Menschenwürde als Maßstab humaner Praxis
Bedeutung: Der Begriff der Menschenwürde ist ein wesentlicher Kern der europäischen Geistesgeschichte und wurde von verschiedenen philosophischen und kulturellen Traditionen geprägt, darunter die stoische Philosophie, das Christentum, die Renaissance und das Denken Kants.
Historische Entwicklung:
Die Vorstellung von Menschenwürde lässt sich auf verschiedene Denker und Epochen zurückführen, von Cicero und Seneca über die christliche Imago-Dei-Lehre bis hin zu Kant und Schiller.
Der Begriff trat erst im 20. Jahrhundert in wichtigen Rechtstexten wie dem Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland und der Pariser Erklärung der Menschenrechte auf, obwohl er bereits zuvor die normative Orientierung des europäischen Denkens prägte.
Überpositive Dimension: Menschenwürde bezieht sich auf etwas, das über positive (gesetzliche) Bestimmungen hinausgeht und die unbedingte Bedeutung der menschlichen Existenz betrifft.
Welttranszendenz: Der Begriff impliziert, dass der Menschen als Träger dieser Würde nicht auf bloße Kategorien und Einordnungen reduziert werden kann, sondern die Freiheit und Selbstbestimmung des Individuums respektiert.
Vorrang des Selbstseins: Menschenwürde betont den Vorrang des individuellen Selbstseins gegenüber dem bloßen Etwas-Sein, was das humane und freiheitliche Niveau menschlicher Existenz ermöglicht.
Moderne Kritik: In jüngerer Zeit wird der Begriff der Menschenwürde zunehmend als interpretationsbedürftig oder sogar als Leerformel kritisiert.
Inflationäre Verwendung: Es gibt die Gefahr, dass der Begriff durch übermäßige und oberflächliche Nutzung an Bedeutung verliert, ähnlich wie es bei anderen großen Ideen der Fall ist.
Notwendigkeit der Klarstellung: Um Missverständnissen vorzubeugen, ist eine klare Begriffsbestimmung erforderlich. Der Text schlägt vor, dies durch eine zweistufige Analyse zu erreichen:
Reflexive Struktur: Herausarbeitung der reflexionsbegrifflichen, nicht unmittelbar deskriptiven Grundstruktur der Menschenwürde.
Normativer Anspruch: Erinnerung daran, dass der Anspruch der Menschenwürde an menschliche Praxis oft verfehlt werden kann.
Aktualität und Paradoxalität des Begriffs Menschenwürde
Zunehmende Bedeutung: Der Begriff der Menschenwürde hat in den letzten Jahren besonders in bioethischen Diskussionen an Bedeutung gewonnen.
Grenzbereiche der menschlichen Existenz: Diese Debatten befassen sich oft mit ethischen Fragen an den Grenzen menschlicher Existenz, was die Notwendigkeit einer klaren Definition von „Menschenwürde“ aufwirft.
Nicht nur biologisch: Die Definition der Menschenwürde darf nicht nur auf biologischen Begriffen basieren, sondern muss aus einem tieferen menschlichen Selbstverständnis heraus entwickelt werden.
Alternative Ordnung: Der Begriff der Menschenwürde bringt eine alternative Ordnung der Begriffe ins Spiel, die über rein biologische Kategorien hinausgeht.
Deskriptive vs. normative Perspektive:
Deskriptive Sicht: Es entstehen Paradoxien, wenn Menschenwürde als eine objektive, feststellbare Eigenschaft verstanden wird. Ein Beispiel ist der menschliche Embryo, bei dem keine „Würdeindikatoren“ unter dem Mikroskop sichtbar sind.
Normative Sicht: Im Gegensatz dazu steht eine axiologisch-normative Perspektive, die die Würde des menschlichen Individuums anerkennt, unabhängig von seiner biologischen Erscheinung.
Selbstreflexion vs. Neutralität:
Selbstreflexion: Menschenwürde sollte als Reflexionsbegriff verstanden werden, der uns bewusst macht, dass wir selbst Teil der Beziehung zum menschlichen Individuum sind und von dieser Beziehung mitbetroffen werden.
Neutralität: Eine problematische Sichtweise ist die eines neutralen Beobachters, der die Würde eines anderen nur als fremde, objektive Eigenschaft betrachtet.
Kants Bedeutung: Kants Auffassung von Menschenwürde als zentralem Reflexionsbegriff in der praktischen Philosophie ist besonders relevant für bioethische Fragen.
Flexibilität der Argumentation: Obwohl die Argumentation auf Kant zurückgreift, bedeutet dies nicht, dass die Ideen ausschließlich auf Kant beschränkt sind. Sie finden auch in anderen Kontexten Anwendung.
Das Kantische Erbe
Keine messbare „Wertigkeit“: Laut Kant hat der Mensch keine messbare Wertigkeit („Wert“), sondern eine grundlegende „Würde“, die allen Wertsetzungen vorausgeht und sie erst ermöglicht.
Theoretische und praktische Ordnungen: Ähnlich wie der Mensch in der Erkenntnistheorie das „Original aller Objekte“ ist, bestimmt sich die Ordnung der „Werte“ aus der Bewahrung der Möglichkeit des freien Selbst- und Weltverhältnisses des Menschen, also seiner sittlichen Autonomie.
Praktische Elementarkategorie: Menschenwürde ist jene praktische Elementarkategorie, welche allein das Verhältnis des Menschen zu sich als auch zu allen anderen Menschen normativ umfassend humanitätserhaltend zu bestimmen mag.
Subsumtionsverbot: Menschen können nicht einfach unter Zwecke subsumiert werden, auch nicht unter die besten. Da der Mensch Zweckursprung ist und nicht zum Mittel für andere Zwecke gemacht werden darf, endet die Zweckbestimmung bei ihm.
Schutz der Ganzheit der Existenz: Dies betrifft besonders die grundlegenden Lebensbedingungen und den Körper, die nicht instrumentalisiert werden dürfen.
Gleichheit als Subjektivität: Trotz elementarer (natural immer gegebenen) Asymmetrien (z.B. körperliche Unterschiede) darf die fundamentale (rational immer gesollte) Gleichheit aller Menschen nicht aufgehoben werden. Diese Gleichheit besteht darin, dass alle Menschen Subjekte und nicht Objekte sind.
Menschenwürde in der wechselseitige Einschränkung der Freiheit: Das praktische Verhältnis der Menschen zueinander kann nur ein Verhältnis der wechselseitigen Einschränkung der Freieheitlichkeit sein. In diesem Verhältnis besteht die Menschenwürde. Sie wird anhand der durch die Subjektivität des anderen her gezogenen Grenze auf meiner Seite eingeschränkt, auch, wenn sie kein objektives Merkmal oder sie einem solchen zugeordnet werden kann.
Systemischer Charakter (Gesamtordnung): Das bedeuete, dass der Begriff der Menschenwürde in einer Gesamtordnung der menschlichen Beziehungen reflektiert werden muss. Dies schließt moralische und rechtliche Aspekte ein, die nur im Kontext eines Staates (nicht in einem Naturzustand) objektiv verwirklicht werden können.
Darstellung in Anerkennungsrelationen (statt Zuschreibung): Auch wenn sie nur im Kontext einer Gesamtordnung objektiviert werden kann, ist die Menschenwürde kein Wert, der vom Staat oder der Gesellschaft einfach „zuerkannt“ wird. Sie muss elementar anerkannt werden, um die Würde des Einzelnen und der Gesellschaft zu wahren.
Interpersonale Handlungen als Maßstab: In der Ethik geht es darum, interpersonale Handlungen daraufhin zu prüfen, ob sie die Würde und Freiheit der beteiligten Menschen erhalten.
Anweisung zur Selbstbestimmung: Die Würde bezieht sich auf die Möglichkeit der Selbstbestimmung, auf das „Seinkönnen“ des Menschen, nicht auf ein festgelegtes „Sein“.
Anerkennung des Seinkönnens: Fichte erweitert Kants Idee, indem er die praktische „Nötigung“ zur Anerkennung des Menschen betont, die auf das „Seinkönnen“ und nicht auf bestimmte Freiheitsakte zielt.
Freiheitsgebrauch offen: Es gibt keinen Vorbegriff darüber, wie die Freiheit konkret genutzt wird; die Würde ist daher ein allgemeines Prinzip.
Unantastbarkeit der Würde: Der Satz „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ im deutschen Grundgesetz bezieht sich nicht auf spezifische Freiheitsakte, sondern auf die grundlegenden Voraussetzungen für Freiheit.
Allgemeinste Rechtsnorm: Dieser Satz umfasst alle physischen, psychischen und sozialen Bedingungen, die das Seinkönnen eines zur Freiheit bestimmten Wesens ermöglichen.
Gegensatz zur bloßen Erkenntnis: Die Anerkennung der Menschenwürde folgt einer Logik, die auf ein unbestimmtes Allgemeines zielt und nicht auf eine bloße Erkenntnis.
Praxis als Sitz der Würde
Positive Dimension der Würde: Der Begriff der Menschenwürde beinhaltet nicht nur ein „negatives Moment“ (Schutz vor Verletzungen), sondern auch positive Provokationen zur Verbesserung der menschlichen Praxis.
Verwirklichung der Würde: Würde verlangt ihre praktische Realisierung, indem sie eine Anleitung zum Handeln auf einem humanen Niveau bietet. Der Sinn der Menschenwürde liegt also nicht nur in theoretischen Diskursen, sondern in konkretem, würdevollen Handeln und Unterlassen.
Kritische Einsicht: Würde kann nicht objektiv, sondern nur durch Handlungen und Unterlassungen erfasst werden, die den Menschen als Selbstzweck behandeln. Dies hebt die Menschenwürde über bloße objektive Werturteile hinaus.
Transzendenz von Wert und Dinglichkeit: Die Würde steht über den „objektiven“ Werten und Dingen, weil sie auf das menschliche Selbstverständnis und die Freiheit verweist. Dies unterscheidet die Würde von der bloßen Wertschätzung, wie zum Beispiel als Arbeitskraft oder Künstler.
Freiheitlichkeit als Grundlage: Der Horizont der Würde basiert auf der menschlichen Freiheit und der daraus entstehenden ethischen und rechtlichen Welt. Verstöße gegen die Menschenwürde entstehen, wenn dieser Horizont auf die Natur reduziert wird.
Behandlung nach Gesetzen der Freiheit: Menschenwürde wird verletzt, wenn ein Mensch als bloßer Gegenstand behandelt wird, anstatt nach den Gesetzen der Freiheit.
Natur und Würde: Natürliche Ereignisse wie Krankheit oder Tod tangieren die Würde eines Menschen nicht, da sie subjektlos geschehen.
Intentionalität und Würde: Würdefragen entstehen bei intentionalen Handlungen wie Folter oder Gewalt, da diese Handlungen auf Selbstbestimmung basieren.
Interpersonale Relationen: Würde existiert in den praktischen, interpersonalen Beziehungen zwischen Menschen, nicht im äußeren objektiven Sein. Daher ist Menschenwürde für einen naturalistischen Blick „unsichtbar“, da sie nicht in objektiven Tatsachen, sondern in menschlichem Handeln und Unterlassen liegt.
Würde und Interpersonalität
Darstellung der Selbstzwecklichkeit des Menschen: Die Würde des Menschen zeigt sich nur in Handlungen und Unterlassungen, die die Darstellung der Selbstzwecklichkeit des Menschen zum Inhalt haben.
Handlungen von Menschen auf Menschen: Würdeprädikate (Aussagen über Würde) beziehen sich ausschließlich auf Handlungen von Menschen gegenüber anderen Menschen, einschließlich des Handelns auf sich selbst.
Handlungen auf Objekte: Handlungen auf Objekte sind nur insofern relevant, als sie Mittel für menschliche Zwecke darstellen, nicht als letzte Zwecke selbst.
Eigentumsrecht als „Urrecht“: FICHTE begründet das Recht auf Eigentum damit, dass der Mensch als zwecksetzendes Subjekt Herr der Objekte ist und sich auch als solcher erfahren können muss.
Kritik an der Verneinung des Eigentumsrechts: Eine grundsätzliche Bestreitung des Eigentumsrechts geht mit einer objektivistischen Auffassung des Freiheitswesens einher, das den Menschen als bloßes Objekt betrachtet.
Freiheitswesen und Würde: Ein anderer Mensch ist kein zu beherrschendes Objekt, sondern ein anzuerkennendes Subjekt. Handlungen auf andere Menschen folgen einer Logik der Praxis (moralisches Handeln), nicht der Poiesis (Schaffung von Dingen).
Gemeinschaft der Freiheitswesen: Das Ziel würdevoller Handlungen ist das „objektiv“ gute Leben in der Gemeinschaft, nicht das individuelle Gute oder Nützliche.
Schwebe der Interpersonalität: Würde existiert in der Offenheit und Begegnung zwischen Menschen, nicht in einseitiger Kausalität oder festgelegten Erwartungen.
Humane Kompetenz: Die Fähigkeit, würdevoll zu handeln, ist eine humane Kompetenz, die sich durch die Bejahung der Freiheit und Würde anderer Menschen zeigt.
Konkretitionen
Primär betrifft es den Akteur: Verletzungen der Würde, die in Handlungen und Unterlassungen manifestiert ist, betreffen primär den Handelnden (den „Aktor“), nicht das „Objekt“ seiner Handlungen, also den anderen Menschen.
Reflexionsstruktur: Der Würdegedanke ist relational und bezieht sich auf das Selbstverhältnis und die Beziehungen zwischen Subjekten, nicht auf „etwas“ oder auf objektive Dinge.
Unrecht tun vs. Unrecht erleiden: Es ist besser, Unrecht zu leiden als Unrecht zu tun, da das Tun von Unrecht nicht mit dem Guten vereinbar ist.
Würde des Täters und Opfers: Ein Opfer menschenunwürdiger Behandlung verliert nicht seine Würde; es ist der Täter, der seine eigene Würde einbüßt.
Beispiele für Asymmetrie: In asymmetrischen Beziehungen (z.B. „aktive Sterbehilfe“) ist der Tötende der primäre Akteur, während die Bitte um „Gnadentod“ außerhalb von Würderelationen liegt, da sie eine Aufforderung zur Aufhebung des Seinkönnens eines Freiheitswesens darstellt.
Möglichkeit des Widerstands: Der Angefragte hat die Möglichkeit, dieser Aufforderung nicht nachzukommen und den Bittenden zur Anerkennung der Selbstzwecklichkeit des menschlichen Daseins zu ermahnen.
Täterwürde im Fokus: Würderelationen betreffen alle beteiligten Personen, aber sie definieren sich primär von der Würde des Täters (desjenigen, dessen Maximen die Handlung bestimmen) aus.
Symmetrische und asymmetrische Beziehungen: In symmetrischen Beziehungen (wie Freundschaften) betrifft die Würde alle Handelnden; in asymmetrischen Beziehungen ist der Fokus auf den Agierenden gerichtet.
Würde in spezifischen Handlungen: Würde ist in konkreten Handlungen und Unterlassungen präsent, nicht auf einer allgemeinen Richtlinienebene.
Kritik an Kasuistik: Die heute in der Bioethik verbreitete Praxis, bestimmte extreme Situationen als Ausnahmen zu behandeln, wird kritisiert, da sie die Würdeansprüche untergräbt.
Intensität des Würdegedankens: Der Würdegedanke wird besonders relevant in Extremsituationen, wo nicht der „natürliche“ oder einfachere Weg gewählt werden sollte, sondern das Seinkönnen von Freiheitswesen im Vordergrund steht.
Würdeverfehlungen: Würde als menschliches Soll
Normativer Urbegriff: „Menschenwürde“ erinnert an das humane Niveau des Selbst- und Weltverhältnisses und ist ein normativer Grundbegriff.
Verbindung von Sein und Sollen: Menschenwürde bezeichnet ein Soll, das jedoch auch verfehlt oder unterboten werden kann, ähnlich wie es im ersten Artikel des deutschen Grundgesetzes festgelegt ist.
Römisches Verständnis von „dignitas“: Im altrömischen Verständnis war „dignitas“ eine Art, wie sich ein gesitteter Mensch verhält. Dieses Konzept beinhaltet auch die Möglichkeit des Verlustes von Würde durch unangemessenes Verhalten.
Christliches Verständnis: Auch im Christentum, wo der Mensch eine angeborene Würde besitzt, gibt es die Möglichkeit, diese Würde durch eigenes Verhalten zu gefährden.
Zweiseitige Natur der Würde: Menschenwürde ist sowohl Gabe als auch Aufgabe. Sie ist eine Qualität, die einem Menschen gegeben ist, aber auch eine, die bewahrt und gelebt werden muss.
Verlust und Bewahrung: Menschenwürde kann in einem bestimmten Sinne nicht verloren gehen, aber sie kann verfehlt oder verwirkt werden.
Subsumtion unter verdinglichende Perspektiven: Würde wird verfehlt, wenn der Mensch unter eine verdinglichende Perspektive subsumiert wird, d.h., wenn er nur als Mittel zu einem äußeren Zweck betrachtet wird.
Bezug zum Handelnden: Die Verfehlung der Würde betrifft in erster Linie den Handelnden und weniger den, der die Handlung erleidet.
Selbstverhältnis des Menschen: Menschenwürde hängt eng mit dem Selbstverhältnis des Menschen zusammen. Wird dieses Selbstverhältnis nicht zu einer lebendigen Einheit, resultieren daraus Würdedefekte.
Gefährdung der Menschenwürde: Die Gefährdung der Menschenwürde ergibt sich aus den Gefährdungen des Selbstverhältnisses, was zu einem Mangel an persönlicher Integrität und Würde führt.
Dignitas und miseria hominis: die existentielle Seite der Würde
Gegensatz: Die Diskussion über die „dignitas hominis“ (Würde des Menschen) wurde lange Zeit durch den Kontrast zur „miseria hominis“ (Misere des Menschen) geprägt. Dieser Gegensatz war besonders in der humanistischen Tradition präsent, etwa bei Denkern wie Petrarca, Fazio, Manetti und Pico.
Ursachen der menschlichen Misere:
Physische Schwäche: Die körperlichen Einschränkungen und Mühsal, die der menschlichen Natur eigen sind.
Endlichkeit und Vergänglichkeit: Die Tatsache, dass das menschliche Leben begrenzt und dem Zufall unterworfen ist.
Geneigtheit zum Irrtum: Die menschliche Tendenz, sich über das wahre Gute zu täuschen.
Herrschaft der Sünde: Aus theologischer Sicht wird die Würde des Menschen durch die Sünde verdorben, was zu „odium atque contemptus humanae conditionis“ (Hass und Verachtung der menschlichen Lage) führt. Diese Verzweiflung wird zur grundlegenden Stimmung der menschlichen Existenz.
Kierkegaard und die „Krankheit zum Tode“:
Verzweiflung als Existenzial: Kierkegaard beschreibt Verzweiflung als grundlegendes Element in der Suche nach Sinn und Selbstverständnis, die ohne Glauben im Absoluten nicht zu einer wahren geistigen Existenz führt.
Kritik am Subjektivismus: Kierkegaard stellt infrage, ob die moderne Vorstellung von Autonomie und Einheit von Bewusstsein und Wille ausreicht, um die menschliche Würde zu begründen. Er betont, dass es Vermittlungsschritte geben muss, die über die Philosophie hinausgehen und die Verzweiflung als existenzielles Problem anerkennen.
Notwendigkeit der Öffnung zum Anderen: Das geistige Selbst kann nicht allein in sich selbst Ruhe finden, sondern nur durch eine Beziehung zu dem, was das gesamte Verhältnis (also das Verhältnis zum Anderen und zum Absoluten) bestimmt.
Unbewusste Verzweiflung:
Menschen, die sich der Aufgabe, ein Selbst zu werden, nicht stellen und ihre Verzweiflung verdrängen oder betäuben.
Verleugnung des Selbst:
Menschen, die versuchen, „kein Selbst zu sein“, indem sie sich dem „Man“ (nach Heidegger) anpassen oder sich einem Idol unterwerfen, das anstelle ihres eigenen Selbst tritt.
Romantische Überhöhung des Selbst:
Menschen, die verzweifelt versuchen, ein Selbst zu sein, indem sie sich selbst eine übertriebene Bedeutung beimessen oder sich zwanghaft von anderen abheben wollen. Hier wird übersehen, dass das Selbst immer auch in Beziehung zu einem anderen Selbst steht, das mehr als nur ein Zuschauer oder Unterstützer der eigenen Selbstverwirklichung ist.
Max Stirner und die verzweifelte Egoität:
Der Text kritisiert die extrem individualistische Philosophie von Max Stirner, die als Beispiel für eine verzweifelte Form der Egozentrik dient, bei der das Selbst in isolierter Selbstverwirklichung gefangen bleibt.
Verlorenes Selbst:
In allen genannten Fällen führt die Verzweiflung zu einem entfremdeten oder verlorenen Selbst, das seine wahre Bestimmung, nämlich eine authentische geistige Existenz, nicht erreicht.
Kierkegaards Ansatz: Kierkegaard betont, dass der erste Schritt zur Überwindung der Verzweiflung darin besteht, sie überhaupt zu erkennen. Viele Lebensformen, selbst die normalsten, sind Ausdruck von Verzweiflung, oft als verzweifelter Versuch, Verzweiflung zu überwinden.
Kritik am normalen Leben: In seinem Werk „Die Krankheit zum Tode“ bietet Kierkegaard eine Ideologiekritik, die zeigt, dass die „miseria hominis“ (Misere des Menschen) auch im normalen Leben allgegenwärtig ist.
Gottesbeziehung: Kierkegaard sieht die Lösung für die Verzweiflung in der religiösen Beziehung zu Gott. Das freie und geistige Selbst kann nur durch Gott gewonnen werden und muss vor Gott (coram Deo) gelebt werden.
Glaube als Fundament: Die einzige Möglichkeit für den Menschen, ein authentisches Selbst zu sein, liegt im Glauben, der das Selbst auf die Macht gründet, die es geschaffen hat.
Dynamik der Verzweiflung: Kierkegaard zeigt, dass das Verfehlen der Menschenwürde oft eine dynamische Kraft hat, die nicht einfach durch moralische Appelle gestoppt werden kann.
Unfreiwillige Verzweiflung: Niemand ist freiwillig verzweifelt oder lebt auf einem Niveau, das außerhalb wahrer Würde liegt, obwohl es Täuschungen darüber geben kann, was wahre Würde ist.
Elementare Anerkennung: Der Unterschied zwischen anerkennendem und nicht-achtendem Handeln ist offensichtlich und intuitiv spürbar. Daher ist ein Zurück hinter die europäische Grundidee der Menschenwürde unmöglich, selbst bei historischen Verwirrungen oder Trivialisierungen.
Erfahrbarkeit der Würde: Es ist wichtig, Würde in allen Bereichen des menschlichen Lebens erfahrbar zu machen – ästhetisch, juridisch, ethisch, politisch, erzieherisch und wissenschaftlich.
Institutionalisierung von Anerkennung: Die Lebensform „Anerkennung“ muss institutionalisiert werden, damit die Idee der Menschenwürde nicht nur theoretisch bleibt, sondern in der Praxis verwirklicht und weitergegeben werden kann.
Kern der europäischen Geistesgeschichte: Der Begriff der Menschenwürde ist zentral für die europäische Geistesgeschichte und zeigt, dass es jederzeit möglich ist, diesen Anspruch umzusetzen.
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