiel, und im Jahr 2009 wurde eine „Rentengarantie“ eingeführt, wonach eine nominale Rentenkürzung auch dann ausgeschlossen ist, wenn – wie erstmals im Rezessionsjahr 2009 geschehen – die beitragspflichtigen Bruttoentgelte sinken. Das Ergebnis war eine weitere Nullrunde im Jahr 2010. Die verschiedenen Eingriffe stellten allerdings nicht wirklich eine Leistungsexpansion dar, zeigen jedoch die Anfälligkeit des „automatic government“ für opportunistisches Regierungshandeln (vgl. dazu Weaver 2016). Für die Altenbevölkerung sind die jeweils zum 1. Juli stattfindenden (Nicht-) Anpassungen aufgrund immer weniger transparenter Regeln ohnehin kaum nachvollziehbar
Leistungsverbesserungen: Selten war eine sozialpolitische Reform wegen ihrer expansiven Elemente so umstritten wie das 2014 verabschiedete und in Kraft getretene Leistungsverbesserungsgesetz. 141 Denn mit dem Rentenpaket, das noch auf Jahrzehnte höhere Ausgaben der GRV zur Folge hat, wurde keine der aktuellen oder künftig sich vergrößernden Problemlagen – Altersarmut, demografischer Wandel – angegangen (außer in bescheidenem Maße durch eine günstigere Berechnung von Erwerbsminderungsrenten). Die kontroversen Elemente sind die so genannte „Mütterrente“ und die „Rente mit 63“, die zugleich die bei weitem ausgabeträchtigsten Einzelmaßnahmen darstellen.
„Rente mit 63“: Zur abschlagsfreien Altersrente nach Vollendung des 63. Lebensjahres ab dem 1. Juli 2014 ist berechtigt, wer mindestens 45 Versicherungsjahre mit Pflichtbeiträgen aus Beschäftigung, Pflegetätigkeit sowie Zeiten der Kindererziehung (bis zum 10. Lebensjahr des Kindes) vorweisen kann. Auf diese Wartezeit werden auch angerechnet Zeiten des Bezugs von Kranken- und Arbeitslosengeld (I), aber nicht von Arbeitslosenhilfe und Arbeitslosengeld II. Dieser Zugang zur Altersrente für besonders langjährig Versicherte steht jedoch nur temporär offen: Für nach 1952 Geborene wird die Altersgrenze für jeden Geburtsjahrgang um zwei Monate angehoben und erreicht 2029 dann wieder die seit 2012 geltende Altersgrenze von 65 Jahren – allerdings mit dem Unterschied, dass gegenüber der 2007 beschlossenen Regelung nun auch Zeiten des Bezugs von Lohnersatzleistungen sowie (unter bestimmten Umständen) von Zeiten freiwilliger Beitragszahlung bei den verlangten 45 Jahren berücksichtigt werden.
Mütterrente“: Was als „Mütterrente“ bekannt wurde, meint die verbesserte Anerkennung der Erziehungsleistung von Müttern und Vätern, deren Kinder vor 1992 geboren wurden. Bislang wurde sie mit einem Entgeltpunkt pro Kind honoriert, nun wird denjenigen, die noch keine Rente beziehen, ein zweites Jahr als Kindererziehungszeit auf dem Versicherungskonto gutgeschrieben. Wer am 1. Juli 2014 schon eine Rente erhielt, dem wurde die Leistung pauschal um den Wert eines Entgeltpunktes (28,61 Euro in West- und 26,39 Euro in Ostdeutschland) angehoben.
Kritik: Gegen die „Rente mit 63“ lässt sich einwenden, dass sie ein falsches Signal setzt, nachdem das Bemühen der Politik seit 1989 darauf gerichtet war, die Lebensarbeitszeit zu verlängern. Die erneut eröffnete Möglichkeit, abschlagsfrei eine Altersrente vor dem 65. Lebensjahr zu beziehen, konterkariert nicht nur die stattfindende Umorientierung bei Arbeitgebern und Beschäftigten, sie reduziert in einer Situation starker Arbeitskräftenachfrage das Arbeitsangebot und verstärkt somit den Fachkräftemangel. Denn es werden vor allem männliche Fachkräfte mit dualer Berufsausbildung und weit überdurchschnittlichen Rentenansprüchen sein, die die Option nutzen können, weniger die frühen Berufseinsteiger mit hoher Belastungsexposition, die oft schon vorzeitig eine Erwerbsminderungsrente beantragen mussten.
Überdies bedeutet die „Rente mit 63“ einen Verstoß gegen das Äquivalenzprinzip durch die ungleiche Behandlung von Versicherten, je nachdem, in wie viel Jahren sie die gleiche Summe an Entgeltpunkten erworben haben: Die einen müssen Abschläge hinnehmen, wenn sie mit mindestens 35 Versicherungsjahren die „Altersrente für langjährige Versicherte“ im Alter von 63 Jahren in Anspruch nehmen wollen, die anderen mit 45 Versicherungsjahren nicht. Schließlich führt die „Rente mit 63“ zu einem höheren als sonst notwendigen Beitragssatz, der von denen getragen werden muss, die diese Rentenzugangsoption nicht oder nicht mehr (ab Jahrgang 1964) nutzen können. Die Konsequenzen betreffen auch alle Rentenbezieher, da der höhere Beitragssatz sich über die Rentenanpassungsformel dämpfend auf das Rentenniveau auswirkt. Diese negative Wirkung auf Beitragszahler und Rentner wird durch die „Mütterrente“ verstärkt. Denn sie soll nicht vollständig aus Steuermitteln finanziert werden, obwohl die rentenrechtliche Berücksichtigung von Kindererziehung anerkanntermaßen als gesamtgesellschaftliche Aufgabe einzustufen ist
Hohe Mehrausgaben: Während sich die aktuellen und künftigen Aufwendungen für die „Mütterrente“ relativ genau ermitteln lassen (über 6 Mrd. Euro pro Jahr für mehrere Jahrzehnte), sind die Mehrausgaben für die „Rente mit 63“ davon abhängig, wie viele der anspruchsberechtigten Beschäftigten die Option tatsächlich nutzen. Die Bundesregierung selbst geht in ihrem Gesetzentwurf für den Zeitraum bis 2030 von insgesamt 160 Milliarden Euro Mehrausgaben durch das Rentenpaket aus. Sie werden bis 2020 zu 60 % von den Beitragszahlern, zu 15 % von den Steuerzahlern und zu 25 % von den Rentenempfängern finanziert. Nach 2020 steigt der steuerfinanzierte Anteil auf 25 %
Klientelpolitik?: Wie konnte es zu dieser vermutlich teuersten Reform der 18. Legislaturperiode kommen? Durch die günstige Beschäftigungsentwicklung waren die Einnahmen der GRV stärker als erwartet gestiegen, und der Beitragssatz hätte aufgrund der Rücklagen schon im Jahr 2014 weiter abgesenkt werden können. Die Situation war ähnlich der von 1972, als sich Regierung und Opposition ebenfalls „reich rechneten“ (Kap. 9.2.1), und die Entscheidung zugunsten von Leistungsverbesserungen ist wiederum dem Parteienwettbewerb geschuldet. Für die SPD war die „Rente mit 63“ eine Maßnahme, sich nach der unverändert unpopulären Entscheidung für die Anhebung der Regelaltersgrenze auf 67 wieder den Gewerkschaften und deren Kernklientel anzunähern. Die CDU/CSU drängte auf die „Mütterrente“, die hauptsächlich die vor 1965 geborenen Frauen besser stellt. Diese Altersgruppe bildet einen wesentlichen Teil ihrer Wählerschaft. Dementsprechend war im Regierungsprogramm der SPD die „Rente mit 63“ enthalten, in dem der CDU/CSU die höhere Rentenleistung für Mütter mit vor 1992 geborenen Kindern. In der Konstellation, die sich nach der Bundestagswahl 2013 stellte, konnten beide Parteien ihre Forderungen durchsetzen. Die dadurch verursachten, noch über Jahrzehnte hinweg wirksamen Mehrausgaben dürften den finanziellen Spielraum für Reformen eingeengt haben, die gezielt die Situation von langjährig Versicherten mit armutsnahen Alterssicherungsansprüchen verbessern
„pension politics“ nach der Expansion: Myles und Pierson (2001: 306) bezeichnen staatliche Rentensysteme wegen ihrer starken Reformwiderständigkeit als „locus classicus for the study of ‚path-dependent’ change“. Denn anders als andere wohlfahrtsstaatliche Programme (z. B. Arbeitslosenversicherung oder soziale Dienste) überbrücken. Rentensysteme lange Zeiträume – vom ersten Erwerb von Ansprüchen nach dem Berufseinstieg bis zur letzten Rentenzahlung vor dem Ableben (vgl. auch Conrad 1998: 104f.). Zugleich geht die individuelle Fähigkeit, sich auf institutionelle Veränderungen einzustellen, mit der Nähe zum Rentenalter zurück und ist gleich Null, nachdem die Erwerbstätigkeit beendet wurde. Deshalb sollten Alterssicherungssysteme ein hohes Maß an Verlässlichkeit aufweisen. Darüber hinaus hat ihre Entwicklung einen großen Kreis an interessierten Beteiligten geschaffen, für die Rentenleistungen von vitaler Bedeutung sind: Die aktuellen Leistungsbezieher wollen (mindestens) ihr reales Lebenshaltungsniveau aufrechterhalten wissen; diejenigen im erwerbsfähigen Alter möchten von der direkten Unterstützung ihrer alten Eltern befreit sein und letztlich auch ihre „verdienten“ Rentenansprüche eingelöst sehen. Institutionenvertrauen ist somit ein relevantes Kriterium für die Funktionsfähigkeit von Rentensystemen, weshalb Reformen, die auf die finanzielle Stabilisierung dieser Systeme zielen, gleichermaßen die feste Erwartung der aktuellen und künftigen Rentenbezieher auf sichere und angemessene Leistungen bewahren (oder eventuell auch restituieren) müssen.
Diesem Erfordernis entsprechen die rentenpolitischen Akteure regelmäßig dadurch, dass sie eine langfristige, über einzelne Legislaturperioden hinausreichende Perspektive einnehmen, dadurch nur wenig in etablierte Besitzstände eingreifen, stattdessen lange Übergangsfristen implementieren und für geplante Leistungseinschränkungen einen breiten politischen Konsens anstreben, um strategisch eine einseitige Schuldzuweisung für von ihnen begangene „soziale Grausamkeiten“ zu vermeiden. Radikale Rentenreformen sind deshalb eher selten, aber eine Serie von inkrementellen Veränderungen kann sich durchaus zu einer Zielverschiebung und letztlich einem Pfadwechsel aufsummieren
Zwei oder nur ein Pfadwechsel?: Das war exakt der Prozess und das Ergebnis der deutsche Renten- bzw. Alterssicherungspolitik der letzten zweieinhalb Jahrzehnte, die – anders als beispielsweise in Schweden (oder in einigen Transformations-Ländern Mittel- und Osteuropas) – nicht von einer großen Reform geprägt war. Die Reform von 2001 stellte insoweit nur den „tipping point“ dar. Es gibt aber unterschiedliche Ansichten, ob 2001 erstmals vom bisherigen Pfad abgewichen wurde, oder bereits zum zweiten Mal. Conrad (1998: 104, 110) behauptet, dass es „nur einen Entwicklungspfad von Bismarck zu Blüm“ aufzufinden gibt und sich institutionelle Kontinuität „mehrfach in radikalen Umbruchsituationen durchsetzen (musste)“. Jedoch gesteht er bezüglich des Rentenniveaus und der Kopplung der Renten an das Lohnwachstum „eine durchgreifende Weiterentwicklung des institutionellen Erbes des Kaiserreichs“ zu (Conrad 1998: 113).
Für Döring, der genau diesen Aspekt – das Ziel der Lebensstandardsicherung – herausstellt, ist die Reform von 1957 als „radikale Veränderung des alten Systems, aber auch als ‚neues’ Rentensystem“ zu begreifen, eine Einschätzung, die auch Abelshauser teilt. Offenbar sind die Kriterien, die für institutionelle (Dis-) Kontinuität als ausschlaggebend herangezogen werden, wesentliche Ursache solcher Bewertungsunterschiede. Die Reform von 2001 wurde in den eben zitierten Publikationen noch nicht berücksichtigt, doch dürften zumindest Döring und Abelshauser der Einschätzung zustimmen, dass erneut die Zielbestimmung verändert wurde, und zwar – über das „normal policymaking“ hinausgehend (Hall 1993: 279) – nicht nur der GRV (kein adäquater Lohnersatz mehr), sondern in umfassender Weise auch die Rolle der 2. und 3. Säule neu definiert wurde. Dem neuen Paradigma der Alterssicherungspolitik folgend wurden die „settings“ von Instrumenten verändert (z. B. Beitragssatzobergrenzen oder der Einbau von Dämpfungsfaktoren in die Rentenanpassungsformel) und neue Instrumente geschaffen (die Riester-Rente). Ob dieser Pfadwechsel als „Modernisierung“ einzustufen ist, kann dahingestellt bleiben. Dass es sich insgesamt um eine „sozialverträgliche Modernisierung“ handelte, wurde bereits sehr früh angezwei
Eigenständige Sicherung von Frauen: Eine andere Modernisierungslinie der Alterssicherungspolitik zeigt sich im Ausbau eigenständiger Rentenansprüche von Frauen. War die GRV ursprünglich eine Versicherung hauptsächlich für männliche Lohnarbeiter und die (abgeleitete) Witwenrente in ihrer Unterhaltsersatzfunktion ein Ausfluss der unterstellten (und tatsächlich vorherrschenden) Hausfrauenehe, so unterstützt die rentenrechtliche Anerkennung der nicht entlohnten Familienarbeit – Kindererziehungs- und Pflegezeiten – ein eher gegensätzliches Familien(leit)bild, wobei die additive Anrechnung von Kindererziehungszeiten und Ansprüchen aus Erwerbsarbeit einen Anreiz darstellt, nach der Geburt von Kindern frühzeitig wieder eine Beschäftigung aufzunehmen. Dass dies möglich ist und entsprechende Rentenanwartschaften erworben werden können, ist an weitere familienpolitische Maßnahmen gebunden, allen voran dem Ausbau der Kleinkindbetreuung. Solange eine signifikante „geschlechtsspezifische Rentenlücke“ fortbesteht, ist die Hinterbliebenenrente keinesfalls entbehrlich, auch wenn sie wegen der Einkommensprüfung bereits einen subsidiären Charakter erhalten hat
Große Koalition – große Reformen: Schließlich hat der Durchgang durch die Veränderungen ab den 1950er Jahren die herausragende Rolle der politischen Parteien bei der Fortentwicklung der Alterssicherung gezeigt – allerdings weniger im Sinne der „Parteiendifferenzhypothese“ (vgl. Kap. 1.2.3). Denn wegen der großen Popularität staatlicher Renten und ihrer Relevanz für die meisten Erwachsenen sind die ideologischen Unterschiede der Parteien in der Alterssicherungspolitik weniger ausgeprägt, als es bei anderen wohlfahrtsstaatlichen Leistungen der Fall ist. Dennoch war es stets entscheidend, ob die Volksparteien für größere Reformschritte zueinander fanden. Solche kamen nur dann zustande, wenn CDU/CSU und SPD – unabhängig davon, ob sie gemeinsam regierten oder sich eine der beiden in der Opposition befand – einen offenen oder latenten (wie 2001 und 2004) Konsens über die Reforminhalte erzielten
Die demografische Herausforderung
Die zwischen 1989 und 2007 beschlossenen Reformen der GRV waren vorrangig darauf gerichtet, angesichts immer längerer Rentenlaufzeiten und der schrumpfenden Beitragszahlerbasis die Funktionsfähigkeit – sprich: die Finanzierbarkeit – des Systems zu bewahren. Im Ergebnis sollen die Maßnahmen darauf hinauslaufen, dass bis zum Jahr 2030 ein Beitragssatz von 22 % nicht überschritten und das Standardrentenniveau von 43 % nicht unterschritten wird. Ein Jahr später wird der erste Geburtsjahrgang (1964) vor dem 67. Geburtstag keine abschlagsfreie Altersrente mehr beanspruchen können. Die bis Ende 2014 ergriffenen Maßnahmen und Rechnungen reichen nicht darüber hinaus. Jedoch wird sich auch nach 2030 der Alterungs- und Schrumpfungsprozess der Bevölkerung fortsetzen (vgl. Tab. 9.1).145 Der Altenquotient wird den Projektionen zufolge zwischen 2030 und 2060 sogar noch stärker ansteigen als im Zeitraum 2013 bis 2030. Die Relation zwischen der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter (die selbstverständlich nicht komplett tatsächlich erwerbstätig ist) und der Altenbevölkerung (67+) kann sich auch noch ungünstiger entwickeln. Denn in der Vergangenheit wurde der Anstieg der ferneren Lebenserwartung ab Erreichen der Regelaltersgrenze regelmäßig unterschätzt
Um die Finanzierung der GRV nach 2030 sicherzustellen, bleiben keine anderen Veränderungsmöglichkeiten als diejenigen, die auch bisher zur Verfügung standen. Wegen der Annäherung des Standardrentenniveaus an die Armuts- bzw. Grundsicherungsschwelle verbieten sich vermutlich weitere Einschnitte auf der Leistungsseite. Der weiteren Erhöhung des Beitragssatzes und des steuerfinanzierten Bundeszuschusses dürften ebenfalls Grenzen gesetzt sein. Deshalb verbleibt – neben der Steigerung der Anzahl beitragspflichtig Beschäftigter durch eine höhere Frauenerwerbsbeteiligung und Einwanderung – als wesentliche Stellgröße die Regelaltersgrenze. Deren weitere Anhebung dürfte angesichts des rückläufigen Erwerbspersonenpotentials (Bevölkerung zwischen 20 und 67 Jahren) vermutlich auch zur Verringerung der zu erwartenden Arbeitskräfteknappheit beitragen können, wenn es denn möglich sein wird, die Beschäftigungsfähigkeit eines Großteils der über 67-jährigen zu bewahren.
Mit einer Erhöhung der Regelaltersgrenze über das 67. Lebensjahr hinaus stünde Deutschland nicht allein. Andere EU-Länder werden diese Marke bereits früher als Deutschland etabliert haben (z. B. Niederlande oder Spanien) bzw. haben Beschlüsse gefasst, diese allmählich auf das 68. Lebensjahr anzuheben (Großbritannien oder Irland). In einer Reihe von EU-Ländern wurde die Regelaltersgrenze an die Entwicklung der ferneren Lebenserwartung geknüpft (so in Dänemark und Italien), wie dies auch die EU (Europäische Kommission 2012: 11f.) und die OECD generell sowie ganz explizit für Deutschland nach 2030 fordern
Altersvorsorge nach der Finanzmarktkrise:
Die Finanzmarktkrise von 2008 hat die zur Alterssicherung angelegten Vermögen in den allermeisten Ländern deutlich entwertet. Obgleich die Verluste in den Folgejahren wieder wettgemacht werden konnten, haben dieses unvorhergesehene Ereignis und die Folgen („Große Rezession“, Staatsschuldenkrisen in mehreren EU-Ländern) die Attraktivität kapitalgedeckter Altersvorsorge nachhaltig beeinträchtigt. Für die geförderte zusätzliche Altersvorsorge in Deutschland waren die unmittelbaren Auswirkungen der Finanzmarktkrise gering, gehört doch zu den Zertifizierungskriterien von Riester-Renten-Produkten, dass zum Zeitpunkt der Inanspruchnahme der Leistungen mindestens die eingezahlten Beiträge und die erhaltenen Zulagen vom Anbieter garantiert werden müssen (Nominalwertgarantie). Die mittelbaren Folgen sind jedoch gravierender und gefährden die politisch gehegte Erwartung, die freiwillige zusätzliche Altersvorsorge könne annähernd flächendeckend das allmählich sinkende Niveau der GRV-Leistungen ausgleichen und die Ausbreitung von Altersarmut verhindern helfen
Verbreitung der Riester-Rente: Aufgrund zunehmender Bekanntheit und der Vereinfachung der Zertifizierungskriterien stieg die Zahl der Riester-Verträge nach 2004 stark an und überschritt Ende 2013 die 16-Millionen-Schwelle. Bis Ende September 2015 sind allerdings nur noch 300.000 Verträge hinzugekommen. Damit würden gut 40 % der zulagenberechtigten Beschäftigten auch privat für ihr Alter vorsorgen (Bode/Wilke 2014: 221-223).146 Das BMAS geht jedoch davon aus, dass ungefähr ein Fünftel der Verträge „ruht“, d. h. aktuell keine Beiträge geleistet werden. Weiterhin ist unbekannt, wie viele Beschäftigte zu geringe Beiträge zahlen, deshalb nicht den vollen Zulagenanspruch erlangen (oder auch die ihnen zustehende Zulage nicht beantragen) und letztlich mit ihrer Sparleistung unterhalb der empfohlenen Rate von jährlich 4 % vom Bruttoverdienst bleiben. Geht man dennoch von den Daten der amtlichen Statistik aus, so lassen sich mehrere Gründe für die annähernde Stagnation der Zahl der Riester-Sparer ausmachen.
Als mittelbare Folge der Finanzmarktkrise sind gewiss die Befürchtungen hinsichtlich der Sicherheit der Anlagen gewachsen und haben potentielle Vorsorgesparer vom Vertragsabschluss abgehalten. Weiterhin kann sich die Überzeugung ausgebreitet haben, dass sich die zusätzliche Altersvorsorge nicht lohnt . Für gering verdienende Beschäftigte, die eine Rente unterhalb oder in der Nähe der Grundsicherungsleistung zu erwarten haben, ist es nicht rational, aktuell auf Konsummöglichkeiten zu verzichten, wenn die spätere Riester-Rente vollständig bei der Berechnung des Anspruchs auf Grundsicherungsleistungen berücksichtigt wird. Neben fehlendem Wissen über die Notwendigkeit zusätzlicher Altersvorsorge und niedrigem Haushaltseinkommen, das für die regelmäßige Beitragsabführung kaum Spielraum lässt, ist dies ohne Zweifel eine Ursache dafür, dass Riester-Verträge in den unteren Einkommensklassen weit weniger verbreitet sind als in den höheren . Schließlich dürfte auch das seit mehreren Jahren extrem niedrige Zinsniveau – ebenfalls ein mittelbares Resultat der Finanzmarktkrise – die Überzeugung verstärkt haben, dass sich die private Altersvorsorge ohnehin nicht rentiert.
Lohnt sich die Riester-Rente?: Denn die Bundesregierung (die jetzige wie die vorigen) geht in ihren Berechnungen zur Stabilität des Gesamtversorgungsniveaus im Alter (GRV-Leistung plus Riester-Rente) konstant von folgenden Unterstellungen aus:
(1) Die Beiträge werden mit 4 % verzinst. Das ist seit mehreren Jahren faktisch nicht der Fall (vermutlich auch in der absehbaren Zukunft nicht), und die aktuell geringere Rendite dürfte aufgrund des schwachen Zinseszinseffektes kaum wieder aufzuholen sein.
(2) Weiterhin wird davon ausgegangen, dass 10 % der Beiträge und Zulagen nicht der Ansammlung von Vorsorgekapital zugute kommen, sondern als „Verwaltungskosten“ von den Anbietern vereinnahmt werden. Untersuchungen haben gezeigt, dass die Kostenstruktur sich durchweg wenig transparent darstellt und die Riester-Produkte zahlreicher Anbieter (insbesondere die dominierenden Rentenversicherungen) mit deutlich höheren Verwaltungskosten belastet sind. So steht dann am Ende des Einzahlungszeitraums ein geringeres Vorsorgekapital für die Umwandlung in eine monatliche Rente zur Verfügung, und die privaten Anbieter legen ferner eine hohe Lebenserwartung der Versicherten sowie eine niedrige Verzinsung des jeweiligen Restkapitals zugrunde, so dass die Höhe der Riester-Rente nochmals gedrückt wird (Hagen/Kleinlein 2011). Erst bei Erreichen eines sehr hohen Lebensalters können die Ruheständler damit rechnen, wenigstens ihre Sparbeiträge und die Zulagen zurückzuerhalten.
(3) Für die Stabilität des Gesamtversorgungsniveaus ist weiterhin bedeutsam, dass die Ersparnis aus der allmählichen Steuerfreistellung der GRV-Beiträge gleichfalls vollständig in Produkte der privaten Altersvorsorge angelegt wird.148 Auch von dieser Unterstellung geht die Bundesregierung aus (2012: 118). Es ist unbekannt, wie viele Beschäftigte der Erwartung entsprechen und mehr als 4 % des Bruttoverdienstes in die private Altersvorsorge investieren.
(4) Die fortschreitende Absenkung des Niveaus der GRV-Leistung kann nur dann durch die zusätzliche Altersvorsorge kompensiert werden, wenn für sie ebenso lange Beiträge eingezahlt werden wie für die GRV – also im „Standardfall“ durchgehend für 45 Jahre und auch während Erwerbsunterbrechungen, beispielsweise durch Arbeitslosigkeit oder Kindererziehung. Offenbar schließen aber viele Beschäftigte einen Vertrag über die private Altersvorsorge nicht unmittelbar nach dem Berufseintritt ab , und vorher oder zwischendurch entstandene „Lücken“ sind nur schwer wieder zu schließen.
(5) Schließlich geht die Bundesregierung davon aus, dass die Riester-Rente im Auszahlungszeitraum jährlich um den gleichen Prozentsatz angepasst wird wie die Leistungen der GRV. Dadurch bliebe deren Anteil am Alterseinkommen über die gesamte Rentenlaufzeit hinweg konstant. Tatsächlich findet eine Dynamisierung der privaten Renten (auch der Betriebsrenten) zumeist nicht statt – und eine verlässliche Anpassung schon gar nicht –, so dass in der Phase des Leistungsbezugs das Versorgungsniveau absinkt
Die optimistischen, aber wenig realistischen Annahmen in den Rechnungen der Bundesregierung150 lassen den Schluss zu, dass künftig nur eine Minderheit von Rentenbeziehern in der Lage sein wird, das sinkende Rentenniveau durch erwartungskonforme private Altersvorsorge auszugleichen, also den Lebensstandard zu halten bzw. Altersarmut zu vermeiden. Diese Ziele zu erreichen, ist ohne weitere Reformen der Alterssicherungspolitik nur mit darüber hinaus gehenden Sparanstrengungen in der Erwerbsphase möglich.
Arbeitsmarkt und Altersarmut
Altersarmut ist derzeit ein weniger drängendes Problem als die Größenordnung der Armut von Kindern in erwerbslosen und Niedrigverdiener-Haushalten. Nichtsdestoweniger ist die Armutsgefährdungsquote (weniger als 60 % des bedarfsgewichteten Medianeinkommens; vgl. Kap. 4) von Personen im Rentenalter seit 2005 angestiegen und noch stärker die Zahl bzw. die Quote der Empfänger von Grundsicherungsleistungen im Alter und bei Erwerbsminderung (Tab. 9.2). Besonders deutlich war dabei die Steigerung unter den Erwerbsminderungsrentnern. Kann die wachsende Zahl von Grundsicherungsempfängern in den ersten Jahren nach der Einführung noch zu einem Gutteil mit dem beabsichtigten Abbau der „verschämten Armut“ erklärt werden, so ist der Anstieg in den letzten Jahren ganz überwiegend zwei Entwicklungen geschuldet, die sich absehbar noch verstärken werden und immer mehr Neurentner von einem angemessenen Alterseinkommen oberhalb der Grundsicherungsschwelle ausschließen.
Diese Gefährdungen sind einmal rentenversicherungsinterner Natur und zum anderen von externen Umbrüchen bestimmt. Höhere interne Risiken folgen aus den ab 1989 beschlossenen Reformen des Rentenrechts, die generell das Leistungsniveau senken und zusätzlich die Rentenhöhe derjenigen negativ beeinflussen, in deren Lebenslauf Phasen von geringem beitragspflichtigem Entgelt, Lücken bei der Zahlung von Beiträgen aus eigenem Verdienst (wegen Ausbildung oder Arbeitslosigkeit) vorkommen oder die eine Rente vor Erreichen der regulären Altersgrenze beziehen (müssen). Die höheren externen Risiken resultieren daraus, dass das „Standardsubjekt“ der deutschen Sozialversicherung – der vom Ende der Ausbildung bis zum Erreichen des gesetzlichen Rentenalters durchgehend vollzeitbeschäftigte (männliche) Arbeitnehmer mit einem stets für die Absicherung einer Kleinfamilie ausreichenden Familienlohn – empirisch weit weniger häufig anzutreffen ist als in der Vergangenheit und diejenigen mit einer „atypischen“ bzw. „diskontinuierlichen“ Erwerbskarriere nun geringere Ansprüche auf Alterssicherungsleistungen erwerben. Diese Entwicklungen und ihre Konsequenzen lassen sich an einigen Zahlenbeispielen verdeutlichen
Grundsicherung und Beitragsjahre: Die generelle Absenkung des Standardrentenniveaus dadurch, dass die Rentenentwicklung wegen der „Bremsfaktoren“ in der Anpassungsformel hinter dem Lohnwachstum zurückbleibt (Kap. 9.2.3), verlangt von den Beschäftigten mehr Beitragsjahre als zuvor, um eine Rente zu erwirtschaften, die genau der Grundsicherungsleistung entspricht. Diese betrug für einen Alleinstehenden im Jahr 2010 im Mittel 670 Euro im Monat (inklusive Kosten der Unterkunft) und wurde damals von einem Durchschnittsverdiener nach 27,1 Beitragsjahren erreicht. Im Jahr 2030 werden gut fünf Jahre mehr erforderlich sein, nämlich 32,5 Beitragsjahre. Jemand mit einem steten Verdienstniveau von 70 % vom Durchschnitt hätte im Jahr 2010 bereits 38,7 Jahre Beiträge entrichten müssen, während 2030 erst 46,5 Beitragsjahre ausreichen, um eine Absicherung in der Höhe zu erlangen, die ihm oder ihr auch ohne eigene Vorleistungen zustünde
Atypische Beschäftigung und Rentenhöhe: Ein langes Erwerbsleben mit einem ununterbrochenen Verdienst in der Nähe des Durchschnitts wird für die soziale Absicherung im Alter also immer bedeutsamer, ist aber faktisch immer weniger gegeben. In den Versicherungsbiografien der jüngeren Rentnerjahrgänge und den rentennahen, noch im Erwerbsleben stehenden Jahrgängen finden sich häufiger und im Durchschnitt längere Zeiten der Arbeitslosigkeit (insbesondere in Ostdeutschland), in denen geringere oder keine Ansprüche erworben wurden. Ebenfalls häufiger anzutreffen sind Rentenzugänge, die mit Abschlägen wegen (unfreiwilliger) vorzeitiger Inanspruchnahme belegt sind. Ausbildungszeiten nach dem 16. Lebensjahr sind länger geworden, steigern aber nicht mehr die Rentenanwartschaft. Die Aufwertung von geringen Verdiensten (weniger als 75 % des Durchschnitts) ist für Versicherungszeiten nach 1992 entfallen, und die kalkulatorische Anhebung der Entgelte der ersten vier Pflichtversicherungsjahre wurde verschlechtert (Abb. 9.2). Das Zusammenspiel von Einschränkungen im Rentenrecht und Veränderungen der Erwerbslandschaft lässt sich bereits deutlich an der Entwicklung der Zahlbeträge von Altersrenten erkennen, wodurch sich der Anstieg der Empfänger von Grundsicherungsleistungen teilweise erklärt: So erhielten westdeutsche Männer im Durchschnitt monatlich 916 Euro, wenn sie im Jahr 2000 erstmals ihre Rente bezogen. Soweit sie nicht bereits verstorben waren, wurde ihnen aufgrund der zwischenzeitlichen Rentenanpassungen (und aufgrund der Veränderungen ihres Eigenbetrags zur Kranken- und Pflegeversicherung) im Jahr 2013 eine Altersrente von 1.007 Euro überwiesen. Demgegenüber belief sich der durchschnittliche Auszahlungsbetrag für jemanden, der 2013 erstmals eine Rente bezog, auf lediglich 913 Euro, also 9,6 % weniger. Deutlicher noch war der Rückgang bei den Altersrenten ostdeutscher Männer: Gegenüber der Zugangskohorte des Jahres 2000 lag der Zahlbetrag der Neurentner im Jahr 2013 um 16,3 % niedriger.153 Anders ausgedrückt: Jede neue Rentnerkohorte empfängt im Mittel eine geringere GRV-Leistung als die Bestandsrentner. Wenn die Abwärtsentwicklung sich bislang nicht in einer noch häufigeren Angewiesenheit auf die Grundsicherung im Alter als Ergänzung zur Rente niedergeschlagen hat, dann liegt das auch daran, dass mehr Rentner in Paar-Haushalten leben, zu deren Einkommen – ungeachtet einer fortbestehenden geschlechtsspezifischen Rentenlücke – die (Ehe-) Frauen ebenfalls eine Altersrente einbringen
In Zukunft: mehr Altersarmut?: Die Ausbreitung von prekären, mit einem erhöhten Risiko wiederholter Arbeitslosigkeit behafteten Beschäftigungsverhältnissen (Leiharbeit, befristete Arbeitsverträge), von selbstständiger Erwerbstätigkeit ohne ausreichende Altersvorsorge (insbesondere unter Solo-Selbstständigen), von sozialversicherungspflichtiger Teilzeitbeschäftigung mit geringem Monatsverdienst und von Niedriglohnbeschäftigung (weniger als zwei Drittel des mittleren Stundenlohns) dürfte in den nächsten Jahren eine immer stärkere Wirkung auf die individuelle Rentenhöhe entfalten. Es ist künftig mit mehr Renten in der Nähe von bzw. unterhalb der Armutsgrenze zu rechnen
Gescheiterter Reformversuch: Eine solche Entwicklung dürfte die beitragsbezogene GRV vor wachsende Akzeptanz- und Legitimationsprobleme stellen, wenn selbst eine jahrzehntelange versicherungspflichtige Beschäftigung im Alter keine Unabhängigkeit von bedürftigkeitsgeprüften Leistungen gewährleistet. Zudem schwächt eine erwartbar geringe GRV-Rente die Bereitschaft der Erwerbstätigen zu zusätzlicher privater Altersvorsorge, wenn sie im Ergebnis nicht besser gestellt sind als Personen ohne entsprechende Sparanstrengungen. Genau auf die Gruppe der Niedrigverdiener mit langer Versicherungskarriere (einschließlich Zeiten der Kindererziehung und Pflege) und dauerhafter Beteiligung an der zusätzlichen Altersvorsorge zielte die „Zuschussrente“, die das Kernstück eines Reformpakets bildete, das 2012 von der Bundesarbeitsministerin der christlich-liberalen Regierungskoalition vorgelegt wurde.
Die Zuschussrente sollte niedrige Anwartschaften aufwerten und war mit 850 Euro um etwa 150 Euro über der durchschnittlichen Grundsicherungsleistung (inkl. Unterkunftskosten) angesetzt. Sie sollte allerdings bedürftigkeitsgeprüft sein, aber Renten aus der betrieblichen und der geförderten privaten Altersvorsorge unberücksichtigt lassen. Es war vorgesehen, die Zuschussrente teils aus Steuern zu finanzieren und zum anderen Teil die Kosten der GRV aufzubürden. Die Kritik an dem Konzept war vielfältig, und letztlich scheiterte das gesamte Reformpaket wegen Querelen innerhalb des christlich-liberalen Regierungslagers im Frühjahr 2013.155 Das Thema „Altersarmut“ war damit aber nicht erledigt. In der seit etwa 2009 intensiver geführten Diskussion haben sich die Sozialverbände, die Gewerkschaften und Oppositionsparteien (Grüne und Linke) mit Forderungen und Reformvorschlägen zu Wort gemeldet.
Last changed5 months ago