Psychodynamische Psychotherapien
Begriffsdefinition
Die Bezeichnung „Psychodynamische Psychotherapie“ ist ein Oberbegriff für verschiedene
Therapieformen, die alle aus der Psychoanalyse (Freud) hervorgegangen sind, z.B.:
▪ Psychoanalyse
▪ Analytische Psychotherapie
▪ Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie
▪ Psychodynamische Kurzzeittherapie
Historische Entwicklung
Historischer und theoretischer Hintergrund
▪ Begründer: Nervenarzt Sigmund Freud (1856-1939)
▪ Entwicklung der Psychoanalyse basierend auf
Auseinandersetzungen mit
▪ Hypnose (Charcot, Bernheim)
▪ Kathartische Methode (Breuer)
▪ Philosophie des Unbewussten (Schopenhauer, Nietzsche, etc.)
▪ Freuds Werk:
▪ Konzept des Unbewussten
▪ Triebtheorie
!!!!!Zentral: intrapsychische Konflikte → „Ein-Person-Modell“
Topographisches Modell (Freud, 1900, Die Traumdeutung)
Unterscheidung von drei Anteilen der
Persönlichkeit
• das Unbewusste → Funktionsprinzipien:
Lustprinzip
• das Vorbewusste
• das Bewusste → Funktionsprinzipien des
Bewussten: Realitätsprinzip
Strukturmodell (Freud, 1923, Das Ich und das Es)
▪ Das Unbewusste bekommt mehr Bedeutung
▪ Annahme: Das Erleben, Handeln und Denken wird von unbewussten und dynamischen
psychischen Kräften beeinflusst
▪ Es: triebhaft; instinktive Bedürfnisse;
Energiespeicher
▪ Ich: Ausgleich zwischen Es und Über-Ich
(denken, steuern,…)
▪ Über-Ich: elterliche und gesellschaftliche
Werte, Ge- und Verbote, Moral
Entwicklungsspezifische Konflikte
Weiterentwicklungen der Psychoanalyse
Ich-Psychologie (Anna Freud, Heinz Hartmann u.a.) :
▪ Fokus: Ich-Funktionen (nicht: Unbewusstes), Ich-Funktionen von Es
autonom, Anpassungsleistungen des Menschen an seine Umwelt
− Autonome Ich-Funktionen:
Intention, Motorik, Denken, Realitätsprüfung, Anpassung, usw.
− Ich-Funktionen zur Konfliktbewältigung:
Abwehrmechanismen z.B. Sublimierung, Projektion, Regression,
Reaktionsbildung, etc.
Objektbeziehungstheorie (Melanie Klein, Donald Winnicott u.a.):
▪ Fokus: Beziehungen als Zentrum des seelischen Erlebens
▪ Paradigmen-Wechsel vom Ein-Person-Modell der klassischen
Psychoanalyse zum Zwei-Personen-Modell des modernen
psychoanalytischen Denkens
▪ Das Objekt als das Gegenüber
▪ Psychische Strukturen entwickeln sich als Folge und Ergebnis von
internalisierten Objektbeziehungen:
− Jede reale Begegnung mit Objekt wird verinnerlicht
− Pathologisch verinnerlichte Objektbeziehungen
➢ seelische Störung
Selbstpsychologie (Heinz Kohut u.a.) :
▪ Fokus: Entwicklung der Struktur des Selbst (= selbstreflektierter
Teil des Ich), Entwicklung und Entfaltung des Selbst und seiner
Talente und Fertigkeiten
▪ Ziel: Narzisstische Homöostase (= stabiles Selbstwerterleben;
kohärentes, autonomes Grundgefühl vom eigenen Selbst &
dessen Wert)
▪ Mütterliche Empathie als Voraussetzung für die Entwicklung
eines gesunden Selbstgefühls
Integrativer Ansatz :
▪ Fasst diese verschiedenen Richtungen zusammen
(Kernberg, 1976)
▪ Bestimmt heute den Mainstream der Psychoanalyse
Gemeinsamkeiten psychodynamischer
Therapien
Gemeinsame theoretische Grundlagen
psychodynamischer Therapien
▪ Psychischer Determinismus: unbewusste Bedürfnisse einer Person beeinflussen
Wahrnehmung, Gefühle und Verhalten mit
▪ Einzigartigkeit/ Äquifinalität: scheinbar gleiches Symptom bei unterschiedlichen Personen
kann jeweils andere psychodynamische Ätiologie haben
▪ Fließender Übergang zwischen Gesundheit und Pathologie: Kontinuum von Gesundheit und
neurotischer Pathologie; Unterschied ist quantitativ: jeder kann sich unter bestimmten
Bedingungen, über kurz oder lang auffällig zu verhalten
▪ Abwehrmechanismen: Anwendung, um schmerzhafte, unangenehme Gefühle von
Bewusstsein fernzuhalten; unbewusst ablaufender Prozess; gewährleistet psychisches
Gleichgewicht
▪ Innerpsychischer Konflikt: durch gegensätzliche Forderungen ausgelöster Konflikt; kann
großen Einfluss auf Seelenleben haben; „neurotische Symptombildung“ als Folge von nicht
hinreichender Fernhaltung der Konflikte vom Bewusstsein durch Abwehrmechanismen
▪ Symptom: entweder Lösungsversuch von unbewusstem innerpsychischem Konflikt oder
Ausdruck von strukturellem Defizit
Strukturpathologie
▪ Struktur
▪ „Verfügbarkeit über psychische Funktionen, welche für die Organisation des Selbst und
seiner Beziehungen zu den inneren und äußeren Objekten erforderlich sind“ (Rudolf, 2004)
▪ Relativ zeitstabiles Gefüge von Persönlichkeitseigenschaften (Selbstwahrnehmung,
Selbststeuerung, Abwehr, Objektwahrnehmung, Kommunikation, Bindung)
▪ Strukturelles Defizit
▪ Defizite der Persönlichkeitsstruktur oder Defizite bzgl. psychischer Funktionen
▪ Entstehen durch unzureichende Entwicklungsbedingungen oder Beziehungserfahrungen,
in denen die Bedürfnisse des Kindes nicht hinreichend befriedigt wurden
➢ Strukturelle Störungen z.B. Persönlichkeitsstörungen bei früher und tiefer Störung
Gemeinsame Bestrebungen psychodynamischer
▪ Ziel:
− Herstellung von sinnvollem Zusammenhang zwischen vergangenen Erfahrungen und
gegenwärtigem Erleben
− Förderung der Einsicht in Gefühle, Erlebens- und Verhaltensmotive, um Verständnis für
aktuelle Schwierigkeiten zu entwickeln → Selbstakzeptanz
▪ Fokus der Behandlung:
− Oft nicht Symptom selbst, sondern Aufdeckung der unbewussten Hintergründe, die
ursächlich für Symptomausbildung sind
▪ Angewandte Methodik: Hermeneutik (= deutendes und interpretierendes Vorgehen)
Diagnostik
▪ Lange Zeit grundsätzlicher Verzicht auf „objektive Methoden“
▪ Aktuell:
▪ Bevorzugung weniger strukturierter Vorgehensweisen
▪ Vorteile:
➢ ermöglicht Patient*innen den Gesprächsverlauf („Szene“) unbewusst zu gestalten
➢ ermöglicht Therapeut*innen die subjektive Realität und Beziehungsgestaltung zu
erfassen → für die Diagnostik relevante Informationen
▪ Richtungsänderung: Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik (OPD, 1996)
▪ Multiaxiales Diagnose- und Klassifikationssystem (1-2 Std. Erstgespräch)
▪ Entwicklung vom „Arbeitskreis Operationalisierte Psychodynamische Diagnostik“ (OPD)
▪ Ziele:
▪ Strukturieren der Diagnostik in der psychodynamischen Psychotherapie
▪ Vereinheitlichen psychodynamischer Begrifflichkeiten
▪ Ergänzung zu den Klassifikationssystemen ICD-10 und DSM-IV/5
▪ OPD-1 (1996): Statusdiagnostik
▪ OPD-2 (2006): kein rein diagnostisches Instrument mehr, sondern zusätzlich dienlich für
▪ unmittelbare Therapieplanung
▪ Ressourcenerfassung
▪ Veränderungsmessung
Übersicht über das OPD-System
5 Achsen der OPD
Achse I: Krankheitserleben und Behandlungsvoraussetzungen
Beschwerdesymptomatik, Therapieerwartungen, Schwerpunkt
auf Erlebenselementen, Motivationen und vorhandene
Ressourcen
Achse II: Beziehung
Maladaptive Beziehungsmuster, Übertragung und
Gegenübertragung
▪ Formen psychoanalytisch begründeter
Therapieverfahren
Psychoanalyse
▪ Sitzungen: Frequenz, Dauer, Anzahl unbegrenzt
▪ Setting: im Liegen, zu Therapeut*in kein Blickkontakt
▪ Ziel: Veränderung der Persönlichkeitsstruktur von Patient*innen
▪ Basis: Aufbau von intensiver emotionaler Beziehung zwischen
Analysand und Analytiker*in
▪ Aktivierung, Wiedererleben und Korrektur vergangener
Beziehungserfahrungen und Konflikte durch die Beziehung zum
Analytiker*in („Übertragung“; „emotional korrigierende
Erfahrung“)
▪ Fokus: subjektives Realitätserleben von Patient*innen
▪ Regressionsprozess zentral (= zeitlich begrenzter Rückzug auf
frühere psychische Entwicklungsstufen)
▪ Funktion der Liegeposition:
➢ Abschirmung von Einflüssen des*r Analytiker*in
➢ Förderung der Regression durch Verringerung der Selbst- &
Fremdkontrolle
Psychoanalytische Techniken
▪ Freie Assoziation: Grundregel der psychoanalytischen Behandlung, d.h. kein Gedanke des
Analysanden soll unausgesprochen bleiben → ermöglicht unbewusste Motive auszudrücken
▪ Klären (= Klarifizieren): Nachfragen, Zusammenfassen und Ordnen des Materials, um Klarheit
über subjektiv erlebte Realität zu erhalten
▪ Konfrontieren: Hinweis auf widersprüchliche Aspekte, Widerstand, etc.
▪ Deuten: Übersetzung der Produktionen in unbewusste Vorläufer mit dem Ziel, Zusammenhang
zwischen manifestem Erleben und Verhalten und unbewussten Motiven, Wünschen usw.
herzustellen
▪ Übertragung: Wiedererleben vergangener Beziehungserfahrungen in der Beziehung zum*r
Analytiker*in
▪ Gegenübertragung: bewusste und unbewusste Reaktionen des*r Analytiker*in auf
Analysanden und dessen Übertragung
Analytische Psychotherapie
Form der Psychoanalyse, die den Rahmenbedingungen des
Versorgungssystems Rechnung trägt:
▪ Fokus stärker auf Bewältigung der Symptome und
Störungen
▪ Prozess ist weniger tiefgreifend, trotzdem Anstreben
von „struktureller Änderung“ und nicht lediglich
Symptomreduktion
▪ Techniken mit Psychoanalyse vergleichbar
▪ Dauer: 1 – 3 Jahre
▪ Sitzungsanzahl: 80 bis 240 und max. 300 Sitzungen
(kassenärztliche bundesvereinigung) nordrhein bayern
Tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie
▪ Fokus: Aktuelle Lebensbelastungen und aktuelle
soziale und interpersonelle Beziehungen (aktuelle
psychosoziale Konflikte)
▪ Am häufigsten eingesetzte Form der dynamischen
Psychotherapie (weniger intensiv und aufwändig als
Psychoanalyse):
− Frequenz und Dauer werden Bedürfnissen der
Patient*innen angepasst
− Sitzungszahl: 25 bis max. 100 (jeweils 50 Min.)
− Setting: im Sitzen
▪ Position des*r Therapeut*in wesentlich aktiver:
− Interventionen können emotional unterstützend
oder Problemlösungsprozess fördernd sein
− Fokussierteres Vorgehen
− Nur eingeschränkt Nutzung von Regression,
Deutung usw
Psychodynamische Kurzzeittherapie
▪ Fokus: Behandlung eines klar definierten Problems in kurzem,
festgelegtem Zeitraum:
− Identifizierung der inneren unbewussten Konflikte in der
Anfangsphase, die dem spezifischen zu behandelnden
Problem zugrunde liegen
− Therapeutische Interpretationen insb. auf gegenwärtige
Lebensumstände und Patientenverhalten bezogen
▪ Frequenz und Dauer abhängig von Absprache zwischen
Therapeut*in und Patient*in
▪ Sitzungszahl: 8-24 Sitzungen; Setting: Im Sitzen
▪ Empirischer Stand
Psychodynamische Schulen begegneten empirischer Effektivitätsforschung lange Zeit
mit Skepsis
▪ Ausmaß der durch Therapie ausgelösten psychischen Vorgänge zu komplex, um
sie mit verfügbaren Instrumenten zu erfassen
▪ Diese Einschätzung ändert sich zunehmend → Annäherung an empirische
Wirksamkeitsprüfung
▪ Zunehmende Entwicklung manualisierter, störungsbezogener, psychodynamischer
Therapieprogramme
Kaum empirische Forschung zu psychodynamischer Langzeittherapie:
▪ Studien berichten bedeutsame und stabile Effekte (z.B. Knekt et al., 2008; Leichsenring
et al. 2008)
▪ Quantifizierung der Effekte in einer Metaanalyse von Leichsenring und Rabung
(2008; 11 RCT und 12 Beobachtungsstudien) mit Prä-Post-Effektstärken von d = .96
▪ Kritik an der methodischen Qualität dieser Studie und der Validität der
Schlussfolgerungen (z.B. Rief & Hofmann, 2009; Roseborough, 2010)
▪ Metaanalyse (DeMaat et al. 2009)
− d = 0.87 für Prä-Post-Veränderungen und zusätzlicher Anstieg zum
Follow-Up-Zeitpunkt (d=1.18)
− Abermals: Hinweis der Autoren auf unbefriedigende methodische
Qualität einbezogener Studien
▪ Metaanalyse der Cochrane Collaboration (Malmberg et al. 2010) zur
Wirksamkeit Psychodynamischer PT bei Schizophrenie
− Befunde sprechen deutlich gegen Anwendung von Psychodynamischer
PT im stationären Bereich bei Schizophrenie
Psychodynamische Kurzzeittherapie am besten empirisch untersuchte Form:
▪ Metaanalyse (Cochrane Collaboration, 2009)
▪ Einbezug von 23 RCTs: Signifikante Verbesserung bzgl. verschiedener Symptome und
Erkrankungen (Depressionen, Angststörung, interpersonelle Beschwerden usw.) im
Vergleich zu verschiedenen Kontrollgruppen, Effekte langfristig stabil
▪ Aber: Kritik der Autoren:
➢ Große Heterogenität der Studienqualität
➢ Subsummierung einer Vielzahl unterschiedlicher therapeutischer Vorgehensweisen
unter dem Label Psychodynamische Kurzzeittherapie
▪ Metaanalyse (Driessen et al., 2010)
▪ Effektivität Psychodynamischer Kurzzeittherapie zeigt große Effekte (d = 1.34) im Prä-Post-
Vergleich (CAVE: Spontanremission) bei Depressionsbehandlung
▪ Empirischer Stand Fazit
▪ v.a. Psychodynamische Kurzzeittherapien
nachweislich effektiv für verschiedene
Anwendungsbereiche
▪ Metaanalysen zeigen oft sehr gute Effekte v.a. in
der Langzeitbetrachtung; teils wird die
Aussagekraft der Analysen aufgrund
methodologischer Schwächen jedoch in Frage
gestellt
▪ Weiterhin besteht Bedarf an methodisch
hochwertigen Therapievergleichsstudien
▪ Erfahrungsberichte
Erfahrungsberichte aus 2. Hand
Hintergrund: persönlicher Austausch mit befreundeten Kolleginnen (61J., 50J. und 39J) alle
als tiefenpsychologisch fundiert arbeitende Psychotherapeutinnen niedergelassen (1x PP, 2x
KJP)
Frage: „Warum haben Sie sich damals für TP und nicht für VT entschieden?“
Antworten:
•
„Damals mehr Zeitgeist“
„Stärkere Faszination dafür“
„Alle Verfahren sind interessant und ergänzen sich einander. PA/ TP erschien mir dabei
komplexer, daher wollte ich mich in der intensiven Ausbildung lieber damit beschäftigen.
VT Aspekte erschienen mir später leichter zu ergänzen.“
Frage: „Worin sehen Sie die Vorteile der PA/ TP gegenüber der VT?“
• „Mittlerweile zielen die einzelnen therapeutischen Verfahren ja mehr auf gegenseitiges
Ergänzen und Synergien, als auf voneinander abgrenzen und ausschließen. Das ist eine
wertvolle Entwicklung“
„Ich gehe davon aus, dass TP den Patienten nachhaltiger und langfristiger helfen kann“
„Arbeit an der Wurzel des Problems“
Frage: „Worin sehen Sie spezifische Herausforderungen in der Arbeit als PA/ TP im Gegensatz zu
VT?“
• „Weniger strukturiertes Vorgehen/ Manuale, dadurch evtl. mehr Unsicherheit/
Selbstzweifel; Stunden orientieren sich sehr stark an dem was der Patient mitbringt, daher
teils schwer vorzubereiten“
„Für Patienten teils schwer nachvollziehbar, etwas „abgespacter“ Ruf“
„Umgang mit Widerständen, ständiges Hypothesenbilden und prüfen, lesen zwischen den
Zeilen.“
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