Quellenkritik und Methode
Keine methodischen Unterschiede in der Geschichtswissenschaft:
Die außereuropäische Geschichte verwendet die gleichen Methoden wie andere Geschichtsbereiche.
Quellen müssen im historischen Kontext bewertet werden, sowohl durch „äußere“ als auch „innere Kritik“.
Äußere Kritik:
Klärung der Urheberschaft und der Entstehungsbedingungen der Quelle.
Zeitliche und räumliche Verortung ist entscheidend.
Entstehung in Europa oder Übersee beeinflusst die Unmittelbarkeit der Aussagen.
Achtung vor falschen Annahmen über die Unmittelbarkeit und Reichweite der Quellen.
Innere Kritik:
Bewertung erklärungsbedürftiger Elemente innerhalb der Quelle.
Verzerrungen durch Fremdheit: Europäer hatten oft falsche Schreibweisen und Missverständnisse.
Bedarf an kolonialen Nachschlagewerken und Vergleich mit anderem zeitgenössischen Material.
Spezifische Problemlagen der außereuropäischen Geschichte:
Schlüsselbegriff „Fremdheit“ führt zu Wahrnehmungsverzerrungen.
Erhöhte Bedeutung der Berücksichtigung beider Seiten bei europäischen und außereuropäischen Interaktionen.
Räumliche und zeitliche Aspekte:
Unterschiede in der Unmittelbarkeit von Quellen, die in Europa oder Übersee entstanden sind.
Relevanz der Entfernungen und Wahrnehmung derselben in außereuropäischen Kontexten.
Probleme der inneren Kritik:
Erhöhte Aufwände bei der Klärung von Begriffen, Orten, Personen und Ereignissen.
Verzerrungen durch Missverständnisse, Übersetzungsfehler und Fantasieangaben.
Wertende Berichterstattung und asymmetrische Gegenbegriffe:
Fremdheit führt oft zu einseitig wertender Berichterstattung.
Konzept der asymmetrischen Gegenbegriffe (z.B. Hellene und Barbar, Christ und Heide).
Wichtigkeit der sorgfältigen Quellenkritik, um Wertungen zu erkennen und den Aussagebereich der Quelle zu bestimmen.
Reflexion und Kritik:
Quellenkritik umfasst nicht nur das Nachspüren des Negativen.
Ziel ist es, den Aussagebereich einer Quelle zu bestimmen, ohne sie vorschnell als vorurteilsbehaftet abzutun.
Außereuropäische Schriftquellen
Einbeziehung außereuropäischer Schriftquellen:
Außereuropäische Texte bleiben oft den Spezialisten vorbehalten, aber sollten bei verfügbarer Übersetzung berücksichtigt werden.
Wichtig ist die Reflexion der Art der Übersetzung und Edition der Texte.
Problembereich der Übersetzung:
Übersetzungen sind Interpretationen, keine „Eins-zu-Eins“-Übertragungen.
Jede Sprache transportiert ihre eigene Kultur, was zu Konnotationsunterschieden führt.
Wissenschaftlich vorbildliche Übersetzungen erfordern Erläuterungen zu Wortbedeutungen, Übersetzungsproblemen und kulturellen Hintergründen.
Europäische Beurteilungsmuster:
Gefahr der Beurteilung außereuropäischer Quellen nach europäischen Mustern.
Außereuropäische Schriftgattungen folgen oft anderen Gesetzmäßigkeiten trotz vordergründiger Ähnlichkeit.
Notwendigkeit der Deutung von Symbolen im kulturimmanenten Kontext und Grundkenntnisse der betreffenden Religion und Gesellschaft.
Zugänglichkeit von Schriftquellen aus „Hochkulturen“:
Der Begriff „Hochkultur“ ist problematisch, da er konstitutiv mit Schriftlichkeit verknüpft ist.
Konzentration auf Quellentypen im Kontext von Religion und Staat.
In vielen außereuropäischen Kulturen sind schriftliche Zeugnisse seltener und oft auf mündliche Absprachen basierend.
Unterschiede in der Dokumentation:
Europäische Handelskompanien hinterließen große Mengen an schriftlichen Quellen, während asiatische, arabische und andere Händler oft auf mündliche Absprachen vertrauten.
Staatliche Schriftzeugnisse existieren jedoch auch in Asien, z.B. in China.
Veränderungen durch Europäische Expansion und Kolonialismus:
Zunehmende Verschriftung außereuropäischer Gesellschaften durch europäische Expansion und Kolonialismus.
Koloniale Herrschaft förderte die Schriftkultur außerhalb Europas, oft nach europäischen Vorbildern.
Einfluss christlicher Mission und politischer Aktivisten:
Erste schriftliche Zeugnisse von außereuropäischen Autor*innen erschienen im Kontext christlicher Mission und politischer Aktivisten.
Moderne, europäisch beeinflusste Medien wie Zeitungen wurden in traditionellen Schriftkulturen verbreitet.
Verwaltung und Aktenproduktion:
Kolonialismus führte zur Einführung schriftbasierter Verwaltung in vielen Regionen, wo zuvor mündliche Beratung üblich war.
Viele dieser neuen Schriftzeugnisse wurden in europäischen Sprachen verfasst.
Zunahme der Zugänglichkeit und Relevanz:
Mit der zunehmenden Verflechtung Europas mit Übersee steigt die Zahl und Zugänglichkeit außereuropäischer Schriftquellen.
Diese Quellen sind oft für historische Studien lohnenswert.
Mündliche Überlieferungen
Existenz schriftloser Gesellschaften:
Schriftlosigkeit bedeutet nicht Geschichtslosigkeit.
Historiker*innen stehen vor der Herausforderung, die Geschichte solcher Gesellschaften zu rekonstruieren.
Außenansicht durch schriftliche Berichte:
Schriftliche Berichte von Nachbarn oder Besuchern bieten oft nur eine Außenansicht durch ihre eigene kulturelle Brille.
Beispiele: Arabische Zeugnisse aus der islamisch geprägten Grenzregion zur Sahara und europäische Reiseberichte seit dem 16. Jahrhundert über Westafrika.
Orale Tradition vs. Oral History:
Orale Tradition: Das geschichtliche Selbstverständnis einer schriftlosen Gesellschaft, Ausdruck des kulturellen Gedächtnisses in Epen und Mythen.
Oral History: Wissenschaftliche Methode zur Erfassung historischer Überlieferung durch Interviews mit Zeitzeugen.
Methodische Grundlagen der Oral History:
Entwickelt aus der US-amerikanischen Politikwissenschaft und Zeitgeschichte sowie der Erfassung oraler Traditionen, besonders in Afrika.
Übernahme methodischer Grundlagen aus der soziologischen Forschung, wo Befragungen einen höheren Stellenwert haben.
Verknüpfung von Oraler Tradition und Oral History:
Historiker*innen, die sich für orale Traditionen interessieren, müssen diese durch Interviews erfassen.
Jan Vansina definiert orale Tradition als mündlich übertragene Zeugnisse von einer Generation zur nächsten.
Charakteristika der oralen Tradition:
Unterschiede zu schriftlichen Quellen: Orale Zeugnisse sind flexibel, können unterbrochen, korrigiert und neu begonnen werden.
Definition eines Zeugnisses: Alle Aussagen einer Person über eine einzelne Abfolge von Ereignissen, solange keine neuen Informationen zwischen den Aussagen hinzukommen.
Unterschiedliche Überlieferungsarten:
Beispiele von Vansina: Griots, die verschiedene Traditionen rezitieren; informanten können unterschiedliche Versionen derselben Tradition erzählen.
Definition der Tradition: Eine von Generation zu Generation übermittelte Botschaft.
Unterscheidung von validen Traditionen:
Validität von Traditionen basiert auf Augenzeugenberichten.
Gerüchte sind zu ausschließen, da sie auf Hörensagen basieren und oft verzerrt sind.
Methoden der islamischen Historiker:
Entwicklung komplexer Techniken zur Bewertung der Hadithe (Aussprüche des Propheten), basierend auf der Überlieferungskette (Isnad).
Breite Definition von Tradition:
Umfasst nicht nur bewusste historische Berichte (Chroniken, Genealogien), sondern auch die gesamte mündliche Literatur.
Unbewusste Zeugnisse aus der mündlichen Literatur sind wertvolle Quellen für die Geschichte von Ideen, Werten und oraler Fertigkeit.
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Relativierung der Augenzeugenschaft:
Idealtypische Forderung, die von Jan Vansina selbst relativiert wird.
Oral tradition unterliegt einem beständigen Transformationsprozess.
Transformationen in der oral tradition:
Elemente werden hinzugefügt oder verdrängt, inhaltliche Anpassungen durch verschiedene Darbringungsformen (Erzählungen, Lieder, rituelle Schauspiele).
Veränderungen sind abhängig von sozialen und mentalen Rahmenbedingungen (soziale Statusveränderungen, kollektive Ideen, Bilder und Glaubensvorstellungen).
Professionalisierung der Überlieferungsträger:
In manchen Gesellschaften verstetigt sich der Inhalt durch professionelle Überlieferungsträger (z.B. griots bei den Mande).
Historische Exaktheit tritt oft in den Hintergrund zugunsten von Legitimationen oder anderen Interessen.
Beispiel von Adam Jones in Sierra Leone:
Untersuchte mündliche Überlieferungen über Kriege im 19. Jahrhundert in Galinhas.
Unterschiede in den Informationen je nach Ort; Kriege wurden unterschiedlich gewichtet oder gar nicht erwähnt.
Gefahren der einseitigen Informantenauswahl:
Gefahr der Auswertung bei zu wenigen und einseitig ausgewählten Informanten.
Notwendigkeit der Ansammlung einer großen Anzahl lokalisierter Informationen aus vielen Dörfern, um historische Ereignisse und Prozesse zu erfassen.
Unterschiedliche chronologische Tiefe des historischen Bewusstseins:
Unterschiedliche geographische Bereiche haben verschiedene historische Tiefenkenntnisse.
Beispiel: Unterschiedliche Kenntnisstände in Teilen von Kpaka, Soro, Gbema und Peri sowie Gendema.
Vielfältigkeit und Wandelbarkeit der oralen Kultur:
Warnung vor Redewendungen wie „Nach der mündlichen Tradition der Mende ...“.
Keine allgemein gültigen „wahren“ Überlieferungen; Vielfältigkeit und Widersprüche sind essenziell.
Umgang mit Widersprüchen in den Überlieferungen:
Historiker sollten erkennen, dass es oft unmöglich ist, zwischen unterschiedlichen Beschreibungen der Vergangenheit eine Wahl zu treffen.
Interesse sollte darauf liegen, warum bestimmte Ereignisse zu Streitigkeiten führen können.
Widersprüche sind das Interessanteste an den Überlieferungen und sollten im Zentrum der Geschichtsforschung stehen.
Ziel der Geschichtsforschung:
Geschichtsforschung wird sich in Zukunft hauptsächlich mit Widersprüchen in den Überlieferungen befassen.
Jede Erzählung hat immer mindestens zwei Fassungen, oft noch mehr.
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Unverzichtbarkeit mündlicher Überlieferungen:
Trotz Schwierigkeiten und der Unmöglichkeit, die "wahre" Ereignisgeschichte aus oralen Traditionen zu rekonstruieren, sind diese oft die einzigen verfügbaren Informationen.
Mündliche Berichte können bestehende kolonial geprägte Historiografie ergänzen.
Wert der mündlichen Überlieferungen:
Ergänzen die Untersuchung bestimmter Ereignisse durch zusätzliche Perspektiven.
Kontrastieren koloniale Darstellungen mit der Perspektive der betroffenen indigenen Bevölkerung.
Beispiele für die Ergänzung durch mündliche Überlieferungen:
Maji Maji Project an der National University von Tansania: Sammlung von Augenzeugenberichten zum Aufstand gegen die deutsche Kolonialherrschaft (1905-1907).
Untersuchung von Margaret J. Wiener: Ergänzung der Untersuchung eines puputan auf Bali (1908) durch Interviews.
Neue Details und kulturelles Verständnis:
Ergänzung kolonialer Geschichtsschreibung durch neue Details und authentisches Verständnis zentraler kultureller Phänomene (z.B. maji-Kult, puputan).
Übergang zwischen oral history und oral tradition:
Mündliche Traditionen schriftloser Gesellschaften und Augenzeugenberichte werden durch Interviews erfasst.
Interviews als Quelle sind unter spezifischen Voraussetzungen von den Forschenden selbst "erzeugt".
Kriterien der Quellenkritik:
Geltung der Kriterien der Quellenkritik für mündliche Überlieferungen wie für andere Zeugnisse.
Berücksichtigung der Interviewsituation bei der "äußeren Kritik".
Einflussfaktoren bei der Interviewführung:
Einfluss des/der Interviewers/Interviewerin, Kommunikationsschwierigkeiten, Sprachbarrieren (Muttersprache oder Übersetzung), gesellschaftliche Tabus, Fragestellung, Umgebung und Anwesenheit anderer.
Auswirkungen dieser Faktoren auf den Erzählenden und die Qualität der erhaltenen Informationen.
Führen eigener Interviews vs. Nutzung vorhandener Transkriptionen:
Möglichkeit, eigene Interviews zu führen bei methodischer Sorgfalt.
Nutzung bereits durchgeführter und archivierter Transkriptionen, insbesondere wenn keine Zeitzeugen mehr leben (z.B. für den Krieg in Deutsch-Ostafrika).
Europäische Schriftquellen I: Reiseberichte
Die ersten europäischen Begegnungen mit außereuropäischen Gesellschaften fanden häufig während Entdeckungsreisen statt. Viele dieser Begegnungen sind uns heute in Form von Reiseberichten überliefert, die eine wesentliche Quelle für die außereuropäische Geschichte darstellen.
Reiseberichte wurden von Menschen unterschiedlichster sozialer Gruppen verfasst. Ein Beispiel sind die deutschen Asienreisenden des 17. und 18. Jahrhunderts, deren Berichte ein breites Spektrum an gesellschaftlichen und beruflichen Hintergründen zeigen.
Reiseberichte kamen in verschiedenen Formen daher, von einfachen Reisetagebüchern bis hin zu literarisch anspruchsvollen Erzählungen. Diese Berichte konnten auch als Briefsammlungen oder in Versform verfasst sein.
Viele Reiseberichte wurden mit der Absicht veröffentlicht, ein interessiertes Publikum zu erreichen. Autoren entwickelten verschiedene Strategien, um die Glaubwürdigkeit ihrer Berichte zu untermauern, von nüchternem Sprachstil bis hin zu Widmungen an hochrangige Persönlichkeiten.
Im 17. und 18. Jahrhundert wurden Reiseberichte zunehmend in umfangreichen Kompilationen zusammengefasst. Diese Sammlungen boten eine Grundlage für enzyklopädische Werke und wissenschaftliche Reisebeschreibungen, die sich durch detaillierte und systematische Darstellungen auszeichneten.
Im Laufe des 19. und frühen 20. Jahrhunderts veränderten sich die Reisebedingungen und -möglichkeiten erheblich. Dies führte zur Entstehung neuer Reiseberichte, die oft populärliterarischen Charakter hatten. Frauen begannen ebenfalls, vermehrt Reiseberichte zu verfassen, und trugen so zur Vielfalt der Darstellungen bei.
Reiseberichte sind wertvolle Quellen, nicht nur für das Verständnis der Denkmuster und Kenntnisse ihrer Zeit, sondern auch für konkrete historische Ereignisse und soziokulturelle Verhältnisse. Besonders detaillierte Quellenkritik ist erforderlich, um ihren historischen Wert genau zu bestimmen.
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