Buffl

Soziologische Zeitdiagnosen

CC
by Cathérine C.

Was ist nach Beck die erste und zweite Moderne und wie gestaltete sich die Entwicklung?

Erste Moderne (Industriegesellschaft) Zweite Moderne (Risikogesellschaft)

Zentraler Unterscheidungspunkt: Wissenschaften

  • Erst die Naturwissenschaften machen technischen Fortschritt möglich

  • erst das Anerkennen von durch Forschung erkannte Risiken macht eine Gesellschaft zur Risikogesellschaft

  • Welche Konsequenzen sich daraus ergeben ist dabei nebensächlich

  • Forschungsgegenstand der 1. Moderne: was von Außen gegeben war - die vorgegebene Welt von Natur, Mensch und Gesellschaft

  • Forschungsgegenstand der 2. Moderne: Konfrontation eigener Produkte, Mängel, Folgeprobleme - untersucht ihre eigenen Produkte, Fehler und Nebenwirkungen (z. B. Nebenwirkungen von Technik oder Medikamenten).

  • Becks Unterscheidung: einfache und reflexive Verwissenschaftlichung

Reflexivwerden = gesellschaftlicher Wendepunkt, da die Latenz der Modernisierungsrisiken dadurch aufgehoben werden

  • Aber: In der Risikogesellschaft braucht man Wissenschaft auch, um Risiken zu erkennen und zu analysieren (z. B. Strahlung, Mikroplastik, Klimaerwärmung – Dinge, die man nicht ohne wissenschaftliche Instrumente erkennen würde).

  • Naturzerstörung kann nicht mehr einfach „nach draußen“ abgeschoben werden, sondern betrifft alle gesellschaftlichen Bereiche (Soziales, Politik, Wirtschaft, Kultur).

Zentrale Aussage: Umweltprobleme sind Teil des Systems, nicht einfach Ausnahmen oder Fehler.

  • „Jedoch wird die Grundüberzeugung […] jegliches Problem letztlich wissenschaftlich-technisch lösen zu können, auch in der Risikogesellschaft beibehalten.“

  • Trotz aller Risiken und Nebenwirkungen glaubt die Gesellschaft weiterhin an Wissenschaft und Technik als Lösung für alles.

  • Beispiele: Umwelttechnik, Technikfolgenabschätzung (z. B. Sicherheitsprüfungen für Kernkraft).

  • Die Konstellationen der Risikogesellschaft werden erzeugt, weil […] die Selbstverständlichkeiten der Industriegesellschaft […] dominieren.“

  • Viele Menschen, Institutionen und Systeme denken noch im alten Muster – darum verändert sich nichts grundlegend

  • „Die Ursache für dieses ‚Immer-weiter-so’ liegt Beck zufolge in den unterschiedlichen Rationalitäten […]“

  • Jeder Bereich der Gesellschaft (Wissenschaft, Wirtschaft, Politik) denkt in seiner eigenen Logik:

  • Wissenschaft sucht Erkenntnis.

  • Wirtschaft will Gewinn.

  • Politik denkt in Wählerstimmen.

= Diese unterschiedlichen Rationalitäten führen dazu, dass man zwar Risiken erkennt, aber nicht konsequent handelt.

“Wer die Welt als Risiko entwirft wird letztendlich handlungsunfähig” - was meint Beck mit der institutionalisierten Handlungsunfähigkeit?

Das Wissen dass modernisierungsrisiken hausgemacht sind wirft die Frage nach den Verantwortlichen der Misere auf die Antwort darauf gestaltet sich allerdings äußerst schwierig:

Wissenschaft und Wirtschaft bieten hierbei Dreh und Angelpunkt:

  • Wissenschaft produziert risiken indem ihre Erkenntnisse der Naturbeherrschung technisch- wirtschaftlich in der Industrie umgesetzt werden

  • Wissenschaft definiert Risiken und macht sie erst also sichtbar

  • Wissenschaft bewältigt Risiken indem ihre Erkenntnisse über Kausalzusammenhänge zwischen technisch wirtschaftlicher Produktion und deren Nebenfolgen zb. in der sog. Umwelttechnologie umgesetzt werden

Dennoch: Wissenschaft entscheidet nicht über Anwendung – sie ist „nicht zuständig“ für Folgen und nur mittelbar an Risikoproduktion beteiligt, zB durch Geldgebende Forschungen etc.

Wirtschaft nutzt wissenschaftliche Erkenntnisse – aber ohne Verantwortung

  • Nebenwirkungen wie Umweltzerstörung werden als unvermeidliche „Sachzwänge“ dargestellt.

  • Verantwortung wird abgewehrt mit Verweis auf Marktlogik oder Systemzwänge („Wir müssen wettbewerbsfähig bleiben“).

Politik legitimiert Entscheidungen – ohne wirklich zu steuern und hat keinen direkten Einfluss auf wissenschaftlich-technische oder ökonomische Entscheidungen.

Politik verkauft daher technologische Entwicklungen oft als „unvermeidlich“.

Folge: institutionalisierte Nichtzuständigkeit

Keine Instanz ist voll verantwortlich: Wissenschaft forscht, Wirtschaft nutzt, Politik legitimiert.

Risiken entstehen nicht an einem zentralen Ort sondern durch Ko-Produktionen.

Verantwortung wird zwischen den Systemen zersplittert. = “organisierte Unverantwortlichkeit”

Was versteht Beck unter Individualisierung, welche Vor und Nachteile sieht er darin und was hat dies mit dem sog. Fahrstuhl Effekt nach oben zu tun?

= Herauslösen der Menschen aus den Sozialgebilden der Industriegesellschaft.

Beck bezieht traditional als NICHT auf religiöse und ständische Bindungen, sondern auf gesellschaftliche Bedingungen der ersten Moderne. ZB.

  • Eingebunden sein in Klassen, Familien, Geschlechterrollen

  • = Individuen sind auf sich selbst und ihre marktvermittelte Existenzsicherung gestellt

Ausschlaggebender Punkt: 1950er bis 60er Jahre durch ein kollektives Mehr an Einkommen, Bildungsexoansion, Mobilität, Recht, Wissenschaft, Massenkonsum = Fahrstuhl Effekt nach oben

Wichtig: soziale Ungleichheitsrelation bleibt weitgehend konstant, Fahrstuhl Effekt bezieht sich eher auf Verteilungskonflikte

Beck: “ die neuen materiellen und zeitlichen Entfaltungsmöglichkeiten Treffen zusammen mit den Verlockungen des Massenkonsums und lassen die Konturen traditionaler Lebensformen und sozialmilieus verschwinden”

  • Die Bildungsexoansion der 60er Jahre verschaffte Frauen erste Formen von Gleichberechtigung mit wodurch erstmalig erste Sensibilisierung von geschlechtsspezifische Ungleichheiten zufolge hatte

  • = Frauen wurden unabhängiger und industrielle Normalbiografien wurden immer mehr zu Bastelbiografien

Vor und Nachteile

  • Probleme der sozialen Integration in der Moderne durch die Vielzahl an Wahlmöglichkeiten die einerseits als Chance erfahren werden

  • stehen dem Zwang gegenüber sich permanent für eine Option entscheiden zu müssen - die Möglichkeit der nicht Entscheidung wird der Tendenz nach unmöglich

  • Individualisierung = Prozess mit ambivalenten Folgen der Befreiung aus vorgegebener Form der Existenz steht nun gleichermaßen der Zwang zur Autonomie gegenüber

  • Einerseits werden die Menschen durch die Individualisierung dazu gedrängt soziale Bindungen eigenständig immer wieder neu herzustellen und andererseits entstehen dadurch neue Formen der Abhängigkeitsverhältnisse z.B

  • Bildungsabhängigkeit konsumabhängigkeit Abhängigkeit von sozialrechtlichen Regelungen und Versorgungen psychologische und pädagogische Beratung

  • Zwang zur Autonomie heißt aber auch dass die Akteure für ihr eigenes Tun verantwortlich sind sie sind für Folgen wie Arbeitslosigkeit selbst verantwortlich Individualisierung erfordert daher eine konsequente Selbstbezogenheit der Akteure

Ulrich Beck knüpft sich an Luhmann an, der sagt, dass die Summe der Teilsystemrationalität eine Chance darstellt, die Dynamik der Risikogesellschaft zu durchbrechen. Was ist damit gemeint?

Damit ist ein Perspektivwechsel gemeint:

  • von der System- zur akteursperspektive

  • Modernisierungsrisiken für die in einem hochprofessionalisierten System, indem jeder seine Zuständigkeiten hat, sonst niemand zuständig ist, können lediglich von risikobewussten Akteuren zu ihrer Sache erklärt werden

  • heißt: vom Sachzwang der Systeme zur Verantwortung der Akteure

  • Risikobewusstsein = teilsystemübergreifende Perspektive, Akteure die ihr Leben gewissermaßen selbst in die Hand nehmen (= individualisierte Akteure mit ich zentriertem denken und handeln und stehen unter ständigem Entscheidungsdruck, da sie eigenverantwortlich Entscheidungen für das eigene Leben treffen müssen was sie gerade im Hinblick auf modernisierungsrisiken zu einer notwendigen Fähigkeit machen)

Akteursbezogenes Risiko Bewusstsein muss sich angesichts der Globalität der Bedrohung an einer übergeordneten sozialen Rationalität orientieren

  • = dem Überleben der Gesellschaft

  • Die weltrisiko Gesellschaft erfordert sogar ein “Handeln jenseits von Nationalstaatlichkeit”. Beck fordert daher in Anlehnung an den Aufruf im Manifest der Kommunistischen Partei von 1948: “Weltbürger aller Länder vereinigt euch”

  • = zweite Stufe reflexiver Modernisierung: die Risikogesellschaft wird aufgrund des durchgesetzten Risikobewusstseins reflexiv im Sinne dieses Bewusstseinsprozesses

In Hinblick darauf dass die organisierte und Verantwortlichkeit der modernisierungsrisiken maßgeblich auf gesellschaftlicher Differenzierung basiert liegt die Forderung auf der Hand:

  • Entdifferenzierung der Subsysteme und Funktionsbereiche, die Neuvernetzung der Spezialisten, die risikoeindämmende Vereinigung der Arbeit

  • Wie soll eine Entdifferenzierung erreicht werden? -> Erfindung des Politischen

  • = verändertes Selbstverständnis von Wissenschaft und ein gewandeltes Politikverständnis im Sinne einer Entgrenzung von Politik der Wandel des wissenschaftlichen Selbstverständnisses kann dem Gegenüber erst in Folge dieser Politisierung erfolgen

  • Risiken müssen wissenschaftlich definiert sein andernfalls existieren sie nicht, aber da erkannte Risiken interdisziplinär untersucht werden müssten und nur über die wechselseitige Kritik verschiedener Disziplinen analysiert werden können läuft dies ausdifferenzierten teilzuständigkeiten zuwidern. = so gesehen kann gar kein wissenschaftliches Interesse an der Beschäftigung mit Risiken zustande kommen und die teilsystemische Nicht-zuständigkeitserklärung von Wissenschaften, Wirtschaft und Politik setzt sich durch erst durch die öffentliche Sensibilität gegenüber bestimmten problematischen Aspekten der Modernisierung könnte dem entgegenwirken

  • = modernisierungsrisiken können den Wissenschaften also nur von außen auf dem Wege ihre öffentlichen Anerkennung aufgedrückt und in die Felder diktiert werden

  • sie beruhen nicht auf innerwissenschaftlichen sondern auf gesamtgesellschaftlichen Definitionen und Beziehungen und entfalten auch immer wissenschaftlich ihre Wirksamkeit nur durch die treibende Kraft im Hintergrund: die gesellschaftsweite Tagesordnung.

  • = die öffentliche Kritik zwingt den Wissenschaften die Beschäftigung mit modernisierungsrisiken auf und dadurch erst Gerät das Wissenschaftssystem als Quelle für Problemursachen ins Visier. Eine mit der reflexiven verwissenschaftlichen einhergehende Selbstkritik setzt den Prozess der Demystifizierung der Wissenschaft im Gang (bedeutet: Die frühere idealisierte, fast heilige Vorstellung von Wissenschaft wird nach und nach aufgelöst („entzaubert“). Die Wissenschaft wird kritisch betrachtet, wie jedes andere gesellschaftliche System auch)

  • Wodurch das Gefüge von Wissenschaft, Praxis und Öffentlichkeit neu verhandelt wird

  • Durch die erzeugten Unsicherheiten in Hinblick auf die Ware wissenschaftliche Erkenntnis müssen die individuellen sich selbst zu wissenschaftlichen Experten weiterentwickeln

  • In der risikogesellschaft muss jeder zum Experten werden: Akteure in wirtschaft, politik, recht, Öffentlichkeit - aber auch die Bevölkerung. es gibt für modernisierungsrisiken nicht den einen Experten, denn technische kalküle allein können niemals die Frage beantworten welche Belastung noch oder welche nicht mehr hinnehmbar sind

  • = entwicklungslogik der modernisierungsrisiken in einem spannungsreichen Zusammenspiel von Wissenschaft Praxis als sozial konstruiert und in die Wissenschaft zurückgespielt = lösen Identitätskrisen, neue organisations- und Arbeitsformen, neue theoriegrundlagen, neue Methodenentwicklung etc aus

Welche Veränderungen stellt Beck durch eine Entdifferenzierung dar? Welche 3 zentralen Aspekte sind notwendig, um die durch immer weitergehende Spezialisierung erzeugten externen Unsicherheiten zu reduzieren?

1. Ursachenorientierte Auseinandersetzung mit Modernisierungsrisiken:

  • Statt marktexpansiver Sekundärindustrialisierung von Folgen und Symptomen sollen Wissenschaften die Modernisierungsrisiken als empirische Herausforderung begreifen und an der Beseitigung der Ursachen arbeiten.

2. Rückgewinnung praktischer Lernfähigkeit

  • Fehlentscheidungen in der Technologieentwicklung müssen akzeptiert werden, statt sich auf wissenschaftliche Irrtumslogik zu berufen.

  • Erforderlich sind wissenschaftlich technische Entwicklungsvarianten, die Revidierbarkeit ermöglichen und Modernisierung als Lernprozess gestalten.

3. “Spezialisierung auf den Zusammenhang” -Interdisziplinäre Anwendung spezialisierten Wissens:

  • Die zersplitterten wissenschaftlichen Disziplinen sollen ihr Spezialwissen interdisziplinär anwenden.

  • = durch Spezialisierung auf den Zusammenhang kann das Wissenschaftssystem adäquat auf ökologische Bedrohungen reagieren.

= wissenschaftsimmanenter Prozess, der nur durch außen (öffentliche Kritik) initiiert werden kann

Neben öffentlicher Kritik setzt Beck nicht nur wissenschaftliche sondern auch politische Mündigkeit gesellschaftlicher Akteure voraus. = Politisierung der Bevölkerung zur Entmachtung des politischen Systems

  • Neuer politischer Akteur: neue politische Kultur in Gestalt von Bürgerinitiativen sozialen Bewegungen und anderen Formen sozialen Handelns auf Basis universalistischer Grundrechte, die aktiv für Ihre Belange eintreten

  • Entgrenzung von Politik: Diese neuen Akteure handeln außerhalb des klassischen politischen Systems, wodurch Politik aus ihren institutionellen Grenzen herausgeschoben wird.

  • In der Risikogesellschaft wird das Unvermögen traditioneller Politik, Risiken effektiv zu steuern, immer deutlicher. = Steuerungsversagen

  • Risiken verändern den Begriff, Ort und die Medien von Politik: Sie verlangen unmittelbares Handeln, ohne auf politische Vermittlungsinstanzen zu warten.

  • Zentrale Orte und Form dieser basisdemokratischen Politik sind die unabhängige Rechtsprechung und die Massenmedien

  • Einerseits sind demokratische Rechte eine Garantie für politische Partizipation der Gesellschaftsmitglieder und andererseits gewinnen richterliche Urteile an Bedeutung insbesondere bei technologisch ökonomischen Prozessen denn in vielen zentralen Konfliktfeldern wie beispielsweise Umweltfragen stehen Experten und gegen Experten in unversöhnlichen Konflikt miteinander. Massenmedien fungieren als verbreitungsmittel um risikoproduzenten öffentlich anzuklagen die Erzeugung von Öffentlichkeit zwingt alle partiell zuständigen zur diskursiven Auseinandersetzung und kann darüber hinaus bisher untätige Bürger mobilisieren und einer Bürgerbewegung mehr politische Macht verleihen

  • = Becks Ausführung zur Politik: gesellschaftliche Politisierung basiert auf strukturellen Voraussetzungen fortgeschrittener Modernisierung Modernisierungsprozess bringt also einerseits Risiken hervor schafft andererseits aber auch die Bedingung zu ihrer Bewältigung auch hier lässt sich eine Analogie zum Kommunistischen Manifest aufzeigen mit der Entwicklung der großen Industrie wird also unter den Füßen der Bourgeoisie die Grundlage selbst hinweggezogen worauf sie produziert und die Produkte sich aneignen

  • = reflexive Modernisierung die auf die Bedingungen hochentwickelter Demokratie und durchgesetzter Verwissenschaftlichung trifft führt zu charakteristischen Entgrenzung von Wissenschaft und Politik Erkenntnis und veränderungsmonopole werden ausdifferenziert sondern aus den dafür vorgesehenen Orten ab und werden in einem bestimmten veränderten Sinne allgemein verfügbar

Bedeutet:

  • Politisierung als Folge fortgeschrittener Modernisierung: Die Modernisierung erzeugt Risiken (z. B. durch Technik und Industrie).

  • Zugleich schafft sie die strukturellen Voraussetzungen, diese Risiken politisch zu bearbeiten.

  • Analogie zum Kommunistischen Manifest (Marx/Engels): Wie die Bourgeoisie im Kapitalismus ihre eigene Grundlage untergräbt, zerstört auch die Moderne durch ihre Dynamik ihre eigenen Sicherheiten, was Kritik und Widerstand hervorbringt.

  • = Reflexive Modernisierung und Entgrenzung: In hochentwickelten Demokratien mit durchgesetzter Verwissenschaftlichung findet automatisch auch eine Entgrenzung von Politik und Wissenschaft statt.

  • Erkenntnis- und Veränderungsmonopole lösen sich von ihren institutionellen Orten (z. B. Parlamente, Hochschulen) und werden allgemein zugänglich durch die Politisierung der Gesellschaft und individualisierte Verantwortung von Akteuren

Heißt- Entgrenzung entsteht durch:

  • Demokratische Rechte → ermöglichen Bürger*innen, politisch aktiv zu werden.

  • Risikowahrnehmung → betrifft alle direkt, nicht abstrakt (z. B. Klimawandel, Atomkraft).

  • Individualisierung von Verantwortung → auch Einzelne fühlen sich verantwortlich, nicht nur der Staat oder das politische System.

Worin sieht Beck die letztendlich einzige Chance, die monopolisierten Zuständigkeiten gesellschaftlicher Teilsysteme zu durchbrechen?

Im politischen und damit verantwortungsbewusst für die Gesellschaft handelnden Bürger.

Sein Appell richtet sich somit nicht an die Systeme sondern an die individuellen die lernen müssen sich selbst als gesellschaftliche Akteure wahrzunehmen sie müssen die Handlungsspielräume die die moderne Gesellschaft ihnen bietet erkennen und nutzen so stellen das Bildungssystem und sicherlich auch die Massenmedien prinzipielle Möglichkeiten bereit in vielerlei Hinsicht Kompetenzen zu erwerben

“ es herrschen keine Sachzwänge mehr es sei denn wir lassen und machen sie herrschen”

Ziel:

  • Eine neue Form der sozialen Integration, die nicht mehr an Erwerbsarbeit gebunden ist.

  • Demokratische Teilhabe durch Handlung, nicht nur durch Wahlrecht.

  • Solidarität von unten, nicht durch staatliche Vorgabe, sondern durch selbstorganisierte Verantwortung.

Becks Forderungen: Transformation der Arbeitsgesellschaft in eine Bürgergesellschaft mit

  • Politisch Handelnden Bürgern

  • Umdenken vom industriegesellschaftlichen Modell der Arbeitsgesellschaft in Richtung einer Bürgergesellschaft“

  • → Zentrale Forderung: Abkehr von der Vorstellung, dass Erwerbsarbeit allein gesellschaftliche Teilhabe und Integration garantiert und Fahrstuhl Effekt nach unten aufgrund neoliberaler Wirtschaftsschriften sowie der Globalisierung von Kapital, die weltweit prekäre Beschäftigungsverhältnisse durchsetzen, wodurch ein Fahrstuhleffekt nach unten entsteht und Probleme sozialer Ordnung, materieller Extenssicherung, der Identitätsbildung, der Finanzierung des Staatshaushaltes auslösen

  • Diese Probleme ließen sich über freiwillige und selbstorganisierte Bürgerarbeit auffangen“

  • → Lösungsvorschlag: Stärkung bürgerschaftlichen Engagements als neue Form sozialer Verantwortung und Integration. Zielgruppe der Bürgerarbeit: Menschen, die aus Erwerbsarbeit ausgeschlossen sind (Arbeitslose, Geringqualifizierte etc.)

  • Seine Ideen weisen Parallelen zu Formen kommunustischer gemeinschaftlicher Arbeit jenseits von Markt und Lohnarbeit auf.

Welche 4 Probleme benennt Heitmeyer, die sich in der Tendenz zu gesellschaftlichen Krisenlagen verdichten können? Emil Durkheim spricht in diesem Zusammenhang von einer Anomie, was bedeutet das?

  1. Schere zwischen Arm und Reich: Soziale Ungleichheit verschärft sich, sodass Mittelschichten erodieren

  2. Rückzug der Menschen aus Institutionen, wie z.B.: Ehe, Familie, Kirche oder intermediären Institutionen wie: Vereinen, Verbände, Gewerkschaften

  3. Gesteigerte Anforderungen der Arbeitswelt (insbesondere Arbeitszeitflexibilität und Mobilität) führen zur Zerstörung von sozialen Beziehungen und zur Fragmentierung von Lebenszusammenhängen - Lebenslauf wird zur Bastelbiografie

  4. Bislang gesellschaftsintegrierende basaler Wert- und Normenkonsens lösen sich auf. Dazu gehören insbesondere:

    • Solidarität – das Gefühl gesellschaftlicher Verbundenheit und gegenseitiger Unterstützung, besonders mit sozial Schwächeren

    • Gerechtigkeit und Fairness – das Vertrauen, dass Chancen, Ressourcen und Regeln einigermaßen gerecht verteilt sind

    • Rechtsstaatlichkeit – die Anerkennung gemeinsamer rechtlicher Normen und die Akzeptanz rechtsstaatlicher Verfahren

    • Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft – das Bewusstsein, dass individuelles Handeln auch kollektive Auswirkungen hat

    • Respekt und Toleranz – insbesondere gegenüber kultureller, religiöser oder sozialer Diversität

    Diese Werte und Normen bilden die Grundlage für gesellschaftliche Integration. Ihre Erosion führt laut Heitmeyer zu Desintegrationserfahrungen, wie z. B. sozialer Ausschluss, mangelnde Teilhabe oder Sinnverlust, die wiederum gesellschaftliche Krisen und Gewaltbereitschaft begünstigen können.

= Zusammengenommen verdichtet sich dieses Spektrum von Problemlagen zu einem gesellschaftlichen Phänomen, das Emil Durkheim als “Anomie” beschreibt

  • Anomie (lt. für Gesetzes- oder Normlosigkeit)

  • In einer Studie über Selbstmord, kommt Durkheim zur Erkenntnis, dass eine forcierte ökonomische Produktivität einerseits neue Anforderungen an die kognitiven Fähigkeiten der Gesellschaftsmitglieder stellt, aber andererseits immer mehr Produkte als individuell erstrebenswerte Güter hervorbringt

  • Bisherige Formen der Autorität, Religiösität oder Sittlichkeit können die steigenden beruflichen Anforderungen und damit verbundenen neuen Bedürfnisse aufgrund eines fehlenden neuen normativen Regelsystems, das überzogene Erwartungen dämpft, nicht mehr zügeln

  • Folge: Steigerung der Selbstmordrate und weitere Indikatoren einer Anomie

  • Mit der Epochenwende zum 20. Jhd diagnostizierte er, dass “Krise und Anomie zum normalen Dauerzustand geworden sind”

Robert K. Morton modifizierte währen der Rooseveltschen New-Deal-Ära Durkheims Überlegungen zur Anomie mit amerikanischer Perspektive

  • Werte der amerikanischen Gesellschaft waren finanziell messbarer Erfolg: Wohlstand

  • Wenn man Willens und fleißig war, konnte man diese Werte erreichen - Vom Tellerwäscher zum Millionär, der amerikanische Traum

  • Merton machte darauf aufmerksam, dass die Sozialstrukturen der 20er und 30er Jahre einem immer größer werdendem Teil der Gesellschaft die notwendigen Mittel verwehrten, um diese kulturell verankerten Werte Auf legalem Weg zu erreichen

  • Die Diskrepanz zwischen kulturellen Zielen und individuellen Ressourcen zur Zielerreichung führten bei Sozialstrukturen benachteiligten Gruppen zu abweichendem Verhalten und letztlich zur Anomie

  • = Merton bezeichnete das als: Zusammenbruch der kulturellen Struktur betroffener Gruppen

Heitmeyer beschreibt unsere Gegenwartsgesellschaft als eine, in der zwei große funktionale Systeme dominieren:

  1. Das Wirtschaftssystem, das nach Prinzipien von Effizienz, Marktlogik und Rentabilität funktioniert (Arbeits-, Kapital- und Gütermärkte).

  2. Das politisch-administrative System, das die bürokratische Steuerung und das Gewaltmonopol (Staat, Behörden) übernimmt.

Beiden gegenüber steht die “Lebenswelt” – also der Bereich des sozialen und kulturellen Miteinanders, der nicht von Macht oder Marktlogik gesteuert wird (z. B. Familie, Freundschaft, Kultur, öffentliche Kommunikation).

🧠Was ist das Problem?

Laut Heitmeyer und Dubiel (1995) breitet sich die Marktlogik (Effizienz, Konkurrenz, Nutzenmaximierung) zunehmend in alle Bereiche der Gesellschaft aus – auch in solche, die früher von kulturellen Werten, Solidarität oder demokratischer Beteiligung geprägt waren.

Die Folge ist eine Erosion kultureller Normen und gesellschaftlicher Steuerungsfähigkeit:

  • Die Lebenswelt verliert an Kraft, um die Menschen moralisch und kulturell zu orientieren.

  • Auch das politische System verliert an Steuerungsfähigkeit (z. B. angesichts Globalisierung, Kapitalmacht).

  • Die Gesellschaft verliert gemeinsame Visionen und Utopien, während Enttäuschung über Politik wächst.

  • Es entsteht eine Form moderner Anomie – also Orientierungslosigkeit, Sinnverlust und normative Desintegration.

= Heitmeyer greift die Idee auf, dass Menschen ohne gemeinsame Werte und Regeln in eine Krise geraten (Anomie), weil der Markt alles durchdringt – sogar Bereiche, die eigentlich frei davon sein sollten. Das führt zu Verlust von Zusammenhalt, politischem Vertrauen und Zukunftsperspektiven.

Was sind nach Heitmeyer 3 Desintegrationsphänomene, die dazu beitragen, dass die Lebenswelt und tradierte Sozialmilieus sich auflösen und Politik an Bedeutung verliert und was ist der Motor dieser Desintegration? Welche Folgen zieht sie mit sich?

Individualisierung ist die Leitorientierung westlicher moderner Gesellschaften - eng verkoppelt mit dem 1989 entfesselten Kapitalismus - und führt nicht nur zur Freiheitsgewinnung jeden Einzelnen, sondern auch zu sog, Desintegrationsphänomenen:

1. Inkonsistenz

  • Durch Subjektivierung von Werten entstehen zwar neue individuelle Entscheidungsfreiräume (z. B. Lebensgestaltung, Beruf, Konsum),

  • aber diese werden gleichzeitig wieder eingeschränkt durch den Zwang zur Marktanpassung: man muss sich ökonomisch “rechnen”, wettbewerbsfähig sein, funktionieren.

  • Ergebnis: Widerspruch zwischen Freiheit und Anpassungsdruck, was zur Überforderung führt.

2. Ungleichzeitigkeit

  • Menschen haben individuelle Ansprüche und Lebensstile erlernt, die mit hohem materiellen Standard einhergehen.

  • Gleichzeitig erleben sie alte soziale Unsicherheiten wie Armut, prekäre Beschäftigung oder Arbeitslosigkeit.

  • Ergebnis: Bruch zwischen individuellen Ansprüchen und gesellschaftlicher Realität, was zu Frustration, Desorientierung oder Radikalisierung führen kann.

3. Asymmetrie

  • Gesellschaft ruft ständig zur Selbstverwirklichung, Individualität und Selbstoptimierung auf (z. B. „du kannst alles schaffen“).

  • Aber viele Menschen haben keine realen Chancen, diese Leitbilder umzusetzen, z. B. wegen Herkunft, Bildung, Armut.

  • Ergebnis: Diskrepanz zwischen Utopie/Ideal und Realität, was Gefühle von Scheitern, Ausgrenzung und Versagen erzeugt.

= Heitmeyer zeigt hier, dass Individualisierung unter neoliberalen Bedingungen nicht automatisch befreiend, sondern widersprüchlich und desintegrierend wirken kann.

> “Individualisierung als kulturelle Norm gilt für ALLE. Die damit verbundenen und mit Aufforderungscharakter oder Anpassungsdruck versehenen Realisierungschancen sind zwischen den Angehörigen der unterschiedlichen Milieus strukturell zunehmend ungleich verteilt. Dies führt zu einer strukturellen Konservierung von Mileuszugehörigkeiten und Statuspositionen bei gleichzeitigem kulturellen Wandlungsdruck”

Folge: Politische und individuelle Konfliktsituationen entstehen. “Konkurrenz wird zum zentralen Motor der Desintegration und damit der Auflösung des Sozialen”

Was sind nach Heitmeyer Drei gesellschaftliche Entwicklungslinien und die daraus resultierenden Krisenphänomene im Sinne der Anomietheorie?

Gesellschaftliche Entwicklungslinien:

1.Differenzierung (Systemebene)

→ Problem: stratifikatorische Positionierung – also Ungleichheit, soziale Schichtung, Verdrängung durch Elitenbildung und Existenzsicherung

→ Krisenphänomen:🟥 Strukturkrise

  • Staat & Politik verlieren Steuerungskraft durch Globalisierung & Entgrenzung.

  • Marktlogiken dominieren über politische Gestaltung.

  • Folgen: Ausgrenzung, Desintegration, zunehmende Ungleichheit.

  • Individuelle/kollektive Wahrnehmung/Verhalten: Ohnmacht, Indifferenz (Gleichgültigkeit), Machtlosigkeit, „Entsicherung“ → Gewaltpotenziale steigen latent.

2.Pluralisierung (Werte & Normen)

→ Problem: Verständigung, Sinnstiftung – es fehlt an geteilten kulturellen Selbstverständlichkeiten.

→ Krisenphänomen:🟨 Regulationskrise

  • Werte und Normen werden kontingent (also beliebig, unsicher, widersprüchlich).

  • Keine klaren Leitbilder mehr – Regeln verlieren Verbindlichkeit.

  • Folgen: Delegitimierung von Normen, moralische Orientierungslosigkeit.

  • Individuelle/ kollektive Wahrnehmung/Verhalten: Absenkung von Gewaltschwellen, steigende Gewaltanfälligkeit durch fehlende normative Grenzen.

3.Individualisierung (Ebene der sozialen Lebenswelt)

→ Problem: Um Anerkennung, Bindung, Zugehörigkeit – Menschen kämpfen allein um Sinn, soziale Eingebundenheit fehlt.

→ Krisenphänomen:🟩 Kohäsionskrise

  • Soziale Beziehungen, Milieus, Gruppenbindung zerfallen.

  • Überindividualisierung führt zu Vereinzelung und Identitätsunsicherheit.

  • Folgen: Verlust von Vergemeinschaftung → kollektive Reaktionen wie (Re-)Aktivierung von Abgrenzung, z. B. Nationalismus oder Selbstethnisierung (z. B. „Wir Deutsche“, „Wir Muslime“).

  • Individuelle/ kollektive Wahrnehmung/Verhalten: Rückzug, Gruppenkonstruktionen, lenkende Gewaltpotentiale

  • („Wir gegen die anderen“).

Klaus Dörre untersuchte Anomien im Wirtschaftssystem, um die Desintegrationsproblematik zu illustrieren. Was fand er dabei heraus?

Klaus Dörre untersucht die Auswirkungen globalisierungsbedingter Strukturveränderungen im Wirtschaftssystem des 20. Jhd auf Beschäftigte industrieller Berufsgruppen (insb. sog. „Blaumann-Berufe“). Die Anpassungsreaktion der deutschen Wirtschaft an veränderte Globalisierung Weltmarktbedingungen interpretiert er im Sinne Heitmeyers als Strukturkrise, die zu anomischen Reaktionen bei den betroffenen Akteuren führt.

Zentrale Befunde:

  1. Die betroffenen Arbeiter sehen sich einer doppelten Entwertung ihres Berufsethos ausgesetzt:

    • Extern: Konkurrenz durch billige ausländische Arbeitskräfte im Zuge globaler Produktionsverlagerungen.

    • Intern: Verlust gesellschaftlicher Anerkennung klassischer Beruflichkeit, trotz anhaltender funktionaler Nachfrage aufgrund globaler Vergleichbarkeit

  2. daraus resultierende Statusunsicherheit führt bei vielen Betroffenen – vor allem jungen Arbeitern – zu einem gefühlten Kontrollverlust (Anomie), der sich in defensivem Arbeiternationalismus äußert. Dieser richtet sich gegen:

    • internationale Standortpolitik von Unternehmen,

    • Arbeitsmigration und

    • wahrgenommene Bedrohungen des sozialen Status.

  3. Ethnozentrismus als Reaktion auf relative Deprivation: Die problematische Dynamik wird nicht durch objektive Verelendung, sondern durch relative Deprivation genährt – insbesondere durch die Erfahrung, dass der soziale Aufstieg, der für die Elterngeneration noch möglich war, heute blockiert erscheint.

  4. Soziale Identität in der Krise: nicht nur in ökonomischer Positionen, sondern unterminiert zentrale Elemente der sozialen Identitätsbildung. Es kommt zu Entfremdungserfahrungen im Sinne anomie-theoretischer Ansätze: Normen verlieren an Bindungskraft, soziale Zugehörigkeit erscheint fragil, Lebensplanung wird prekär.

Klassifikation im Rahmen von Heitmeyers Krisentheorie:

  • Systemintegration → Strukturkrise

  • Folgephänomene: Entsicherung, Kontrollverlust, Statusangst

  • Individuelle Reaktionen: Defensive Identitätsstrategien, Nationalismus, Gewaltpotenziale

= Wirtschaft befindet sich in einer Anpassungskrise, die nur durch den Abbau von Arbeiterstellen zu meistern ist (Jobless Growth)

Wie sieht Eike Henning die Anomie im politischen System nach Heitmeyer?

Ausgangspunkt: Legitimitätsbasis des politischen Systems

  • In Kontinentaleuropa (v.a. Deutschland) basiert die Demokratieakzeptanz stark auf materiellen Outputs (Wohlfahrtsstaat, Transfers, Sicherheit).

  • Politische Legitimität = abhängig von wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit und staatlicher Schutz- & Vorsorgefunktion.

Strukturkrise des politischen Systems

  • Wirtschaftlicher Strukturwandel (z.B. Arbeitsplatzabbau) erzeugt neue Leistungsempfänger → Druck auf den Sozialstaat.

  • Die Erwartungen der Bevölkerung (materielle Absicherung) können von der politischen Elite nicht mehr erfüllt werden.

  • Ergebnis: reziproke Entfremdung zwischen Bevölkerung und Politik:

    • Volk: sieht Politiker als abgehoben, elitär, realitätsfern.

    • Politik: sieht Bevölkerung als uninformiert, konsumorientiert, unmoralisch.

Indikatoren der Legitimitätskrise

  • Vertrauensverlust gegenüber allen Parteien – keine wird als Problemlöser (z.B. bei Arbeitslosigkeit, Kriminalität, Migration) angesehen.

  • Funktionale Äquivalente wie Bürgergesellschaft, neue intermediäre Instanzen (Kirchen, Vereine, Verbände) → nicht empirisch nachweisbar, teils selbst im Niedergang (Mitgliederschwund, Vertrauensverlust).

  • Folge: Erosion demokratischer Vermittlungsstrukturen, Rückzug aus bürgerschaftlichem Engagement.

Protestverhalten & politischer Wohlstandschauvinismus

  • Reaktion: linke und rechte Protestwahlen.

  • Fokus Hennings: rechte Protestwähler → Ausdruck eines wohlstandschauvinistischen Isolationismus.

    • Idee: schrumpfende Sozialleistungen sollen nur „ethnisch Deutschen“ zustehen.

    • Ethnisierung des Sozialstaats: nur wer „eingezahlt“ hat, soll Leistungen erhalten.

Anknüpfung an Dörre – Parallele zur Wirtschaftsanomie

  • Wohlstandschauvinismus = Analogon zum Arbeiternationalismus.

  • Beide Reaktionsmuster basieren auf Gefühlen relativer Deprivation, nicht zwingend objektiver Verelendung.

  • Statussicherung durch Ausgrenzung: Wunsch nach Schutz privilegierter Ingroup durch Abschottung.

Systemischer Befund & Ausblick

  • Politische Strukturkrise = dauerhafter Vertrauensverlust, keine Aussicht auf Legitimität durch steigenden Wohlfahrtsoutput.

  • Demokratie nicht akut gefährdet, aber langfristig geschwächt durch:

    • Rückzug ins Private,

    • tribalistische Eigeninteressen,

    • Abschied vom Gemeinwohl.

    = Politik wird zur Berufspolitikerkaste, die kaum noch als Vertreter des Volkes anerkannt ist.

Einordnung in Heitmeyers Krisentheorie:

  • Systemintegration → politische Strukturkrise

  • Folgephänomene: Vertrauensverlust, Entfremdung, Legitimitätsdefizite

  • Individuelle Reaktionen: Protestwahl, Rückzug, Tribalismus

  • Kollektive Muster: Ethnisierung des Sozialstaats, Rebellion gegen Eliten

  • Anomietheoretischer Rahmen: Legitimitäts- & Repräsentationskrise als Ausdruck normativer Desintegration

Sind nach Dorothee Meister Massenmedien ein Anomiefaktor?

Medienwirkung ist nicht per se anomisch.

  • Anomieförderung hängt vom sozialen Kontext der Rezipienten ab.

  • Medien verstärken unter bestimmten Bedingungen bestehende gesellschaftliche Krisentendenzen.

Die heutige Weltdeutung ist stark medienvermittelt, besonders durch Massenmedien (v.a. Fernsehen).

  • Massenmedien → globales transkulturelles Phänomen, schaffen Weltgesellschaft durch geteilte Bilder & Narrative.

  • Medien konstituieren Wirklichkeit („mediale Weltkonstruktion“) → Realität erscheint zunehmend gefiltert durch TV.

Entdifferenzierung & Differenzierung durch Medien

  • Entdifferenzierung: kulturelle Angleichung über mediale Lebensmuster (v.a. „American Way of Life“).

    → weltweit vergleichbare Bedürfnisse & Lebensansprüche entstehen.

  • Differenzierung: Individualisierung & Bildung spezialisierter Subwelten mit eigenen Sinnangeboten (Sinnmärkte).

    • Medien → fördern Pluralisierung von Weltdeutungen, aber auch soziale Fragmentierung.

Kommerzialisierung des Fernsehens

  • Privatfernsehen unterliegt Marktlogik: kein Einfluss staatlicher oder zivilgesellschaftlicher Institutionen.

  • Programmgestaltung orientiert sich an Einschaltquoten & Werbeerlösen, nicht am Gemeinwohl.

  • Folge: Sensations- & Normabweichungs-Inszenierungen als Unterhaltungsstrategie.

  • Emotionalisierung (z.B. Reality-TV) → Aufmerksamkeit statt Aufklärung, Wirkung statt Information.

  • Folge> Infotainment & politische Kultur: Nachrichten & Politikformate werden zunehmend als Infotainment präsentiert → Entpolitisierung, Oberflächlichkeit.

  • Medien & Politik bilden eine anomiegefährdende Symbiose:

    • Symbolpolitik

    • Pseudoergebnisse

    • Inszenierung statt Substanz

  • Langfristig wird die politische Kultur beschädigt – Bürger verlieren Bezug zu echter demokratischer Beteiligung.

  • Zunahme von Gewalt- & Sensationsberichterstattung → Rezipienten reagieren mit:

    • Unsicherheit

    • Angst

    • globalem Anomieverdacht

    • ggf. abweichendem Verhalten (Nachahmungseffekte)

  • Besonders anfällig: Rezipienten mit ohnehin prekären Rezeptionskontexten, z.B. bei:

    • normativer Desintegration (Werteverlust)

    • familiären Koalitionskrisen

  • → Verstärkung bestehender Krisen durch Medienwirkung möglich, aber nicht zwangsläufig.

Einordnung in Heitmeyers Krisentheorie:

  • Sozialintegration → Kohäsions- & Wertekrise

  • Systemintegration → symbolische Politik & Legitimitätsverlust

  • Folgephänomene: Unsicherheit, Vertrauensverlust, politische Passivität, Anomie

  • Individuelle Reaktionen: Rückzug, Misstrauen, Medienzynismus

  • Kollektive Muster: Mediale Fragmentierung, Tribalismus, Hyperindividualisierung

  • Anomietheoretischer Rahmen: Medien als Verstärker normativer Desintegration & Sinnverlusts

Konnte Friedrichs eine Werte- und Normenanomie nach Heitmeyer feststellen?

  • Ja, Friedrichs beschreibt eine strukturelle Anomie, ausgelöst durch:

    • Normauflösung auf gesamtgesellschaftlicher Ebene,

    • Parallelentstehung neuer strenger Binnenregeln in Subkulturen.

    • Individualisierung wird zur Antriebsfeder von Normerosion.

    • Kritisches Moment: Fehlende übergreifende Normbindung → soziale Desintegration und kollektives Wegschauen

Wertewandel seit den 1960er Jahren

  • Traditionelle Werte (Pflicht, Disziplin, Bescheidenheit) der Kriegs-/Wiederaufbau-Generation verlieren an Geltung.

  • Neue Werteorientierung (Nachkriegsgeneration):

    • Postmaterialistisch: Autonomie, Emanzipation, Genuss, Selbstverwirklichung.

    • Individualistisch statt gemeinwohlorientiert.

  • Ergebnis: Normativer Pluralismus – viele Werte, wenig Konsens.

Aufweichung sozialer Normen

  • Wachsende Toleranz gegenüber abweichendem Verhalten, z.B.:

    • Schwarzarbeit

    • Graffiti

    • Aggressives Verhalten im Straßenverkehr

    • Vandalismus

    • Öffentliche sexuelle Selbstdarstellung

  • Frühere Normverstöße werden normalisiert.

Umkehr der Normkontrolle

  • Nicht mehr der Abweichler, sondern der Kritiker wird sanktioniert:

    • Kritiker gelten als „Nörgler“, „Ersatzpolizisten“, „Querulanten“.

  • Kontrolle liegt bei den Abweichlern, nicht bei den Verteidigern der alten Normen.

  • Gesellschaftliches Wegschauen wird zur Norm:

    • Bei Gewaltverbrechen, Ordnungswidrigkeiten etc. → kaum noch Zivilcourage.

Bezug zu Heitmeyers Krisentheorie: Regulationskrise

  • Verlust allgemeinverbindlicher Normen durch Wertepluralismus & Individualisierung

Wurde eine Evidenz für Heitmeyers Desintegrationsphänomen gefunden und wie sehen seine Prognosen für einen weiteren Verlauf der Krisenphänomene im Sinne der Anomietheorie aus?

Ja, es gibt hohe Evidenz für Heitmeyers Diagnose, dass in der deutschen Gesellschaft regulierende und integrierende Kräfte der Solidarität nachlassen und anomische Krisen zunehmen.

Autoren der empirischen Überprüfung sind sich uneinig, ob sich die diagnostizierten Krisen weiter zuspitzen oder eher als ein Indiz zur Rückkehr gesellschaftlicher Normalität nach atypisch konfliktarmer Nachkriegszeit zu werten sind

  • Heitmeyer: Ausmaß der dramatischen Entwicklung ist erst zeitversetzt erkennbar als Folgeerscheinung

  • Desintegrationskrisen sind gefährlich, weil sie eine Überlagerung mit ethnisch-kulturellen Konflikten haben

  • Unteilbare (unverhandelbare kulturelle issues) Konflikte zwischen Deutschen und Einwanderern kommen laut. Heitmeyer auf DE zu

    • Cross-Cutting-Cleavages der 70er Jahre: ging man davon aus, dass gemeinsame Bevölkerungsinteressen wie Bildung, sozialer Wohlstand Ressentiments zwischen Einheimischen und zugewanderten ethnischen Minoritäten überkreuzen/ sich mit Abgrenzung/ Ethnizismus neutralisieren

    • Begründung: Funktionale Differenzierung, dass im Zuge der Modernisierung eröffneter Zugang von immer mehr Menschen zu neuen oder größeren funktionalen Teilsystemen und Organisationsmitgliedschaften und dadurch dauerhaft zivilisierte Konfliktregulierung etabliert werden könnte

    • Aber: Funktionale Differenzierung hat im Gegenteil unteilbare Konflikte weiter verschärft, da sie gleichzeitig mit einer Verunsicherung tradierter kultureller Sinnbetände hohe Mobilität und Migration erzeugt hat und dadurch bei dem hohen Tempo des Strukturwandels in der Wirtschaft zu neuem Nationalismus, religiösem Fundamentalsmus und Rassenhass führen kann

Dass die heutige Gesellschaft dennoch mit dem gewachsenen Konflikt und Gewaltpotential leben kann liegt an der

  • Fähigkeit zur Interdependenzunterbrechung: Metapher der Zwei-Drittel-Gesellschaft als stabilisierender Faktor

  • Moderne Gesellschaft = funktional differenziert

    • Nicht mehr primär nach oben/unten (stratifikatorisch) geordnet.

    • Stattdessen: Inklusion vs. Exklusion = Zugang zu gesellschaftlichen Teilsystemen (Bildung, Arbeit, Politik etc.).

    • Problem nicht mehr: Wer wird wie stark ausgebeutet?

    • Sondern: Wer wird überhaupt einbezogen? Wer bleibt draußen?

      • Früher: zentrales Thema → Ausbeutung und Entfremdung in der Arbeit.

      • Heute: zentrales Thema → Zugang zu Arbeit überhaupt = Mitgliedschaft in Arbeitsorganisationen.

  • Wer keinen Zugang zu zentralen Teilsystemen hat (z. B. Arbeit), wird vom gesellschaftlichen Reproduktionskreislauf ausgeschlossen.

    • Gefahr: Anomie – Orientierungsverlust, Perspektivlosigkeit, Desintegration.

  • Rolle des Wohlfahrtsstaats:

    • Verhindert bislang eine vollständige Entkopplung durch Kompensationsleistungen:

      • Arbeitslosengeld, Sozialhilfe, Unterstützungsorganisationen etc. = „Interdependenzersatz“.

  • Erosion des Wohlfahrtsstaats

    • Legitimität dieser Leistungen nimmt ab:

      • Die „Insider“ (v. a. Mittelschicht) fühlen sich belastet durch Transferleistungen.

      • Angst vor eigenem Abstieg → Abnahme der Solidarität mit Outsidern.

      • Outsider = „Selbst schuld“-Narrativ (Individualisierung eines strukturellen Problems).

    • Politische Reaktion: „Umbau“/ Abbau des Sozialstaats (Kürzungen, Aktivierungspolitik).

    • Wird keine funktionale Alternative zur Kompensation gefunden, dann:

      • Zunehmende soziale Desintegration.

      • Eskalation anomischer Prozesse.

      • Risiko: Rückfall in strukturelle Krisen wie im frühen 20. Jahrhundert (Extremismus, Demokratiekrise, Gewaltausbrüche).

Kompensation = gesellschaftlicher Ausgleich von Interdependenzunterbrechung

Wenn Menschen vom Zugang zu zentralen gesellschaftlichen Bereichen (z. B. Arbeit, Bildung, politische Teilhabe) ausgeschlossen werden – also nicht mehr „interdependent“ eingebunden sind –, dann entsteht ein Risiko: Anomie, soziale Desintegration, Perspektivlosigkeit.

Damit diese ausgeschlossenen Menschen nicht völlig den Anschluss verlieren, braucht es Mechanismen, die den Verlust von Zugehörigkeit, Teilhabe und Sicherheit abfedern.

Diese ausgleichenden Mechanismen nennt Heitmeyer „Kompensation“ (z.B. Sozialleistungen, symbolische Anerkennung durch Politik)

  • Wenn diese Kompensation wegfällt oder delegitimiert wird (z. B. durch Kürzungen oder Stigmatisierung der Empfänger), dann:

    • bricht die letzte Verbindung zwischen Gesellschaft und Exkludierten ab,

    • steigt das Risiko für Desintegration, Anomie und demokratiegefährdende Dynamiken.

    Heißt: Ohne Kompensation = kein funktionierender Ausgleich → gesellschaftliche Sprengkraft (Anomie)

Nach Giddens bezieht sich die Moderne auf Arten sozialen Lebens oder sozialer Organisation mit einem Zeitabschnitt und geographischem Ausgangspunkt, welche drei Elemente machen die besondere Dynamik der Moderne nach Giddens aus?

1. Entkopplung von Raum und Zeit: Da es ist vormodernen Gesellschaften ein Verhältnis dieser beiden Faktoren gab - war etwas weit entfernt, benötigte man dementsprechend viel Zeit um diesen Ort zu erreichen. Durch moderne Technollogien können über große Entfernungen hinweg in Echtzeit Kommunikationen oder Handlungen stattfinden, wodurch Raum und Zeit überwunden wurden.

2. Die Entbettung: das Herauslösen sozialer Beziehungen aus lokalen, traditionellen Kontexten, Zum Beispiel durch Geld als symbolisches Austauschmittel, das nicht mehr an persönliche Beziehungen gebunden ist, wodurch eine globale Vernetzung und Koordination möglich ist, ohne, dass sich Menschen direkt kennen oder begegnen müssen.

3. Vertrauen: Da durch die Entbettung und Entkopplung persönliche Sicherheiten wegfallen wird Vertrauen zu einer zentralen Vorraussetzung, sodass moderne Gesellschaften trotz Komplexität funktionieren können.

Diese 3 Dynamiken wirken bei modernen Gesellschaften nur binnen folgender wechselseitig beeinflussenden institutionellen Komplexen:

  • 1. Kapitalismus in Form eines Warenproduktionssystems, das durch das Verhältnis privater Kapitalbesitzer und besitzloser Lohnarbeiter ein Klassensystem bildet

  • 2. Industrialismus durch den Einsatz unbelebter Quellen materieller Energie zur Güterfertigung im Rahmen eines Produktionsprozesses

  • 3. Überwachung aufgrund der hohen Konzentration von Verwaltung, die die Apparate der Überwachung bilden

  • 4. Die Kontrolle über die Mittel zur Gewaltanwendung, beispielsweise durch das Militär, was anders als in der Vormoderne nun innerhalb territorial genau festgelegten Grenzen langfristig agieren und unterstützen kann.

Was versteht Anthony Giddens unter einem Wandel der politischen Kultur und wie sieht sein 6-Punkte-Programm aus?

Wandel der politischen Kultur (Giddens):

  • Sozialismus & Konservatismus überholt: beide glauben an staatliche Steuerbarkeit → in radikalisierter Moderne nicht mehr tragfähig.

  • Neoliberalismus widersprüchlich: zerstört Tradition, ist aber auf sie angewiesen (Nation, Religion, Familie).

Giddens fordert eine neue, reflektierte Form politischer Kultur, die den Bedingungen der radikalisierten Moderne gerecht wird. Diese soll:

  • Solidarität neu begründen,

  • individuelle Lebensführung stärken,

  • Politik als Ermöglichung denken,

  • und auf Prävention statt Reparatur setzen.

Giddens’ Alternative: Radikale Demokratie

Er schlägt ein neues Modell vor, das sich an einem philosophischen Konservatismus mit sozialistischen Grundwerten orientiert. Dieses Modell basiert auf einem:

6-Punkte-Programm für radikale Demokratie:

  1. Solidaritätsreparatur: Aktives Vertrauen statt Tradition; neue Formen familiärer & sozialer Bindung.

    • Einführung eines „Berufszweigs zur Reparatur beschädigter Solidarität“.

    • Ziel: Neue Formen aktiven Vertrauens in einer enttraditionalisierten Gesellschaft.

  2. Lebenspolitik: Entscheidung statt Schicksal („Wie wollen wir leben?“), z. B. Beruf vs. Familie.

  3. Generative Politik: Politik soll Handlungsräume schaffen, nicht nur regulieren („ermächtigen statt verwalten“).

  4. Dialogische Demokratie: Demokratischer Diskurs in Politik & Alltag;

    • Betonung von Diskurs statt Machtausübung: Interessenvertretung UND offene Konfliktaustragung ohne nötigen Konsens

  5. Positive Wohlfahrt: Sozialstaat als Sozialinvestitionsstaat: Fokus auf Prävention & Lebensstil ).

    • Sozialinvestitionsstaat (Investition in menschliches Kapital).

    • Betonung von Prävention und reflexiver Lebensführung. (z. B. bei Krankheiten wie Krebs)

      1. Drei Stufen der Risikoverhütung am Beispiel Rauchen:

        • Primär: soziale Normen verändern (z. B. Rauchen wird „out“)

        • Sekundär: Gewohnheiten ändern (z. B. Therapie, Nikotinersatz)

        • Tertiär: Krankheit behandeln und Lebensstil anpassen

  6. Umgang mit Gewalt:

    • In einer globalisierten Welt sind Absonderung und Austritt keine realistischen Optionen mehr.

    • Nur Dialog bleibt als gewaltfreier Weg des Umgangs mit unterschiedlichen Werten und Interessen.

Welche sozialpolitischen Zukunftsvisionen entwickelt Anthony Giddens vor dem Hintergrund der radikalisierten Moderne?

Giddens Zukunftsvision ist eine reflexive, demokratisch ausgehandelte, sozial-ökologisch verantwortliche Gesellschaft, die sich von materialistischen Zwängen emanzipiert, ohne die Moderne zu verlassen.

1. Nachknappheitsökonomie (statt Kapitalismus):

  • Kein vollständiges Ende von Knappheit (positionelle Güter bleiben), aber:

  • Kritik an Überakkumulation & Wachstumslogik („Überentwicklung“ hat schädliche Nebenfolgen).

  • Konsum & Arbeit werden neu bewertet: Lebensstilentscheidungen beschränken Wirtschaftsziele.

  • Neue Ansätze: Bildungsurlaub, stufenweise Pensionierung, Ruhestand auf Probe → mehr Autonomie.

  • Fokus auf Postmaterialismus: Freiheit & Glück nicht nur über Geld definiert.

2. Humanisierte Natur (statt Naturbeherrschung durch Industrialismus):

  • Keine Rückkehr zur „wahren“ Natur (z. B. Jäger-Sammler-Romantik).

  • Ökologie = sozial überformt, daher „Umwelt“ statt „Natur“.

  • Ziel: verantwortungsvoller Umgang mit ökosozialen Systemen, nicht Rückzug ins Naturmythos.

3. Dialogische Demokratie (statt autoritärer Überwachung):

  • Kein Konsenszwang, keine ideale Diskurssituation (≠ Habermas).

  • Toleranz durch öffentlichen Dialog zwischen autonomen Subjekten.

  • Eltern-Kind-Beziehung als Modell: „Demokratisierung der Gefühle“.

  • Ziel: öffentliche Deliberation, bei der die Authentizität des Gegenübers anerkannt wird.

4. Ausgehandelte Machtverhältnisse (statt Gewaltmonopol als Lösung):

  • Nachmilitärische Gesellschaft: Ablehnung von Gewalt als Mittel der Politik.

  • Staatsbürgerliche Pflicht = Friedenswerte fördern.

  • Geschlechtsbezogene Gewalt: Wandel nur durch strukturelle Veränderungen (Familie, Arbeit, Rollenbilder).

  • Demokratisierung = Gewaltvermeidung.

5. Positive Vision der Moderne (statt Bruch mit ihr):

  • Giddens bricht nicht mit der Moderne – er will sie transformieren.

  • Dualität der Struktur: Strukturen begrenzen und ermöglichen Handlungsspielräume.

  • Moderne erstmals offen für allgemeine Werte, die realen Wandel ermöglichen.

  • Zitat: „Vielleicht das erste Zeitalter […], in dem allgemeingültige Werte tatsächlich etwas bewirken können.“

Was ist mit dem Begriff „Erlebnisgesellschaft“ in Gerhard Schulzes gleichnamiger Studie gemeint und unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen konnte er entstehen?

Erlebnisgesellschaft“ = Zustand der bundesrepublikanischen Wohlstandsgesellschaft Ende des 20. Jahrhunderts, in dem die Gestaltung eines „schönen, interessanten, subjektiv als lohnend empfundenen Lebens“ (S. 37) zum kleinsten gemeinsamen Nenner sozialer Ordnung wird.

Obwohl Schulze von der Subjektivität der Akteure ausgeht, analysiert er vor allem die „intersubjektiven Strukturen der gegenwärtigen Gesellschaft“ (S. 24). Individualisierung bedeutet für ihn nicht Auflösung, sondern „Veränderung von Formen der Gemeinsamkeit“. Erlebnisorientiertes Denken und Handeln – ehemals ein Privileg höherer Schichten – wurde durch veränderte Lebensbedingungen zum Massenphänomen und prägte zunehmend viele gesellschaftliche Handlungsbereiche.

Zwei zentrale Entwicklungen ermöglichten laut Schulze die Genese der Erlebnisgesellschaft:

  1. Steigende Einkommen

  2. Reduzierung der Arbeitszeit, wodurch mehr Freizeit und gestaltbare Lebenszeit entstand. Zudem hebt er den Abbau formaler und informaler Zugangsbarrieren hervor, z. B. im Zuge der Demokratisierung der Kultur seit den 1960er Jahren – etwa durch die Öffnung des klassischen Theaters für alle Bevölkerungsgruppen (S. 499–501).

Schulze beschreibt die Erlebnisgesellschaft als „Übergangszustand“ oder „Momentaufnahme unserer Gesellschaft im Prozess der Veränderung“ (1993: 405). Auch Ende der 1990er Jahre erkennt er noch ihre Strukturen, stellt jedoch eine zunehmende Sensibilität der Akteure für Probleme dieser Lebensweise fest. Die Erlebnisgesellschaft war „ein erster kollektiver Antwortversuch auf die Frage nach dem Glück“ (1997: 93); die Suche nach einer besseren Lebensphilosophie dauert laut Schulze an.

Was meint Gerhard Schulze mit „Entgrenzung“ im Kontext der Genese der Erlebnisgesellschaft, und wie verändert sich dadurch das Verhältnis von Subjekt und Situation?

Entgrenzung“ = Zunahme an Möglichkeiten im Alltagshandeln durch technischen, wirtschaftlichen und sozialen Wandel. Der Begriff steht dabei nicht nur für eine Erhöhung der Konsumchancen, sondern für ein Modernisierungsphänomen, das auch unter Bedingungen wie Arbeitslosigkeit oder stagnierenden Realeinkommen bestehen bleibt (Schulze 1997: 86).

Durch technische Entwicklungen – etwa Haushaltsgeräte oder das Auto – wurde immer mehr Zeit eingespart, wodurch den Menschen mehr Freizeit zur Verfügung stand. Zusammen mit steigendem Einkommen, wachsender Mobilität und neuen Konsumgütern waren die Akteure zunehmend mit „Potentialen der Erlebnisnachfrage“ ausgestattet (S. 539). Parallel dazu vervielfachte sich das Angebot an Waren und Dienstleistungen – ein zentraler Motor der Erlebnisgesellschaft.

Diese Entwicklungen führten zu einer tiefgreifenden Veränderung des Verhältnisses von Subjekt und Situation:

Während zuvor in ressourcenarmen Situationen das Subjekt bemüht war, durch Arbeit oder Bildung seine Lage zu verbessern („Situationsarbeit“), wird in der Erlebnisgesellschaft die Situation nicht mehr als Einschränkung, sondern als Angebot von Wahlmöglichkeiten erfahren. Das Individuum muss selbst entscheiden, ob es z. B. ins Kino geht, in die Szenekneipe oder lieber Mountainbike fährt.

Schulze schreibt:

„An die Stelle der Situationsarbeit, kennzeichnend für die einwirkende Existenz, tritt in der wählenden Existenz das Situationsmanagement, das Nehmen und Entsorgen von Lebensumständen.“ (Schulze 1997: 87)

Das Subjekt tritt dadurch soziologisch in den Vordergrund (Schulze 1992b: 75). Obwohl das Handeln freier scheint, bleiben die Menschen ihren individuellen Erfahrungen verhaftet – vergangene Situationen wirken also weiterhin auf gegenwärtige Entscheidungen ein. Schulze betont, dass dies keine subjektive Willkür bedeutet.

Was versteht Gerhard Schulze unter der „Orientierungskrise“ und wie führt die Entgrenzung der Lebenssituation zur Verschiebung von Außen- zu Innenorientierung?

Orientierungskrise ist eine Folge der Entgrenzung der Lebenssituation, also der wachsenden Zahl an Wahlmöglichkeiten durch technologische Entwicklung, Angebotsvielfalt und Wohlstand. Diese führt dazu, dass traditionelle Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Einstellungsmuster an Orientierungskraft verlieren.

Die Akteure erleben nicht mehr Entscheidungsdruck, sondern einen „Entscheidungssog“ (S. 58), da immer mehr Möglichkeiten zur Verfügung stehen, aber immer weniger äußere Maßstäbe helfen, zwischen ihnen zu wählen. Früher war das Handeln außenorientiert, etwa auf materielle Absicherung, Haltbarkeit von Produkten und sozialen Aufstieg ausgerichtet (z. B. „Ein Paar Schuhe musste vor allem haltbar sein“).

Durch das stetige Steigerungsprinzip der Industriegesellschaft (Schulze 1997: 79) wurden jedoch Nutzen, Qualität und Reichtum zunehmend unbrauchbar als Orientierungskategorien:

  • Der äußere Nutzen verliert an Bedeutung, da das Überleben gesichert ist. (Steigendes Wohlstandsniveau)

  • Qualität ist wissenschaftlich-technisch perfektioniert – Unterschiede kaum noch erkennbar.

  • Mit steigendem materiellen Lebensstandart verliert Orientierung an sozialem Aufstieg an Interesse - Reichtum ist kaum noch spürbar steigerbar – „Wem es bereits ‚gut‘ geht der kann es nicht spüren wenn es besser wird“

Dadurch entsteht Orientierungslosigkeit, die Schulze als eine „kopernikanische Wende des Alltagsdenkens“ beschreibt (Schulze 1997: 83). Die Handlungsziele verlagern sich vom Außen ins Subjekt:

„Je größer die Vielfalt von Angeboten gleicher außenorientierter Zweckbestimmung ist, desto mehr treten innenorientierte Motive in den Vordergrund.“ (S. 428)

Das Denken wird innenorientiert und richtet sich nun auf Gefühle, psychophysische Prozesse und Erlebnisse (Schulze 1993: 408/409). Produkte und Situationen werden nur noch als Auslöser für diese inneren Prozesse genutzt.

Diese neue Handlungslogik nennt Schulze „Erlebnisrationalität“ – eine Systematisierung des Handelns, die auf Selbstmanipulation durch Situationsmanagement abzielt (Schulze 1997: 84). Nicht mehr objektive Kriterien, sondern das individuelle Erleben wird zum Maßstab des Handelns:

„In der außenorientierten Denkwelt haben Gefühle lediglich die Funktion der Steuerung objektiver Nutzendefinitionen, ohne zu ihrem Bestandteil zu werden; dagegen gehen sie in der erlebnisorientierten Denkwelt in die Nutzendefinition selbst ein. Der klassische Konsument lebt nach der Philosophie des Habens, der neue Konsument nach der Philosophie des Seins.“ (Schulze 1997: 84)

Warum geraten Akteure in der Erlebnisgesellschaft laut Schulze in ein strukturelles Dilemma – und welche Rolle spielt dabei der Erlebnismarkt?

Weil Erlebnisse subjektiv-psychophysisch sind, kann der Akteur nie sicher sein, ob ein Erlebnis tatsächlich eintritt – selbst bei bekannten Aktivitäten bleibt ein Enttäuschungsrisiko. Die Vielzahl an Wahlmöglichkeiten führt zusätzlich zu Entscheidungsunsicherheit: Mit der „Expansion des Möglichkeitsraums“ (Schulze 1993: 412) wird nicht mehr gefragt, wie man etwas erreicht, sondern was man überhaupt will.

Dieses Dilemma verschärft sich durch den Gewöhnungseffekt – neue Reize sind Voraussetzung intensiver Erlebnisse, verlieren jedoch rasch ihre Wirkung. Akteure greifen dann auf Routinen zurück, was die Erlebnisintensität weiter senkt, oder sie suchen neue Situationen, was erneut Entscheidungskonflikte mit sich bringt. So entsteht ein dauerhafter „Orientierungsbedarf“.

Diesen greift der Erlebnismarkt auf: Anbieter übersetzen Ordnungssuche in massenhafte Erlebnisangebote – kommerziell, kulturell, massenmedial. Produzenten handeln außenorientiert (z. B. wirtschaftlich), während Konsumenten innenorientiert agieren. Treffen beide Rationalitätstypen aufeinander, setzt sich meist der außenorientierte durch – der Erlebnismarkt wird zur Schnittstelle, an der Innenorientierung wirtschaftlich verwertet wird. So entsteht eine Abhängigkeit von Erlebnisdienstleistungen – nicht nur durch „bösen Kommerz“, sondern auch durch scheinbar „gute“ Kulturpolitik.

Warum setzt sich in der Erlebnisgesellschaft außenorientierte Rationalität gegenüber innenorientierter Rationalität durch, und welche gesellschaftlichen Dynamiken sind mit dieser Entwicklung verbunden?

Die Dominanz außenorientierter Rationalität in der Erlebnisgesellschaft lässt sich vor allem durch ihre strukturelle Anschlussfähigkeit an systemische Logiken und korporative Interessen erklären. Innenorientiertes Handeln – also Handeln, das sich an subjektiven Bedürfnissen und individuellen Empfindungen orientiert – ist schwer plan- und steuerbar, da es nicht berechenbar ist. Außenorientiertes Handeln hingegen, das sich an objektivierbaren, beobachtbaren Reaktionen (z. B. Konsumverhalten) ausrichtet, ist leichter kalkulierbar, standardisierbar und optimierbar.

Zentral ist dabei, dass Erlebnisanbieter – etwa Unternehmen, Kulturinstitutionen oder Massenmedien – meist korporative Akteure sind, also Organisationen mit Selbsterhaltungstendenzen. Sie handeln nicht (nur) intentional-subjektiv, sondern strukturell und strategisch: Sie gestalten Erlebnisangebote so, dass sie breite Zustimmung finden und sich wirtschaftlich rentieren. Dadurch wird das Erleben selbst zunehmend zur Ware. Diese zunehmende Entkopplung von Intention und Wirkung erzeugt eine Eigendynamik des Erlebnismarkts, die jenseits individueller Steuerung liegt.

Der Erlebnismarkt fungiert so als strukturierende Größe im Alltag: Er bündelt nicht nur Produktionskapazitäten und Konsumpotenzial, sondern auch politische Energie, gedankliche Aktivität und Lebenszeit (S. 542). Damit übernimmt er die Funktion, die früher traditionelle soziale Großgruppen und gemeinsame Alltagserfahrungen innehatten. Denn durch die Differenzierung der Erwerbsarbeit und den Wegfall eines kollektiven Klassenbewusstseins verlieren Arbeit und soziale Lage ihre identitätsstiftende Kraft. An ihre Stelle tritt das Konsumieren spezifischer Erlebnisangebote als neue Grundlage kollektiver Selbsterfahrung.

Soziale Zugehörigkeit wird nun über folgende Zeichenkategorien definiert:

  • persönlicher Stil (z. B. Kleidung, Musikgeschmack, Freizeitgestaltung) und nicht mehr über Lage (z. B. Beruf, Einkommen)

  • Alter als Indikator für Generationszugehörigkeit und Subjektivitätsentwicklung (Lebenszyklus)

  • Bildung, die RÜckschlüsse auf die Situationsgeschichte zulässt

  • Art und Weise des Situationsmanagements - Warum und wie sich ein Subjekt in eine gewisse Lebenssituation bringt

  • Schulze beschreibt diese Veränderung mit der Verschiebung von einer „Gemeinsamkeit des Zweckmäßigen“ hin zu einer „Gemeinsamkeit des Zweckfreien“ (S. 455). Die sozialen Milieus der Erlebnisgesellschaft definieren sich über Nähe oder Distanz zu bestimmten ästhetischen Schemata von Erlebnisroutinen

    • Hochkulturschema

    • Trivialschema

    • Spannungsgeladen

Je nach Nähe und Distanz zu diesen Schemata ergeben sich folgende Sozialen Milleus nach Schulze:

  1. Niveaumilieu

    • Kulturelle Orientierung: Hochkultur (Theater, Oper, Museen, klassische Musik, Qualitätszeitungen, Belletristik)

    • Ziel: Kontemplativer Genuss, Perfektion, Abgrenzung vom Unkultivierten

    • Ähnlich: Bildungsbürgertum

  2. Harmoniemilieu

    • Kulturelle Orientierung: Trivialschema (Regenbogenpresse, Volksmusik, Heimatfilme, Game-Shows)

    • Ziel: Gemeinschaft, Gemütlichkeit, Harmonie, Ablehnung von Exzentrik

    • Ähnlich: Arbeiterschicht

  3. Integrationsmilieu

    • Kulturelle Orientierung: Mischung aus Hochkultur und Trivialschema

    • Ziel: Kombination verschiedener Stile ohne eigenes Profil

    • Merkmal: Integration der Muster von Genuss, Distinktion und Lebensphilosophie anderer Milieus

  4. Selbstverwirklichungsmilieu

    • Kulturelle Orientierung: Hochkultur + Spannungsschema (klassische Musik + Rock, Museen + Diskos)

    • Ziel: Mischung aus Kontemplation und Action, Abgrenzung vom Trivialen und Konventionellen

    • Lebensphilosophie: Streben nach Perfektion und Narzissmus

  5. Unterhaltungsmilieu

    • Kulturelle Orientierung: Spannungsschema (Action, Unterhaltung ohne Anspruch)

    • Ziel: Reine Aktivierung, unmittelbare Erlebnisse, Nutzung von Unterhaltungsmaschinen

    • Abgrenzung: Kein Bezug zu Hochkultur oder Trivialkultur im klassischen Sinne

Durch die Möglichkeit der freien Wahl sozialer Kontakte und Lebensstile (bedingt durch Mobilität, technische Infrastruktur wie Telefon, sowie den allgemeinen Wohlstand) werden andere soziale Milieus für das eigene Handeln zunehmend irrelevant. Diese subjektive Abschottung verstärkt das „Nichtverstehen“ zwischen Gruppen (S. 520), da ein wechselseitiges Beobachten, Abgrenzen und Verstehen – wie es für die Industriegesellschaft noch prägend war – entfällt.

Milieustruktur der BRD in den 1980er Jahren markiert den Übergang von einer industriegesellschaftlich geprägten „Klassengesellschaft“ zu einer ästhetisch ausdifferenzierten Erlebnisgesellschaft. Menschen gruppieren sich nun entlang ihrer kulturellen Vorlieben und ästhetischen Strategien – nicht mehr allein entlang von Einkommen, Bildung oder Beruf. Das führt zu neuen Formen der sozialen Segmentierung, aber auch zu erhöhter Wahlfreiheit und Identitätsvielfalt.

Wie beschreibt Schulze die strukturelle Instabilität der Erlebnisgesellschaft, welche psychischen und gesellschaftlichen Folgen entstehen daraus – und welche Haltung empfiehlt er als Ausweg?

Schulze beschreibt die Erlebnisgesellschaft als einen instabilen Zustand, der sich aus verschiedenen Faktoren ergibt:

  1. Innenorientierung und subjektive Bewertung:

    • Ökonomische Kategorien wie Nutzen, Qualität und Reichtum werden auch auf das Erleben angewendet.

    • Wegen der Subjektbezogenheit existiert kein für alle verbindlicher Bewertungsmaßstab.

    • Erlebnisse sind nicht kommunizierbar: Ob ein Erlebnis innere Prozesse aktiviert (Nutzen) und intensiviert (Qualität), ist nur subjektiv beurteilbar und bleibt damit beliebig.

    • Zitat: „Erlebnisnutzen oszilliert mit der Selbstreflexion“ (Schulze 1997: 89). Das bedeutet: Die Bewertung eines Erlebnisses hängt von der aktuellen psychophysischen Verfassung des Akteurs ab.

  2. Risiken von Unsicherheit und Enttäuschung:

    • Diese Risiken lassen sich nicht minimieren oder beseitigen, da die Erlebnisbewertung instabil ist.

    • Beispiel im Text: Eine Inline-Skating-Tour kann einmal begeistern, ein anderes Mal völlig reizlos sein – abhängig von innerer Verfassung (z. B. Ärger über eine Prüfung).

  3. Gewöhnungseffekt und Erlebnisverarmung:

    • Die ständige Produktion neuer Erlebnisangebote führt zum Gewöhnungseffekt: Das „Neue“ befriedigt nicht mehr.

    • Menschen versuchen, dies durch Kumulation (immer mehr Erlebnisse in kürzeren Intervallen) zu kompensieren.

    • Dies stößt an psychische Grenzen: Reize können nicht unbegrenzt verarbeitet werden, Reflexion braucht Zeit und Aufmerksamkeit.

    • Fazit: Erlebnisreichtum führt zur Erlebnisverarmung.

  4. Autosuggestion und Illusion:

    • Konsumenten müssen den Versprechungen der Erlebnisanbieter blind vertrauen.

    • Zitat: „Der Glaube des Abnehmers an zugesicherte Eigenschaften der Ware lässt die zugesicherten Eigenschaften überhaupt erst entstehen.“

    • Die Autosuggestion ist der letzte Versuch, Unsicherheit und Enttäuschungsrisiken zu minimieren.

    • Zitat: „In einer Situation der Unsicherheit verschafft man sich das Gefühl, das Richtige zu tun.“ (Schulze 1999: 76).

    • Aber: Die Sinnkonstruktionen sind instabil, denn der Konsument weiß, dass es sich um gezielte Illusionen der Anbieter handelt.

  5. Fragile Ordnungskonstruktionen:

    • Zitat: „Die Strukturen der Erlebnisgesellschaft sind Ordnungskonstruktionen im Orientierungsvakuum.“

    • Die Menschen haben „in einer Situation zunehmender Unbestimmtheit“ Notgemeinschaften der Zweckfindung gebildet.

    • Diese stützen sich auf „alltagsästhetische Schemata, soziale Milieus und fundamentale Semantik“, die sie selbst erfunden haben.

    • Aber: Diese Konstruktionen sind labil und können jederzeit um-erfunden werden.

    • Zitat: „Auch persönliche Identität entpuppt sich, gleich der gesamtgesellschaftlichen, als Fiktion.“

Psychische und gesellschaftliche Folgen

  1. Orientierungslosigkeit:

    • Das Orientierungsvakuum am Ende der Industriegesellschaft wird nicht aufgehoben, sondern verschleiert.

    • Die Wendung zur Innenorientierung erlaubt nur scheinbar klare Zieldefinitionen im Alltag.

    • Das Projekt des „schönen Lebens“ bleibt diffus, der Sinn des Lebens muss individuell definiert werden.

  2. Verlust an Akzeptanzfähigkeit und Handlungsfähigkeit:

    • Die Akteure verlernen, sich auf nichtveränderbare strukturelle Gegebenheiten einzulassen.

    • Beispiele: Nichtakzeptanz des Alterns, Unzufriedenheit mit dem bisherigen Lebenslauf.

    • Auch ökologische Probleme oder soziale Ungleichheiten werden nicht wahrgenommen, weil es an Bereitschaft fehlt, sich Situationen zu stellen.

    • Ergebnis: Keine Veränderung möglich → kollektiv-politische Handlungsunfähigkeit.

  3. Verstärkung durch den Erlebnismarkt:

    • Anbieter handeln außenorientiert, aber ausschließlich auf ökonomischen Profit ausgerichtet.

    • Die Dynamik des Erlebnismarktes trägt zur Stabilisierung der Instabilität bei.

Schulze sieht als einzige Möglichkeit, der Erlebnisgesellschaft zu entkommen, die Haltung des „eigensinnigen Subjekts“.

  1. Zitat: „Man kann den Erlebnismarkt nicht steuern, sondern höchstens verlassen.“ (424)

  2. Das eigensinnige Subjekt soll sich aus der „zirkulären Existenz“ lösen, in der „alles Objektive nur Kristallisationspunkt für Gefühle ist“.

  3. Es soll lernen, „sich auf etwas anderes einzulassen, auch jenseits seiner selbst.“ (Schulze 1999, 100–102)

Merkmale des eigensinnigen Subjekts (Ausweg laut Schulze):

  • Äußere Handlungsziele für sich selbst definieren

  • Wiederholungen im Alltag genießen

  • „Mit einem Nichts spielen“ – also kreativ und fantasievoll mit vorhandenen Gegebenheiten umgehen

➡ Schulze illustriert diesen dritten Punkt mit einer Kindheitserinnerung von Theodor Fontane: Ein Loch im Dielenboden wurde bei schlechtem Wetter zum Spielplatz, weil es auf einer Sanddüne lag.

Was meint George Ritzer mit dem Begriff „McDonaldisierung“ der Gesellschaft?

George Ritzer entwickelte die These der McDonaldisierung, um Max Webers Sorge vor einer zunehmenden Rationalisierung der Gesellschaft zeitgemäß zu interpretieren. Laut Weber droht ein „eisernes Gehäuse der Hörigkeit“ durch die Ausbreitung rational-bürokratischer Prinzipien.

🔹 Definition McDonaldisierung:

Ritzer bezeichnet damit den Prozess, durch den die Prinzipien von Fast-food-Restaurants – insbesondere Effizienz, Berechenbarkeit, Vorhersagbarkeit und Kontrolle – auf immer mehr Lebensbereiche übertragen werden.

🔹 Gesellschaftlicher Einfluss:

Diese Prinzipien dominieren heute nicht nur Fast-food-Ketten, sondern auch:

  • Ausbildung

  • Arbeitswelt

  • Reisen

  • Freizeitgestaltung

  • Ernährung

  • Politik

  • Familie

  • und viele weitere gesellschaftliche Felder.

🔹 Verlust individueller Entscheidungskraft:

Ritzer kritisiert, dass Menschen ihre Aufgaben nicht mehr selbstständig lösen, sondern sich an Regeln und Verfahren halten müssen, die Organisationen vorgeben. Der Einzelne wird dadurch verwaltet statt befähigt.

🔹 Rolle der Mikrowelle als Metapher: Fertiggerichte gelten als effizient, obwohl man sie erst kaufen muss. Trotzdem erscheint die Nutzung effizient – auch wenn das nur eine Vorstellung ist aufgrund der Fiktion von Effizienz:

  • Menschen unterscheiden kaum zwischen wirklich effizient und scheinbar effizient. Sie vermeiden „ineffiziente“ Tätigkeiten – auch wenn die Einschätzung darauf basiert, was als effizient gilt, nicht was es tatsächlich ist.

  • Die Verbreitung fiktionaler Effizienzvorstellungen führt nicht zu Konkurrenz zwischen Mikrowelle und Fast-food, sondern zu gegenseitiger Verstärkung. Die McDonaldisierung durchdringt immer mehr Lebensbereiche.

Wie prägen die Prinzipien der Effizienz und Berechenbarkeit die Organisation von McDonald’s, und inwiefern übertragen sich diese Prinzipien laut George Ritzer auf die Gesellschaft als Ganze – mit welchen konkreten Folgen für Individuum, Alltag und soziale Beziehungen?

McDonald’s verkörpert die Prinzipien von Effizienz und Berechenbarkeit in Perfektion – doch laut Ritzer wird ihre Logik auf immer mehr Lebensbereiche übertragen. Das Resultat ist eine scheinbar rationale Welt, die durch Kontrolle und Standardisierung das Menschliche untergräbt – mit langfristigen sozialen, kulturellen und emotionalen Kosten.

  • Bereits in den 1930er Jahren entwickelten die Brüder McDonald ein auf maximale Effizienz ausgerichtetes System:

    • Standardisierte Abläufe (z. B. einheitliches Wenden von Burgern), arbeitsteilige Organisation („Griller“, „Frittierer“) und eine radikale Reduktion der Speisekarte dienten dazu, Schnelligkeit und Vorhersehbarkeit zu maximieren.

    • Berechenbarkeit zeigte sich in exakt vorgegebenen Mengen, Gewichten und Garzeiten (z. B. 15,3 g Salz pro 1,6 kg Pommes).

  • Ray Kroc professionalisierte dieses System durch Franchisebetriebe, die auf globale Reproduzierbarkeit und Kontrolle setzten. Der Vorteil: überall gleiches Produkt, gleiches Erlebnis – weltweit.

    Die Auswirkungen auf Kund*innen – Rationalisierung durch Beteiligung

    • Die Kund*innen selbst werden in den Rationalisierungsprozess eingebunden:

      • Sie räumen ihre Tabletts ab, wählen Speisen über Touchscreens – was Zeit spart, aber auch unsichtbare Verlagerung von Arbeit bedeutet.

    • Das Gefühl, „viel für wenig Geld“ zu bekommen, basiert oft auf Tricks:

      • Verpackungsdesign und Portionsgröße erzeugen Illusionen von Großzügigkeit.

    • Das Erlebnis wird „optimiert“, aber auch entleert – statt Begegnung und Genuss dominiert Funktionalität.

    • Ritzer warnt: Diese Prinzipien beschränken sich nicht auf Fast-Food – sie durchdringen zunehmend auch lebensweltliche Bereiche:

      • Beziehungen: Dating-Apps, Partnervergleiche → Liebe wird rationalisiert.

      • Freizeit: All-inclusive-Pauschalreisen statt spontaner Abenteuer → Sicherheit ersetzt Erlebnis.

      • Familienleben: Kinder essen allein vor dem Fernseher, statt im gemeinsamen Ritual.

    • Alles soll schneller, günstiger, kontrollierbarer sein – auch, wo Menschlichkeit und Offenheit gefragt wären.

    Kritik: Die paradoxe „irrationale Rationalität“

    • Was auf den ersten Blick effizient erscheint, erweist sich bei genauerem Hinsehen oft als irrational:

      • Umweltprobleme (Verpackungsmüll), psychische Belastungen (Zeitdruck, Entfremdung) und soziale Isolation sind Nebenprodukte.

      • Die Reduktion auf Effizienz ersetzt Werte, Sinn und Qualität durch Quantität, Kontrolle und Vorhersagbarkeit.

    • Ritzer spricht hier von „irrationaler Rationalität“: Ein scheinbar perfektes System, das jedoch zentrale Bedürfnisse des Menschen verfehlt.

    Ambivalenz & Widerstand – es gibt Lücken im System

    • Trotz allem existieren Gegenbewegungen und Zwischenräume:

      • Mitarbeitende entwickeln eigene Routinen oder kreative Fähigkeiten (z. B. beim Burger-Wenden).

      • Kund*innen nutzen Räume anders als vorgesehen – z. B. langes Sitzen mit nur einem Getränk.

    • Doch: Diese individuellen Akte durchbrechen die Struktur nicht nachhaltig – sie bleiben Ausnahmen innerhalb eines dominanten Systems, das zunehmend andere Lebensbereiche formt.

Wie wirken sich Vorhersagbarkeit und Standardisierung – zentrale Merkmale der McDonaldisierung – laut George Ritzer auf Gesellschaft, Alltagskultur und Institutionen aus, und welche Ambivalenzen entstehen dabei zwischen Sicherheit und kultureller Verarmung?

Vorhersagbarkeit und Standardisierung bieten Sicherheit, eliminieren jedoch das Unerwartete – das Fremde, das Herausfordernde, das Menschliche. Ritzer zeigt: Eine Welt ohne Überraschungen ist effizient, aber kulturell verarmt.

  • Vorhersagbarkeit bedeutet laut Ritzer: Menschen wissen, was sie wo und wann erwartet – ganz gleich, ob sie essen, reisen, studieren oder medizinische Hilfe suchen.

  • In einer unsicheren, komplexen Welt bieten standardisierte Angebote Sicherheit, Kontrolle und Orientierung.

  • Das Ideal: Keine Überraschungen, keine Enttäuschungen – dafür gleichbleibender Komfort.

Fast-Food und Tourismus – kulturelle Einheitskost statt Abenteuer

  • Egal, ob New York oder San Francisco: überall die gleichen Fast-Food-Ketten, Zeitungen (USA Today) und Hotelstandards.

  • Hotelketten wie Holiday Inn werben mit identischen Zimmern weltweit – früher war eine Motel-Übernachtung ein Abenteuer, heute ist sie planbar und steril.

  • Touristen reisen, ohne das Fremde wirklich zu erleben:

    • In Europa steigen sie kaum noch aus dem Bus, weil alles so durchgeplant ist, dass jede echte Begegnung mit dem Unbekannten fehlt.

    • Gastländer passen sich an – mit gefilterter, touristisch „verträglicher“ Kultur.

  • Das Ergebnis: globale Standardkultur statt regionaler Vielfalt, maximale Kontrolle statt lebendiger Begegnung.

Universitäten – Lernen wird standardisiert und entpersönlicht

  • Ritzer spricht von amerikanischen Unis als „Lehrmaschinen“:

    • Vorgegebene Curricula, Multiple-Choice-Prüfungen, Massenveranstaltungen.

    • Auch europäische Hochschulen folgen diesem Trend: Bologna-Reformen, Modulsysteme, Verschulung.

  • Studierende müssen weniger selbst denken oder auswählen – sie erwarten „effiziente“ Bildungswege.

  • Doch: Der eigentliche Sinn der Universität – individuelle Reflexion, Diskurs, Widerspruch – geht zunehmend verloren.

Medizin – Diagnostik nach Schema statt individueller Fürsorge

  • Auch Krankenhäuser folgen der Logik der Vorhersagbarkeit:

    • Ärzte werden zu „Verteilern“ – sie delegieren an Maschinen und Spezialisten.

    • Technische Befunde verdrängen persönliche Einschätzungen.

  • Ziel ist Effizienz, nicht Empathie. Der Patient wird zum Fall, nicht zur Person.

  • Laut Ritzer ersetzen Algorithmen teilweise die ärztliche Kunst – mit dem Versprechen: gleiche Behandlung für alle, überall. Doch das ist eine Fiktion.

Friseurketten & Alltag – Symbolische Vorhersagbarkeit

  • Selbst in scheinbar persönlichen Bereichen wie dem Haarschneiden findet Standardisierung statt:

    • Einheitliche Einrichtung, Abläufe, Preise – für Kund*innen soll alles vorhersehbar und „sicher“ sein.

    • Auch wenn das Ergebnis (der Haarschnitt) individuell bleibt, wird das Erlebnis ritualisiert und kontrollierbar gemacht.

= Ambivalenz – Sicherheit vs. kulturelle Verarmung

  • Vorhersagbarkeit bringt Vorteile: Sicherheit, Effizienz, Planbarkeit.

  • Gleichzeitig verliert die Welt an Vielfalt, Überraschung, Tiefe.

    • Reisen ohne kulturelle Erfahrung, Studium ohne geistige Auseinandersetzung, Medizin ohne Menschlichkeit.

  • Ritzer spricht von einer „kulturellen Verarmung“, bei der das Erleben des Unbekannten systematisch vermieden wird.

  • Die McDonaldisierung erscheint komfortabel, aber geistig leer.

Wie beschreibt Ritzer die Dimension der Kontrolle im Rahmen der McDonaldisierung, und was versteht man unter der Anspruchs-Enttäuschungs-Spirale?

Die Dimension der Kontrolle ergibt sich laut Ritzer aus den standardisierten, auf Effizienz und Berechenbarkeit ausgerichteten Arbeitsprozessen der McDonaldisierung. Menschen werden in fließbandförmige Arbeitsabläufe eingespannt und durch Technologien und bürokratische Regeln geführt, die ihnen vorschreiben, was sie tun und lassen sollen. Ziel ist es, die von Menschen ausgehende Unsicherheit zu beseitigen, da etwa ein Unternehmen, das Millionen Brote maschinell backt, sich keine individuellen Abweichungen leisten kann.

In modernen Produktionsstätten werden deshalb die wichtigsten Arbeitsschritte technologisch gesteuert und durch Maschinen ausgeführt, die so indirekt Kontrolle ausüben, wie sie früher zwischen Vorgesetzten und Untergebenen stattfand. Kommt ein Teil im durchorganisierten Ablauf nicht zur rechten Zeit an den rechten Ort, stockt die Produktion – das kontrollierte Ineinandergreifen ist daher zentral.

Durch diese technologische Durchsetzung werden qualifizierte Fachkräfte weitgehend überflüssig – man braucht keine Facharbeiter, um Pommes nach einem Signal aus der Fritteuse zu holen. Auch der Arzt wird tendenziell zu einem Verteiler technologischer Behandlungen. Anstelle qualitativ bestimmter Arbeit (z. B. Menükreationen) dominiert nun das Gesetz der großen Zahl: gut ist, wer viele Gäste bedient oder viele Überweisungen ausstellt.

McDonaldisierte Unternehmen stellen oft Jugendliche ein, da diese sich leichter als Erwachsene der Technologie, den Richtlinien und den Verfahren unterordnen.

Auch Kunden werden kontrolliert: Sie sollen das Restaurant möglichst schnell verlassen, Maschinen zeigen an, wann Essen fertig ist, Diätpläne und Reiseleiter geben vor, was man tun soll. Einkaufs- und Vergnügungsparks schleusen die Menschen durch standardisierte Konsumerlebnisse, in denen individueller Geschmack stört. Technologisch aufbereitete Erlebniswelten wie Disneyland versprechen Effizienz und Erlebnis, sind aber letztlich bürokratisch organisierte Systeme, die durch Vorschriften kontrollieren. Wer das nicht erkennt, ist in das „Gehäuse der Hörigkeit“ eingebunden. Ritzer zufolge ist diese technologische Effizienz letztlich inhuman.

Beim Einchecken im Hotel, beim Warten vor dem Bankautomaten, beim Bestellen aus Katalogen oder beim Mikrowellen-Fastfood unterwerfen sich Menschen den Regeln bürokratischer Organisationen – sie geben Lebensbereiche ab, wodurch die Lebensqualität sinkt.

Anspruchs-Enttäuschungs-Spirale:

Die McDonaldisierung ist verlockend, weil sie Vorhersagbarkeit verspricht, aber gleichzeitig Erlebnis, Unterhaltung oder Abenteuer suggeriert – was sie durch ihre extreme Standardisierung nicht einlösen kann. Ein Hamburger macht zum Beispiel nicht satt, obwohl er es verspricht. Ob Kindergeburtstag, Essen oder Studium: Man fühlt sich nicht erfüllt. Das führt zu zwei Reaktionen: noch höheren Erwartungen an McDonaldisierte Organisationen oder der Versuch, Enttäuschungen durch Konsum anderer McDonaldisierter Angebote zu kompensieren. So entsteht eine Kette von Ersatzbefriedigungen – etwa Disneyland nach einem enttäuschenden McDonald’s-Geburtstag – die aber ebenfalls nicht befriedigen. Dieses unbefriedigende Gefühl verstärkt den Wunsch nach neuen Angeboten – eine Spirale aus Anspruch und Enttäuschung.

Zwar nennt Ritzer den Begriff nicht, doch beschreibt er genau diese Anspruchs-Enttäuschungs-Spirale. Der Mechanismus: Menschen erwarten von Organisationen, was sie früher selbst gestalteten. Haben sie sich erst an die Fiktion der Effizienz gewöhnt, erscheint Eigeninitiative als mühsam und unsicher. Nur wenn man die eigene Unzufriedenheit mitdenkt, kann man erkennen, dass Organisationen Erwartungen wecken, die sie nicht erfüllen – was zu neuen Erwartungen und Enttäuschungen führt.

Zudem wirken widersprüchliche Botschaften: Einerseits verspricht McDonaldisierung Effizienz und Sicherheit, andererseits Erlebnis und Risiko. Letzteres ist meist nur aufgesetzt, erhöht aber die kulturelle Durchschlagskraft. Der Unterhaltungswert scheint grenzenlos – der Magen aber ist irgendwann voll.

So erscheint die McDonaldisierte Gesellschaft wie eine moderne Form älterer segmentärer Gesellschaften (im Sinne Durkheims), in denen Menschen rituell um „goldene Kälber“ tanzen und meinen, sich zu überschreiten, obwohl sie im Gewohnten verharren. Alternativ – mit Adorno – könnte man sagen: Die Menschen spielen nur scheinbar mit, durchschauen aber das Spiel, wollen aber wenigstens „gut betrogen“ werden.

Was ist Ritzers Fazit zur McDonaldisierung, und welche gesellschaftlichen Auswirkungen, Paradoxien und Auswege beschreibt er?

Ritzer sieht in der McDonaldisierung – also der Ausbreitung von Prinzipien wie Effizienz, Berechenbarkeit, Vorhersagbarkeit und Kontrolle – eine tiefgreifende, dehumanisierende Entwicklung moderner Gesellschaften. Technologische Errungenschaften wie automatische Zapfhähne, Scannerkassen, selbstkochende Suppen oder standardisierte Lehrpläne fordern von Menschen, sich modernen Fließbändern zu bedienen, um Bedürfnisse schneller zu befriedigen. Dabei werden kulturell unterschiedliche Lebensweisen eingeebnet; Menschen entindividualisieren sich, da sie zunehmend nur noch McDonaldisierte Produkte wollen.

Obwohl der Grad der McDonaldisierung je nach Bereich variiert, überlassen Menschen laut Ritzer immer häufiger Organisationen die Entscheidung über Ziele und Mittel. Diese Organisationen können das aber nicht leisten, da ihre Effizienz- und Kontrollprinzipien rein organisationsinterne Kriterien sind. Aus individueller Sicht wird das Effizienzversprechen oft enttäuscht – z. B. wenn Familien „mal eben“ zu McDonald’s wollen, aber im Stau stecken. Auch gesamtgesellschaftlich zeigen sich Folgen, etwa durch Verpackungsmüll, dessen Beseitigung dem Einzelnen aufgebürdet wird.

Individuen wählen normalerweise Ziele und Mittel nach vielfältigen, heterogenen Maßstäben – was aber nicht weniger sinnvoll ist. Die McDonaldisierung reagiert darauf mit oberflächlicher Vielfalt, etwa durch „mexikanische“ oder „italienische“ Themenwochen, obwohl das Sortiment gleich bleibt. So wird das Ritual des Immergleichen als Vielfalt getarnt. Der Reiz des Neuen bindet die Neugierigen, das Vertraute die Unsicheren – kaum jemand entkommt dem System.

Deshalb ist Ritzers vorgeschlagener Ausweg – einfach nicht zu McDonald’s zu gehen, zu Hause zu kochen, Saisonprodukte zu kaufen – nicht realistisch. Der Doppelmechanismus („erlebnisreiche Sicherheiten“ für Ängstliche / „sichere Risikoerlebnisse“ für Neugierige) bleibt bestehen.

Hinzu kommt eine Anspruchs-Enttäuschungs-Spirale: Wird ein Bedürfnis nicht erfüllt, locken sofort neue Ersatzangebote, die aber ebenfalls enttäuschen und so die Spirale verstärken. Diese wird nur durchbrochen, wenn man die eigenen Unlustgefühle in die Effizienzversprechen mit einbezieht – wenn man also die eigenen Rationalitätsfiktionen mit denen der Organisationen vergleicht. Erst dann lässt sich deren Dominanz auflösen.

Ritzer überträgt Max Webers Idee vom „Gehäuse der Hörigkeit“ auf die heutige Gesellschaft. Wie Weber erkennt er in Effizienz und Wirtschaftlichkeit zentrale Triebkräfte – geht aber darüber hinaus, indem er fragt, warum Menschen eine solche Gesellschaft überhaupt wollen. Seine Antworten:

  1. McDonaldisierung wurde zum eigenen Wert, unhinterfragt übernommen,

  2. Ihre Versprechen sprechen unmittelbar individuelle Entscheidungskriterien an, nehmen diese aber durch Organisationen wieder ab.

Ritzer zitiert Webers Prognose, nach der Menschen von einem rationalisierten Lebensbereich zum nächsten wechseln – ohne Ausweg. Gleichzeitig beobachtet er Gegenbewegungen:

  • Unternehmen, die nicht mehr wachsen wollen,

  • Ärzte, die sich Zeit nehmen,

  • Gemeinden, die neue Filialen verhindern,

  • Umweltproteste gegen Fastfood-Ketten.

Ob dies mehr als bloße Schönheitsoperationen sind, bleibt fraglich – oft werden regionale Anbieter nur von größeren Konzernen übernommen, die alte Etiketten nutzen. Die McDonaldisierung setzt sich häufig unterhalb einer scheinbaren Vielfalt durch.

Wie beschreibt Richard Sennett in The Corrosion of Character die Auswirkungen des neuen flexiblen Kapitalismus auf den Charakter und die Identitätsbildung des modernen Menschen?

Richard Sennett analysiert in The Corrosion of Character (1998) die tiefgreifenden sozialen und psychologischen Folgen des neuen globalen Kapitalismus, dessen Leitprinzip er als „Flexibilität“ bezeichnet. In einer Wirtschaft, die durch ständige Veränderung, berufliche Mobilität und kurzfristige Projektarbeit geprägt ist, geht die Möglichkeit verloren, einen stabilen Charakter zu entwickeln.

Anhand des Fallbeispiels Rico, Sohn eines Einwanderers mit traditioneller Lebensweise, zeigt Sennett, wie sich biografische Stabilität und kumulativer Erfolg (wie sie noch Ricos Vater Enrico kannte) in eine unsichere, fragmentierte Lebensführung verwandeln. Obwohl Rico äußerlich erfolgreich ist, leidet er innerlich unter Bindungslosigkeit, der Angst vor Kontrollverlust und einem Gefühl der inneren Leere („Drift“) durch ständigen Wandel. Er muss oft umziehen, hat keine feste institutionelle Rolle und ist emotional erschöpft – insbesondere durch die „Flüchtigkeit“ sozialer Beziehungen und der wachsenden Entwurzelung seiner Familie.

Das Leitmotiv des neuen Kapitalismus – „nichts Langfristiges“ – verhindert laut Sennett die Entwicklung von Vertrauen, Loyalität und Verantwortung, da stabile Institutionen, auf denen frühere Generationen ihre Biografien aufbauten, zunehmend verschwinden. Diese Instabilität untergräbt die Fähigkeit, eine sinnvolle Lebensgeschichte zu erzählen, was wiederum die Charakterbildung schwächt. Zwar versucht Rico, mit traditionellen Werten (Familie, Gemeindeengagement) gegenzusteuern, doch dies bleibt wirkungslos, da ihm eine tragende Erzählung fehlt, die Orientierung in einer sich ständig wandelnden Welt bietet. Ohne solche Narrationen verlieren Menschen ihren inneren Halt, und das Selbst wird im neuen Kapitalismus zunehmend „überflüssig“.

  • Motto des neuen flexiblen Kapitalismus: “Nichts Langfristiges”

    • Junge Menschen müssen damit rechnen, häufig die Stelle und Wissensbasis zu wechseln. Dies zerstört:

      • Vertrauen

      • Loyalität

      • gegenseitige Verpflichtung

      • biographische Kontinuität

    • Institutionelle Stabilität (wie bei Enricos Generation) geht verloren.

  • Der Mensch braucht narrative Struktur, um sein Leben zu verstehen und zu ordnen.

  • Die moderne Arbeitswelt bietet jedoch keine Geschichten mit Anfang, Mitte, Ende, keine langfristigen Perspektiven.

  • Sennetts These: Ohne solche Erzählungen zerfällt der Charakter, und Menschen verlieren ein stabiles Selbstbild.

Ricos Reaktion

  • Reagiert mit einem Rückzug auf konservative Werte und familiäre Strenge.

  • Versuch, gegen das „Driften“ mit moralischem Rigorismus vorzugehen.

  • Doch: Auch dieser Rückzug bietet keine echte Lösung, da er keine neue Erzählung für das Leben im flexiblen Kapitalismus bereitstellt.

Zentrale Aussagen (Stichpunkte)

  • Flexible Arbeitswelt → instabile Biografien → Identitätsverlust.

  • Keine institutionelle Einbindung → Unsicherheit & Vereinzelung.

  • Mangel an Kontinuität verhindert Charakterentwicklung.

  • Die Gesellschaft benötigt Narrative – nicht nur ökonomische Funktionalität.

  • Der neue Kapitalismus ist sozial destruktiv, auch wenn er wirtschaftlich erfolgreich scheint

Wie versteht Richard Sennett Routinen im Kontext des fordistischen Kapitalismus, und was bedeutet für ihn „Flexibilität als Aufweichen von Routinen“ im neuen globalen Kapitalismus?

Richard Sennett betrachtet Routinen nicht als geistlose Wiederholung, sondern als strukturgebende, identitätsstiftende Elemente, die einem Leben Planbarkeit, Rhythmus und Sinn verleihen. Im Gegensatz dazu sieht er im modernen flexiblen Kapitalismus eine Entwicklung, die genau diese Routinen radikal aufweicht – mit negativen Folgen für den menschlichen Charakter.

Am Beispiel von Enrico, einem Arbeiter im fordistischen System der 1960er Jahre, zeigt Sennett, wie stabile Routinen innerhalb eines ausgehandelten Gleichgewichts zwischen Gewerkschaften, Kapital und Arbeit für ein geordnetes Leben sorgten. In großen Fabriken à la Ford war nicht nur die Produktion zentralisiert, sondern auch die Arbeitszeit planbar. So entstanden langfristige Erwartungen und erzählbare Lebensgeschichten, selbst wenn die Arbeit selbst als eintönig erlebt wurde.

Sennett widerspricht der Vorstellung, dass Routine geistlos sei:

„Routine ist nicht geistlos. […] Der Rhythmus der Arbeit bedeutet, dass wir lernen, zu beschleunigen und zu verzögern, zu variieren, mit Material zu spielen […] wie ein Musiker.“ (Sennett)

Routinen sind für ihn die Basis jeglicher Weiterentwicklung und ermöglichen es, auf dem Gewohnten aufzubauen. Nur auf der Grundlage von Gewohnheiten kann laut Sennett überhaupt Neues sinnvoll ausprobiert werden.

Der neue flexible Kapitalismus hingegen zerstört genau diese Grundlage:

  • Er verlangt den ständigen Bruch mit Vergangenheit,

  • fordert von Betrieben und Angestellten ständige Neuerfindung,

  • lässt keinen Rhythmus, keine Wiederholung und keine Erzählbarkeit mehr zu. Dies führt zur Erosion des Charakters – wie im Beispiel Rico, der in einem System lebt, das keine langfristige Bindung und keine Kontinuität mehr erlaubt.

Sennett spricht daher von einer „historischen Wasserscheide“:

Zwar sei es sinnvoll gewesen, die starren Strukturen des Fordismus aufzubrechen, doch der totale Verlust von Routinen und die Verabsolutierung der Flexibilität seien gefährlich – nicht nur wirtschaftlich, sondern vor allem anthropologisch und sozialpsychologisch.

Wie beschreibt Richard Sennett die Organisation der Arbeit im flexiblen Kapitalismus, insbesondere in Bezug auf die 3 Elemente auf Institutionenebene, und was meint er mit „Macht der Organisation ohne Zentralisierung“?

Richard Sennett beschreibt die Organisation der Arbeit im flexiblen Kapitalismus als scheinbar dezentralisiert, tatsächlich aber von einer verstärkten, subtileren Form der Macht und Kontrolle durchdrungen. Der Kapitalismus gibt vor, klassische Hierarchien aufzulösen, erzeugt aber noch stärkere Kontrolle und Abhängigkeiten, ohne sichtbare Zentralinstanzen.

Er identifiziert drei zentrale institutionelle Elemente, die diese neue Organisationsmacht stützen:

Diskontinuierlicher Umbau von Institutionen („Reengineering“)

  • Firmen werden permanent umstrukturiert, oft ohne Rücksicht auf Erfahrungen oder Routinen.

  • Ziele:

    • Verschlankung, Kostensenkung, Flexibilität – oft durch Entlassungen und Wegfall ganzer Arbeitsbereiche.

    • Aufgabe aller bisher routinierten Arbeitserfahrungen - “Bruch mit Vergangenheit, Routinen und Erfahrungen)

  • Paradox: Gut arbeitende Bereiche werden aufgelöst, weil sie ihre Aufgabe „zu gut“ erfüllt haben. (Verschlimmbesserung)

  • Folgen:

    • Verlust von Stabilität, Identität und beruflicher Erzählbarkeit.

    • Mittelklasse leidet unter Dequalifizierung, Kurzzeitarbeitslosigkeit und Nutzlosigkeitsgefühlen.

    • Trotz hoher Qualifikation entsteht das Gefühl, nicht mehr gebraucht zu werden.

    • Kritik: Innovationsfähigkeit leidet, weil sie auf stabiles Erfahrungswissen angewiesen wäre.

    • Organisationen verlieren Richtung und Energie, wie auch Manager selbst einräumen.

Flexible Spezialisierung der Produktion

  • Großfirmen lagern Arbeit an kleine, spezialisierte Einheiten oder Zulieferfirmen aus.

  • Jede Einheit ist direktem Marktdruck ausgesetzt und muss ständig profitabel sein.

  • Formel: „Tut, was ihr wollt, aber seid profitabel.“

  • Folge: Entstehung von Schuldgefühlen, wenn Ziele nicht erreicht werden.

  • Beschäftigte machen sich persönlich verantwortlich, was zur psychischen Selbstüberwachung führt.

  • Marktdruck ersetzt klassische Kontrolle – Selbstverantwortung wird zur Zwangslogik.

Konzentration der Macht ohne Zentralisierung

  • Macht scheint dezentral (flache Hierarchien, Teams, Selbststeuerung), ist aber informations- und systemtechnisch hochkonzentriert.

  • Elektronische Systeme erlauben der Führungsetage detaillierte Einsicht – nichts bleibt verborgen.

  • Die Netzwerke (Zulieferer, Teams, Projektgruppen) bleiben vom Großunternehmen abhängig – auch ohne direkte Kontrolle.

  • Entscheidungsmacht bleibt zentral: Die Führung entscheidet, welche Teams Aufträge erhalten.

  • Vorgegaukelte Freiheit: Formal können Einheiten „selbst entscheiden“, real stehen sie unter massivem Leistungsdruck.

  • Machtpotenzierung durch:

    • Gegeneinanderausspielen von Teams

    • Wettbewerb um knappe flexible Stellen

    • Unsichtbare, aber allgegenwärtige Überwachung

    • Ideologie von Teamwork, die Kritik an Machtverhältnissen erschwert

📌 Fazit:

Sennett zeigt, dass die moderne Arbeitsorganisation im flexiblen Kapitalismus nicht mehr zentralisiert, aber dennoch hochgradig kontrollierend ist. Die neue subtile, entgrenzte Macht erzeugt Unsicherheit, Selbstdruck und emotionale Belastungen – bei formal größerer Autonomie. Flexibilität wird zur Ideologie, unter der sich neue Formen der Abhängigkeit und psychischen Kontrolle verbergen.

Wie beschreibt Richard Sennett die Unsicherheit im flexiblen Kapitalismus und welche spezifischen Formen nimmt sie an?

Im flexiblen Kapitalismus ist Unsicherheit ein systemisches Grundprinzip. Sie entsteht durch unklare Karriereaussichten, entgrenzte Machtstrukturen und fehlende Stabilität. Besonders Heimarbeit steht symbolisch für diese Entwicklung: isoliert, überwacht, formell frei, aber real abhängig. Unsicherheit kein Nebenprodukt, sondern ein strukturelles Merkmal. Sie betrifft sowohl die Arbeitsweise als auch das Selbstbild des Individuums.

Sennett unterscheidet dabei drei spezifische Formen der Unsicherheit:

  1. Mehrdeutige Seitwärtsbewegungen (Karriere als Krebsgang):

    • Fortschritt ist nicht mehr eindeutig messbar – beruflicher Aufstieg wird zur Illusion.

    • Stellen sind gestaltlos, Erfolgskriterien unklar. Erst im Rückblick zeigt sich, ob es ein Fortschritt war.

    • Ergebnis: biografische Suchbewegung ohne klare Orientierung.

  2. Retrospektive Verluste aushalten:

    • Entscheidungen werden oft auf ungenauen Informationen getroffen.

    • Erkennt man einen Fehler, ist es meist zu spät – der Preis ist hoch, der Rückweg versperrt.

    • Folge: emotionale Belastung durch nicht rückgängig zu machende Fehlentscheidungen.

  3. Unvorhersehbare Einkommensentwicklung:

    • Auch monetär herrscht Unsicherheit: Wechsel bringen häufig Verlust statt Gewinn.

    • Statistisch verlieren 34 % beim Wechsel, nur 28 % gewinnen.

    • Berufliche Mobilität wird zum „undurchschaubaren Vorgang“ (113/114).

📌 Fazit:

Sennett zeigt: Der flexible Kapitalismus entzieht dem Individuum die Kontrolle über seine Biografie.

  • Der Mensch wird zum Suchenden ohne Richtung, zum „Drifter“, dessen Anpassungsfähigkeit ständig auf die Probe gestellt wird.

  • Unsicherheit wird dabei nicht nur ertragen, sondern aktiv produziert und genutzt, um Steuerung ohne sichtbare Macht auszuüben.

Was versteht Richard Sennett unter „Unlesbarkeit“ am Beispiel der Brotfabrik, und welche Folgen hat die neue Arbeitsordnung im flexiblen Kapitalismus?

Sennett beschreibt eine Arbeitswelt, in der Menschen ihre Tätigkeit nicht mehr verstehen (Unlesbarkeit) und ihr Berufsleben nicht als zusammenhängende Geschichte erleben (Würfelspiel).

Unlesbarkeit bezeichnet laut Sennett den Zustand, in dem Arbeitende ihre Tätigkeit und deren Sinn nicht mehr verstehen können.

  • Infolge von Automatisierung und Benutzerfreundlichkeit wird Arbeit zwar leichter zugänglich, aber vom Können und handwerklichen Wissen entkoppelt.

  • Es entsteht kein Bezug zur Aufgabe, keine Identifikation – die Menschen backen, fühlen sich aber nicht als Bäcker*innen.

  • So wird Arbeit zur oberflächlichen Tätigkeit, die keine Herausforderung und keine Bindung mehr erzeugt.

Folge: Identitätsverlust und soziale Entkopplung

  • Mit der Unlesbarkeit verschwindet auch das berufliche Selbstverständnis: Es ist unklar, was einen „guten Arbeiter“ ausmacht.

  • Die Arbeit stiftet keine Gemeinschaft mehr, weil es kaum soziale oder längerfristige Bindungen gibt.

  • Die Menschen haben Schwierigkeiten, ihre Umwelt und sich selbst zu „lesen“ – ein Verlust von Orientierung.

Begriff: Leben als Würfelspiel

  • Im flexiblen Kapitalismus wird die Erwerbsbiografie zum Abfolge zufälliger Ereignisse, ohne erkennbare Linie.

  • Menschen erleben sich als ständig neu anfangend, da jede Aufgabe und jeder Jobwechsel bei null beginnt.

  • Erfolg erscheint willkürlich – abhängig von Image, Beziehungen und Glück, nicht von Erfahrung oder Kontinuität.

🔸 Zitat: „Der nächste Wurf kann gut oder schlecht sein.“ (S. 108)

> Diese Veränderungen kennzeichnen die „Kultur des neuen Kapitalismus“: → Kurzfristigkeit, Anpassungsdruck, Selbstvermarktung, Entwertung von Erfahrung.

  • Statt langfristiger Entwicklung oder Anerkennung durch Leistung zählt das, wer sich gut „verkaufen“ kann.

  • Der Mensch wird zum „umgetopften“ Subjekt, das sich fortwährend neu erfinden muss – ohne festen Boden.

Ursachen laut Sennett:

Sennett nennt drei zentrale strukturelle Veränderungen als Ursachen für diese Entwicklungen:

  1. Flexible Berufe → Feste berufliche Identitäten lösen sich auf; Menschen wechseln ständig Aufgaben und Rollen.

  2. Diskontinuität in Netzwerken → Zusammenarbeit geschieht in temporären, instabilen Netzwerken, nicht in stabilen Teams oder Organisationen.

  3. Lockerung von Hierarchien → Weniger klare Strukturen; Menschen müssen ständig selbst Entscheidungen treffen und Risiken eingehen.

Diese Struktur führt dazu, dass Risiko zum Dauerzustand wird und Sicherheit in der Arbeit schwindet.

Was meint Sennett mit dem „Wechseln als Imperativ“ in der Kultur des flexiblen Kapitalismus? Welche Ursachen und Folgen beschreibt er?

Im flexiblen Kapitalismus ist der Wechsel selbst zur Norm geworden – unabhängig von rationalen Erfolgsaussichten.

Dieser „Wechselimperativ“ erzeugt Unsicherheit, Fehleinschätzungen und moralischen Druck, insbesondere auf die Mittelschicht.

Frühere Werte wie Stetigkeit, Selbstdisziplin und langfristige Ziele verlieren an Bedeutung – ein struktureller und moralischer Wandel, den Sennett kritisch analysiert.

In der heutigen Arbeitswelt gilt Nicht-Wechseln bereits als Scheitern.

  • Sennett spricht von einer „modernen Kultur des Risikos“, in der es nicht entscheidend ist, was man sucht, sondern dass man überhaupt wechselt.

  • Der Akt des Aufbruchs wird wichtiger als das Ziel: Wer bleibt, ist „draußen“ (S. 115).

Ursachen des Wechseldrucks

  • Der Imperativ zum Wechseln entstand laut Sennett durch eine massive Umstrukturierung von Institutionen.

  • Selbst stabile Strukturen wie Immobilien oder ehemals feste Arbeitsverhältnisse /IBM) sind „in Fluss geraten“ – nichts scheint mehr dauerhaft.

  • Der Zwang zur Bewegung wird zum kulturellen Gebot, unabhängig von rationaler Planung oder klaren Erfolgsaussichten.

Folgen für soziale Orientierung

  • Menschen Steigen nicht mehr linear auf, sondern bewegen sich seitwärts wie ein Krebs und Weil sich Menschen seitwärts bewegen, werden frühere Orientierungssysteme – wie Klassenunterschiede, Einkommen, Bildungsstand – unlesbar.

  • Soziale Ungleichheiten bestehen zwar fort, doch durch ständige Bewegung erscheinen sie nicht mehr greifbar oder stabil zuordenbar.

🔸 Zitat: „Man sucht nur nach dem strukturellen Loch […] in der Hoffnung, durch den Wechsel werde sich etwas bieten.“ (S. 116)

  • Die Mittelschicht ist laut Sennett gleichzeitig Gewinnerin und Opfer des flexiblen Kapitalismus: → Höherer Bildungsdruck, aber auch größere Absturzgefahr.

  • Betriebsverschlankungen treffen sie heute genauso hart wie früher die Arbeiterklasse.

  • Wer flexibel und mobil bleibt, fühlt sich dennoch oft als Familienvater/-mutter als gescheitert – ein innerer moralischer Konflikt.

Folge:

  • Die alte Normalkarriere (mit Stabilität, Zielgerichtetheit, Lebensplanung) wird retrospektiv moralisch aufgewertet.

  • Früher konnte man sich über langfristige Ziele, steigenden Lohn und Selbstdisziplin definieren.

  • Diese Form der „Arbeit am Charakter“ ist im flexiblen Kapitalismus kaum noch möglich.

🔸 Zitat: „Der Mensch, der eine Karriere verfolgt, definiert für sich langfristige Ziele, Verhaltensmaßregeln […].“ (S. 163)

🔸 Zitat: „Die Kurzfristigkeit und die Flexibilität des neuen Kapitalismus […] schließen ein Arbeitsleben im Sinne einer Karriere aus.“ (S. 165)

Wie wird bei Sennett das Scheitern im flexiblen Kapitalismus letztendlich verarbeitet und ggf überwunden – und welche soziale Qualität gewinnt das Erzählen?

Sennett schildert am Beispiel entlassener IBM-Programmierer, wie biografische Brüche im flexiblen Kapitalismus nicht nur als beruflicher, sondern auch als persönlicher Absturz empfunden werden. Zunächst deuten Betroffene ihre Entlassung als Verrat durch Vorgesetzte oder als Folge äußerer, globaler Kräfte. Doch schließlich beginnt eine entscheidende Wende:

Sie sprechen offen über ihr Scheitern, ihre früheren Ideale und ihr Handeln – und geben dem Bruch Sinn im Rahmen ihres eigenen Charakters.

🔹 Das Erzählen als ethischer Akt:

Diese dritte Deutungsphase ist laut Sennett entscheidend. Die Männer bringen das Tabu des Scheiterns zur Sprache, übernehmen Verantwortung für ihr Handeln – ohne sich selbst die alleinige Schuld zu geben – und verarbeiten die Krise gemeinsam. Die narrative Rückschau wird dabei zur Form der Selbstheilung: Nicht der Erfolg, sondern die realistische Auseinandersetzung mit Möglichkeiten, Bedingungen und Grenzen steht im Zentrum.

🔹 Gemeinschaft durch geteilte Verletzlichkeit:

In dieser kollektiven Reflexion entsteht eine neue Art von Gemeinschaft. Sie basiert nicht auf abstrakten Werten, sondern auf geteiltem Eingeständnis von Verletzlichkeit und Konflikt. Diese Gemeinschaft unterscheidet sich deutlich von kommunitaristischen Modellen, die nur oberflächliche Wertegemeinschaften schaffen – hier entsteht ein echtes „Wir“ durch ernsthafte Auseinandersetzung.

🔹 Kritik am flexiblen Kapitalismus:

Sennett stellt der vereinzelnden Wirkung flexibler Arbeitsstrukturen das Potenzial lokaler Bindung und Erzählgemeinschaften entgegen. Firmen handeln strategisch mit langfristigem Gedächtnis, während Individuen permanent neu anfangen sollen – was Entfremdung und biografische „Drift“ zur Folge hat.

Doch: Orte, Gemeinden, das Erzählen – sie werden zur Gegenmacht.

🔹 Soziologisch-politische Konsequenz:

Der flexible Kapitalismus macht individuelle Verantwortung zur Norm, entzieht aber zugleich die institutionellen Sicherheiten, die Verantwortung überhaupt tragfähig machen könnten. So entsteht eine „Dialektik des Versagens inmitten von Wachstum“ – persönlicher Einsatz ohne kollektiven Rückhalt endet nicht in Stolz, sondern in Selbstzweifeln.

Wie entwickelt Michel Foucault seinen Begriff von Macht und welche theoretischen, politischen und methodologischen Verschiebungen kennzeichnen seine Arbeit von der „Archäologie des Wissens“ bis zur „Genealogie der Macht“?

Die Machtfrage steht nicht nur im Zentrum von Foucaults theoretischem Interesse, sondern prägt auch seine politische Praxis. In den 1970er- und 1980er-Jahren wird Foucault – neben Sartre – zum bekanntesten Intellektuellen Frankreichs und engagiert sich in zahlreichen politischen Gruppen und sozialen Bewegungen: Er unterstützt sowjetische Dissidenten, die polnische Gewerkschaft Solidarność, beteiligt sich an antirassistischen Initiativen, kämpft für das Recht auf Asyl und die sexuelle Selbstbestimmung von Schwulen und Lesben. Der Reiz seiner Arbeit liegt in der spezifischen Verbindung historisch informierter Machtanalytik mit kritischer Gegenwartsdiagnostik – einem Projekt, das Foucault als „Geschichte der Gegenwart“ (Foucault 1976: 43) beschreibt.

In den 1960er Jahren konzentriert sich Foucault zunächst auf diskursive Formationen, epistemische Ordnungen und Aussagesysteme, die er im Rahmen der „Archäologie des Wissens“ (Foucault 1981) untersucht. In Wahnsinn und Gesellschaft verfolgt er die Geschichte des Wahnsinns als „Archäologie des Schweigens“ (Foucault 1977b: 8) und entwickelt die These, dass das moderne Subjekt nur durch die konsequente Ausgrenzung der Unvernunft möglich wurde. Er geht von einer ursprünglichen Erfahrung des Wahnsinns aus, die unter der „Mechanik der Macht“ und der Psychiatrie unterdrückt und zum Schweigen gebracht wurde (Foucault 2003: 197 f.).

Nach 1968 vollzieht sich eine Akzentverschiebung: Zur „Archäologie“ tritt die „Genealogie“ – eine Methode, die sich an Nietzsches Genealogiebegriff orientiert und stärker mit der Vorstellung von Macht als produktivem Netzwerk statt bloßer Repression arbeitet. Zentrale Bedeutung hat hier Foucaults Engagement in der Gruppe G.I.P. (Groupe d’information sur les prisons), die Häftlingen ermöglichen sollte, für sich selbst zu sprechen und ihre Situation öffentlich zu machen. Ziel war es, Machtverhältnisse in ihrer „Nacktheit“ (Foucault 2002: 386) sichtbar zu machen. Dabei entdeckt Foucault, dass Gefangene nicht nur ihrer Freiheit beraubt werden, sondern in ein System von Zwängen eingebunden sind, das nicht Teil des rechtlichen Apparats ist.

Diese Erkenntnisse fließen in Überwachen und Strafen (1976) ein: Das Ziel des Gefängnisses ist nicht primär die Freiheitsberaubung, sondern die Produktion disziplinierter und gehorsamer Individuen. Das zentrale Symbol ist das Panoptikum, ein von Jeremy Bentham 1787 entworfenes Gefängnismodell, das durch ständige Sichtbarkeit der Gefangenen bei gleichzeitiger Unsichtbarkeit der Wächter eine Automatisierung der Macht bewirkt. Dieses Prinzip lässt sich auf Krankenhäuser, Schulen, Fabriken usw. übertragen. Die Kontrolle erfolgt zunehmend durch Selbstüberwachung – ein zentrales Element der Disziplinarmacht.

In Der Wille zum Wissen (1977a) wendet sich Foucault gegen die sogenannte Repressionshypothese, nach der die moderne Sexualität vor allem durch Verbote, Tabuisierungen und Ausschlüsse bestimmt sei. Stattdessen konstatiert er eine zunehmende gesellschaftliche Bedeutung der Sexualität, die in neue Machtkonstellationen eingebettet wird: Sexualität werde nicht mehr nur verurteilt oder toleriert, sondern verwaltet, reguliert und in Nützlichkeitssysteme eingefügt (ebd.: 36). Die Macht nutzt Sexualität produktiv – als Steuerungsinstrument.

Diese Analysen münden in eine grundsätzliche Kritik der juridisch-diskursiven Machtkonzeption des westlichen Denkens, die Macht als Gesetz, Verbot, Zwang und Zensur versteht. Foucault kritisiert drei zentrale Postulate:

  1. Postulat des Besitzes: Macht wird als etwas Besitzbares begriffen – als Gut oder Substanz, die von bestimmten Gruppen besessen oder getauscht wird.

  2. Postulat der Lokalisation: Macht ist zentralisiert, verläuft von oben nach unten und konzentriert sich auf politische Macht im Staatsapparat.

  3. Postulat der Unterordnung: Macht ist instrumentell und dient der Aufrechterhaltung sozialer Verhältnisse wie etwa der ökonomischen Produktionsweise oder patriarchaler Herrschaft.

Demgegenüber schlägt Foucault ein „strategisches Modell“ vor (1977a: 124), das die „allgemeine Richtung der Analyse umkehren“ will (2003: 235). Macht sei kein Besitz, sondern eine Beziehungsform; sie sei nicht zentralisiert und nicht bloß repressiv, sondern vor allem produktiv: Sie produziere Wirklichkeit, Objektbereiche, Wahrheiten und Subjekte (Foucault 1976: 250). Die Disziplin sei nicht bloß Zwang, sondern bringe bestimmte Körper, Fähigkeiten und sogar Wissensformen („Disziplinen“) hervor, mit denen Subjekte vermessbar und bewertbar werden.

Kritik:

Foucaults Gegenmodell bleibt jedoch in Teilen problematisch. Seine Genealogie ist stark auf Konflikt und Konfrontation ausgerichtet (Politik als „Fortsetzung des Krieges“), ohne ausreichend zu klären, wie sich Macht stabilisiert – etwa durch Akzeptanz oder Konsens. Außerdem bleibt seine Analyse stark auf lokale Disziplinierungsprozesse (Gefängnis, Schule) fokussiert und vernachlässigt die Rolle des Staates und die Komplexität der Subjektivierung. Das Subjekt erscheint primär als Effekt der Disziplinarmacht, ohne dass seine aktive Mitwirkung oder Widerständigkeit theoretisch angemessen erfasst wird (vgl. Lemke 1997: 110–125).

Wenn du möchtest, kann ich aus dieser Zusammenfassung auch mehrere Karteikarten machen – z. B. zur Repressionshypothese, zur Disziplinarmacht, zur Kritik am juridischen Machtmodell usw.

Was versteht Michel Foucault unter dem Begriff der Gouvernementalität und wie entwickelt er damit seine Machtanalyse weiter?

In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre nimmt Michel Foucault eine entscheidende Weiterentwicklung seiner Machtanalyse vor, indem er sich vom rein juridischen oder repressiven Machtverständnis abwendet und den Begriff der Regierung ins Zentrum seiner Forschung stellt. Der Begriff wird für ihn zum „Leitfaden“ seiner Arbeit und dient dazu, sowohl die Rolle des Staates als auch die Prozesse der Subjektivierung angemessener zu analysieren. Um diese neue Perspektive sprachlich zu markieren, prägt Foucault den Begriff der Gouvernementalität, abgeleitet vom französischen gouvernemental („die Regierung betreffend“).

Er stellt diesen neuen Ansatz erstmals in seinen Vorlesungen 1978/79 am Collège de France vor. Dort geht es ihm nicht primär um die politische Geschichte von Staatsformen, sondern um die Verbindung zwischen staatlichen Institutionen und historischen Formen der Selbst- und Fremdführung von Subjekten. In Analogie zu Norbert Elias’ Konzept der Zivilisation untersucht Foucault die Verflechtung von Staatsbildung und Subjektivierung, allerdings nicht als einheitlichen Entwicklungsprozess, sondern als eine Geschichte heterogener und diskontinuierlicher Regierungskünste.

Dabei verwendet Foucault „Regierung“ in einem sehr weiten Sinne, der nicht nur politische Steuerung meint, sondern auch die Führung des Selbst, der Familie, der Kinder, der Seele oder eines Unternehmens. Diese „Gesamtproblematik des Regierens“ umfasst also sowohl politische als auch individuelle Führungstechniken.

Foucault entwickelt die historische These, dass der moderne Staat aus der Verbindung zweier Machtformen hervorgeht: der politischen Macht (abgeleitet von der antiken Polis) und der pastoralen Macht (aus der christlichen Seelenführung). Letztere ist gekennzeichnet durch ein enges, individuelles Verhältnis zwischen Führer und Geführten – wie zwischen Hirte und Herde – und zielt auf die Regierung der Seelen. Sie entwickelt Praktiken wie das Geständnis (Beichte), die die innere Wahrheit des Individuums erfassbar machen sollen.

Im 16. und 17. Jahrhundert werden diese pastoralen Techniken säkularisiert und auf die gesamte Bevölkerung übertragen – ein Prozess, der zur Entstehung des modernen Staates beiträgt. Dieser zeichnet sich durch eine gleichzeitige Totalisierung (Überblick und Ordnung der Bevölkerung) und Individualisierung (Anleitung einzelner) aus. Der Staat wird so zur „Matrix der Individualisierung“ und übernimmt Funktionen einer säkularisierten Pastoralmacht, indem er über Disziplinierung, Normierung und Normalisierung wirkt – zum Beispiel durch die Humanwissenschaften.

Foucaults Genealogie des Staates ist daher auch immer eine Genealogie des Subjekts. Regierung ist bei ihm nicht nur Fremdbestimmung, sondern auch eine Praxis, in der sich Fremdführung und Selbstführung überlagern. Regierung umfasst für ihn die Schnittstellen, an denen Herrschaftstechniken (Macht über andere) mit Selbsttechniken (Macht über sich selbst) zusammenwirken. Dieses „bewegliche Gleichgewicht“ zwischen Zwang und Selbstformung – so Foucault – ist der zentrale Punkt von Gouvernementalität.

Was meint Foucault mit „Regierung als Führung“ und warum ist dieser Begriff zentral für seine spätere Machtanalyse?

Foucault entwickelt in seiner späteren Arbeit eine neue Perspektive auf Macht, die über seine frühere Analyse (z. B. in Überwachen und Strafen) hinausgeht. Der Begriff „Regierung“ wird dabei zum zentralen Konzept, weil er eine präzisere Analyse der Machtverhältnisse ermöglicht, ohne sich auf juristische (Recht/Verbote) oder kriegerische (Konflikt/Gewalt) Modelle zu stützen.

Foucault stellt fest: Macht ist nicht einfach nur Gewalt oder Konsens. Vielmehr besteht Macht in der Führung von Führungen – also darin, wie Menschen in ihrem Handeln beeinflusst werden. Dies meint er mit dem Begriff „conduite“ (Führung): Einerseits bedeutet das, andere zu lenken (auch mit Zwang), andererseits sich selbst zu führen – also Verhalten zu gestalten. Macht ist demnach „auf Handeln gerichtetes Handeln“, das heißt, sie zielt auf das Mögliche ab, auf das, was Menschen tun könnten.

Machtverhältnisse sind also ein Ensemble von Handlungen, die Einfluss auf die Handlungsmöglichkeiten anderer nehmen:

– Sie bieten Anreize oder erschweren etwas,

– sie verführen oder erschrecken,

– sie erweitern oder beschränken Handlungsspielräume,

– im Extremfall erzwingen oder verhindern sie etwas.

Aber immer richten sie sich an handelnde Subjekte, also Menschen, die auch anders handeln könnten.

Im Rahmen seiner Analytik der Gouvernementalität spricht Foucault nun konkreter von „Technologien“ oder „Rationalitäten“ des Regierens. Wichtig sind dabei zwei Dinge:

  1. Regierung meint nur solche Machtverhältnisse, die rational geplant sind, auf Wissen und Strategien beruhen und auf Verhaltenssteuerung abzielen.

  2. Der Fokus liegt nicht auf direktem Zwang, sondern auf einer indirekten Lenkung: Regiert wird nicht das Verhalten selbst, sondern die Bedingungen, unter denen Menschen ihr Verhalten selbst regulieren. Regierung bedeutet also, die Art zu beeinflussen, wie sich Menschen selbst führen – eine doppelte Führung: Selbstführung in der Führung durch andere.

Wie differenziert Foucault Machtbeziehungen, Herrschaftszustände und Regierungstechnologien, und welche theoretischen Fortschritte bringt diese Differenzierung im Vergleich zu früheren Konzepten – insbesondere im Vergleich zur Herrschaftssoziologie Max Webers? Welche Rolle spielt dabei der Begriff der Rationalität in Foucaults Machtanalytik?

Foucault unterscheidet drei Dimensionen der Macht:

  1. Machtbeziehungen (strategische Spiele zwischen Freiheiten): Diese sind allgegenwärtig und kennzeichnen jede soziale Beziehung. Macht bedeutet hier die Möglichkeit, auf das Handeln anderer einzuwirken – ohne zwangsläufig zu dominieren. Es handelt sich um veränderbare, umkehrbare Beziehungen, in denen Freiheitsspielräume bestehen bleiben. Sie bilden die Bedingung der Möglichkeit von Gesellschaft.

  2. Herrschaftszustände: Hier sind Machtbeziehungen blockiert, dauerhaft asymmetrisch und institutionalisiert (z. B. durch ökonomische, politische oder militärische Mittel). Die Freiheitsspielräume sind stark eingeschränkt. Herrschaftszustände sind eine spezifische, verfestigte Form von Machtverhältnissen, in denen alternative Handlungen kaum noch möglich erscheinen.

  3. Regierungstechnologien: Diese bilden das Bindeglied zwischen strategischen Machtbeziehungen und Herrschaftszuständen. Es handelt sich um systematisierte, reflektierte Formen der Machtausübung, die Macht stabilisieren, ohne direkt Herrschaft im engeren Sinne zu sein. Durch sie werden Herrschaftszustände oft überhaupt erst erzeugt und aufrechterhalten.

Foucaults spätere Unterscheidung dieser Dimensionen stellt eine bedeutende theoretische Präzisierung gegenüber seinen früheren Arbeiten dar, in denen „Macht“ und „Herrschaft“ oft synonym oder unklar verwendet wurden – was zu Missverständnissen führte (etwa dem Eindruck, Herrschaft sei unausweichlich und Widerstand unmöglich).

Vergleich mit Max Weber:

Auch Weber unterscheidet zwischen Macht (soziologisch amorph: Chance, den eigenen Willen durchzusetzen) und Herrschaft (Macht in institutionalisierter Form, die auf Gehorsam und Legitimitätsglauben beruht). Im Gegensatz dazu entkoppelt Foucault seine Machtanalytik von Konsens, Legitimität oder Willen. Für ihn sind Zustimmung und Anerkennung nicht vorauszusetzen, sondern selbst erklärungsbedürftig: Welche Rationalitäten und Techniken führen zur Akzeptanz von Machtverhältnissen?

Rolle der Rationalität:

Foucault fasst Rationalität nicht normativ, sondern relational und instrumentell auf. Sie bezieht sich auf Praktiken und deren Effekte – etwa in der Strafpraxis (z. B. öffentl. Hinrichtung vs. Gefängnis). Es geht nicht darum, Praktiken an einem Maßstab „vernünftiger“ Rationalität zu messen, sondern darum, welche Rationalität ihnen jeweils zugrunde liegt und wie diese Rationalität in Praktiken wirksam wird. Diese Perspektive erlaubt es, Machtanalysen historisch und konkret durchzuführen – z. B. anhand von Sexualität, Wahnsinn oder Strafen.

Welche normative Klärung bringt Foucaults späte Differenzierung von Machtbeziehungen, Regierungstechnologien und Herrschaft im Hinblick auf Kritik und Widerstand? Wie antwortet er auf Einwände von Habermas und Honneth, und wie verbindet Foucault in seinen späten Arbeiten Politik, Ethik, Subjektivierung und Gegenwartsdiagnostik zu einer kritischen Machtanalyse?

Kritiker wie Jürgen Habermas warfen Foucault vor, seine Genealogie der Macht beantworte nicht, warum man gegen eine allgegenwärtige, im gesellschaftlichen „Blutkreislauf“ zirkulierende Macht überhaupt Widerstand leisten solle. Axel Honneth kritisierte den weiten Machtbegriff als entleerend, da er Subjekte lediglich als formbare Wesen ohne Gestalt darstelle.

Foucault antwortet darauf mit der Betonung zweier zentraler Elemente von Machtverhältnissen:

  1. Macht setzt die Freiheit des anderen voraus – sie kann nur über freie Subjekte ausgeübt werden, insofern diese „frei“ sind.

  2. Macht schafft Möglichkeitsfelder – sie verändert die Bedingungen, unter denen andere handeln können. Sie ist nicht nur repressiv, sondern auch produktiv.

Macht bedeutet also nicht primär Zwang oder Einschränkung, sondern Veränderung von Handlungsmöglichkeiten. Deshalb kann man von Macht sprechen, auch wenn neue Optionen eröffnet statt unterdrückt werden. Sie ist nicht per se negativ, sondern „gefährlich“, da sie jederzeit in fixierte, asymmetrische Herrschaftszustände kippen kann. Genau darin liegt der kritische Gehalt: Die Analyse der Regierungstechnologien erlaubt zu untersuchen, wie offen oder geschlossen die Handlungsspielräume in einer Gesellschaft sind.

Kritik richtet sich demnach nicht gegen Macht an sich, sondern gegen deren Verhärtung zu Herrschaft – etwa durch ideologische Manipulation, ökonomische Ausbeutung oder moralischen Zwang. Die Aufgabe besteht darin, die Bedingungen zu analysieren, unter denen Praktiken der Freiheit möglich sind – also solche, die Spielräume erhalten oder erweitern, anstatt sie zu erstarren.

Foucaults spätere Arbeiten verknüpfen diese politische Fragestellung mit ethischen Perspektiven. In seinen letzten Lebensjahren untersucht er antike und frühchristliche Subjektivierungsformen – etwa in Der Gebrauch der Lüste und Die Sorge um sich. Dabei geht es nicht um einen Abschied von der Machtanalyse, sondern um deren Erweiterung: Foucault zeigt, dass politische Führung, Ethik und Selbstverhältnisse miteinander verwoben sind.

Er schlägt vor, Gouvernementalität als ein Netzwerk zu begreifen, in dem sich Machtverhältnisse, Regierung anderer und Selbstregierung verschränken. Im Unterschied zur klassischen politischen Theorie, die vom Rechtssubjekt ausgeht, betont Foucault eine Ethik, die in der Beziehung des Subjekts zu sich selbst gründet. Politische Macht, Regierung und Ethik bilden eine Kette, die gemeinsam analysiert werden muss.

Diese Wendung zur Ethik ist keine rein theoretische Verschiebung, sondern historisch motiviert: Foucault diagnostiziert seit den 1960er Jahren eine Krise westlicher Subjektivität. Neue Kämpfe richten sich nicht nur gegen Ausbeutung oder Unterdrückung, sondern gegen Formen von Subjektivierung – also gegen Techniken, die Menschen auf Identitäten festlegen, sie normieren und mit einer „Wahrheit über sich selbst“ versehen.

Er fragt: Wie führen Menschen ihr Leben in Übereinstimmung mit Normen – und was tun sie, um ein “richtiges” oder “gutes” Selbst zu werden?

Solche Kämpfe finden sich in feministischen Bewegungen, Gesundheitsdiskursen, psychiatriekritischen Initiativen oder in den Rechten sexueller Minderheiten. Sie wehren sich gegen eine subtile Regierungsform, die nicht direkt unterwirft, sondern über Wahrheiten, Normen und Selbstverhältnisse führt – gerade weil ihre Willkür unsichtbar bleibt. Sie wehren sich gegen eine subtile Regierungsform - Gouvernementalität, also einer Form der Macht, die nicht direkt durch Gesetze oder Gewalt wirkt, sondern durch Normen, Wahrheiten, Selbstführung. Diese Regierungsform wirkt subtil, weil sie nicht wie eine Diktatur funktioniert, sondern so, dass Menschen sich selbst freiwillig anpassen – indem sie glauben, das Richtige zu tun, z. B.:

  • gesund essen,

  • vernünftig denken,

  • sich „richtig“ sexuell verhalten,

  • eine angemessene Geschlechtsrolle einnehmen.

➡️ Die Macht wirkt also nicht, indem sie verbietet, sondern indem sie formt – und das macht sie besonders gefährlich, weil man sie nicht sofort erkennt.

Foucault sieht sich in diesem Zusammenhang nicht als Theoretiker, sondern als „Experimentator“: Er schreibt, um sich selbst zu verändern, um Denkgewohnheiten zu unterbrechen. Seine theoretischen Ortswechsel (von Wahnsinn über Disziplin zu Sexualität und Ethik) sind kein Bruch, sondern Ausdruck eines beweglichen Denkens im historischen Feld, das stets Freiheitsräume und Bruchlinien sichtbar machen will.

Ziel der Diagnose ist es, zu zeigen, wie das, was ist, auch anders sein könnte. So eröffnet sich ein konkreter Raum der Freiheit – als Möglichkeit zur Umgestaltung. Die heutigen Machtkämpfe drehen sich um die Frage: Wer darf sagen, wer ich bin?

Wer bestimmt die Wahrheit über mich – und welche Formen von Leben sind überhaupt möglich?

Deshalb braucht es eine neue Kritik der Subjektivierung: Nicht nur gegen Zwang und Repression, sondern gegen jene subtilen Führungen, die uns sagen, wie wir sein sollen.

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Cathérine C.

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