Wie ist die Wissenschaft der Soziologie entstanden?
Im Zuge großer Transformationen, als Produkt tiefgreifender gesellschaftlicher Umbrüche (z.B. Industralisierung, Urbanisierung), dem Übergang zur Moderne
Akademische Etablierung: erst ab der 2. Hälfte des 19. jhd
Ziel: Erforschung und Reflexion gesellschaftlichen Wandels
Soziologie prägt Begriffe, Theorien und Denkmuster und wirkt zurück auf Gesellschaften, formt deren Selbstbild
Alain Touraine: Soziologie ist “Träger der Historizität”
= Soziologie als Spiegel der Gesellschaft
Was bedeutet der Begriff der “Moderne”?
„Modern“ erstmals 494 n. Chr. nachgewiesen als Zentrale Unterscheidung: „antiqui“ (die Alten) vs. „moderni“ (die Modernen) - Heute: “modern”
Modern = Gegenwärtig / aktuell gültig
Moderne als Epochenbegriff
Fokus auf das jeweils Zeitgenössische
Modern = Neu vs. Alt
Moderne als Projekt oder Programm
V.a. bei Jürgen Habermas: Idee des Fortschritts und gesellschaftlicher Entwicklung
Modern = Vorübergehend / flüchtig
Moderne als Momentaufnahme
Nach Charles Baudelaire („La modernité“)
Definition: „das Vorübergehende, das Flüchtige, das Kontingente“
Baudelaire bricht mit der Vorstellung eines linearen Fortschritts: Modernität ist Mode + Moment + Ewigkeit in einem
Was ist die “große Transformation” auf der Soziologie beruht?
nach Karl Polanyi ist sie der “Übergang von traditioneller zu moderner Gesellschaft”.
= Wandel v. agrarisch-ländlich/feudal → industriell-städtisch/klassenbasiert
Achtung: Moderne ≠ Fortschritt allein, sondern tiefgreifender sozialer Umbau in Werten, Formen & Strukturen
Welchesind die Eckpfeiler der Großen Transformation nach Müller?
Müller unterscheidet drei Eckfeiler der „Großen Transformation“
Ökonomische Revolution in England: führte aufgrund technologischer Fortschritte unter anderem zur
Entstehung eines Arbeitsmarktes
Trennung von Kapital und Arbeit und
Trennung von Betrieb und Haushalt. (2)
Politische Revolution in Frankreich etablierte:
demokratische Regierungsformen in Europa
„Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ machte aus Untertanen souveräne Bürger*innen, die über gleiche Rechte verfügen, welche nicht mehr an Stände gebunden waren
wenn auch soziale Ungleichheit in Form sozialer Klassen fortbesteht
Kulturelle Revolution in Deutschland etablierte:
den für moderne Gesellschaften typischen Individualismus;
Kollektivismus hingegen ist typisch für vormoderne Gesellschaftsformen
Neben der Wissenschaft gewinnen auch moralisch-ethische und expressiv-ästhetische Dimensionen an Bedeutung für die moderne Kultur.
Wofür ist die Dichotome Gegenüberstellung von Tradition vs. Moderne?
um zu zeigen, wie tiefgreifend sich Gesellschaften im Lauf der großen Transformations verändert haben:
Tradition: Gesellschaft ist „homogen“ = relativ einheitlich – alle leben ähnlich, denken ähnlich, wenig soziale Bewegung
Moderne: Gesellschaft ist „heterogen“ = viele unterschiedl. Lebensstile, Berufe, Ansichten. Menschen wechseln häufiger Lebenssituation oder sozialen Status.
Tradition: Regeln werden direkt durch persönliche Beziehungen kontrolliert – z. B. durch Familie, Dorfälteste oder Kirche.
Moderne: Kontrolle erfolgt indirekt über abstrakte Institutionen – z. B. Gesetze, Polizei, Medien, Bürokratie.
Tradition: Werte sind klar und gelten für alle – meist religiös oder moralisch begründet.
Moderne: Wertevielfalt herrscht – unterschiedliche Gruppen haben verschiedene, manchmal widersprüchliche Werte.
Tradition: Wer du bist (z. B. Sohn eines Schmieds) bestimmt deinen Platz in der Gesellschaft.
Moderne: Deine Position hängt von Deiner Leistung ab – Bildung, Beruf, Engagement zählen.
Tradition: Neuerungen gelten oft als verdächtig oder gefährlich.
Moderne: Innovation ist zentraler Motor des Fortschritts – Forschung, Technik und Effizienz sind gewünscht.
Tradition: Leben auf dem Land, Selbstversorgung, Landwirtschaft.
Moderne: Leben in Städten, Arbeit in Fabriken oder Büros, Industrialisierung.
Tradition: Enge persönliche Beziehungen, z. B. Familie oder Nachbarschaft.
Moderne: Anonyme Beziehungen, vermittelt durch Organisationen (z. B. Arbeitgeber, Behörden).
Tradition: Macht wird durch persönliche Autorität und Tradition begründet („der König hat immer geherrscht“).
Moderne: Macht basiert auf Regeln und Gesetzen – legitim durch Bürokratie und Verfassung.
Tradition: Kaum organisierte lokale/ spontane Interessenvertretung, meist durch persönliche Einflussnahme
Moderne: Parteien, Gewerkschaften, NGOs – Menschen organisieren sich bewusst und strategisch.
Tradition: Konflikte werden unterdrückt oder mit Gewalt gelöst; Kommunikation ist persönlich und direkt.
Moderne: formale Mechanismen zur Konfliktlösung (z. B. Gerichte), Kommunikation erfolgt oft über Medien.
Wichtig: hilft zu verstehen, was sich mit der Moderne alles verändert hat – es geht nicht nur um Technik oder Städte, sondern um das gesamte Denken, Fühlen und Zusammenleben.
Aber Achtung: Das ist ein Idealtypus (also ein theoretisches Modell). In der Realität gibt es viele Mischformen – z. B. moderne Technik mit traditionellen Familienstrukturen.
Was sind die drei Revolutionen der Moderne?
Moderne Gesellschaften sind nicht durch ein einziges Ereigenis, sondern durch einen dreifachen, tiefgreifenden Wandel in drei verschiedenen Bereichen: Ökonomie, Politik und Kultur geschehen – und das jeweils in unterschiedlichen Ländern:
🔧 1. Ökonomische Revolution – England (ab ca. 1750)
Stichwort: Industrialisierung und Kapitalismus
Dampfmaschine & technischer Fortschritt treiben Produktion an
Landreformen führen dazu, dass Landarbeiter arbeitslos werden → sie wandern in die Städte → werden zu Industriearbeitern (Proletarier)
Kapital und Arbeit trennen sich: Nicht mehr in einem Haushalt vereint, sondern:
Kapital = Besitzende
Arbeit = Lohnabhängige
= Arbeitsmarkt & Kapitalmarkt entstehen
Fabrik ersetzt Manufaktur, die Produktion wird rationalisiert
Rechtssystem wird angepasst: Eigentum, Verträge, Berechenbarkeit → alles rechtlich abgesichert durch den Rechtsstaat
🎯 Fazit: Industrialisierung verändert nicht nur wie produziert wird, sondern auch wie Menschen leben (von ländlich zu städtisch), arbeiten und wirtschaftlich organisiert sind.
🏛️ 2. Politische Revolution – Frankreich (ab fra. Revol. 1789)
Stichwort: Demokratisierung
Abschaffung der Monarchie und Aristokratie → Republik entsteht
Menschen werden souveräne Bürger statt Untertanen
Politik wird öffentlich, nicht mehr elitär und geheim
Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit setzen sich durch
Gesellschaft gliedert sich weiterhin in Klassen (z. B. Arm/Reich), aber alle haben theoretisch gleiche Rechte
Der Staat ≠ Machtinstrument , sondern = demokratischer Ordnungsrahmen
🎯 Fazit: Gesellschaft politisiert sich. Demokratie wird eingeführt, Bürger bekommen Rechte, und Staat wandelt sich zur Institution der Mitbestimmung.
🎨 3. Kulturelle Revolution – Deutschland (18./19. Jhd) Stichwort: Individualisierung durch: Aufklärung, Reformation, Renaissance
Wissen, Bildung, Moral werden wichtig:
„Sapere aude“ – Habe Mut, deinen eigenen Verstand zu benutzen (Aufklärung)
Kategorischer Imperativ – Handle so, dass dein Handeln allgemeines Gesetz sein könnte (Kant)
„Werde, der du bist“ – Idee der Selbstverwirklichung (Goethe, z. B. Wilhelm Meisters Lehrjahre)
Individuum wird zentral: nicht mehr die Gemeinschaft oder der Stand bestimmt das Leben, sondern der Einzelne
Kultur verändert sich in drei Bereichen:
kognitiv → Wissenschaft & Bildung
Der Mensch denkt selbstständig – Wissen wird nicht mehr nur von Kirche oder Adel vorgegeben.
moralisch-ethisch → neue Moral (Kants Ethik: Jeder Mensch ist Zweck an sich, nie nur Mittel zum Zweck → Menschenwürde.)
Freiheit des Einzelnen wird zur Grundlage von Ethik, Moral wird nicht mehr religiös begründet, sondern durch Vernunft.
ästhetisch-expressiv → Kunst, Literatur, Identitätssuche
Kunst wird Ausdruck des Inneren, der Persönlichkeit, des Gefühlslebens.
Literatur und Kunst fragen: Wer bin ich? Wie finde ich zu mir selbst?
z.B. Goethes „Wilhelm Meisters Lehrjahre“ = Roman über Selbstfindung: Protagonist bricht aus vorgegebenen Welt aus, um „zu sich selbst“ zu finden.→ typisch für ästhetische Dimension der kulturellen Moderne.
🎯 Fazit: kulturelle Revolution schafft das geistige Fundament der Moderne. Das Individuum wird zum Zentrum – mit eigenen Rechten, eigener Moral, eigener Identität.
Was ist die soziologische Zeitdiagnose?
Ein Versuch, die „Zeichen der Zeit“ zu erkennen und zu deuten.
= Strukturen und Entwicklungen, die eine ganze Epoche oder Gesellschaft prägen. Dabei fasst man komplexe gesellschaftliche Zusammenhänge in einem prägnanten Begriff zusammen, z. B.:
Kapitalismus,
Narzissmus,
Postmoderne,
Amerikanismus,
Wilhelminismus etc.
Diese Begriffe stehen dann oft stellvertretend für ein ganzes Weltbild oder Lebensgefühl.
Was sind die 4 Funktionen von Zeitdiagnose?
Was gibt mir Halt? Struktur von Wahrnehmung der Gegenwart, um sich selbst und die Welt einzuordnen.
Wann lebe ich? (z. B. Postmoderne)
Wo lebe ich? (Kapitalismus)
Wie lebe ich? (Amerikanische Konsumkultur)
Als was lebe ich? (Narzisstische Persönlichkeit)
📌 Code: natürlich/unnatürlich 📌 Ziel: ontologische Sicherheit (also: sich in der Welt verortet fühlen)
Was ist wirklich los? = wissenschaftliche und evidenzbasierte Analysen zur Erklärung gellschaftlicher Entwicklungen.
= warum Dinge so sind, wie sie sind – und was das bedeutet.
💬 = fundierte Erklärungsmodelle. 📌 Code: wahr/falsch 📌 Ziel: intersubjektiv überprüfbare Erkenntnis
Wie fühlt sich unsere Zeit an? = Lebensgefühl einer Epoche – den „Zeitgeist“. -> Stimmung, Atmosphäre, intuitive Wahrneh.
💬 Beispiel: „Wir leben in der Postmoderne“ → Gefühl von Unsicherheit, Pluralität, Sinnverlust. 📌 Code: authentisch/unauthentisch 📌 Ziel: Erfassung des Zeitgeistes
Ist das gut oder schlecht? Bewertung gesellschaftlicher Entwicklungen – auf Grundlage idealen Maßstabs (z. B. Aufklärung, Menschenwürde, Demokratie). ➡ schlagen Alarm, wenn Realität davon abweicht.
💬 Oft = Krisendiagnose und rufen zur Umkehr oder Kurskorrektur auf. 📌 Code: gut/schlecht 📌 Ziel: Beurteilung gesellschaftlicher Entwicklung
Als Tabelle:
Funktion
Bedeutung (einfach)
Ziel
Beispiel
Konstitutiv
Gefühl, wo und wann wir leben, ordnet die Welt.
Orientierung, „Weltbild“
Ich lebe in einer kapitalistischen Gesellschaft
Kognitiv
Liefert wissenschaftliche Erklärungen und Begriffe.
Erkenntnis, Wissen
Studien zeigen, dass Individualismus steigt
Expressiv
Drückt „Zeitgeist“ oder Lebensgefühl aus.
Stimmung & Atmosphäre
Postmoderne fühlt sich verwirrend und vielfältig an
Evaluativ
Bewertet Entwicklungen: gut oder schlecht? Krise oder Fortschritt?
Kritik, Handlungsimpuls
Gesellschaft ist zu narzisstisch geworden – wir brauchen Umkehr
Was sind die 3 zentralen Probleme der soziologischen Zeitdiagnostik?
🧠 1. Das Problem der Adäquanz:
Ist der gewählte Begriff geeignet, eine ganze Epoche, Gesellschaft, Kultur etc. angemessen zu erfassen?
Überdehnung eines Begriffs (z. B. „alles ist kapitalistisch“) führt zu unrealistischer Generalisierung.
Unterbestimmung bleibt analytisch unergiebig – die Diagnose bleibt vage.
Kernfrage: Ist ein Struktur-/Entwicklungsprozess nur relevant oder bereits dominant?
👓 2. Das Problem des modischen Zeitgeistes und der Ideologie
Fehlendes Verhältnis von theoretischer Begriffsbildung und historisch-empirischer Analyse, wodurch Soziale Realität durch Diagnose beeinflusst wird (=Performativität von Zeitdiagnosen).
Schnellschussdiagnostik (unterbestimmt): unreflektierte Trends durch Medien, Werbung, Konsumindustrie —> empirisch schwach, aber wirkungsmächtig.
Ideologische Begriffsakrobatik (überdehnt): Theorien halten an revolutionären Deutungen fest, obwohl empirisch keine Hinweise mehr darauf existieren (z. B. Zusammenbruch des Kapitalismus).
Gütekriterium: Solidität und Ausgewogenheit zwischen Theorie und Empirie.
3. Das Problem des Normativen
Darf Soziologie normative Empfehlungen geben oder nur empirisch-deskriptiv analysieren?
= Gefahr: Soziologie verwischt die Grenze zur Sozialphilosophie.
Kritik: Zeitdiagnosen beinhalten oft normative Implikationen („Kritik“ plus „Alternative“) → Anspruch auf Veränderung.
Spannung: Bestandsaufnahme vs. Kritik – ist beides gleichzeitig möglich?
Lösungsvorschlag: Anerkennung der beschränkten Haftung der Zeitdiagnose – eine wissenschaftlich kontrollierte, aber letztlich nicht spekulationsfreie Synthese.
Gütekriterium: Intersubjektiv prüfbares Verhältnis von Analyse und Wertung.
Aspekt
Beschreibung
Erfahrbarkeit
Gesellschaft ist nicht abbildbar – es gibt nur Gesellschaftsbilder, nie die Gesellschaft selbst.
Evaluierbarkeit
Zeitdiagnosen können besser oder schlechter „gelingen“, wie Fotografien aus verschiedenen Winkeln.
Timing
Zu frühe Diagnosen → unbeachtet, zu späte → irrelevant; „Just in time“ ist ideal.
Wissenschaftliche Kontrolle
Evidenzbasierung hilft, Metaphysizität zu bändigen, ersetzt sie aber nicht.
Relevanz für Gesellschaft
Zeitdiagnose trifft den Nerv der Zeit, wenn sie kollektive Seelenlage erfasst.
NICHT KLAUSURRELEVANT ABER DENNOCH INTERESSANT:
Alexis de Tocqueville (1805–1859) war ein französischer Aristokrat und politischer Denker, der in einer Zeit massiver Umbrüche lebte. Seine Biografie spiegelt die Spannungen zwischen Tradition und Moderne wider. Geboren in eine Adelsfamilie, die unter der Französischen Revolution litt, studierte er Jura und schlug zunächst eine politische Laufbahn ein. Berühmt wurde er jedoch durch seine Reise in die USA (1831–1832), die ihn zu seiner bahnbrechenden Analyse der Demokratie inspirierte. Sein Werk Über die Demokratie in Amerika (1835/1840) gilt als eine der wichtigsten soziologischen Zeitdiagnosen des 19. Jahrhunderts.
In Deutschland wird Tocqueville kaum als Soziologe anerkannt.
In wichtigen Werken zur Geschichte der Soziologie fehlt er völlig.
Tocqueville analysiert nicht nur Geschichte, sondern die tiefere Struktur moderner Gesellschaften.
Gründe für seine Vernachlässigung in Deutschland:
Konkurrenz durch Marx und Weber
Tocqueville schreibt klar und literarisch - In Deutschland wird komplizierter, „unverständlicher“ Stil oft mit Wissenschaftlichkeit gleichgesetzt.
Seine Sichtweisen:
Demokratie führt zu Angleichung der Lebensstandards und Ähnlichkeit der Lebensweise.
Mit dieser Gleichheit geht ein praktischer Materialismus einher: Fokus auf Besitz, Reichtum, Konsum.
Es entsteht Individualismus, der sich in Rückzug ins Private und Egoismus äußert.
Diese Tendenzen sind unvermeidliche Risiken moderner Demokratien
Gefahren der Demokratie:
Despotismus entsteht, wenn:
Bürger sich ausschließlich privaten Interessen widmen.
Öffentliche Tugenden und politisches Engagement verloren gehen.
Materielle Unsicherheit erzeugt ständigen Wettbewerb um Reichtum.
Diese Dynamik erzeugt:
Gier nach Geld,
Leidenschaft für Genuss und Konsum,
Rückzug in den Individualismus.
Politische Freiheit bedeutet:
Schutz vor Willkür: Rechtlicher Schutz gegenüber Staat und Gesellschaft.
Individuelle Gestaltungsfreiheit: Privatsphäre und Autonomie im Alltag.
Recht auf politische Teilhabe: Politische Mitbestimmung als Wesenskern echter Demokratie.
Freiheit als politische Tugend:
Gesellschaftliches Engagement,
Aufgabe des rein privaten Glücksstrebens,
Solidarität durch öffentliches Handeln.
Rolle der Politischen Freiheit:
Ausgleichsfunktion: Gegenpol zur nivellierenden Wirkung von Gleichheit.
Korrektivfunktion I: Begrenzung des egoistischen Individualismus.
Korrektivfunktion II: Begrenzung der demokratischen Staatsmacht.
Scheidungsfunktion: Trennung von Individualismus und staatlichem Despotismus.
Tocqueville ist begeistert von der Entwicklung in den USA: Demokratie, Gleichheit und Freiheit bilden dort eine erfolgreiche Einheit.
In Frankreich dagegen sieht er ein Scheitern: Demokratie und Gleichheit verbinden sich hier mit politischer Unfreiheit und Despotismus.
Tocqueville will keine bloße Geschichtsschreibung der Revolution liefern, sondern eine strukturell-gesellschaftliche Erklärung.
Er folgt methodisch Montesquieu und nutzt ein umfangreiches Quellenstudium – Frankreich, Deutschland, England – um das „Testament der alten Gesellschaft“ zu rekonstruieren.
Zentralisierungsthese: politische und administrative Machtzentralisierung Frankreichs (mit Paris als Zentrum) stellt die Kontinuitätsbrücke zwischen Ancien Régime und Moderne dar.
Die Revolution war weniger ein Bruch als vielmehr eine Fortsetzung alter Strukturen unter neuen Vorzeichen.
Revolution trägt einen religiösen Charakter – eine säkulare Religion mit Propheten, Märtyrern, Ritualen (z. B. 14. Juli als Nationalfeiertag).
Die Kirche wird nicht primär als religiöse Institution, sondern als Teil des Ancien Régime bekämpft.
Revolutionäre Umstrukturierung Frankreichs 1789 wirkt radikal – war aber Endpunkt eines langen Zentralisierungsprozesses
Tocqueville: Alte Provinzen wurden wie „Tote“ zerteilt – scheinbar lebendige Strukturen waren in Wirklichkeit längst machtlos.
Der königliche Rat (conseil du roi): Höchster Gerichtshof -> Machtfülle ohne Autonomie, weil Mitglieder Abhängig von der Gunst des Königs
-> Trennung von symbolischer Repräsentation und faktischer Macht
Klassenanalyse bei Tocqueville
Der Staat:
Konfliktschlichtungsinstanz und gleichzeitig
Verstärker der Klassenantagonismen
Klassenanalyse als zentraler Bestandteil der Revolutionserklärung
Tocquevilles Leitsatz: „Ich spreche von Klassen, sie allein dürfen die Geschichte beschäftigen.“
Klassen nicht theoretisch definiert (wie bei Marx), sondern historisch-empirisch betrachtet
Nicht Individuen, sondern Klassen als Träger des historischen Wandels
Spannungen zwischen Adel und Bourgeoisie
Alte Aristokratie vs. neureiche Bourgeoisie:
Adel verachtet die neureichen „Emporkömmlinge“
Bourgeoisie sieht sich als neue Aristokratie des Kapitals
Tocqueville: „Nie war der Adel so leicht zu kaufen wie 1789.“
Bürger und Adel unterschieden sich am Vorabend der Französischen Revolution primär durch rechtliche Ungleichheit und verschiedene Ehrbegriffe.
Laut Tocqueville ähnelten sich Bürger und Adel in Erziehung, Bildung, Ansichten, Gewohnheiten, Vergnügungen, Sprache, und gelesenen Büchern.
Bauern waren bereits Eigentümer kleiner Parzellen, aber litten unter feudalen Lasten und der fiskalischen Ausbeutung durch den Staat.
Ihre Isolation: am stärksten von der Zentralgewalt betroffen, aber kaum organisiert oder politisch aktiv.
Tocqueville beschreibt das ländliche Leben als von Armut, Unwissenheit und administrativer Vernachlässigung geprägt.
Strategien der Klassen am Vorabend der Revolution:
Adel: defensiv, Bewahrung der Privilegien ohne Machtanspruch.
Bürgertum: offensiv, strebt nach Reichtum und Anerkennung.
Arbeiter: hoffen auf staatliche Hilfe gegen die Bourgeoisie.
Bauern: passiv, ohne Privilegien oder politische Stimme.
= Tocquevilles Diagnose: „kollektiver Individualismus“
Begriff meint: Obwohl niemand vollkommen individuell war, dachten alle kleinen gesellschaftlichen Gruppen nur an sich selbst.
Mögliche Ursachen für den Ausbruch der Französischen Revolution:
Äußere Bedrohung (Krieg): Trotz zahlreicher Kriege unter Ludwig XIV. kam es nicht zum Zusammenbruch; der Krieg hätte nur für das postrevolutionäre Frankreich mehr Bedeutung.
Materielle Interessen der Klassen: Tocqueville verneint diese Möglichkeit, da die Klassen zu sehr mit ihren eigenen Interessen beschäftigt sind, ohne revolutionäre Kraft zu entwickeln.
Ideen als Schlüsselursache: Die Ideen von 1789 (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) sind entscheidend. Diese Ideen wurden von Intellektuellen getragen, die sie in der Öffentlichkeit verbreiteten.
Crise heureuse“ und ihre Bedeutung:
Tocqueville spricht von einer "glücklichen Krise" zu Beginn der Regierungszeit Ludwig XVI., in der es eine Phase des wirtschaftlichen Wachstums und Wohlstands gab.
Diese Phase führte zu einer paradoxen Situation, in der der Wohlstand das politische Unbehagen und den revolutionären Aufbruch verstärkte.
= Tocqueville beschreibt dies als ein Paradoxon der Reform: Nicht die größte Unterdrückung, sondern eine Phase relativer Lockerung bringt das System ins Wanken. Wenn sich die Verhältnisse verbessern, wachsen die Erwartungen – bleibt die Verbesserung jedoch begrenzt, wandelt sich Hoffnung in Empörung. Dieses Phänomen erinnert an die berühmte Formel: Revolutionen entstehen nicht in Zeiten der Not, sondern in Momenten enttäuschter Hoffnung.
Auswirkungen der Demokratie auf die geistige und soziale Lebensweise der Menschen
Amerikaner wenig Interesse an abstrakter Philosophie, Tocqueville erklärt, dass diese Denkweise das Fundament für die amerikanische Vorstellung von Selbstverwirklichung bildet. In einer Gesellschaft, in der alles möglich ist, solange man genug Willen und Disziplin aufbringt, ist der Glaube an die eigene Vervollkommnung tief verwurzelt. Diese „can do“-Mentalität treibt die Amerikaner an, immer weiter zu streben, ohne sich von Misserfolgen entmutigen zu lassen. Es entsteht eine Kultur des unaufhörlichen Fortschritts,
Tocqueville sieht die Demokratie als eine Gesellschaftsform, die den Individualismus fördert und die Vorstellung von Gleichheit und Freiheit vertieft.
Gleichzeitig warnt er jedoch vor den Gefahren, die mit einer allzu weit getriebenen Demokratisierung und der Entwicklung des Individualismus einhergehen. Dies könnte zu einer sozialen Zersplitterung führen, in der die Menschen sich immer mehr isolieren und die gemeinschaftlichen Bindungen schwinden. In einer solchen Gesellschaft besteht die Gefahr, dass die Menschen in ihrer eigenen Einsamkeit versinken und die öffentlichen Tugenden verkümmern.
Tocqueville schließt seine Überlegungen mit einer Prognose über die Zukunft der Demokratie und ihre Auswirkung auf die globale Gesellschaft. Die Vereinigten Staaten von Amerika erscheinen ihm dabei als Modell für die Entwicklung demokratischer Gesellschaften weltweit.
Wer war Karl Marx?
Geboren: 5. Mai 1818, Trier, Deutschland
Philosoph, Ökonom, Sozialwissenschaftler, Journalist und Begründer des Marxismus, einer der einflussreichsten Denker der Sozialwissenschaften
Kernthese: Geschichte ist die Geschichte von Klassenkämpfen (Unterdrücker vs. Unterdrückte)
Basiert auf: Kommunistische Manifest - Karl Marx u. Friedrich Engels 1848
Ziel: Aufruf zur Revolution und Stärkung der Arbeiterbewegung
Welche Klassen im Kommunistischen Manifests Marx/Engels gab es und wieso hatten sie einen Kampf?
Klassen im kommunistischen Manifest:
Bourgeoisie: Kapitalisten, die Produktionsmittel besitzen
Historische Bedeutung: Zerstörung alter feudal-ständischer Verhältnisse
Fortschritte: Technologische Revolution, Entwicklung des Weltmarkts
Ergebnis: Schaffung einer globalen Zivilisation, aber auch eine zunehmend instabile Gesellschaft
Proletariat: Arbeiterklasse, die ihre Arbeitskraft verkauft
wird durch seine Unterdrückung zur revolutionären Kraft
Ziel: proletarische Revolution soll Klassengesellschaft abschaffen und eine humane Gesellschaft schaffen
Warum: Wachsende Ausbeutung, politische Organisation und Klassenbewusstsein
Antagonismus: Der Kampf zwischen diesen beiden Klassen bildet das Fundament der Gesellschaft
Ursachen des Klassenkampfs: fortwährende Ausbeutung der Arbeiter durch die Bourgeoisie
Folge: -> Zunehmende Entfremdung und Verelendung der Arbeiterklasse
-> Klassenkampf wird intensiver, bis er in einer Revolution gipfelt
Was prognostizierten Marx und Engels in ihrem Manifest?
Der Fortschritt der Produktivkräfte untergräbt die wirtschaftliche Basis der Bourgeoisie, wodurch Untergang der Bourgeoisie unvermeidlich ist und das Proletariat triumphieren wird
= Bourgeoisie produziert ihre eigenen Totengräber – das Proletariat
Was sind die 4 vier Merkmale der proletarischen Revolution nach Marx/ Engels und was ist das Ziel dieser?
Wachsende Ausbeutung: Arbeiter leiden unter schlechteren Arbeitsbedingungen
Wachstum des Proletariats: Zunahme der Zahl der Arbeiterklasse
Politische Organisation: Der Klassenkampf wird politisiert und organisiert
Verstärkter Klassenkampf: Konflikte zwischen Bourgeoisie und Proletariat intensivieren sich
Ziel: Die “Letzte Revolution”
Die Abschaffung der Klassengesellschaft
Neue brüderliche, solidarische Gesellschaft, die keine Klassen mehr kennt
Die proletarische Revolution ist die „erste und letzte“ Revolution, die zu einem humanen, sozialistischen System führt
Was ist Marx’ Praxisphilosophisches Grundmodell?
Modell, das auf der Idee basiert, dass die Wirklichkeit des Menschen und der Gesellschaft nicht durch abstrakte Gedanken oder Ideologien erklärt werden kann, sondern durch die praktische Tätigkeit der Menschen, besonders in der Arbeit und Produktion.
Grundsatz: Der Mensch ist ein praktisches, gesellschaftliches Wesen
Mensch = Wesen mit ganzheitlicher Natur, das durch praktische Arbeit und kreative Tätigkeiten seine Erfüllung finden möchte. Arbeit ist für ihn eine Form der Selbstverwirklichung, die es den Menschen erlaubt, ihre Fähigkeiten zu entfalten und ihre Bedürfnisse zu befriedigen.
Tätigkeit ist immer gesellschaftlich, da der Mensch nie allein lebt, sondern immer in Beziehungen zu anderen Menschen und innerhalb einer Gesellschaft steht.
= Mensch ist immer von gesellschaftlichen Verhältnissen abhängig und bestimmt diese gleichzeitig durch seine Tätigkeiten.
Was ist nach Marx’ Praxisphilosophischem Grundmodell eine “Praxis”?
praktische, handlungsbezogene Tätigkeit der Menschen in der Welt, vor allem in Bezug auf die Produktion (Arbeit).
Marx sieht die materielle Praxis als entscheidend an, da der Mensch seine Welt durch seine Arbeit verändert.
Achtung: er unterscheidet sich hier von vielen früheren Philosophen (z. B. Hegel oder Feuerbach), die die Realität und das menschliche Wesen eher abstrakt und theoretisch betrachteten.
Marx kritisiert Hegel und dessen Vorstellung, dass die Geschichte des Menschen vom Geist und dessen Entwicklung bestimmt wird. Hegel sah die preußische Monarchie als eine Art „endgültigen“ Zustand der Vernunft.
er lehnt dies ab und betont, dass die realen, materiellen Verhältnisse die Basis für gesellschaftliche Veränderungen sind.
Marx übernimmt von Feuerbach die Idee, dass der Mensch als Teil der Natur zu verstehen ist. Doch Marx geht über Feuerbach hinaus, indem er die Praxis und gesellschaftliche Verhältnisse als die entscheidenden Faktoren für das menschliche Leben sieht.
und übernimmt die dialektische Methode von Hegel, die von einem Wechselspiel von Widersprüchen ausgeht. Diese Widersprüche führen zu Veränderungen und Entwicklungen in der Geschichte.
Der historische Prozess folgt nicht einem linearen Verlauf, sondern verläuft in Sprüngen, die durch Konflikte, Krisen und Revolutionen geprägt sind.
Während Hegel diese Dialektik als einen idealistischen Prozess sah (also als einen Prozess des Geistes), nutzt Marx diese Methode, um die realen, materiellen Verhältnisse in der Gesellschaft zu analysieren.
Was ist in Marx’ Praxisphilosophischem Grundmodell die “Entfremdung”?
Prozess, durch den der Mensch sich selbst, seine Arbeit und seine Beziehungen entfremdet.
Entfremdung vom Produkt: Arbeiter verliert Kontrolle über das Produkt seiner Arbeit = Produkt wird selbstständiges Ding, das Macht über den Arbeiter ausübt.
Entfremdung von der Arbeit: Arbeit wird zu bloßen Routine, die dem Arbeiter Kreativität und Selbstverwirklichung nimmt. Arbeiter sieht Arbeit nicht mehr als Teil seines Lebens, sondern als Verpflichtung.
Entfremdung von anderen Menschen: Arbeitsteilung und soziale Hierarchien führen zu Verhältnissen der Isolation und Entfremdung zwischen den Menschen (z.B. Stadt-Land oder geistige vs. körperliche Arbeit).
Entfremdung vom „Gattungswesen“: = das wahre, freie Wesen des Menschen. Marx sieht den Menschen als ein Wesen, das sich durch die freie Entfaltung seiner Fähigkeiten und die Zusammenarbeit mit anderen auszeichnet. Entfremdung entsteht, wenn diese Fähigkeiten nicht ausgelebt werden können.
Revolution muss die sozialen Verhältnisse (basierend auf materiellen Produktionsverhältnissen) ändern, damit Menschen Entfremdung überwinden und zu ihrer wahren menschlichen Natur zurückfinden können.
Achtung: kapitalistisches Ausbeutungssystem: Im Kapitalismus sind Menschen gezwungen, ihre Arbeitskraft zu verkaufen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Das bedeutet, sie tauschen ihre freiwillige und kreative Arbeit gegen Geld und sind dabei nicht mehr frei, die Art der Arbeit zu wählen, die sie wirklich erfüllt oder die mit ihren wahren Bedürfnissen übereinstimmt. = Entfremdung
Freiheit durch die Revolution: Marx meint, dass die einzige Möglichkeit, diese Entfremdung zu überwinden, in einer revolutionären Veränderung des kapitalistischen Systems besteht.
Wenn sich Produktionsverhältnisse ändern, verändert sich auch gesamte Gesellschaft, denn lt. Marx bestimmt die Art und Weise, wie Menschen ihre Lebensgrundlagen produzieren, die sozialen Strukturen und gesellschaftlichen Verhältnisse, weil
“Was die Menschen sind, hängt direkt davon ab, wie und was sie produzieren.”
Was sind die 7 Punkte Marx‘ materialistische Geschichtsauffassung?
Materielle Lebensverhältnisse als Grundlage: Sie sind der Stoff des gesellschaftlichen Verkehrs und die Grundlage der politischen Ökonomie im Kapitalismus.
Produktivkräfte und Produktionsverhältnisse: Die Produktivkräfte (Technologie und Fähigkeiten der Produzenten) bestimmen die gesellschaftliche Entwicklung, während Produktionsverhältnisse die Eigentumsverhältnisse und gesellschaftlichen Beziehungen beschreiben.
Basis-Überbau-Dialektik: Das gesellschaftliche Sein (die ökonomische Basis) bestimmt das Bewusstsein (den Überbau), aber der Überbau beeinflusst, wie die Gesellschaft sich selbst begreift.
Widerspruch zwischen Basis und Überbau: Der Konflikt tritt auf, wenn die Produktionsverhältnisse nicht mit der Entwicklung der Produktivkräfte Schritt halten und zu einer „Fessel“ werden.
Revolutionärer Konflikt: Der Widerspruch führt zu einem offenen Konflikt, der eine soziale Revolution einleitet, mit dem Ziel eines neuen „Gleichgewichts“ zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen.
Voraussetzungen für revolutionäre Veränderung: Eine neue Gesellschaftsformation entsteht nur, wenn die Bedingungen in der alten Gesellschaft ausgebildet sind, = die Produktivkräfte für neue Produktionsweise geschaffen sind, z.B. im Kapitalismus für den Übergang zum Sozialismus.
Entwicklung von Produktionsweisen: Marx unterscheidet verschiedene Produktionsweisen (asiatisch, antik, feudal, bürgerlich) und sieht sie als Abfolge von Gesellschaftsformationen, die die Vorgeschichte der Menschheit darstellen, die in der kommunistischen Gesellschaft kulminiert.
Einordnung von Produktionsweisen: asiatische Produktionsweise könnte parallel zur antiken existieren, nicht zwingend davor.
Teleologie: Vorstellung, dass die Geschichte zwangsläufig in die kommunistische Gesellschaft führt, erinnert an Hegels Weltgeist und wird als problematisch angesehen.
Harmonische Eintracht: Die Vorstellung eines Endes der Geschichte, in dem alle gesellschaftlichen Gegensätze aufgehoben sind, wird als unhaltbar und teleologisch kritisiert.
Vergleich mit der christlichen Heilslehre: Die Entwicklung zur sozialistischen Gesellschaft wird als ähnlich zur christlichen Vorstellung von Erlösung und „Paradies“ gesehen, was den Historischen Materialismus als evolutionistisch entlarvt.
Was besagt die Strukturtheoretische Analyse über Kapitalismus und Ausbeutung (nach Marx)?
sie besagt, dass Kapitalismus systematisch Ausbeutung erzeugt, indem der Mehrwert der gemeinschaftlich produzierten Arbeit privat von Kapitalbesitzern angeeignet wird.
und stellt damit Kritik an der Politischen Ökonomie in Gestalt der Kapitalproduktion und -verwertung dar
= Herzstück der Marxschen Theorie
Zentrale Kritik von Marxs war:
kapitalistische Produktionsweise sind gesellschaftlich spezifisch und nicht natürlich.
Kapitalismus wird durch Ideologien als alternativlos dargestellt – Marx zeigt, dass er historisch entstanden und veränderbar ist.
bürgerliche Ökonomie (auch: klassische Nationalökonomie), die die kapitalistischen Verhältnisse nicht hinterfragt, sondern als natürlich und gegeben darstellt, beschreibt Phänomene wie Lohn, Profit und Kapital, ohne ihre historischen und gesellschaftlichen Ursachen – insbesondere Ausbeutung – zu analysieren oder zu kritisieren. = nach Marx eine ideologische Verkehrung
Ausgangssituation Marx’ Analyse des Kapitalismus:
Gesellschaft als Warensammlung: Die moderne kapitalistische Gesellschaft besteht laut Marx aus einer „ungeheuren Warensammlung“ – fast alles wird zur Ware.
Alle Waren sind Produkte menschlicher Arbeit und haben 2 Seiten:
Gebrauchswert: Nützlichkeit.
Tauschwert: Verhältnis zu anderen Waren (z. B. 1 Jacke = 2 Paar Schuhe).
Arbeitsbegriff nach Marx: Wert einer Ware ergibt sich aus durchschnittlicher Arbeitszeit, die unter normalen Produktionsbedingungen erforderlich ist.
Konkrete Arbeit: Tätigkeit, die einen Gebrauchswert schafft (z. B. Tischlern, Backen, Nähen).
Abstrakte Arbeit: Arbeitszeit im Allgemeinen, die den Wert der Ware bestimmt, und nicht um den individuellen Beitrag eines Arbeiters.
Geld, Preis, Kapital
Geld = allgemeines Tauschmittel und Ausdruck des Tauschwerts – es ist selbst eine Ware.
Preis = Geldform des Wertes einer Ware.
Kapital = entsteht, wenn Geld mit dem Ziel investiert wird, mehr Geld zu erzeugen (z. B. durch Kauf von Arbeitskraft und Produktionsmitteln).
Nur lebendige Arbeit erzeugt Mehrwert (m) →
Unterscheidung von Kapitalbestandteilen:
Konstantes Kapital (c): Maschinen, Rohstoffe – schafft keinen neuen Wert.
Variables Kapital (v): Löhne für Arbeitskraft – einzige Quelle neuen Werts.
Formel: Wert = c + v + m
Arbeitskraft = alle körperlichen und geistigen Fähigkeiten des Arbeiters.
Kapitalist kauft Arbeitskraft – sie allein hat die Fähigkeit, Mehrwert zu erzeugen.
Sie wird auf dem Markt scheinbar „fair“ verkauft – Lohn gegen Arbeitszeit.
Tatsächlich entsteht Mehrwert, da die Arbeitskraft mehr produziert, als sie an Lohn kostet. = unbezahlte Mehrarbeit -> Strukturelle Ausbeutung im Kapitalismus
Formen der Mehrwertproduktion durch Kapitalisten:
Absoluter Mehrwert: Verlängerung des Arbeitstags – mehr Stunden = mehr Mehrwert.
Relativer Mehrwert: Erhöhung der Produktivität – die notwendige Arbeitszeit wird durch technische Mittel (z. B. Maschinen) gesenkt, sodass ein größerer Teil des Arbeitstags unbezahlt bleibt.
Methoden: Rationalisierung, Pausenverkürzung, erhöhte Arbeitsintensität – oft auf Kosten besonders verletzlicher Gruppen (z. B. Frauen, Kinder).
Auswirkung auf ArbeiterInnen:
Technologischer Fortschritt führt zu Arbeitslosigkeit → wachsende industrielle Reservearmee.
Reservearmee sorgt für Lohndruck, Unsicherheit, soziale Spannungen
-> Löhne sinken, obwohl Produktivität steigt → Arbeiter:innen können eigene Produkte nicht kaufen.
Widersprüche der Kapitalzusammensetzung:
Investition in Maschinen (c ↑) erhöht zwar kurzfristig die Produktivität und damit den Mehrwert. Gleichzeitig sinkt der Anteil lebendiger Arbeit (v ↓) → langfristig weniger Quelle für neuen Wert.
Folge: Tendenzieller Fall der Profitrate trotz wachsender Produktion.
Systemischer Grundwiderspruch: Gesellschaftliche Produktion (viele arbeiten zusammen) steht im Widerspruch zur privaten Aneignung (nur wenige – Kapitalbesitzer – eignen sich den Mehrwert an).
Folge: Überproduktion (zu viele Waren) bei gleichzeitigem Unterkonsum (Arbeiter können sich die Waren nicht leisten).
führt regelmäßig zu Krisen im Kapitalismus – z. B. Wirtschaftseinbrüche, Massenarbeitslosigkeit.
= Dauerhafter Klassenkonflikt: zwischen Bourgeoisie (Kapitalbesitzende) und Proletariat (Arbeiter:innenklasse) als Resultat von Systemimmanenz (also im Kapitalismus eingebaut.)
Was ist die Zusammenfassung der Marxschen strukturtheoretischen Analyse über Kapitalismus und Ausbeutung?
Marx diagnostiziert den Kapitalismus als eine Gesellschaft, die auf Ausbeutung und Entfremdung basiert, wobei der Kapitalismus enormen materiellen Reichtum produziert, aber nur durch die Unterdrückung der Arbeiterklasse (Proletariat). Diese Unterdrückung führt zu Krisen in der kapitalistischen Gesellschaft.
Kapitalismus enthält den Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung, was zu Überproduktions- und Unterkonsumtionskrisen führt. Diese Krisen schaffen die Grundlage für eine revolutionäre Situation, in der das Proletariat die Bourgeoisie stürzen kann. - gleich einer Diktatur des Proletariats
Vision des Sozialismus: Marx äußert sich nur vage über die sozialistische Gesellschaft. Er lehnt es ab, konkrete Details dieser Zukunft zu beschreiben, da er ein „Utopieverbot“ anwendet.
Marx' Erwartung einer zukünftigen kommunistischen Gesellschaft ist problematisch, da er keine detaillierte Analyse der Struktur und Funktionsweise des Sozialismus bietet. Diese Unausgewogenheit zwischen Kapitalismus und Sozialismus lässt die Gefahr eines repressiven „Reiches der Unfreiheit“ entstehen, wie es im marxistisch-leninistischen Experiment der Fall war.
Fazit: Der politische Messianismus Marx’ – die Erwartung einer zukünftigen kommunistischen Gesellschaft – stellt eine Schwachstelle seiner Theorie dar. Während seine Analyse des Kapitalismus tiefgründig ist, bleibt seine Vorstellung einer sozialistischen Zukunft unklar und unzureichend durchdacht.
Welches bekannte Zitat geht auf Emil Durkheim zurück und was bedeutet es?
“Wir arbeiten zusammen, weil wir es gewollt haben, aber unsere freiwillige Zusammenarbeit schafft uns Pflichten, die wir nicht gewollt haben.“
= basierend auf Kants moralischer Theorie, meint er, dass freiwillige Kooperation zu sozialer Bindung und Verpflichtung führt. Zwar entscheiden sich Individuen freiwillig, zusammenzuarbeiten, doch entsteht aus dieser Zusammenarbeit eine Notwendigkeit, soziale Pflichten zu erfüllen, um das Funktionieren der Gesellschaft aufrechtzuerhalten. Diese „unbeabsichtigten“ Pflichten sind ein integraler Bestandteil der sozialen Ordnung und Solidarität, die durch Arbeitsteilung entsteht. Durkheim hebt hervor, dass diese Pflichten die Individuen in eine moralische Verantwortung gegenüber der Gesellschaft einbinden, die über ihre eigenen individuellen Wünsche hinausgeht.
Was ist nach Durkheim “Soziologie”?
“Wissenschaft von den Institutionen, deren Entstehung und Wirkungsarten“
= alle sozialen Faktoren, Strömungen und kollektiven Vorstellungen in einer Gesellschaft.
Zu untersuchender Gegenstand: sämtliche soziale Phänomene bzw. soziale Tatbestände
Was ist nach Durkheim ein “Fait social” und welche Merkmale beinhaltet es?
„jede mehr oder minder festgelegte Art des Handelns, die die Fähigkeit besitzt, auf den Einzelnen einen äußeren Zwang auszuüben; oder auch, die im Bereich einer gegebenen Gesellschaft allgemein auftritt, wobei sie ein von ihren individuellen Äußerungen unabhängiges Eigenleben besitzt“
=Soziales Phänomen, das auf sozialem Handeln beruht, in einer Gesellschaft weit verbreitet ist und einen äußeren Zwang auf Individuen ausübt, wenn sie es nicht bewusst oder freiwillig gewählt haben. (z.B. Hochzeitsrituale, Sprachregeln, moralische Normen, Gesetze)
Merkmale:
Äußerlichkeit: Soziale Phänomene existieren außerhalb des individuellen Bewusstseins und sind nicht vom Individuum geschaffen/ angeboren, sondern werden durch Erziehung erworben.
Zwang: Soziale Phänomene üben Zwang auf das Verhalten von Individuen aus, sei es durch Gesetze, Moral, gesellschaftliche Normen - Sanktionen werden verhängt, wenn diese Normen verletzt werden.
Allgemeinheit: Soziale Phänomene treten allgemein in einer Gesellschaft auf und wirken nicht nur auf individuelle Handlungen, sondern auf kollektive Strömungen, wie Massenhysterien oder statistische Trends.
Unabhängigkeit: Soziale Phänomene haben ein Eigenleben, das sich von individuellen Ausdrücken trennt und sich in Aggregaten wie statistischen Raten manifestiert, wobei individuelle Besonderheiten neutralisiert werden.
Heißt: Durkheim betrachtet Gesellschaft als eigenständige Realität, die nicht auf physische, biologische oder psychische Faktoren reduziert werden kann. Um soziale Phänomene zu verstehen, schlägt er eine methodische Herangehensweise vor, die aus drei Schritten besteht:
Beschreibung: Ziel - Soziale Phänomene möglichst objektiv und vorurteilsfrei erfassen, so wie Dinge ("comme des choses").
Vorurteilslosigkeit: Beobachter soll sich von vorgefassten Meinungen befreien.
Empirie: Nicht bloß über soziale Phänomene nachdenken, sondern sie in ihrer äußeren Erscheinung beobachten.
Initialdefinition:
Objektiv, wenn die wesentlichen Grundzüge erfasst sind.
Allgemein, wenn alle gleichartigen Phänomene unter den Begriff fallen.
Erklärung: Ziel - Phänomen verstehen, indem man Funktion und Ursache untersucht.
Trennung von Funktion und Ursache (Genese):
Funktionalität: Was bewirkt oder leistet das Phänomen in der Gesellschaft?
Kausalität (Genese): Wie ist das Phänomen entstanden?
Durch Historisch-komparative Methode:
Diachron: Vergleich über verschiedene Zeiten hinweg.
Synchron: Vergleich zwischen gleichzeitig existierenden Gesellschaften.
und Beurteilung: ob ein Phänomen normal oder pathologisch ist.
Kriterium der Normalität: wenn es in einer Gesellschaft weit verbreitet ist.
Dreischritt zur Beurteilung:
Beobachtung der Verbreitung: Wie häufig tritt das Phänomen auf?
Analyse der Bedingungen, die zu dieser Verbreitung geführt haben.
Vergleich mit der Gegenwart: Wenn die Bedingungen noch gelten → normal, wenn nicht → pathologisch.
Wie ist nach Durkheim die Soziologie entstanden?
im Zuge der „Großen Transformation“ als Produkt tiefgreifender gesellschaftlicher Umbrüche (z. B. Industrialisierung, Urbanisierung) - dem Übergang zur Moderne
Langsamer und diskontinuierlicher Einzug in Universitäten (ca. 1890–1920)
Fließt unauffällig, aber wirksam in Kultur und Alltagssprache ein und wirkt somit zurück auf Gesellschaften, formt deren Selbstbild
Alain Touraine: Soziologie = “Träger der Historizität”
Gesellschaften nutzen sie, um sich selbst zu verstehen und ihre Zukunft zu entwerfen
Was ist Durkheims Konzept des Institutionellen Individualismus?
Idee, dass die moderne Gesellschaft dem Individuum zwar Autonomie und Würde zuspricht („Kult des Individuums“), diese aber nur durch stabile Institutionen wie Berufsgruppen, den Staat und die Demokratie gesichert werden müssen.
Diese Institutionen vermitteln zwischen dem Einzelnen und dem Kollektiv, stiften moralische Ordnung, verhindern Anomie und ermöglichen soziale Integration.
Freiheit des Individuums ist bei Durkheim also kein natürlicher Zustand, sondern ein Ergebnis kollektiver Bindungen und normativer Strukturen.
Ausgangsproblem: Wie entsteht soziale Ordnung, wenn Individuen frei und unabhängig sind und Menschen aber freiwillig arbeitsteilig zusammen arbeiten?
-> Pflichten und Zwänge aus Zusammenleben entstehen, welche erfüllt werden müssen, um Gesellschaft funktionsfähig zu halten. = Druck zu sozialer Solidarität
Orientierung an Kants Individualismus:
Zentrale Frage: Wie kann individuelle Freiheit in eine moralische Sozialordnung eingebettet werden?
Abgrenzung zu Kantischem Idealismus:
kategorische Imperativ: Handle so, dass die Maxime deines Handelns jederzeit zugleich als allgemeines Gesetz gelten könnte.
ABER: moralische Subjekt nicht als rein vernunftgeleitetes, autonomes Ich SONDERN: als sozial eingebettetes Wesen, dessen Autonomie nur durch institutionell vermittelte Solidarität möglich ist.
zeigt, wie moralische Autonomie (Selbstbestimmung) und soziale Ordnung miteinander vereinbar sind.
= Auch in modernen Gesellschaften muss Freiheit nicht Anarchie bedeuten.
Lösung: Institutioneller Individualismus
Moralischer Individualismus: Werte von 1789 (Menschenrechte, Freiheit) existieren als Ideale.
Aber: Diese Werte müssen durch Institutionen realisiert werden, damit sie praktisch wirken.
→ Institutioneller Individualismus = Gesellschaftliche Institutionen (wie Rechtssystem, Bildung, Berufsorganisationen) müssen Werte des Individualismus (Würde, Freiheit, Gleichheit) strukturell absichern.
Ziel: dynamische, gerechte, moderne Gesellschaft, in der individuelle Freiheit durch solidarische Institutionen getragen wird.
Gemeinsamkeit mit Marx: → Beide teilen die Werte der französischen Revolution (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit).
Unterschiede:
Marx = Revolution & Klassenkampf
Durkheim = Reform & Berufsethik
Marx = Kapitalismus → Entfremdung
Durkheim = industrielle Gesellschaft → Anomie
9-f1Für Durkheim sind Klassen Übergangsphänomene, nicht dauerhaft. – sie verschwinden mit wachsender sozialer Gerechtigkeit.
Was sind die 3 zentrale Thesen zur Zeitdiagnose über Durkheims Institutionellen Individualismus?
Zeitdiagnose: Moderne Gesellschaft braucht institutionellen Individualismus zur Sicherung von Freiheit und Ordnung.
Werkkontinuität: Durkheim sucht in allem, was er untersucht (Arbeitsteilung, Religion usw.), nach Antworten auf diese eine große Frage: Wie verbindet sich individuelle Freiheit mit gesellschaftlichem Zusammenhalt?
Soziologische Transformation: alte philosophische Frage („Wie ist Ordnung möglich?“) wird von Durkheim soziologisch neu gestellt -> Arbeitsteilung und Solidarität ersetzen abstrakte Begriffe wie Freiheit und Pflicht.
Kernsatz: „Wie kann das Individuum zugleich immer autonomer und zugleich immer abhängiger von der Gesellschaft werden?“Antwort: Durch eine neue Form sozialer Solidarität, getragen von arbeitsteiliger Kooperation und gerechten Institutionen.
Was ist nach Durkheim “Arbeitsteilung”?
Begriff, um die Struktur und Funktionsweise moderner Gesellschaften zu verstehen.
KEINE:
die Produktivität der Arbeitsteilung (wie bei Adam Smith)
oder Klassenbildung (wie bei Marx)
Sondern: Er untersucht, wie Arbeitsteilung soziale Solidarität (Zusammenhalt) ermöglicht
Durkheim zeigt, dass moderne Gesellschaften durch arbeitsteilige Unterschiede zusammengehalten werden, aber diese Struktur ist anfällig für Krisen (z.B. Anomie), die durch bewusste Regelanpassung überwunden werden können.
Was sind pathologische (problematische) Formen der Arbeitsteilung nach Durkheim?
Anomische Arbeitsteilung: Regellosigkeit bei zu schnellem Wandel. Keine spontanen Regeln → soziale Krise → Anomie entsteht
Erzwungene Arbeitsteilung: Alte Regeln passen nicht mehr → Ungerechtigkeit → soziale Konflikte, Klassenkämpfe.
Koordinationsdefizite: Probleme innerhalb der ORganisation durch fehlende Abstimmung
Anomie = Übergangskrise, heilbar durch neue Regeln.
Zwang = tiefer Systemfehler → nur revolutionärer Wandel (z.B. neue Eigentumsverhältnisse) kann helfen
Was ist nach Durkheim eine Anomie?
= Zustand gesellschaftlicher Regellosigkeit, in dem soziale Normen und Werte ihre orientierende und stabilisierende Wirkung verlieren.
Durkheim verwendet den Begriff insbesondere im Zusammenhang mit seiner Analyse des anomischen Selbstmords, den er unter anderem bei plötzlichen wirtschaftlichen Krisen und auch bei unerwartetem Wohlstand beobachtet. Sowohl abrupter Abstieg als auch schneller Aufstieg führen zu einer Art sozialem Vakuum, in dem Menschen ihre gewohnten Maßstäbe verlieren und in eine Krise der Orientierung geraten.
Ursache der Anomie sieht Durkheim in einer fehlenden moralischen Regulierung von Lebensbereichen wie Wirtschaft und Gesellschaft. Besonders in modernen Gesellschaften, in denen wirtschaftlicher Fortschritt und Materialismus dominieren, ist die Gefahr groß, dass soziale Institutionen nicht mehr ausreichend normativ regulierend wirken – was eine dauerhafte gesellschaftliche Instabilität schafft.
Wie sieht Durkheim das Thema Suizid?
soziales Phänomen als Ausdruck eines tiefen gesellschaftlichen Unbehagens, die trotz der scheinbar individuellen Entscheidung soziale Ursachen hat. In seiner Arbeit folgt er einem 3-teiligen Aufbau:
Ablehnung nicht-sozialer Erklärungen: Er widerlegt biologische, klimatische und psychologische Erklärungen für Selbstmord, da diese keinen signifikanten Zusammenhang mit den Suizidraten zeigen.
Soziologischer Erklärungsansatz: Durkheim entwickelt eine Typologie mit vier Selbstmordarten:
Egoistischer Selbstmord: Folge mangelnder sozialer Integration (z.B. bei Protestanten oder alleinstehenden Menschen).
Altruistischer Selbstmord: Folge übermäßiger Integration (z.B. in traditionellen Gemeinschaften oder Armeen).
Anomischer Selbstmord: Entsteht durch Regellosigkeit in Krisen oder bei plötzlichem sozialen Auf- oder Abstieg.
Fatalistischer Selbstmord: Resultat übermäßiger Regelung (wird von Durkheim kaum behandelt).
Zeitdiagnose und Schlussfolgerung:
Durkheim sieht insbesondere Egoismus und Anomie als Symptome einer moralischen Krise in der modernen Gesellschaft.
Durkheim gelingt mit dieser Studie ein wichtiger Beitrag zur Soziologie, indem er zeigt, dass selbst intime, persönliche Entscheidungen wie Selbstmord stark von gesellschaftlichen Faktoren geprägt sind.
Dennoch bleibt sein Ansatz einseitig, da er psychologische Motive ausklammert und keine Therapie für die diagnostizierte Gesellschaftskrise bietet.
Was ist nach Durkheim Moral?
Ein System von Regeln und Werten, das in einer Gesellschaft verbindlich ist und das Verhalten der Individuen leitet - Fundament sozialer Ordnung und umfasst Werte, Normen und kollektive Überzeugungen.
= Ohne moralische Regeln keine soziale Bindung.
Was bedeutet Solidarität nach Durkheim und welche Arten gibt es?
= tatsächlich gelebte soziale Band, das Menschen trotz Individualisierung miteinander verbindet.Sie zeigt sich im Gefühl der Zugehörigkeit, gemeinsamen Verpflichtungen und wechselseitigen Abhängigkeiten
Durkheim: „Solidarität ist ein rein moralisches Phänomen, das aus dem Bewusstsein der Individuen hervorgeht.“, als Zusammenspiel von:
Sozialstruktur (Wie eine Gesellschaft aufgebaut ist)
Kultur/ Werten
Gleichgewicht dieser Puntke = Solidarität
Heißt: Solidarität ist nicht nur ein rechtliches oder ökonomisches Verhältnis, sondern beruht auf gemeinsamen moralischen Überzeugungen – z. B. was gerecht, gut oder verpflichtend ist.
Achtung: Nur gerechte Institutionen, die Werte widerspiegeln, erzeugen moralische Autorität und sozialen Zusammenhalt.
Arten
Mechanische Solidarität: Archaische Gesellschaften
in kleinen, segmentierten Einheiten
stark einheitliches Kollektivbewusstsein
Integration direkt in die Gemeinschaft
Basis: Ähnlichkeit aller
Organische Solidarität: Moderne Gesellschaften
in großen differenzierten Lebensbereichen
vielfältiges und funktionsspezifisches Kollektivbewusstsein
Integration indirekt über Arbeitsteilung und INterdependenzen
Basis: Unterschiedlichkeit (Arbeitsteilung) aller
= Solidarität ist ohne Moral nicht möglich, denn sie beruht auf einer gemeinsam geteilten Vorstellung davon, was richtig und verbindlich ist – sei es durch Ähnlichkeit (mechanisch) oder funktionale Abhängigkeit (organisch).
Ungeklärtes Problem: Träger der organischen Solidarität:Wer sind konkret die Gruppen, die Solidarität in einer arbeitsteiligen Gesellschaft stützen?
Kritik: Moderne Form des Kollektivbewusstseins:Ist der "Kult des Individuums" (also Wertschätzung der Individualität) wirklich ausreichend als gemeinsames neues Ideal?
Wie hängen laut Durkheim Arbeitsteilung, Solidarität und Moral zusammen?
Arbeitsteilung → schafft Solidarität → schafft moralische Ordnung.
Gesellschaft bleibt zusammen, weil Arbeitsteilung wechselseitige Abhängigkeit erzeugt und dadurch moralische Bindungen entstehen.
Welches Verständnis hat Durkheim von der Institution Staat?
Durkheim steht zwischen zwei Staatsverständnissen:
Auguste Compte: starker, zentraler Staat, der Gesellschaft moralisch lenkt und organisiert
Herbert Spencer: Minimalstaat, der sich nicht einmischt, sondern nur Recht und Ordnung garantiert
Durkheims Problem:
Er sieht, dass eine gerechte Gesellschaft Regeln braucht, die von außen durchgesetzt werden (z. B. gegen Anomie).
Aber er will keinen autoritären Staat, der alles moralisch vorgibt (wie Comte).
Gleichzeitig glaubt er nicht an die reine Selbstregulation durch Märkte oder Individuen (wie Spencer).
→ Er schwankt also: Wie viel Staat ist nötig, um Solidarität und Moral zu sichern – ohne die Freiheit des Einzelnen zu untergraben?
Für ihn ist Staat:
nicht bloß Produkt sozialer Differenzierung
sondern: eigenständiges Organ kollektiver Reflexion
Aufgabe des Staates:
Allgemeine Prinzipien und Kollektivvorstellungen ausarbeiten
Steuern, integrieren, normativ sichern
Nicht alles selbst regulieren – sondern Raum lassen für sekundäre Gruppen (Berufsgruppen)
Pathologie: Überstaatlichkeit: Ein alles kontrollierender Staat ohne gesellschaftliche Rückkopplung
Achtung: Moderne Demokratie ist laut Durkheim nur stabil, wenn es ein Machtgleichgewicht zwischen Staat und intermediären Instanzen gibt.
Weshalb beschäftigt sich Durkheim so viel mit der Institution Staat?
Durkheim erkennt, dass moderne Gesellschaften nicht ohne zentrale Ordnungsmacht funktionieren – aber er bleibt unklar, ob der Staat diese Rolle aktiv (lenkend) oder passiv (ermöglichend) übernehmen soll.Diese Ambivalenz bleibt in seiner Theorie offen und wird später z. B. von Parsons oder Habermas weitergeführt.
Grundlegend geht er der Frage nach, wer:
Regeln bei Anomie setzt
moralische Werte schützt
gerechte Institutionen garantiert
Was ist nach Durkheim soziale Differenzierung und welches Konzept schlägt er als Lösung vor?
= Spezialisierte Arbeitsteilung und Durkheim beobachtet, dass je mehr soziale Differenzierung stattfindet, desto mehr verlieren klassische Bindungen (wie z:B: Familie, Verwandtschaft) an Bedeutung
Kontraktionsgesetz der Familie (loi de contraction de la famille) = Veränderung der Familienstruktur in der Moderne
Problem: Wenn Familie als moralische Institution zerfällt, muss etwas anderes ihre Rolle übernehmen, um soziale Kohäsion (Zusammenhalt) zu sichern. und Anomie/ Isolation zu verhindern
Aber: „Eine Gesellschaft, die aus einer Unmasse unorganisierter Individuen besteht und von einem Überstaat zusammengehalten wird, ist ein soziologisches Monstrum.“
➡️ Und deshalb schlägt er : Berufsgruppen als soziale, moralische und politische Mittlerinstanzen vor
Für was stehen BErufsgruppen nach Durkheim?
Träger organischer Solidarität und zentralen Mittlern zwischen:
Individuum und Staat
Privatheit (Familie) und Öffentlichkeit (Politik)
Durkheim spricht ihnen daher eine zentrale gesellschaftsstabilisierende Funktion zu – sowohl sozial als auch politisch.
Vorteile von Berufsgruppen:
Mittlere Größe, also gut steuerbar und erfahrbar
Fördern normative Integration, weil gemeinsame Interessen und Werte entstehen
Bieten Raum für Regelbildung, Selbstverwaltung und Mitbestimmung
Unterstützen das Gefühl, nicht anonym und ungeschützt zu sein
Welche Ziele und Merkmale hat eine organisierte Berufsstruktur einer Berufsgruppe nach Durkheim?
Ziel ist es, wirtschaftliche Selbstregulierung, soziale Gerechtigkeit und politische Repräsentation zu verbinden durch:
Merkmal
Administrative Räte
Gewählte Gremien auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene
Zwei-Kammer-System
Gleichberechtigte Vertretung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern
Zwangsmitgliedschaft
Alle Berufstätigen müssen organisiert sein – gegen soziale Anomie
Funktionale Rollen
Repräsentation, Artikulation, Regelsetzung, Konfliktlösung
Kontakt zum Staat
Kooperation, aber Wahrung der Autonomie zwischen Staat und Berufsgruppen
und moralischen Individualismus zu fördern
Was ist nach Durkheim ein moralischer Individualismus?
“Das Individuum wird zur heiligen sozialen Idee der Moderne. Die Gesellschaft organisiert sich um den Schutz und die Entfaltung des Einzelnen.”
Aber: Damit dies gelingt, braucht es Institutionen, die
Integration statt Isolation ermöglichen
Kollektive Moral erzeugen, die Individualismus trägt
Gleichgewicht zwischen individueller Autonomie und sozialer Bindung schaffen
→ „moralische Individualismus“ ist also nicht individualistisch im liberalen Sinn, sondern auf soziale Institutionen angewiesen.
Genau diese Rolle sollen die Berufsgruppen übernehmen!
Welche Institutionen übernehmen welche Rolle in Durkheims institutionellem Individualismus?
Element
Ziel / Funktion bei Durkheim
Berufsgruppen
Herstellung organischer Solidarität, Selbstregulierung des Arbeitslebens, moralische Sozialintegration
Staat
Rahmensetzung, kollektive Werte formulieren und sichern, Steuerung, Integration
Demokratie
Machtbalance, Partizipation ermöglichen, Schutz vor Anomie und Willkür
Individuum
Autonomie, moralisches Zentrum der Gesellschaft, Träger kollektiver Werte
Was ist Durkheims Verständnis von Religion?
Religion = „Ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken über heilige Dinge, das alle Mitglieder derselben moralischen Gemeinschaft (Kirche) vereint.“
Kirche = nicht bloß Priesterschaft, sondern die Gesamtheit der Gläubigen als moralische Gemeinschaft.
Abgrenzung zu Magie:
Religion = kollektiv, gemeinschaftlich (Kirche)
Magie = individualistisch, keine gemeinschaftsbildende Kraft
Zentrale Merkmale
Durkheim sagt: Alle Religionen trennen die Welt in zwei Bereiche:
Das Heilige (le sacré): alles, was besonders, verehrt, geschützt oder verboten ist. – man darf es nicht einfach benutzen oder behandeln wie alles andere.
heilige Schriften (z.B. der Koran)
Zeremonien, wie Hochzeiten → Man geht damit ehrfürchtig oder vorsichtig um.
Vs. das Profane (le profane): alltägliche Bereich – alles, was nicht heilig ist.Man kann es einfach benutzen, anfassen, verändern ohne religiöse Bedeutung
normale Bücher
Spaziergänge
Trennung = Grundprinzip jeder Religion und hat drei Eigenschaften:
Heterogenität → Die zwei Bereiche sind komplett verschieden, man darf sie nicht vermischen.
Antagonismus → Sie stoßen sich ab: Heiliges und Profanes dürfen sich nicht berühren (z. B. keine schmutzigen Hände bei der Hostie).
Hierarchie → Das Heilige ist höherwertig, es hat mehr Bedeutung, mehr Macht.
Die Regeln rund ums Heilige sagen den Menschen, was wichtig ist, was tabu ist – und das verbindet die Gemeinschaft. = soziale Ordnung wird hergestellt
Auf welchen Bestandteilen basiert Durkheims Religionstheorie?
Durkheim lehnt rein spiritualistische oder idealistische Religionstheorien ab – Religion ist für ihn immer auch Handlung, nicht nur Glaube.
Bestandteile
Glaube (le croyance): Kognitive Inhalte einer Religion
= kollektive Vorstellungen über das Heilige, die eine Gruppe miteinander teilt
Glaubensinhalte sind kollektive Repräsentationen – also gesellschaftlich geteilte Symbole, die gemeinsame Bedeutung stiften. (Repräsentations collectives)
z.B. „Es gibt einen Gott, der allmächtig ist.“
Ritus (le rite): kollektiv geregelte verhaltensregulierende Handlungen, die den Glauben körperlich und sozial umsetzen
Riten strukturieren den Umgang mit dem Heiligen: wann, wie und wer sich dem Heiligen nähern darf – oder es vermeiden muss.
Sie schaffen soziale Kohärenz und kollektive Identität.
z.B. Opfer bringen, Beten, Fasten, etc
Diese Trennung spiegelt das Verhältnis von Denken und Tun wider.
Was sind Durkheims 3 Hypothesen über Religion und Gesellschaft?
Kausale Hypothese – Religion ist sozial bedingt → Sie entsteht aus sozialen Bedingungen, insbesondere in Momenten kollektiver Erregung
„effervescence créatrice“: In Momenten intensiver kollektiver Versammlung (z. B. Rituale, Feste, Trauer) entsteht ein emotionaler Überschuss, der als „überindividuelle Kraft“ erlebt wird.
Interpretative Hypothese – Religion ist nicht nur kausal aus Gesellschaft hervorgegangen, sondern sie bildet diese auch ab: repräsentationstheoretischen Sicht:
Kognitiv: Religion bildet gesellschaftliche Strukturen ab
Gott = Gesellschaft: Was als Gott oder Heiliges verehrt wird, ist in Wahrheit die Gesellschaft selbst in überhöhter Form.
= Religion erzeugt damit kollektive Weltdeutungsmuster, die Denken und Wahrnehmung strukturieren.
z.B. Kalender mit Feiertagen basiert auf kollektiven Gedenkakten, nicht auf Naturgesetzen.
Expressiv: Religion dramatisiert und symbolisiert gesellschaftliche Wirklichkeiten
Religion ist eine Bühne, auf der Gesellschaft sich selbst inszeniert: durch Rituale, Mythen, Feste.
Sie dramatisiert ihre Werte, Normen und Konflikte in symbolischer Form – etwa durch Opfer, Reinigung, Tabus.
Funktionale Hypothese – Religion ist nicht nur ein „Abbild“ der Gesellschaft, sondern wirkt auf Gesellschaft & Individuum zurück
Makrosozial:
Integration: Religion stiftet Zusammenhalt durch gemeinsame Rituale, Werte, Normen.
Kollektive Identität: Durch das Heilige wird eine moralische Gemeinschaft („Kirche“) gebildet.
Kulturstiftung: Religion trägt zur Entwicklung von Recht, Moral und Wissen bei.
Selbstreflexion der Gesellschaft: In der religiösen Symbolik denkt Gesellschaft über sich selbst nach.
Mikrosozial:
Lebensorientierung: Religion gibt dem Einzelnen Sinn, Halt und moralische Orientierung.
Disziplinierung: Rituelle Vorschriften strukturieren das Verhalten, formen den Charakter.
Kraftquelle: Durch Rituale oder Gebet erlebt das Individuum Kollektivmacht als innere Stärke.
Heißt: Das Gebet an Gott ist in Wahrheit die Mobilisierung kollektiver Energie – aber sie wird als persönliche Kraft erlebt.
Hypothese
Inhalt
Zielrichtung
Kausal
Religion entsteht aus kollektiven sozialen Erfahrungen
→ Entstehung von Religion erklären
Interpretativ
Religion ist Symbol für gesellschaftliche Ordnung und Weltdeutung
→ Religion als Spiegel der Gesellschaft
Funktional
Religion trägt zur Stabilität und Kohäsion von Gesellschaft und Individuum bei
→ Religion als aktive soziale Kraft
Was ist nach Durkheim eine Kirche im soziologischen Sinne?
“Eine Religion ist ein solidarisches System von Glaubenssätzen und Praktiken in Bezug auf heilige Dinge (…) das alle, die ihm angehören, in eine moralische Gemeinschaft, genannt Kirche, vereinigt.“
Heißt: Religion = System aus:
Überzeugungen über das Heilige (Glaube) und
praktischen Regeln für den Umgang damit (Ritus).
Beides zusammen führt dazu, dass sich eine moralische Gemeinschaft bildet –> eine Kirche im soziologischen Sinn (egal ob christlich, buddhistisch, animistisch usw.).
Was ist nach Durkheim moralischer Individualismus?
Auch in modernen Gesellschaften gibt es etwas „Religiöses“ – nur in neuer Form:
Moderne Gesellschaften heiligen nicht mehr Götter, sondern das Individuum: „Der Mensch ist ein Gott für den Menschen geworden.“
= Individuum wird in seiner Würde und Unverletzlichkeit religiös überhöht = moralischen Individualismus.
Was ist nach Durkheim eine säkuläre Religion?
= Neue (losgelöste) weltliche, kollektive Moralordnung,die nicht auf einem transzendenten Gott, sondern basierend auf soziomoralischen Prinzipien der
Gleichheit: Jeder MEnsch hat denselben moralischen Wert
Solidarität: Gesellschaftlicher Zusammenhalt basierend auf einem bewussten Miteinander, nicht aufgrund göttlichem Gebot
Reziprozität (Wechselseitigkeit): Gefühl von gegenseitiger Verantwortung z.B. durch Sozialversicherung, Steuersystemen, Nachbarschaftshilfe.
Religion ist im Kern das, was die Gesellschaft zusammenhält, dann kann es auch säkulare Religionen geben – also Formen des kollektiven Glaubens ohne Gott.
Klassische Religion
Neue (säkulare) Religion
Glaube an Gott
Glaube an Menschenwürde
Gebote Gottes
Menschenrechte, Gesetze
Nächstenliebe
Solidarität & Sozialstaat
Heiliges Objekt
Nationalflagge, Verfassung
Opfer im Ritus
Selbstverzicht im Gemeinwohl
Welche Aufgabe sieht Durkheim in der Neuen Religion in modernen Gesellschaften und welche Institutionen verwirklichen sie?
Die „Religion“ der Moderne ist nicht transzendent (Gott ist z. B. transzendent, weil er außerhalb der Welt existiert) – aber sie funktioniert ähnlich:Sie schafft Bindung, Orientierung und moralische Ordnung durch weltliche Institutionen.
STaat = Hüter des Kollektivideals
Damals: Gott als moralische Instanz
Heute: Staat ersetzt in Teilen die religiöse Institution als moralisches Zentrum (Menschenrechte, Demokratie)
Erziehung = Vermittlung des Heiligen
Damals: Kirche als Vermittler von Werten
Heute: Schulen als zentrale Vermittler kollektiver Werte und Sozialisatoren moralischer Ordnung
Lehrer*innen sind „weltliche Priester“ einer säkularen Ethikgemeinschaft
Berufsverbände = neue moralische Kollektive
Damals: Religiöse Glaubensgemeinschaften
Heute: Verbände stiften Berufsethos und Verantwortungsgefühl durch moralische Prinzipien und nicht ökonomischen Zwang
Was ist eine korporative Gesellschaft nach Durkheim?
Idee von Henri de Saint-Simon,der im 19. Jahrhundert eine alternative Ordnung zur liberalen Marktgesellschaft entwerfen wollte. Seine Idee:
“Die Gesellschaft soll sich neu organisieren, nicht mehr bloß nach Klassen (Arm/Reich), sondern nach Berufen und Funktionen.
➡ Diese „Berufsgruppen“ oder „Korporationen“ sollen:
politische Mitsprache erhalten (quasi Mini-Parlamente der Berufe),
ethische Verantwortung übernehmen (nicht nur profitorientiert),
zwischen Staat, Markt und Individuum vermitteln.
Ziel: Überwindung von Klassenkämpfen, durch eine sachlich gerechte, berufsbezogene Organisation des Gemeinwohls mit ökonomisch-rational gesteuerter Gesellschaft, die soziale Harmonie schafft – mit einem gewissen technokratischen Elitarismus.
Durkheim greift diese Idee auf, kritisiert aber den technokratischen Zugriff und bringt eine soziologisch-moralische Dimension ein:
👉 Durkheims Konzept der Berufsgruppen ist eine Weiterentwicklung, weil er "vergesellschaftet" und "moralisiert" Saint-Simons technokratische Idee.
Bei ihm sollen Berufsgruppen:
nicht bloß produktiv sein,
sondern die Werte einer modernen, säkularen, solidarischen Gesellschaft verkörpern und mittragen.
Sie sind also inspiriert von Saint-Simon, aber keine einfache Wiederholung. Durkheim „zivilisiert“ und „vergesellschaftet“ das Modell weiter – weg von technokratischer Steuerung, hin zu moralischer Integration.
Wichtig: Durkheim war kein Sozialist oder Technokrat, sondern suchte eine Balance zwischen individuellem Recht und kollektiver Moral.
Er wollte die Ökonomie wieder in die Gesellschaft integrieren, ohne sie zu vergötzen (wie der Utilitarismus) oder zu ersetzen (wie der Sozialismus)
Wer war Georg Simmel?
Deutscher Soziologe und Philosoph (späte 19. / frühe 20. Jahrhundert)
Biografie: 1858 in Berlin geboren, jüdische Herkunft, später evangelisch getauft, Bildung durch wohlhabenden Vormund gefördert.
Karriere: Habilitation 1884, lange ohne feste Stelle, erst 1914 ordentlicher Professor in Straßburg.
Umstrittene Position in der Soziologiegeschichte:
Eine Seite: Begründer der formalen Soziologie (Analyse von sozialen Strukturen und Wechselwirkungen)
Andere Seite: Kein klarer, einheitlicher soziologischer Ansatz, keine „Simmel-Schule“
Was untersuchte Simmel?
Georg Simmel untersuchte das spannungsreiche Verhältnis von gesellschaftlicher Differenzierung und individueller Lebensführung in der Moderne.
insbesondere die Wechselwirkung zwischen Gesellschaft, Kultur und Persönlichkeit – also wie soziale Strukturen (wie Geldwirtschaft, Urbanität, Arbeitsteilung) einerseits Freiheit ermöglichen, andererseits aber auch zu kultureller Entfremdung führen können.
Zentral waren für ihn die Fragen:
Wie ist Gesellschaft möglich?
Wie ist Individualität möglich?
Dabei gibt er keine einfache Auflösung, sondern Sein Ansatz liegt im Dazwischen, in der Ambivalenz von Modernität und Individualität – mit einem offenen Blick für die Widersprüche moderner Lebensformen.
Was meint Simmel mit dem „relativistischen Charakter des Seins“?
Erkenntnistheoretischer Relativismus = traditionelle, einheitsstiftende Werte (z. B. das Gute, Schöne, Wahre) weichen in der Moderne einem pluralistischen Wertekosmos, in dem sich Lebenssphären wie Recht, Moral, Kunst, Wissenschaft, Wirtschaft und Politik verselbstständigen und jeweils eigenen Regeln folgen = „Relativismus“, aber im Sinne eines Perspektivismus:
Heißt:
Wahrheit ist immer relativ zum Standpunkt, zur Zeit und zum gesellschaftlichen Kontext.
und
Es gibt keine absolute, sondern nur perspektivische Erkenntnis – je nach Disziplin, Erkenntnisinteresse und sozialen Bedingungen.
Was ist „Erkenntnis“ nach Georg Simmel?
ein vom erkennenden Subjekt hervorgebrachter Sinnzusammenhang, der bestimmte Aspekte der Wirklichkeit aus einer Perspektive erfasst, um handlungsfähig und orientiert zu bleiben.
UND nicht das Abbild einer objektiven Welt!"
Erkenntnis ist konstruiert und relativ: Der Mensch ordnet diese selbst, indem er die Welt in Formen, Begriffe, Kategorien fasst. Diese Ordnungen sind nicht falsch, aber eben auch nicht absolut wahr – sie sind relativ zur Perspektive, zur Zeit, zum Zweck.
“Unsere Begriffe sind Werkzeuge, nicht Spiegelbilder.”
Erkenntnis ist zweckgebunden: Erkenntnis ist aus Handlung entstanden
Erkenntnis ist historisch gewachsen und verändern sich: Der Mensch lebt nicht in einer festen Welt, sondern in einem sich wandelnden Netz von Sinnkonstruktionen.
Erkenntnis ist strukturierend, nicht entdeckend: Der Mensch bringt durch seine Denkformen eine Struktur in das Chaos der Welt. Diese Struktur ist Sinn, nicht „reine Wahrheit“.
Simmel lehnt ein naives Korrespondenzmodell ab (also: Erkenntnis = Entdeckung der objektiven Wahrheit).
Fazit = Erkenntnis ist immer perspektivisch, kontextgebunden und niemals abschließend wahr, sondern ein Versuch, Sinn in die Welt zu bringen, um handlungsfähig zu bleiben.
Worin unterscheidet sich Simmels Erkenntnistheorie von anderen?
Pluralismus und, dass sie immer perspektivisch an Kontexte, Institutionen, gesellschaftliche Interessen gebunden ist.
Spezifische Unterscheidung zu/r:
klassischen Erkenntnistheorie (besonders im naiven Realismus): Wissenschaft oder Erkenntnis bildet diese Welt möglichsst wahrheitsgetreu, objektiv und neutral ab.
Simmel: Wahrheit ist nicht wie in einem Spiegel passiv zu entdecken, sondern aktiv konstruiert durch Perspektiven, Disziplinen, Epochen..
Kant: “Der Mensch erkennt nicht einfach die Welt „wie sie ist“, sondern nur wie sie ihm erscheint, gefiltert durch bestimmte notwendige und universale Strukturen des Verstandes, die fix, ewig und für alle Menschen gleich sind.” = Apiori (z.B. Raum, Zeit, Kausalität)
Simmel: übernimmt die Idee, dass Erkenntnis nicht roh und direkt ist, sondern durch Ordnungsprinzipien strukturiert wird. Aber:
sie sind historisch wandelbar, kulturell geprägt, kontextabhängig.
Beispiel:Was wir als "Kausalität" oder "Gesetzmäßigkeit" empfinden, mag in der modernen Naturwissenschaft zentral sein – aber in der mittelalterlichen Theologie oder in Kunst gelten andere Prinzipien.
Erkenntnisformen sind für Simmel relativ zur jeweiligen Disziplin, zum Stand der Gesellschaft, zum Zweck der Erkenntnis.
Was meint Simmel mit dem relativistischen Charakter des Seins?
= perspektivischen Relativismus: Erkenntnis ist stets abhängig vom Kontext, Disziplin, Zweck. Heißt:
Es gibt viele Wahrheiten, je nach Perspektive.
Jede Disziplin (Biologie, Ethik, Wirtschaft, Kunst…) hat ihre eigene Ordnung, ihre eigene Sicht auf die Wirklichkeit.
Diese Sichtweisen können nicht auf eine absolute Wahrheit reduziert werden – sie sind aber in sich sinnvoll und logisch.
➡ Relativismus ≠ Nihilismus*, sondern ein pluraler Zugang zur Wirklichkeit.
*= Verlustgefühl von objektiven, verbindlichen Werten und Sinnstrukturen in der modernen Welt. -> Zustand, in dem Menschen nicht mehr glauben können, dass es letztgültige Wahrheiten, Werte oder Ziele gibt.
Wie entsteht Erkenntnis laut Simmel? (Stufenmodell)
Simmel stellt in seiner erkenntnistheoretischen Reflexion drei „Stufen“ oder Entwicklungsmomente vor, die beschreiben, wie und warum sich Erkenntnisformen wandeln – und warum man nicht von einer einzigen, universalen Wahrheit ausgehen kann:
Pragmatische Stufe: “Wahr ist, was nützt.“→ Erkenntnis entsteht nicht um ihrer selbst willen, sondern aus praktischem Bedürfnis
Menschen müssen handeln, überleben, entscheiden → Sie entwickeln Begriffe, Erklärungen, Ordnungssysteme, die dabei helfen.
Darwinistische Stufe: Die „passendsten“ Systeme überleben. -> Erkenntnisformen unterliegen einem Auswahlprozess – analog zur biologischen Evolution:
Sie entstehen,
behaupten sich (oder nicht),
werden angepasst oder ersetzt.
Erkenntnis ist ein historischer Prozess mit Selektion, Mutation, Anpassung.
Es gibt kein Ziel in Richtung „absolute Wahrheit“, sondern ein ständiges Sich-Behaupten im Lebens- und Erkenntnisraum.
Spezialisierung: “Immer neue Disziplinen schaffen eigene Erkenntnislogiken.” -> Erkenntnis wird plural: Sie ist immer perspektivisch, gebunden an Kontexte, Institutionen, gesellschaftliche Interessen.
Simmel spricht hier von einem "relativen Apriorismus".
Stufe
Fokus
Erkenntnis ist…
Folgen für Wahrheit
Pragmatisch
Lebenspraxis
zweckorientiert
„Wahr ist, was hilft“
Darwinistisch
Anpassung an Umwelt
überlebensfähig
Wahrheit = erfolgreiches Überleben
Spezialisierung
Arbeitsteilung
disziplinär begrenzt
Wahrheit = kontextabhängig
Zusammenfassend:
Es gibt nicht die eine Wahrheit, sondern viele konkurrierende Sinnsysteme.
Wahrheit ist immer perspektivisch, abhängig von Zweck, Kontext, und historischer Entwicklung.
= „relativistischen Perspektivismus“: → Nicht alles ist gleich gültig – aber es gibt auch keine absolute Perspektive über allen anderen.
Was ist nach Simmel Gesellschaftliche Differenzierung?
Simmel beschreibt drei zentrale Prozesse gesellsch. Differ.:
Arbeitsteilung:
Arbeitsteilung spart Kräfte, erhöht Produktivität und verringert Konkurrenz, weil nicht alle dasselbe machen. = Gesellschaft wird effizienter durch Spezialisierung.
Rollendifferenzierung:
In größeren Gruppen hat der Einzelne mehr Möglichkeiten, seine Individualität auszuleben, weil mehr Rollen (z. B. beruflich, familiär, freundschaftlich) verteilt werden können.
Je mehr Rollen sich überschneiden, desto größer die Freiheit in der Selbstgestaltung.
Funktionsdifferenzierung:
Gesellschaft spaltet sich in Bereiche wie Wirtschaft, Wissenschaft, Recht etc.
Formale Lebensmächte: Jeder dieser Bereiche entwickelt eigene „Spielregeln“, d. h. eigene Logiken, Werte, Symbole und Kommunikationsformen und können in Konflikt mit dem „ganzen Leben“ geraten.
Der Mensch wird nicht mehr als Ganzes angesprochen – sondern nur noch als Käufer, Wähler, Angeklagter, Patient etc.
Diese Zersplitterung erzeugt einen Zustand, den Simmel als „Tragödie der Kultur“ beschreibt:
Die vom Menschen geschaffenen objektiven Formen (Geld, Wissenschaft, Recht...) verselbstständigen sich
und werden mächtiger als der Mensch selbst, der sie ursprünglich geschaffen hat.
Wofür steht bei Simmel “Geldwirtschaft”?
Geld = zentrales Symbol der funktional differenzierten Gesellschaft.
Es verobjektiviert soziale Beziehungen: Menschen begegnen sich weniger persönlich, sondern auf der Basis von Tauschwert und Zweckmäßigkeit.
Gleichzeitig differenziert Geld, weil ungleich verteilt → soziale Distanz, Ungleichheit, aber auch Freiheit von unmittelbarer Bedürftigkeit.
= Geldwirtschaft -> als Symbol der Moderne
Was ist nach Simmel der Brennpunkt der Moderne?
Die Urbanität/ die Großstadt ist der Ort, an dem sich all diese Prozesse verdichten, weil:
Reizüberflutung / Steigerung des Nervenlebens
Anders als auf dem Land, wo Reize gleichmäßiger und traditioneller sind, wirken in der Stadt ständig neue, überraschende, heterogene Einflüsse. Um sich davor zu schützen, entwickelt das Individuum einen „intellektualistischen Schutzmechanismus“ – also:
Rationalität
Distanz
Gefühlsabstumpfung
Diese Schutzfunktion führt zur Dominanz des Verstandes, weil: Gefühle zu überwältigend wären in dieser Reizdichte und nur der Verstand in der Lage ist, Reize zu filtern, zu abstrahieren und zu ordnen.
Diese Entwicklung führt zu einer kulturellen Grundform:
Verstandesdominanz statt Gefühl: „Der Intellekt ist das anpassungsfähigste Organ gegenüber den Wandlungen und Kontrasten der Großstadt.“
Während Gefühle warm, verbindlich, moralisch und gemeinschaftlich sein können ist der Verstand kühl, distanziert und zweckorientiert
Heißt: Die Großstadt fördert also ein Verhalten, das auf sachlicher Orientierung und Funktionslogik beruht – nicht auf Emotion oder Tradition.
= Raum, in dem Individualität entsteht – aber auf Kosten persönlicher Tiefe.
Geldwirtschaft als sachliche Basis aller Beziehungen
Geld = zentrale Form moderner Sachlichkeit: „Durch das Geld wird das qualitative Verhältnis von Menschen durch ein quantitatives ersetzt.“
unpersönlich: es interessiert sich nicht für den Menschen, nur für den Betrag
präzise: es misst Werte exakt
objektiv: es gilt für alle gleich
entfremdend
Geld = pars pro toto für eine Gesellschaft, in der Beziehungen funktionalisiert werden
Früher waren nochpersönliche, moralische oder religiöse Beziehungen, heute: Verträge, Preise und Zahlungen
Rechenhaftigkeit / Rationalisierung: Der Mensch denkt nicht mehr im „Wie fühle ich mich?“ – sondern: „Was bringt mir das?“ oder „Wie viel kostet es?“.
Die moderne Lebensform ist durchzogen von mathematischen, kalkulierenden Strukturen: Zeit wird gestoppt, Entscheidungen werden abgewogen, berechnet, verglichen, LEistungen, PReise Chancen - alles wird quantifiziert
Rechenhaftigkeit ist nicht einfach schlecht - sie ermöglicht:
Vergleichbarkeit
Gerechtigkeit
Effizienz
Austauschbarkeit
Aber: reduziert auch die Komplexität menschlichen Daseins auf messbare Faktoren
und führt zur Reduktion des Menschen auf Rollen, Funktionen, Fähigkeiten – nicht auf Persönlichkeit oder Charakter.
➡ Diese erzeugen eine unpersönliche, aber präzise Lebensform und wirken synergetisch:
Wirkung auf das Leben
Reizüberflutung
Schutz durch Rationalität
Distanz, Coolness
Verstandesdominanz
Abwehr gegenüber Überwältigung
Funktionales Denken
Geldwirtschaft
Abstraktion menschlicher Werte
Rechenhaftigkeit
Ordnung & Planung
Verlust von Tiefe, Gefühl, Spontaneität
Resultat: eine unpersönliche, aber hochgradig organisierte, effiziente Lebensform, die Simmel in der Großstadtmenschlichkeit kulminieren sieht:
Präzise, aber entfremdet
Frei, aber vereinzelt
Rational, aber gefühlsarm
All in One: Großstadt ist ambivalent: Sie befreit – aber sie überfordert.
Wie beschreibt Simmel die Mentalität des Großstädters?
Blasiert: Abstumpfung gegenüber Reizen, weil es zu viele sind.
Reserviert: Distanziertheit gegenüber Mitmenschen aus Selbstschutz.
Frei: Man kann man selbst sein, weil niemand einen zwingt, sich anzupassen.
Kosmopolitisch: Die Großstadt ist offen zur Welt, weil sie selbst vielfältig ist.
Worin unterscheidet Simmel “Kultur”?
Simmel unterscheidet zwei Aspekte von Kultur:
Objektive Kultur: Gesamtheit der von Menschen hervorgebrachten Kulturgüter – Wissenschaft, Kunst, Technik, Institutionen usw.
Subjektive Kultur: Fähigkeit des Individuums, sich diese Kulturgüter anzueignen und sie in die persönliche Entwicklung zu integrieren.
Achtung: In vormodernen Gesellschaften war kulturelle Fortschritt langsam und überschaubar. In der Moderne produziert die Gesellschaft Kulturgüter in rasender Geschwindigkeit, die das Individuum kaum noch rezipieren/ verarbeiten kann -> es entsteht eine Kluft zwischen objektiver und subjektiver Kultur.
Folge: Die Dinge werden immer kultivierter, die Menschen aber nicht unbedingt mit ihnen. Dies erzeugt eine Überforderung des Individuums in der modernen Kulturwelt.
= Verlust eines verbindlichen Zeitstils: Früher war es möglich, kulturelle Epochen (z. B. Gotik, Barock) durch einen charakteristischen Stil zu kennzeichnen, der sich in Architektur, Kleidung, Kunst und Lebensführung ausdrückte.
In der modernen Gesellschaft hingegen dominiert Stilpluralismus: Unterschiedliche kulturelle Ausdrucksformen koexistieren nebeneinander, ohne dass eine davon normgebend oder verbindlich wäre.
➡ Folge: Die Vielzahl verfügbarer Stile verunsichert. Der Mensch sehnt sich nach neuer Bedeutsamkeit, einem „tiefen Sinn“ – nach Orientierung und Identität in der Vielfalt.
Welche Formen von Individualusmus gibt es nach Simmel?
Quantitativer Individualismus (Aufklärung):
Leitidee: Freiheit und Gleichheit aller Menschen als Träger allgemeiner Menschenrechte.
Entstand im 18. Jh. als Emanzipation des Individuums von kirchlich-monarchischer Autorität.
Der Mensch wird als abstraktes, gleichwertiges Individuum verstanden (z. B. in der Demokratie oder im Liberalismus).
➡ Problem: Freiheit und Gleichheit stehen in Spannung. Die reale Verschiedenheit der Menschen (in Fähigkeiten, Ressourcen) führt zu sozialen Ungleichheiten, die wiederum die Freiheit Einzelner gefährden können.
Qualitativer Individualismus (19. Jh. – Romantik bis Moderne):
Ziel: „Sein eigenes, nur ihm eigenes Urbild zu verwirklichen.“
Betonung der Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit des Individuums.
Das Ich wird zum letzten Ankerpunkt, zum Projekt lebenslanger Selbstverwirklichung.
➡ Bezug zur Gesellschaft: Diese Form des Individualismus korrespondiert mit der zunehmenden Arbeitsteilung: Jeder Mensch soll seinen individuellen Beitrag zum großen gesellschaftlichen Ganzen leisten.
Welche Reaktionsweisen beschreibt Simmela auf die andauernde Individualisierung?
Weg des aristokratischen Individuums:
Eine Minderheit ist in der Lage, aus innerer Stärke und schöpferischer Kraft einen authentischen Lebensstil zu entwickeln.
Dieses „individuelle Gesetz“ ersetzt für sie gesellschaftliche Normen.
Weg der breite Masse:
Für die Mehrheit bleibt nur die Wahl aus schnell wechselnden Mode- und Stilangeboten.
Die Auswahl erfolgt oft nicht aus innerer Überzeugung, sondern aus Reiz und Überforderung.
Was ist nach Simmel die Folge der breiten Masse?
„Individualität light“, die vorgibt, individuell zu sein, aber tatsächlich bloß zwischen Konsumoptionen schwankt. Simmel spricht hier sehr vorausschauend von der Moderne als Konsumgesellschaft, in der Lebensstile zur Ware werden.
Folge ist eine nervöse, unstete Lebensweise, gekennzeichnet durch:
Reizsucht und dauerhafte Reizüberflutung
Reisemanie, Konkurrenzwahn, Großstadttumult
Treulosigkeit in Stilen, Geschmäckern, Beziehungen
Ein fehlendes inneres Zentrum, das durch äußere Impulse ersetzt werden soll
➡ Das moderne Ich ist überfordert, überreizt, auf sich selbst zurückgeworfen – und sucht dennoch beständig nach einem festen Punkt in sich selbst.
Was ist nach Simmel das individuelle Gesetz?
Erfüllte Individualität: integrierte, eigenständige Individualität, die sowohl schöpferisch als auch diszipliniert ist.
Ethik soll nicht von außen (exogen) auf das Leben angewandt werden, sondern aus dem Leben selbst (endogen) hervorgehen.
Jedes Individuum soll sich sein eigenes ethisches Gesetz geben – bewusst, vernünftig, aus seiner Lebenswirklichkeit heraus
Das metaphysische Ideal der Individualität: Ein Individuum ist erst dann wirklich ganz Individuum, wenn es nicht nur ein Teil der Welt, sondern selbst eine Welt ist.
Das individuelle Wesen muss sich in einem eigenen geistigen Kosmos ausdrücken – ein Weltbild, in dem alle Einzelhandlungen Ausdruck einer inneren Totalität sind.
Dieses Gesetz wird zur inneren Norm, zur Richtschnur der Selbstverwirklichung und Lebensführung – eine Art diesseitige Askese mit methodisch-rationaler Lebensführung – aber nicht zur Erlangung göttlicher Gnade, sondern zur Sicherung des seelischen Gleichgewichts im Diesseits.
Individualität im ethischen Sinne heißt: „Mache dir deinen eigenen Regelkanon – und folge ihm konsequent.“
In einer differenzierten und eklektischen Gesellschaft versagen kollektive Sinnangebote (z. B. Religion, Tradition). Daher muss der Einzelne sein Leben selbst gestalten
Fazit: Simmels Konzept der erfüllten Individualität ist eine ethische Selbstbestimmung, die in der modernen Welt die verlorengegangene Einheit von Leben und Sinn durch ein innerlich gesetztes, individuelles Gesetz wiederherstellen will. > Es geht nicht um bloße Freiheit, sondern um eine verantwortete, gestalterische Lebensführung, deren Maßstab aus dem eigenen Leben selbst hervorgeht.
Was versteht Simmel unter der Ambivalenz von Modernität und Individualität?
Chancen der Freiheit und Individualität entstehen erst durch gesellschaftliche Differenzierung der Moderne (z. B. Arbeitsteilung, Rollendifferenzierung, funktionale Differenzierung).
Gleichzeitig unterminiert die Moderne diese Chancen durch:
Übergewicht der objektiven Kultur (Wissenschaft, Technik, Kunstwerke etc.) über die subjektive Kultur (persönliche Aneignung),
Verlust kollektiver, orientierungsstiftender Lebensstile
Hiatus* zwischen gewachsenen Lebenswelten und anonymen Funktionssystemen (z. B. Geldwirtschaft).
*die wachsende Trennung zwischen den Strukturen der modernen Gesellschaft (z. B. Wirtschaft, Wissenschaft, Politik) und dem individuellen Erleben, Fühlen und Handeln einzelner Menschen.
Welche Wege sieht Simmel, um mit der Ambivalenz von Moderne und Individualismus umzugehen?
Aristokratischer Individualismus (Elite-Modell)
Nur einer kleinen intellektuell und ästhetisch gebildeten Elite zugänglich (durch Bildung, Selbstreflexion, ästhetische Sensibilität)
Leben nach dem „individuellen Gesetz“:
Ihre Lebensführung ist kohärent, eigenständig und schöpferisch, nicht abhängig von Mode oder Norm.
Diese Menschen formen die moderne Kultur aktiv mit – sie sind nicht nur Konsumenten, sondern Produzenten von Werten und Stilen.
Goethe als Idealfigur einer gelungenen, schöpferischen Lebensgestaltung: jemand, der durch schöpferische Gestaltung ein tiefes und ganzheitliches Selbst verwirklicht.
➡️ Diese Form von Individualität ist in der Lage, den Hiatus produktiv zu überbrücken – durch Bildung und schöpferische Integration der objektiven Kultur in das eigene Leben.
Demokratisch-massenkulturelle Individualismus:
steht der breiten Masse offen, aber er bleibt oberflächlicher.
Der Einzelne versucht, Individualität über Konsum, über Stil- und Modeangebote auszudrücken.
Identität wird externalisiert: Sie hängt ab von Marken, Trends, Freizeitverhalten, sozialer Performance.
Dieses Streben nach Individualität führt jedoch häufig zu Unzufriedenheit, da es keine innere Substanz erzeugt.
Achtung: Simmel ist skeptisch, ob solche konsumgestützten Lebensstile Sinn und Beständigkeit erzeugen können.
➡️ Wenn diese Form von Individualismus versagt – etwa durch Überforderung, Scheitern, Entfremdung – bleibt nur die therapeutische Betreuung: Psychotherapie ersetzt dann gesellschaftliche Integration. (nach Wolfgang Eßbach, Andreas Reckwitz oder Ulrich Bröckling)
Welchen Ausweg zeichnet Simmel aus dem Spannungsverhältnis der Ambivalenz der Moderne und Individualisierung?
Simmel sieht im Spannungsverhältnis zwischen objektiver und subjektiver Kultur einen Appell zur ethischen Selbsthilfe durch das „individuelle Gesetz“:
Der Mensch soll sich einen eigenen Regelkanon geben und ihm konsequent folgen.
Die kreative Gestaltung des Lebens als Gesamtkunstwerk ist das Ziel.
Spannungen und Paradoxien der Moderne sind nicht zu beseitigen, sondern auszuhalten – ähnlich wie bei Max Weber.
> Die Moderne ist kein „stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit“ (Weber), sondern ein „Gehäuse des schöpferischen Lebens“ (Simmel).
> Der Sinn des Lebens liegt nicht in der Erlangung dauerhafter Harmonie, sondern im ständigen Streben nach Sinn, Form und Individualität.
Wie wird Simmels Zeitdiagnose der Moderne heute eingeordnet?
Seine Analyse ist heute aktueller denn je, da sie den Kern der modernen Selbst- und Gesellschaftsproblematik präzise fasst: das Spannungsverhältnis von Überfluss, Freiheit, Individualität und Sinnverlust.
Begriff
Zustand / Entwicklung
Freiheit
Möglich durch Differenzierung, aber bedroht durch Verlust von Orientierung
Gesellschaftliche Differenzierung
→ Arbeitsteilung → Rollendifferenzierung → Funktionsdifferenzierung
Kultur
Spannung zwischen objektiver und subjektiver Kultur
Individualismus
Aristokratisch (Goethe) vs. Demokratisch (Markt/Konsum)
Symbol für Entfremdung und Standardisierung → Verlust an Tiefe
Moderne
Ermöglicht Individualität – und zerstört sie zugleich
Wer war Max Weber und woran forschte er?
Letzter Universalgelehrter des 19./frühen 20. Jh.; tätig als Ökonom, Jurist, Historiker, Politikwissenschaftler & Soziologe.
Zentrale Forschungsbereiche / Einfluss auf die Soziologie:
Ökonomische Soziologie (z.B. Swedberg)
Arbeits-, Berufs-, Organisations- & Industriesoziologie (z.B. Drucker)
Soziale Ungleichheit & Schichtung (neben Marx & funktional. Theorie)
Politische Soziologie / Staatssoziologie (z.B. Modell des westfälischen Staates)
Kultur- & Religionssoziologie (Vergleich Weltreligionen)
Zentrale Fragestellung Webers: Was ermöglichte die westliche (okzidentale) Moderne – ihre Einzigartigkeit & Entstehung?
Analysefelder:
Kapitalismus (insb. moderner Betriebskapitalismus)
Staat, Bürokratie & Recht (als Rahmen des Kapitalismus)
Religion (v.a. asketischer Protestantismus als Motor der Modernisierung)
Webers theoretischer Ansatz:
Handlungs-, Ordnungs- & Kulturtheorie (Zusammenspiel von Wirtschaft, Politik, Kultur)
Verstehende Soziologie (idealtypisch, werturteilsfrei)
Universalhistorisch-komparativer Zugang (Institutionen im historischen Vergleich)
Was ist nach Max Weber Soziologie?
eine Analyse der konkreten sozialen Wirklichkeit.
Soziologie ist weder reine Natur- noch Geisteswissenschaft, sondern eine eigene Erkenntnisform, die „erklärendes Verstehen“ kombiniert.
Was sind die 4 Schritte der sozialwissenschaftlichen Erklärung nach Max Weber?
Kausalanalyse – Identifikation von Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen.
Individuelle Konstellationsanalyse – Bedeutung und Zusammenspiel einzelner Faktoren.
Genetische Analyse – Historische Entstehung und Entwicklung.
Projektive Zukunftsanalyse – Mögliche zukünftige Entwicklungen.
wahrscheinlich der letzte Universalgelehrte des 19. und frühen 20. Jahrhunderts uns galt gleichermaßen als Ökonom, Jurist, Historiker, Politikwissenschaftler und Soziologe, manche sagen sogar als Philosoph.
Gilt als multipler Gründungsvater der
ökonomische Soziologie, wie Richard Swedberg (1998) eindrucksvoll dargelegt hat;
Arbeits-, Berufs, Professions-, Organisations- und Industriesoziologie, und er ist stets ein Geheimtipp für „Management Studies“, wie die Arbeiten von Peter Drucker (1993) zeigen;
Soziologie sozialer Ungleichheit, Mobilität und Schichtung, wo er einen der drei theoretischen Ansätze neben Marxens Klassentheorie und der funktionalistischen Schichtungstheorie (Müller 1997) repräsentiert;
politische Soziologie und Soziologie des Staates, wo Weber das Modell des westfälischen Staates (Ertman 1997) kodifiziert haben dürfte;
Kultur- wie Religionssoziologie, in der Weber nicht nur einen bemerkenswerten Ansatz bereitgestellt, sondern durch sein Studium der Weltreligionen Maßstäbe gesetzt hat
Er forschte über die okzidentale Moderne, ihre charakteristischen Eigenschaften, Besonderheiten und historische Eigenart.
im Einzelnen:
den Kapitalismus und hier vor allem den modernen bürgerlichen Betriebskapitalismus, die „schicksalsvollste[...] Macht unsres modernen Lebens“ (1972b: 4);
den Staat, die Bürokratie und das Recht, die erst dem entstehenden Kapitalismus einen stabilen gesellschaftlichen Rahmen zu seiner Entfaltung sichern;
die Religion als Kultur, denn die Religion war und ist eine der größten Lebensführungsmächte auf der Welt.
Weber untersucht in vergleichender Absicht die Wirtschaftsethik der Weltreligionen, um herauszufinden, was gerade im asketischen Protestantismus den Aufstieg Europas und der USA ermöglicht hat und umgekehrt, was in anderen Religionen und Regionen der Welt diesen Take-off zur Modernisierung behindert hat. Webers Thema ist wie bei Marx der moderne Kapitalismus
Es ist die Religion, die den Menschen sagt, was sie tun und lassen sollen, was sie sich wünschen und wollen dürfen, und wie sie auf ihrem beschwerlichen Weg das Leben meistern, ihre Ziele erfüllen und am Ende ins „Paradies“ kommen können.
Webers Ansatz ist nicht leicht auf den Begriff zu bringen, aber folgende Komponenten lassen sich nennen:
eine Handlungs-, Ordnungs- und Kulturtheorie, die das Zusammenspiel von Wirtschaft, Politik und Kultur untersucht;
eine verstehende Soziologie als Methode, die Verstehen und Erklären mit idealtypischer Begriffsbildung unter dem Postulat der Werturteilsfreiheit zu kombinieren unternimmt;
eine universalhistorische Analyse, die Entstehung, Durchsetzung und Etablierung der westlichen Moderne auf der Basis historisch-komparativer Studien der institutionellen Konfiguration des Okzidents zum Gegenstand hat
Was war Max Webers Forschungsprogramm?
“Die Sozialwissenschaft, die wir treiben wollen, ist eine Wirklichkeitswissenschaft. Wir wollen die uns umgebende Wirklichkeit des Lebens, in welches wir hineingestellt sind, in ihrer Eigenart verstehen – den Zusammenhang und die Kulturbedeutung ihrer einzelnen Erscheinungen in ihrer heutigen Gestaltung einerseits, die Gründe ihres geschichtlichen So-und-nicht-anders-Gewordenseins andererseits, die Gründe ihres geschichtlichen So-und-nicht-anders-Gewordenseins andererseits.“
= Es geht um die Realität, nicht die Idealität des sozialen Lebens, und zwar nicht allgemein, generell oder gar universal wie im Falle des Studiums des gesellschaftlichen Lebens an und für sich, etwa im Sinne von „Der Mensch in der Gesellschaft“. Vielmehr geht es um die jeweilige Eigenart, den spezifischen Charakter, also die differentia specifica einer konkreten sozialen Wirklichkeit
d. h. um den Zusammenhang, die Kulturbedeutung, die Gestalt und die Entstehungsgründe ihrer einzelnen Erscheinungen.
Nach Weber ist Soziologie weder Kuötur- noch Naturwissenschaft. Bei den Sozialwissenschaften handelt es sich um eine dritte Kultur, die weder in der einen noch der anderen Kultur einseitig aufgeht. Seine eigene, dritte Lösung lautet: Erklären und Verstehen, oder kurz: erklärendes Verstehen.
Die Kausalanalyse gilt ihm als selbstverständlicher Bestandteil jeglichen erklärenden Verstehens. Nur warnt er vor einer Überschätzung von Gesetzeswissen
Aber: ob und inwiefern es Gesetze im sozialen Leben gibt und wir sie entdecken können, hilft es uns im Alltagsgeschäft soziologischen Verstehens nur bedingt weiter.
Tatsächlich ist die Feststellung von Ursache-Wirkungs-Relationen, von „Gesetzen“ und „Faktoren“ stets nur eine Vorarbeit. Im nächsten Schritt hat die individuelle Anordnung der „Faktoren“ sowie die Aufdeckung ihrer Bedeutsamkeit und ihres konkreten Zusammenwirkens zu erfolgen. Sodann muss man sich um eine historische Erklärung ihrer Entstehung bemühen, um schließlich „die Abschätzung möglicher Zukunftskonstellationen“ vorzunehmen zu können.
Aus welchen 4 Schritten besteht eine Sozialwissenschaftliche Erklärung nach Weber?
1. Die Kausalanalyse;
2. Die individuelle Konstellationsanalyse;
3. Die genetische Analyse;
4. Die projektive Zukunftsanalyse.
Verstehen im Alltag und in der Wissenschaft unterscheiden sich nicht prinzipiell, beide sind verständliche Sinnzusammenhänge, deren Verstehen wir als ein Erklären des tatsächlichen Ablaufs des Handelns ansehen.
-‚Erklären‘ bedeutet also für eine mit dem Sinn des Handelns befaßte Wissenschaft soviel wie: Erfassung des Sinnzusammenhangs, in den, seinem subjektiv gemeinten Sinn nach, ein aktuell verständliches Handeln hineingehört, das auf bekannte und anerkannte, verständliche und insofern berechenbare Motivlagen zugerechnet werden kann.
Was versteht Weber unter Soziologie?
Erklärendes Verstehen: eine Wissenschaft, welche soziales Handeln deutend verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich erklären will.
=Handlungs-, Ordnungs- und Kulturtheorie
Handeln = jedes menschliche Verhalten (einerlei ob äußeres oder innerliches Tun, Unterlassen oder Dulden
Soziales‘ Handeln = ein solches Handeln, welches seinem von dem oder den Handelnden gemeinten Sinn nach auf das Verhalten anderer bezogen wird und daran in seinem Ablauf orientiert ist.
Und besteht aus:
Verstehen und erklären
Kausalanalyse
Idealtypus: Es gibt keine analytische Ausschöpfbarkeit der Wirklichkeit durch Begriffe. Das ist nicht nur eine Schimäre, sondern auch ein gefährliches, weil falsches Wissenschaftsideal. Ebenso naiv und falsch wäre es anzunehmen, dass Begriffe einfach Abbilder der Wirklichkeit sind. Begriffe sind vielmehr analytische Konstruktionen, die stets gesichtspunktabhängig bleiben und von einer Wertbeziehung, also letztlich den Wertideen abhängig sind.
Der Idealtypus „wird gewonnen durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen Einzelerscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fügen, zu einem in sich einheitlichen Gedankenbilde
Werturteilsfreiheit: ist nach Webers Denkvoraussetzungen gar nicht möglich, denn Problem- und Fragestellungen empfangen die Sozialwissenschaften als Kulturwissenschaften von den sog. „Wertideen“, die eine „Wertbeziehung“ zwischen der Kultur und der soziologischen Arbeit stiften = Kulturwertideen, die den Sozialwissenschaften Perspektiven, Probleme, Themen, Ideen und Ideale, Visionen und Utopien vorgeben. Wertfreiehit spielt nur eine Rolle im Begründungszusammenhang, in dem wissenschaftliche Analysen möglichst objektiv, valide und reliabel durchgeführt werden sollen. Im Entstehungs- und Verwendungszusammenhang in dem Politik und Gesellschaft saß Recht suf Entscheidung was mit den Resultaten geschehen soll zu.
Welche Motive sieht Weber im sozialen Handeln?
Er unterscheidet:
1. zweckrationales,
2. wertrationales,
3. affektuelles und
4. traditionales Handeln.
Messlatte, Maßstab und Folie für die Rationalität menschlichen Tuns sind ihm der zweckrationale Typus. Denn in diesem Idealtypus herrscht eine vollständige Kontrolle über die Mittel, den Zweck, den Wert und die Folge des Handelns. Wohlgemerkt, es handelt sich um einen Idealtyp und kein Ideal, einen Grenzfall und nicht die Regel, ein reines Gedankenbild, von dem das empirische Tun mehr oder weniger stark abweicht.
Nach Weber (1973: 183) ist Zweck = „die Vorstellung eines Erfolges, die Ursache einer Handlung wird.
WERT = die Vorstellung einer Verpflichtung, die Ursache einer Handlung wird“. Wertrationales Handeln erfolgt aus dem bewussten Glauben an den Eigenwert einer Handlung, die um ihrer selbst getan wird
während die Folgen und Nebenfolgen unter den Tisch fallen. „Der Christ tut recht und stellt die Folgen Gott anheim“ ist das typische Credo des gläubigen Christen. Das affektuelle Handeln kontrolliert noch Mittel und Zwecke, muss aber Wert und Folge außenvor lassen
traditionales Handeln, nach eingelebter Gewohnheit, kontrolliert nur die Mittel, alles andere entgleitet seiner bewussten Kontrolle
Wie definiert Weber soziale Beziehungen?
ein seinem Sinngehalt nach aufeinander gegenseitig eingestelltes und dadurch orientiertes Sichverhalten mehrerer
soziale Beziehung besteht durchaus und ganz ausschließlich: in der Chance, dass in einer (sinnhaft) angebbaren Art sozial gehandelt wird, einerlei zunächst: worauf diese Chance beruht.“
Was ist nach Weber eine soziale Ordnung und durch welche Motive entsteht sie?
Für Weber orientiert sich der Sinngehalt einer sozialen Ordnung an angebbaren Maximen
so werden diese „Maximen“ nur dann gelten, wenn sie als verbindlich oder vorbildlich angesehen werden.
= Konzept der Legitimität, also das „Prestige der Verbindlichkeit oder Vorbildlichkeit“ .
Motive für die Geltung einer sozialen Ordnung, die der Handlungstypologie entsprechen = legitime Geltung ergibt sich kraft:
1. Tradition;
2. affektuellen Glaubens;
3. wertrationalen Glaubens;
4. positiver Satzung, an deren Legalität, sei es dank Paktierung bzw. Vereinbarung oder dank Oktroyierung bzw. Zwang, geglaubt wird.
Hat Weber eine eigene Kulturtheorie?
Nein, er hat keine Kulturtheorie oder -philosophie entwickelt wie Simmel, sondern relationiert einfach Kultur und Kulturmensch.
,Kultur‘ = vom Standpunkt des Menschen aus mit Sinn und Bedeutung bedachter endlicher Ausschnitt aus der sinnlosen Unendlichkeit des Weltgeschehens.
Kulturmenschen = Willen, bewußt zur Welt Stellung zu nehmen und ihr einen Sinn zu verleihen.“ (ebd.)
Heißt: Bedingung der Möglichkeit“ von Kulturwissenschaft ist der Kulturmensch und sie zeichnen sich durch Urteilsfähigkeit aus; sie wollen und sie können eine bewusste Stellungnahme zur Welt abgeben. Fähigkeit und Wille zur Stellungnahme schließen auch das Vermögen ein, sich einen Reim auf die Welt zu machen.
Diese Definition enthält drei Momente, welche die enge Verzahnung mit der Kulturdefinition demonstrieren: Transzendentalität, Urteilsfähigkeit und Sinngebungskompetenz
= Kulturmenschen“ ist die Grundlage für Verstehen und für seine Kulturwissenschaft die Basis für eine „verstehende Soziologie“
Welche ist Max Weber Zentrale Frage aus der Religionssoziologie und weshalb ist sie in Kritik
“Welche Verkettung von Umständen hat dazu geführt dass gerade auf dem Boden des oxidents Kulturerscheinungen auftraten welcher doch in einer ermittlungsrichtung von universeller Bedeutung und Gültigkeit lagen?”
Kritik: eurozentrismus und westlicher Rassismus, weil er wissentlich die Errungenschaften anderer Völker und Kontinente unterschätzt.
Aber: Weber geht es weniger um die Einzigartigkeit des Westens als um die Konstellation oder Konfiguration die in dieser Typik und Systematik in ihrer Eigenart wie Einzigartigkeit als historisches Individuum angesehen werden kann und dadurch bekommt die Entwicklungsrichtung des Westens eine universelle Bedeutung globaler Ausstrahlung und ob das nun gut oder schlecht ist oder politisch erwünscht interessiert Weber nicht - im Gegenteil ihm geht es vor allem um die evolutionäre Bedeutung von Phänomenen in ihrem spezifischen Zusammenhang.
Was sind mutiple Modernities?
Zahlreiche Wege in die Moderne verschiedenster Kulturen.
Dabei gilt Europa als “Take Off” Vorreiter und gibt bis heute den Takt der Zielsetzung und Richtung einer Entwicklung für den Rest der Welt an.
Was versteht Weber unter einem evolutionistischem Verständnis?
Vorstellung, dass sich Gesellschaften, Institutionen oder kulturelle Phänomene linear, zwangsläufig und fortschreitend von "einfachen" zu "höher entwickelten" Formen entwickeln.
Weber lehnte dieses Verständnis ab, weil es historische Entwicklungen zu stark vereinheitlicht, teleologisch (auf ein Ziel hin) denkt und kulturelle Unterschiede nicht ausreichend berücksichtigt. Stattdessen betonte Weber die Vielfalt historischer Entwicklungen, die Kontingenz (also Zufälligkeit und Abhängigkeit vom konkreten historischen Kontext) und die Rolle von individuellen Handlungen und Sinnzuschreibungen.
Beispiel: Er untersuchte nicht, welche Religion/ Kultur „weiter entwickelt“ ist, sondern welche spezifischen sozialen und wirtschaftlichen Wirkungen sie jeweils entfalten.
Was ist nach Weber die Besonderheit der Moderne des Westens?
Rationalismus:
rationaler Kapitalismus; “Erwartung von Gewinn durch Ausnutzung von formal friedlichen Tausch- u. Erwerbschancen” = kontinuierlich wirtschaftliches Handeln, das auf systematischer, buchhalterischer Gewinnorientierung und geregeltem Markt basiert (nicht bloß auf Abenteuer- oder Raubkapitalismus).
rationale Wissenschaft; Systematische Erkenntnisgewinnung durch überprüfbare Methoden, Experimente, Theoriebildung.
rationale Kunst; Kunstformen, die auf bewusster Technik und Formstrenge beruhen (z. B. Kontrapunkt in der Musik, klassische Dramenstruktur).
rationales Recht; Recht, das durch allgemeine, kodifizierte und logisch konsistente Regeln bestimmt ist (nicht durch persönliche Autorität oder Tradition).
rationaler Staat; Staat, der auf gesetzlich festgelegten Ordnungen, klaren Zuständigkeiten und rechtlicher Herrschaft beruht.
rationale Bürokratie und
professionell geschultes Fachbeamtentum; Verwaltung durch amtlich bestellte, fachlich qualifizierte Personen nach festen Regeln, Zuständigkeiten und Hierarchien.
freie Lohnarbeit: Arbeitsverhältnisse, bei denen Arbeitskraft als Ware auf einem freien Markt gegen Lohn angeboten wird, ohne persönliche Abhängigkeit.
Rational nach Weber = Form des Handelns, Denkens oder Organisierens, die sich durch Planbarkeit, Berechenbarkeit, Zweck-Mittel-Kalkulation und Regelhaftigkeit auszeichnet.
= bürgerlicher Betriebskapitalismus
Hatte Weber eine eigene Rationalismustheorie?
Nein, Trotz seiner Forderung nach klar geschnittenen und eindeutigen Begriffen arbeitet Weber keine Rationalisierungstheorie aus, welche nicht nur die verschiedenen Formen zu klassifizieren hätte, sondern auch ihre Konstellation oder Konfiguration, also ihr Verhältnis zueinander, damit die diversen Probleme, Konflikte, ja Widersprüche untereinander gefasst und verstanden werden könnten.
-Wolfgang Schluchter (1980: 10) hat aus der Not einer fehlenden Theorie die Tugend einer Klassifikation zu analytischen Zwecken gemacht und unterscheidet drei Formen des Rationalismus:
1. Der wissenschaftlich-technische Rationalismus: mit empirischem Wissen gegebene Fähigkeit, fragliche Sachverhalte durch Berechnung zu beherrschen.
2. Der metaphysisch-ethische Rationalismus: stellt auf die anthropologische Notwendigkeit des „Kulturmenschen“ ab, seine soziale Wirklichkeit als irgendwie sinnvoll geordnete Welt zu erfassen = Systematisierung von Sinn, die intellektuelle Durchdringung und kohärente Bestimmung von Sinnzielen und ihre Bedeutung.
3. Der praktische Rationalismus: Fragen methodischer Lebensführung, die sich als gesellschaftlich umgrenzte Möglichkeitsspielräume mit der Institutionalisierung von spezifischen Sinn- und Interessenkomplexen auftun
Welche war die berühmteste Schrift Webers und worum ging es dort?
Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus
-Ausgangspunkt seiner Analyse ist die empirische Beobachtung, dass Protestanten häufiger als Katholiken das Unternehmertum und die gebildeteren Arbeiterkreise stellen.
Woher rührt „spezifische Neigung zum ökonomischen Rationalismus“ bei den Protestanten?
laut Weber bedeutete sie im Alltag eine „unendlich lästige und ernstgemeinte Reglementierung der ganzen Lebensführung“.
Woher soll die behauptete Wahlverwandtschaft zwischen Religion und Wirtschaft, Puritanismus und Kapitalismus kommen?
Zur Beantwortung konstruiert Weber seinen Idealtyp vom „Geist des Kapitalismus“ = „Ideal des kreditwürdigen Ehrenmannes“ aka. Dem amerikanischen „Businessman“ als Nachfolgemodell des englischen „Gentleman“
geht es einzig und allein darum, mit ehrlichen Mitteln und durch unaufhörliches Streben sein Kapital zu vermehren.Kapitalbildung als Selbstzweck, so Weber (ebd.: 33), =” Charakter einer ethisch gefärbten Maxime der Lebensführung“
Antwort zur Brücke zwischen Religion und Wirtschaft: Tüchtigkeit im Beruf. Die Reformation bringt eine mächtige moralische Aufwertung der Arbeit mit sich, wie er sowohl anhand von Luthers als auch von Calvins Berufskonzeption demonstriert. Das strukturkonservative Luthertum schließt Weber in der Folge aus, weil die lutherische Frömmigkeit („sola fide“ – allein der Glaube zählt) auf eine gottgewollte mystische Gefühlskultur zielt, die den Einzelnen im Alltag in seinem sozialen Status traditionalistisch festhält („Schuster, bleib bei Deinem Leisten!“) und folglich wenig für die ökonomische Dynamik leistet. Ganz anders die Lehre von Jean Calvin, denn die reformierte Frömmigkeit („fides efficax“ – nur der Glaube zählt, der wirkt) legt gottgewirktes, asketisches Handeln nahe = methodisch-rationale Lebensführung, die der Wirtschaft die entscheidende Dynamik stürmischer Entwicklung verleiht
Webers Augenmerk richtet sich daher auf die Berufsethik des asketischen Protestantismus. = Calvinismus, Pietismus, Methodismus, und die aus der Täuferbewegung hervorgegangenen Sekten (Baptisten, Mennoniten und Quäker).
ihn interessiert, warum und wie diese religiösen Ethiken die puritanische Berufsidee hervorgebracht haben, die in der Folge dem Kapitalismus die notwendige methodisch-rationale Lebensführung für seine Entstehung und Etablierung bereitgestellt hat. Im Zentrum des Calvinismus steht für Weber die Lehre von der Gnadenwahl.
Es ist die Prädestination = Vorherbestimmung durch Gott, wer in den Himmel und wer in die Hölle kommt. Gott gilt als „deus absconditus“, als unergründliches Wesen, das frei und willkürlich seine Entscheidung über die Verteilung von Seligkeit und Verdammnis der Menschen fällt – ungeachtet ihrer diesseitigen Verdienstes
Der Mensch ist vollkommen auf sich allein gestellt, soll gleichwohl zum Wohle Gottes wirken und kann nur hoffen, durch gottwohlgefällige Lebensführung die Gnade Gottes zur Rettung vor dem ewigen Höllenschicksal zu erringen. Die Folge ist die Entstehung eines religiösen Individualismus
—>(„Gott hilft dem, der sich selbst hilft!“), der „eine der wichtigsten geschichtlichen Grundlagen des modernen ‚Individualismus’“ (ebd.: 235) werden sollt
Anhand der Schriften von Richard Baxter untersucht er, wie die Puritaner im Alltag mit dieser Lehre umgegangen sind. Zwei Ratschläge waren es, die Baxter den Gläubigen empfahl:
1. Die Umbiegung des Dogmas: Jeder hat sich für erwählt zu halten. Zweifel daran zeigen bereits, dass man den Anfechtungen des Teufels zu erliegen droht.
2. Die Wahl der Mittel: „rastlose Berufsarbeit“ als ein Weg, um die eigenen Ängste abzubauen und die Selbstgewissheit zu erlangen, zu den „beati electi“, den glücklich Auserwählten Gottes, zu gehören. Der reine Calvinismus führt, wenn man ihn logisch zu Ende denkt, zu schicksalsergebenem Fatalismus, denn man kann ohnehin nichts für sein Seelenheil tun, da Gottes Ratschluss ja von jeher feststeht. Der baxterianische Puritanismus dagegen sorgt für eine axiologische Kehre, für die Drehung der Wirkung gegenüber dem Wollen im Glauben, um 180 Grad.
Statt fatalistischer Schicksalsergebenheit führt die Pflicht zur Selbsterwähltheit und rastloser Berufsarbeit zu aktiver Selbst- und Weltbeherrschung. Es dieser religiöse Bewährungsgedanke, der mittels methodisch-rationaler Lebensführung zur lebenslangen Kontrolle des Gnadenstandes in der Berufsarbeit zwingt. „Diese Rationalisierung der Lebensführung innerhalb der Welt im Hinblick auf das Jenseits war die Wirkung der Berufskonzeption des asketischen Protestantismus
Allen Religionen ist Reichtum suspekt, denn verdirbt er nicht den Charakter und führt zur Hybris der Menschen? Der Puritanismus macht darin keine Ausnahme, aber er verurteilt nur das Ausruhen auf dem Besitz oder seinen eitlen Genuss, nicht aber seine unbeschränkte Anhäufung. Denn der ökonomische Erfolg gilt ja als Zeichen der „Auserwähltheit“ durch Gott. Weber notiert daher den Hang zur Selbstgerechtigkeit der Puritaner, weil sie ökonomischen und religiösen Erfolg derart engführen. Die Zeit spielt eine Schlüsselrolle, denn „Zeit ist Geld“
Puritaner adeln harte, stetige und disziplinierte körperliche oder geistige Arbeit als Heilmittel wie als Schutz gegen ein „unclean life“: „Wer arbeitet, sündigt nicht“. Ebenso treiben sie die Arbeitsteilung voran, wenn denn Spezialisierung die Arbeitsleistung zu steigern verspricht. Berufsarbeit und nicht Arbeit an sich sowie Berufsmobilität stehen im Zentrum der religiösen Bewährungsethik, zumal sie Gottwohlgefälligkeit und Profitabilität kongenial zu kombinieren erlauben. Armut hingegen ist das Skandalon des Puritanismus. Der Arme zeigt schon durch seine Armut, dass er des Teufels ist
Protzerei dagegen ist verpönt. Angesichts des bescheidenen Konsums sind alle Kräfte auf die Produktion gerichtet, so dass die puritanische Lebensführung einer regelrechten Akkumulationsethik gleichkommt: „Kapitalbesitz durch asketischen Sparzwang“ – Webers (ebd.: 192) Version der „ursprünglichen Kapitalakkumulation“ (Karl Marx) und der Geburt des modernen Kapitalismus aus dem Geist des Puritanismus. Dennoch hat die Askese eine Schattenseite, so dass sich hier die Paradoxie der Wirkung gegenüber dem Wollen zeigt, denn die „Askese [ist, H.-P. M.] die Kraft, ‚die stets das Gute will und stets das Böse’ – das in ihrem Sinn Böse: den Besitz und seine Versuchungen – ‚schafft’
Zeitdiagnose nach Weber: „Der Puritaner wollte Berufsmensch sein – wir müssen es sein.
Resultat seiner Studie lautet: „Einer der konstitutiven Bestandteile des modernen kapitalistischen Geistes, und nicht nur dieses, sondern der modernen Kultur: die rationale Lebensführung auf Grundlage der Berufsidee, ist [...] geboren aus dem Geist der christlichen Askese.“ Deshalb spricht er auch nicht von „Kausalität“, sondern nur von einer „Wahlverwandtschaft“ zwischen Religion und Kultur, Reformation und Kapitalismus, Die Reformation bringt eine religiös inspirierte methodisch-rationale Lebensführung hervor, eine Wirtschafts- und Berufsethik, die zum Kapitalismus in seiner Entstehungszeit kongenial „gepasst“ hat.
Welche vier Fähigkeiten vermittelt Wissenschaft laut Weber?
1. Technisches Wissen zur Lebensbewältigung
2. Methodisches Denken
3. Analyse von Zweck-Mittel-Relationen
4. Selbstreflexion über den Sinn des eigenen Handelns
Wie definiert Weber „Politik“?
Streben nach Macht und Einfluss (innerhalb oder zwischen Staaten), Leitung eines politischen Verbandes (z. B. Staat), gestützt auf legitime Gewalt.
Welche Typen von Politikern unterscheidet Weber?
1. Gelegenheitspolitiker (z. B. Wähler)
2. Nebenberufliche Politiker (Ehrenamt)
3. Berufspolitiker: Leben für oder von der Politik
Was ist nach Weber der Unterschied zwischen Fachbeamten und politischen Beamten?
Fachbeamte: rational, sachlich (sine ira et studio);
Politische Beamte: leidenschaftlich, parteilich (cum ira et studio)
Welche Eigenschaften muss ein Politiker laut Weber haben und Was verbindet Wissenschaft und Politik als Beruf bei Weber?
1. Leidenschaft (für die Sache)
2. Verantwortungsgefühl (für Folgen des Handelns)
3. Augenmaß (Balance zwischen beiden
Beide verlangen Hingabe an die Sache, Entsagung persönlicher Ganzheit, disziplinierte Fachlichkeit und ein realistisches Verhältnis zu Macht und Verantwortung.
Was sind zentraler Aspekte aus Max Webers Gesellschaftsdiagnose zur Moderne?
1. Webers Grundannahmen zur Moderne
Weber spricht nicht von „Gesellschaft“, sondern von Vergesellschaftung (wie Simmel), und untersucht institutionelle Differenzierung.
Die moderne Gesellschaft gliedert sich in Wertsphären (Sinnangebote) und Lebensordnungen (Institutionen).
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2. Zwei Säulen der Moderne: Kapitalismus & Religion
Religion: in traditionalen Gesellschaften prägend für Lebensführung, Kultur, Volkscharaktere.
Kapitalismus: in modernen Gesellschaften dominierend – durch Rationalisierung, Bürokratisierung und Technisierung.
3. Folgen der Rationalisierung
a) Institutionell: Religion wird aus rationalem Diskurs verdrängt
Religion verliert Autorität an Wissenschaft (kognitiv), Kunst (expressiv), Moral (evaluativ).
b) Individuell: Lebensführung verliert religiöse Orientierung
Säkularisierte Gesellschaften jagen weltlichen Erfolgen nach („Erlebnisgesellschaft“).
Religion nur noch bei einer kleinen Minderheit relevant.
c) Gesellschaftlich: Wertsphären konkurrieren
Religion, Wirtschaft, Politik, Kunst, Liebe, Wissenschaft – alle mit eigener Logik, oft widersprüchlich.
Keine Übertragung von Werten möglich (z. B. Liebe ≠ wirtschaftliches Kalkül).
Folge: dauerhafte Spannungen und Wertkonflikte.
4. Drei Schlussfolgerungen Webers
1. Pessimismus gegenüber Moderne:
Bürokratie + Kapitalismus = „stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit“, Verlust von Sinn & Einheit.
2. Pluralismus der Werte:
Es gibt keine gemeinsame Moral mehr, keine „Überwährung“ zur Harmonisierung.
3. Skepsis gegenüber individueller Sinnstiftung:
Fortschrittsglaube ist trügerisch. Der Mensch läuft im Dienst widersprüchlicher Kulturgüter leer.
5. Berufsethik als letzter Anker
Beruf ≠ Selbstverwirklichung, sondern: Selbstbegrenzung, Dienst an der Sache.
Wahre Persönlichkeit zeigt sich in Treue zu letzten Werten – trotz pluraler Moderne.
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