Bestimmung der „wahren“ Persönlichkeit (criterion personality)
Um Beurteilungsgenauigkeit zu messen, muss die „wahre“ Persönlichkeit definiert werden.
Methoden zur Bestimmung:
Selbsteinschätzung (Person bewertet sich selbst)
Fremdeinschätzung durch Bekannte (z. B. Freunde, Kollegen)
Fremdeinschätzung durch Unbekannte (Konsens unter mehreren Beobachtern)
Verhaltensindikatoren (objektive Messungen, z. B. tatsächliches Verhalten im Alltag)
Häufigste Methode: Selbst-Fremd-Übereinstimmung
duck test: “If it looks like a duck, swims like a duck, and quacks like a duck, then it probably is a duck.“
Zwei Ansätze zur Genauigkeit bei Persönlichkeitsbeurteilungen
Trait-zentrierte Analyse (variable-centered approach)
Misst, wie gut Menschen einzelne Persönlichkeitsmerkmale anderer einschätzen können.
Beispiel: Wie genau kann eine Gruppe die Extraversion verschiedener Personen bewerten?
Person-zentrierte Analyse (profile-centered approach)
Misst, wie genau eine einzelne Person in Bezug auf mehrere Merkmale eingeschätzt wird.
Beispiel: Kann eine Person korrekt als extravertiert, gewissenhaft und emotional stabil wahrgenommen werden?
Einzelne vs. aggregierte Beurteiler
Einzelbeurteiler-Ansatz:
Durchschnittliche Genauigkeit eines einzelnen Beurteilers.
(1) Berechnung der Kriteriumskorrelation für jede einzelne Beurteilung.
(2) Mittelung der individuellen Korrelationen über alle Beurteiler hinweg.
Aggregierter Beurteiler-Ansatz:
Genauigkeit der durchschnittlichen Beurteilung aller Beurteiler.
Berechnung der Korrelation zwischen dem Kriterium (wahre Persönlichkeit) und dem Durchschnittsurteil aller Beurteiler.
Definition der Persönlichkeitsbeurteilungsgenauigkeit:
Drei methodologische Merkmale
Definition der Kriteriumspersönlichkeit („wahre“ Persönlichkeitswerte)
Merkmalszentrierte vs. personenzentrierte Analysen
Einzelne vs. aggregierte Beurteileranalysen
Zusammenfassung
Verschiedene Methoden zur Bestimmung der „wahren“ Persönlichkeit.
Unterschied zwischen Einschätzung einzelner Merkmale und gesamtem Persönlichkeitsprofils.
Gruppenbewertungen sind oft genauer als Einzelbewertungen.
Wie genau können Persönlichkeitsmerkmale beurteilt werden?
Menschen können Persönlichkeit besser als der Zufall vorhersagen, selbst ohne vorherige Bekanntschaft.
Genauigkeit bei Fremdeinschätzungen:
Extraversion & Gewissenhaftigkeit → am besten erkennbar.
Neurotizismus → am schwierigsten zu beurteilen.
Studien:
Borkenau & Liebler (1992): Personen wurden durch Videos mit und ohne Ton, Standbilder und Audios beurteilt.
Connelly & Ones (2010): Bekannte (Freunde, Ehepartner) beurteilen Persönlichkeit genauer als Fremde.
Können Computer Persönlichkeit besser beurteilen? Youyou et al. (2015):
Computeranalysen sozialer Medien (z. B. Facebook-Likes) konnten Persönlichkeit genau vorhersagen.
In manchen Fällen sogar genauer als enge Freunde.
Typische Genauigkeit:
Einzelbeurteiler: Korrelationen von .10 bis .30.
Gruppenurteile: .20 bis .40 (bis zu 70 % Genauigkeit bei Ja/Nein-Urteilen).
Fragen für weitere Forschung:
Wann sind Urteile genauer? (Moderatoren)
Warum sind sie genauer oder ungenauer? (Prozesse)
Moderatoren der Beurteilungsgenauigkeit
Eigenschaftsmerkmale (Good trait)
muss beobachtbar und beurteilbar sein
Extraversion ist in fast allen Kontexten leicht erkennbar.
Neurotizismus schwer erkennbar (außer in Stresssituationen).
Verträglichkeit wird oft falsch eingeschätzt.
Menge und Qualität der Information:
Mehr Informationen verbessern die Genauigkeit – aber nur bis zu einem gewissen Punkt.
Menge der validen Informationen ist essentiell
Eigenschaften des Beurteilers:
Hohe kognitive Fähigkeiten → bessere Urteile.
Emotionale Stabilität & Extraversion → bessere Beurteilung anderer.
Eigenschaften der beurteilten Person:
Expressivität (zeigt Emotionen offen) erleichtert genaue Einschätzungen.
Konsistentes Verhalten über verschiedene Situationen erhöht Beurteilungsgenauigkeit.
Zusammenfassung zu Persönlichkeitsbeurteilungen
Extraversion & Gewissenhaftigkeit werden leicht erkannt, Neurotizismus & Verträglichkeit eher schwer.
Mehr Informationen verbessern Urteile, aber nur bis zu einem gewissen Punkt.
Computer können Persönlichkeit oft genauso gut oder besser beurteilen als Menschen.
Beurteiler projizieren oft ihre eigene Persönlichkeit auf andere.
Persönlichkeitsbeurteilung
Merkmalszentrierter Ansatz (Trait-centered approach)
Erkenntnisse aus Letzring et al. (2021):
Fremdeinschätzungen von Persönlichkeitsmerkmalen sind untereinander stärker korreliert als Selbsteinschätzungen.
Besonders bei geringer Bekanntschaft neigen Fremde dazu, ähnliche Bewertungen abzugeben.
Kleine systematische Unterschiede zwischen Selbst- und Fremdbild:
Menschen bewerten sich selbst oft als neurotischer.
Sie schätzen ihre eigene Gewissenhaftigkeit niedriger ein als andere es tun.
Beurteiler unterscheiden sich in ihrer Bewertungsweise:
Manche neigen zu insgesamt positiveren Urteilen.
Manche zeigen stärkere Übereinstimmung mit anderen Beurteilern (z. B. durch soziale Erwünschtheit).
Etwa 30 % der Varianz in Fremdeinschätzungen lassen sich durch diese Beurteilertendenzen erklären.
Personenzentrierter Ansatz (Person-centered approach)
Das durchschnittliche Persönlichkeitsprofil einer Person korreliert stark mit sozialer Erwünschtheit.
Dies führt dazu, dass zufällig ausgewählte Persönlichkeitsprofile oft Ähnlichkeiten aufweisen.
Die Genauigkeit bei der Beurteilung individueller Abweichungen vom Durchschnitt ist jedoch nur mäßig (r ≈ .20).
Je besser ein Beurteiler eine Person kennt und je weniger er sie mag:
Desto genauer erkennt er deren Abweichungen vom Durchschnitt.
Desto weniger positiv fällt seine Beurteilung aus.
Zusammenfassung der Erkenntnisse Persönlichkeitsbeurteilung
Fokus auf Merkmale vs. Personen:
Manche Studien konzentrieren sich auf spezifische Persönlichkeitsmerkmale.
Andere betrachten das gesamte Persönlichkeitsprofil einer Person.
Genauigkeit wird oft anhand der Korrelation zwischen Selbst- und Fremdeinschätzungen gemessen.
Doch Selbsteinschätzungen sind nicht immer fehlerfrei (z. B. Selbstüberschätzung oder soziale Erwünschtheit).
In standardisierten Situationen können sogar Fremde Extraversion & Verträglichkeit recht gut einschätzen.
Bekanntheitsgrad beeinflusst die Genauigkeit:
Je besser sich Beurteiler und Zielperson kennen, desto genauer sind die Einschätzungen.
Allerdings können persönliche Vorlieben oder Antipathien die Einschätzungen verzerren.
Moderne Ansätze nutzen soziale Medien & maschinelles Lernen:
Computeranalysen (z. B. Facebook-Likes) liefern oft sehr präzise Vorhersagen, besonders für Offenheit.
Die Genauigkeit von Persönlichkeitsurteilen variiert je nach Merkmal, Zielperson, Beurteiler und verfügbarer Information.
Das Lens-Modell zur Persönlichkeitsbeurteilung
Das Lens-Modell beschreibt, wie Menschen nicht direkt beobachtbare Eigenschaften beurteilen.
Drei zentrale Komponenten:
Urteile über eine Zielperson (z. B. „Ist sie extravertiert?“)
Tatsächliche Persönlichkeitsmerkmale der Zielperson
Beobachtbare Hinweise (z. B. Körpersprache, Kleidung)
Genauigkeit hängt davon ab:
Ob valide Hinweise vorhanden sind.
Ob der Beurteiler diese korrekt nutzt.
Was sind Hinweise (Cues) im Lens Model?
Hinweise sind beobachtbare Merkmale, die auf eine zugrunde liegende Eigenschaft hinweisen.
Beispiele für Hinweise auf Extraversion: Laute Stimme, Viele soziale Interaktionen, Expressive Gestik
Zwei zentrale Faktoren für die Genauigkeit:
Hinweisgültigkeit: Wie stark ein Hinweis mit dem tatsächlichen Persönlichkeitsmerkmal zusammenhängt.
Hinweisnutzung: Wie sehr der Beurteiler diesen Hinweis bei seiner Einschätzung berücksichtigt.
Modellierung der Prozesse am Beispiel der Extraversion
Hinweise (Cues):
Lautes Sprechen (r = .40)
Viele Gespräche über Hobbys (r = .35)
Häufiges Lächeln (r = .55)
Persönlichkeitsurteil:
Die Beurteiler nutzen manche Hinweise stärker als andere.
Wenn Hinweisnutzung und Hinweisgültigkeit gut übereinstimmen, ist die Beurteilung genau.
Wichtige Messwerte:
Vorhersagbarkeit: Zusammenhang zwischen Persönlichkeit und Hinweisen.
Hinweissensitivität: Korrelation zwischen genutzten und validen Hinweisen.
Reaktionskonsistenz: Korrelation zwischen Persönlichkeitsurteil und genutzten Hinweisen.
Beispielstudie: Beurteilung von Extraversion anhand von E-Mail-Adressen (Back, Schmukle & Egloff, 2008)
[How extraverted is honey.bunny77@hotmail.de]
Studiendesign:
599 E-Mail-Adressen von jungen Erwachsenen.
Selbstberichtete Persönlichkeitswerte.
100 unabhängige Beobachter beurteilten die Extraversion nur anhand der E-Mail-Adresse.
Ergebnisse:
Hohe Übereinstimmung zwischen den Beobachtern.
Bewertungen von Extraversion und Gewissenhaftigkeit waren relativ genau.
Konsistente Nutzung von bestimmten Hinweisen (z. B. spielerische vs. seriöse E-Mail-Adressen).
Einige Hinweise waren besonders valide, andere nicht.
Wozu dient das Lens Model?
Das Modell hilft zu verstehen, wann und warum Persönlichkeitsurteile genau oder verzerrt sind.
Es erklärt Moderatoreneffekte, z. B.:
Welche Merkmale sind gut beurteilbar?
Welche Informationen sind besonders diagnostisch?
Welche Personen sind „gute“ Beurteiler?
Welche Personen sind „leichte“ Ziele für genaue Beurteilungen?
Lens Model Zusammenfassung
Das Lens-Modell zeigt, dass Persönlichkeitsurteile auf beobachtbaren Hinweisen basieren.
Genauigkeit hängt davon ab, ob Beurteiler die richtigen Hinweise nutzen.
Studien zeigen, dass selbst minimale Informationen (z. B. eine E-Mail-Adresse) für gewisse Urteile genutzt werden können.
Allgemeine Hinweise auf Persönlichkeit im Alltag
Persönlichkeit zeigt sich durch verschiedene Hinweisarten (Cues):
Physische Hinweise (Kleidung, Frisur, Attraktivität)
Nonverbale Hinweise (Gestik, Mimik, Körperhaltung)
Paraverbale Hinweise (Lautstärke, Tonhöhe der Stimme)
Verbale Hinweise (Wortwahl, Ausdrucksweise)
Umweltbezogene Hinweise (Zimmergestaltung, Freizeitaktivitäten)
Verhaltensreste (z. B. Musikgeschmack, Social-Media-Profil)
Extraversion im Alltag
Gut beobachtbar (valid cues) durch:
Häufige soziale Interaktionen (z. B. Partys, Gespräche)
Ausdrucksstarke Gesten
Viel Lächeln
Laute Stimme
Auffällige Mode oder auffällig gestaltete Räume
Viele Facebook-Freunde & energetische Musik
Neurotizismus im Alltag
schwer beobachtbar, außer in stressigen Situationen.
Hinweise:
Nervöse Gesten und Mimik
Emotionale Ausdrucksweise
Häufige negative Selbstbezüge
Verträglichkeit im Alltag
Nicht immer offensichtlich, zeigt sich besonders in langfristigen oder kontroversen Situationen.
Freundliches & aufmerksames Verhalten
Bescheidene Selbstbeschreibungen
Mehr positive, prosoziale Äußerungen
Gewissenhaftigkeit im Alltag
Gut beobachtbar, wenn visuelle Informationen über den Lebensstil vorhanden sind.
Gepflegte, ordentliche Kleidung
Höfliches, korrektes Verhalten
Sauberes & gut organisiertes Zimmer
Viel Zeit für Arbeit oder Studium
Offenheit im Alltag
Am besten durch Vorlieben & Umfeld erkennbar.
Intellektuell anspruchsvolle Gespräche
Vielfältige Aktivitäten & Interessen
Zeit in alternativen Umfeldern (z. B. Cafés, Kunstausstellungen)
Komplexe, unkonventionelle Musik
Kreativ gestaltete Räume oder Social-Media-Profile
Allgemeine Hinweise auf Persönlichkeit im Alltag Zusammenfassung
Manche Eigenschaften (Extraversion, Gewissenhaftigkeit) sind leicht sichtbar, andere (Neurotizismus, Verträglichkeit) schwerer.
Die Umgebung und das Verhalten einer Person liefern oft verlässliche Hinweise auf ihre Persönlichkeit.
Neue Formen sozialer Hinweise: Moderne Technologien ermöglichen neue Möglichkeiten zur Einschätzung der Persönlichkeit. Was sind Beispiele dafür?
Textanalysen in Blogs und Social Media
Verhalten auf digitalen Plattformen (z. B. Like-Verhalten, Nutzungshäufigkeit)
Smartphone-Nutzungsdaten
Wortwahl in Blogs und Persönlichkeit (Yarkoni, 2010)
studie zur Korrelation zwischen Wortwahl und den Big Five Persönlichkeitsmerkmalen.
Neurotische Personen verwenden mehr negative Wörter.
Extravertierte nutzen mehr gesellige & positive Begriffe.
Gewissenhafte Menschen vermeiden Schimpfwörter und unstrukturierte Sprache.
Offenheit zeigt sich durch kreative, vielseitige Wortwahl.
Wortwahl in Facebook-Feeds & Persönlichkeit (Schwartz et al., 2013)
Studie mit >70.000 Facebook-Nutzern: Analyse der Wortverwendung und Persönlichkeit.
Extravertierte: Nutzen Wörter wie „Party“, „Spaß“, „heute Abend“.
Neurotische: Mehr negative Begriffe, klagen häufiger.
Offene Menschen: Nutzen kreative & komplexe Formulierungen.
Zusätzlich: KI-Modelle konnten Persönlichkeitsmerkmale anhand der Wortwahl mit hoher Genauigkeit vorhersagen.
Smartphone-Nutzungsverhalten & Persönlichkeit (Stachl et al., 2020)
Studie mit 624 Personen über 30 Tage zur Smartphone-Nutzung:
Extravertierte schreiben längere Nachrichten.
Gewissenhafte checken oft das Wetter, besonders nachts.
Offene Menschen telefonieren häufiger nachts.
Maschinelles Lernen konnte Persönlichkeitsmerkmale mit hoher Präzision vorhersagen.
Zusammenfassung Hinweise auf Persönlichkeit
Hinweise auf Persönlichkeit sind vielfältig (physisch, verbal, digital, Verhalten etc.).
Die Erkennbarkeit von Eigenschaften variiert je nach Kontext:
Extraversion ist leicht zu erkennen.
Neurotizismus & Verträglichkeit sind schwieriger einzuschätzen.
Digitale Spuren (Social Media, Smartphone-Nutzung) erlauben immer genauere Persönlichkeitsanalysen.
Maschinelles Lernen kann Geschlecht, Alter und Persönlichkeitsmerkmale mit hoher Präzision vorhersagen.
Last changed6 days ago