Europäischer Gerichtshof
− Sitz: Luxemburg
− Gründung: 1952 mit dem Vertrag von Paris
− Unabhängig, aber seine Entscheidungen sind im politischen Kontext zu sehen und können politikwissenschaftlich eingeordnet werden.
− Ein:e Richter:in pro Mitgliedsstaat: Ernannt durch einstimmigen Beschluss der Regierungen der MS für 6 Jahre; Wiederernennung möglich
− Entscheidungen mit einfacher Mehrheit, abweichende Meinungen werden nicht aufgezeichnet.
Implementierung & Durchsetzung von EU Recht
Vertragsverletzungsverfahren
− Die Kommission (Hüterin der Verträge) überwacht die
Umsetzung von EU-Recht.
− Sie kann ein Vertragsverletzungsverfahren einleiten, wenn sie das EU-Recht durch einen Mitgliedsstaat verletzt sieht.
− Seltener: Auch Mitgliedsstaaten können Verstöße eines anderen Mitgliedsstaats geltend machen.
− Insbesondere bei Richtlinien besteht das Risiko einer
unvollständigen oder inkorrekten Umsetzung.
Ablauf:
2 Abbildungen:
− Vertragsverletzungsverfahren erfolgen erst nach Prüfung durch Kommission → Ermessensspielraum!
− Beispiel: Grenzkontrollen im Schengenraum
− Seit 2015 von Deutschland und Österreich durchgeführt, obwohl nur in Ausnahmefällen und maximal 6 Monate erlaubt
− Urteil des EuGH dagegen in einem Vorabentscheidungsverfahren 2022, aber bislang kein Verfahren durch die Kommission
− Strategisches Verhalten der Kommission und des Gerichtshofs gegenüber bestimmten Mitgliedsländern?
− Institutionalismus: Supranationale Akteure berücksichtigen Präferenzen der MS.
− Schwieriger für Kommission und für Gerichtshof gegen einzelne Mitgliedsstaaten zu entscheiden, wenn alle anderen MS diesen unterstützen.
Rechtskontrolle
− Nichtigkeitsklage: Kläger:in beantragt Nichtigerklärung einer
Handlung eines Organs.
− Klagen können von den Mitgliedstaaten, den Organen selbst und von jeder natürlichen oder juristischen Person erhoben werden.
− Beispiel: EuGH erklärt einen Beschluss für nichtig, da das
Parlament nicht im erforderlichen Maße in die Beschlussfassung eingebunden wurde.
Vorabentscheidungsverfahren
− Nationale Gerichte haben die Möglichkeit, dem EuGH direkt
(z.B. an den nationalen Verfassungsgerichten vorbei) Fragen zur Vereinbarkeit von nationalem Recht mit europäischem Recht vorzulegen.
− Wichtigstes und häufigstes Verfahren vor dem EuGH
− Hohe Relevanz für die Entwicklung und Konstitutionalisierung des EU-Rechts
1. Klage vor nationalem Gericht
2. Nationales Gericht reicht Rechtsfrage weiter an EuGH
3. Auslegung durch den EuGH
4. Weiterleitung der Ergebnisse zurück an nationales Gericht
5. Urteilsverkündung im spezifischen Fall am nationalen Gericht unter Berücksichtigung der EuGH-Auslegung
Konstitutionalisierung durch EuGH
Unmittelbare Anwendbarkeit
Vorrang von EU-Recht
− Unmittelbare Anwendbarkeit (direct effect)
• Einzelpersonen können EU-Recht direkt einklagen.
• Direkte Durchgriffswirkung von Gemeinschaftsrecht
• „Jeder kann sich also auf die in dem EG-Vertrag enthaltenen Rechte berufen.“
• Van Gend en Loos gegen niederländische Steuerbehörden (1963)
− Vorrang von EU-Recht (supremacy of EU law)
• „Durch die Gründung einer Gemeinschaft für unbegrenzte Zeit […] haben die Mitgliedstaaten ihre Souveränitätsrechte beschränkt und so einen Rechtskörper geschaffen, der für ihre Angehörigen und sie selbst verbindlich ist.”
Costa/ENEL (1964) = Der Fall betraf Herrn Flaminio Costa, einen Aktionär des verstaatlichten italienischen Energieunternehmens ENEL. Costa widersetzte sich der Zahlung einer Stromrechnung an ENEL, weil er der Ansicht war, dass die Verstaatlichung des Unternehmens gegen das EU-Recht, insbesondere gegen den Vertrag zur Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft (EWG-Vertrag), verstoße.
Die zentrale Frage war, ob nationales Recht, das nach dem EU-Vertrag erlassen wurde, Vorrang vor dem EU-Recht hat. Costa argumentierte, dass die Verstaatlichung von ENEL gegen den EWG-Vertrag verstoße und daher unwirksam sei.
Der EuGH entschied zugunsten von Costa und stellte zwei grundlegende Prinzipien auf:
Vorrang des EU-Rechts (Primacy of EU Law): Der EuGH erklärte, dass das EU-Recht Vorrang vor nationalem Recht hat. Das bedeutet, dass im Falle eines Konflikts zwischen nationalem Recht und EU-Recht Letzteres Vorrang hat und das nationale Recht unangewendet bleiben muss. Der Gerichtshof betonte, dass dieser Vorrang notwendig sei, um die einheitliche Anwendung und Wirksamkeit des EU-Rechts in allen Mitgliedstaaten zu gewährleisten.
Erklärungsansätze EuGH
Intergouvernementalismus
− Zentrale Fragen:
− Welche Rolle nimmt der EuGH im Integrationsprozess ein?
− Akzeptieren die MS unliebsame Entscheidungen des EuGH? Falls ja, warum?
− Haben Abstimmungsverfahren im Rat einen Einfluss auf die Handlungsspielräume des EuGH?
− Ist der EuGH ein unabhängiger Akteur oder ein Agent der Mitgliedsstaaten?
− Gerichtshof als Agent der Mitgliedsstaaten
− Mitgliedsstaaten akzeptieren Urteile und erlauben rechtliche
Integration, wenn dieses in ihrem politischen und wirtschaftlichen Interesse ist.
− Mitgliedsstaaten ignorieren Urteile, die nicht ihren Interessen entsprechen.
− Warum akzeptieren MS auch Entscheidungen, die gegen ihre
Interessen sind (z. B. Cassis de Dijon und Deutschland)?
→ Abwägung: Vorteile der Integration des Binnenmarktes
Supranationalismus
− Gerichtshof als Motor der Integration
− Benötigt pro-europäische Kläger
− Subnationale Gerichte als Alliierte des Gerichtshofs, um eigene Rolle im nationalen politischen Prozess zu stärken
(Vorabentscheidungsverfahren).
− Erinnerung: Negative Integration
− Urteile politisch schwer zu revidieren (Einstimmigkeit / qualifizierte Mehrheit für Rechtsänderungen)
− Aber: keine konsistenten pro-europäischen Urteile
Institutionalismus
− Prinzipal-Agenten Logik: Gerichtshof sollte mehr
Handlungsspielraum haben, wenn Mitgliedsstaaten selbst im Rat
blockiert sind (viele Vetospieler, Konflikte, Einstimmigkeit)
− EuGH als strategischer Akteur, der integrationsfreundliche Urteile fällen kann.
“Legislative gridlock in the Council facilitated Court activism
because only treaty revisions could rein in the Court. The freedom of the Court to interpret the Rome Treaty was thus the primary force propelling European integration during the Luxembourg compromise.“ – Garrett and Tsebelis (2001)
Krise der europäischen Rechtsordnung?
− Wer entscheidet über die Grenzen der Kompetenz der EU?
− Zum ersten Mal wurde eine Handlung einer EU-Institution (EZB) vom Bundesverfassungsgericht für nichtig, aber vom EuGH für legal erklärt .
− BVerfG behauptet, dass jede Handlung, die seiner Ansicht nach außerhalb der Zuständigkeit der EU (ultra vires) liegt, als in
Deutschland nicht anwendbar erachtet werden kann .
− Problem: Keine europäische Rechtsordnung, wenn alle nationalen Gerichte EU-Entscheidungen für nichtig erklären können .
− Entscheidung könnte andere nationale Gerichte dazu
ermutigen, Autorität des EuGH anzufechten.
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