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Nietzsche: Zur Genealogie der Moral

AG
by Adele G.

Vorrede

📚 Nietzsche über den Wert der Moral (aus Zur Genealogie der Moral, Vorrede §5-6)

🧭 Zentrales Anliegen

Nietzsche interessiert sich nicht primär für den Ursprung der Moral, sondern für ihren Wert.

Frage: Was ist der Wert der Moral, besonders der mitleidsethischen Werte?

🧠 Auseinandersetzung mit Schopenhauer

  • Nietzsche kritisiert Schopenhauers Verherrlichung des Mitleids, der Selbstverleugnung und Selbstaufopferung.

  • Schopenhauer sah darin "Werte an sich", aufgrund derer er das Leben verneinte.

⚠️ Nietzsches Kritik

  • In Nietzsche wächst ein grundsätzlicher Argwohn gegen diese sogenannten „unegoistischen“ Instinkte.

  • Er sieht in ihnen:

    • eine Gefahr für die Menschheit

    • eine Verführung ins Nichts (Nihilismus)

    • ein Symptom von Rückzug, Lebensverneinung, Schwäche

🩻 Die Mitleidsmoral erscheint Nietzsche als Zeichen einer kulturellen Krankheit im Europa seiner Zeit.

📉 Historische Perspektive

  • Früher waren viele Philosophen gegen das Mitleid:

    • Platon, Spinoza, La Rochefoucauld, Kant

👉 Sie sahen im Mitleid eher Schwäche als Tugend.

💥 Moderne Fehlentwicklung

  • Die moderne Überbewertung des Mitleids hält Nietzsche für eine neue, bedenkliche Entwicklung.

  • Er sieht sie als Zeichen einer „Gefühlsverweichlichung“.

🔍 Forderung: Kritik der Moral

  • Nietzsche fordert eine radikale Neubewertung moralischer Werte:

    • Man soll nicht mehr voraussetzen, dass Moral „gut“ ist.

    • Es braucht eine Genealogie der Moral:

      • Wie sind moralische Werte entstanden?

      • Welche Bedingungen haben sie geformt?

🧪 Moral kann sein:

  • Symptom, Maske, Tarnung, Krankheit, Heilmittel, Stimulans, Hemmung, Gift

Provokante Gegenfrage

Was, wenn „das Gute“ in Wahrheit Rückschritt, Gefahr oder Narkose ist?

  • Möglicherweise lebt die Gegenwart durch Moral auf Kosten der Zukunft – weniger gefährlich, aber auch kleiner, ärmer, schwächer.

  • Die Moral selbst könnte die größte Gefahr für das Menschentum sein.

🧾 Merksatz

Nietzsche stellt den Wert der Moral selbst infrage – insbesondere der Mitleidsmoral – und fordert eine kritische Untersuchung ihrer Entstehung, Wirkung und versteckten Funktionen, da sie womöglich den Menschen schwächt statt stärkt.

Nietzsche zu Gedächtnis, Vergesslichkeit, Verantwortlichkeit und Schuld

📚 Nietzsche über Versprechen, Gedächtnis und Vergesslichkeit

(Zur Genealogie der Moral, Zweite Abhandlung, §1)

Zentrale Frage

Wie konnte ein Wesen wie der Mensch entstehen, das versprechen kann?

Diese Fähigkeit ist für Nietzsche paradox und stellt ein zentrales Problem der Menschwerdung dar.

🧠 1. Die Rolle der Vergesslichkeit

Vergesslichkeit ist positiv, nicht Schwäche!

  • Keine bloße Schwäche oder Passivität (vis inertiae), sondern ein aktives Hemmungsvermögen.

  • Vergleichbar mit der Verdauung: Was integriert wurde, tritt nicht ins Bewusstsein, bleibt im „Hintergrundbetrieb“.

🧰 Funktion von Vergesslichkeit:

  • Schließt die „Türen des Bewusstseins“, um:

    • Ordnung und Ruhe zu bewahren

    • die höheren geistigen Funktionen zu ermöglichen: Regieren, Planen, Vorausdenken

  • Vergleich: Türhüterin oder Hausordnung der Seele

Voraussetzung für Glück, Hoffnung, Stolz, Heiterkeit, Gegenwart!

⚠️ Folge bei gestörter Vergesslichkeit:

  • Mensch wird wie ein Dyspeptiker (Magenkranker):

    Er wird mit Nichts fertig.

🧠 2. Das Gegenprinzip: Gedächtnis als Kulturleistung

Der Mensch hat sich ein „Gedächtnis“ angezüchtet

  • Ziel: Die aktive Aufhebung der Vergesslichkeit für bestimmte Zwecke (z. B. beim Versprechen).

📌 Gedächtnis des Willens:

  • Nicht einfach ein Nachwirken eines Eindrucks

  • Sondern ein aktives Nicht-Vergessen-Wollen

    • Das Festhalten des einmal Gewollten

    • Fähigkeit, über lange Zeit hinweg einen Willensakt „intakt“ zu halten

➡️ Der Mensch kann zwischen dem ursprünglichen „Ich will“ und der tatsächlichen Handlung eine Welt von Umständen einschieben — und trotzdem festhalten am Versprechen.

⚙️ 3. Voraussetzungen dieser Fähigkeit:

Der Mensch musste:

  • das Zufällige vom Notwendigen unterscheiden lernen

  • kausal denken und Zusammenhänge begreifen

  • das Zukünftige antizipieren wie Gegenwärtiges

  • zwischen Zweck und Mittel unterscheiden

  • rechnen, berechnen, verlässlich planen

➡️ Ergebnis: Der Mensch wurde sich selbst berechenbar, regelmäßig, verantwortlich – fähig, sich selbst gegenüber die Zukunft zu garantieren.

🧾 Merksatz

Nietzsche sieht die Fähigkeit zu versprechen als Ergebnis eines langen kulturellen Prozesses, bei dem der Mensch lernen musste, Vergesslichkeit zu regulieren, ein Gedächtnis des Willens zu entwickeln und sich selbst verantwortlich und berechenbar zu machen. Das Gedächtnis ist keine bloße Erinnerung, sondern eine aktive Fähigkeit zur Selbstbindung über die Zeit.


📚 Nietzsche über die Herkunft der Verantwortlichkeit

(Zur Genealogie der Moral, Zweite Abhandlung, §2)

Zentrale Frage

Wie ist die Fähigkeit zur Verantwortlichkeit entstanden?

🧱 1. Voraussetzung: Der berechenbare Mensch

➤ Versprechen können setzt Verlässlichkeit voraus:

  • Der Mensch musste erst zu einem regelmäßigen, gleichförmigen, vorhersehbaren Wesen gemacht werden.

  • Ziel: Berechenbarkeit

🔩 Mittel dazu: „Sittlichkeit der Sitte“

  • So nennt Nietzsche die moralische Zuchtarbeit an der Menschheit in der vorhistorischen Zeit:

    • Zwang

    • soziale Kontrolle

    • starre Regeln, Rituale, Gewohnheiten

⚠️ Auch wenn mit Härte, Dummheit und Zwang verbunden, hatte sie ein Ziel: ➡️ Den Menschen formbar und berechenbar zu machen.

🌳 2. Ergebnis des langen Prozesses: Das souveräne Individuum

🍎 Reife Frucht der Sittlichkeit der Sitte

  • Nicht die Sitte selbst, sondern das, was durch sie ermöglicht wird: ➤ Das autonome, übersittliche, souveräne Individuum

🧍‍♂️ Eigenschaften dieses Menschen:

  • nur sich selbst gleich

  • losgelöst von der Sittlichkeit

  • besitzt eigenständigen, langen Willen

  • kann versprechen – und das zuverlässig

💪 Sein Bewusstsein:

  • Stolz auf die Fähigkeit zur Selbstverantwortung

  • Spürt ein tiefes Freiheits- und Machtgefühl

  • Erkennt seine Überlegenheit gegenüber allen, die:

    • nicht versprechen können

    • unverlässlich oder schwach sind

👑 3. Der freie Mensch und seine Bewertung der Anderen

➤ Maßstab seines Werteurteils:

Der eigene Maßstab wird zum Maßstab der Welt.

  • Ehrt:

    • Starke

    • Zuverlässige

    • Andere, die versprechen dürfen

  • Verachtet:

    • Leichtfertige, die schnell versprechen

    • Die, deren Wort nichts zählt

    • Die, die lügen, sobald sie reden

🏛️ Sein Wort ist selten, wertvoll – er vertraut nur gezielt, fast geizig. Sein Wort ist ein Versprechen mit Gewicht.

🧠 4. Das Gewissen als Instinkt

➤ Das Bewusstsein der Verantwortlichkeit wird:

  • zur zweiten Natur

  • zum tief eingeprägten dominanten Instinkt

👉 Und wie nennt der souveräne Mensch diesen Instinkt?

Er nennt ihn: **sein Gewissen.

🧾 Merksatz

Nietzsche beschreibt die Verantwortlichkeit als Ergebnis eines langen historischen Prozesses, der durch Zwang und soziale Normierung einen berechenbaren Menschen schuf. Dessen Krönung ist das autonome Individuum, das mit Stolz und Selbstbewusstsein verantwortlich handeln, versprechen und bewerten kann – und dieses Freiheitsbewusstsein wird schließlich zum Gewissen.


📚 Nietzsche über die Geschichte des Gewissens und der Gewalt des Gedächtnisses

(Zur Genealogie der Moral, Zweite Abhandlung, §3)

Zentrale Fragen

  • Wie ist das Gewissen entstanden?

  • Wie hat der Mensch ein Gedächtnis entwickelt – besonders für moralische Verpflichtungen?

🧠 1. Gewissen – eine späte, reife Frucht

  • Das Gewissen, wie Nietzsche es hier beschreibt (als Fähigkeit, zu sich Ja zu sagen), ist:

    • eine späte Errungenschaft

    • Ergebnis eines langen, schmerzhaften Prozesses

🗨️ „Wie macht man dem Menschentier ein Gedächtnis?“

🔥 2. Die ursprüngliche Mnemotechnik: Schmerz als Gedächtnisstütze

➤ Lösung des Problems:

„Man brennt Etwas ein, damit es im Gedächtnis bleibt.“

  • Schmerz schafft dauerhafte Eindrücke – das war der älteste Weg, Erinnerung zu erzwingen

  • Ursprung: Grausame Rituale, Opfer, Strafen, Verstümmelungen

📌 „Nur was nicht aufhört, weh zu tun, bleibt im Gedächtnis.“

3. Grausamkeit als Ursprung religiöser und moralischer Praxis

  • Religiöse Kulte sind laut Nietzsche ursprünglich:

    • Systeme zur Erzeugung „unvergessbarer“ Ideen durch Schmerz und Ritual

    • Methoden der Hypnose durch fixe Ideen

➤ Ziel: bestimmte Inhalte (z. B. Verbote, Gebote) unauslöschlich einprägen

📉 4. Zusammenhang zwischen Gedächtnisschwäche und Grausamkeit

  • Je weniger Gedächtnisfähigkeit, desto grausamer die Erziehungsmethoden

  • Bräuche und Strafgesetze zeigen, wie schwer es der Menschheit fiel, sich soziale Regeln dauerhaft einzuprägen

Beispiel: alte deutsche Strafpraktiken

  • Nietzsche nennt:

    • Rädern, Steinigen, Viertteilen, Sieden, Schinden, Honig und Fliegen…

  • Diese Grausamkeit hatte ein Ziel: ➤ Den Menschen zur Vernunft, zur Selbstdisziplin, zur Verlässlichkeit zwingen

🧱 5. Ergebnis des Schmerzwegs: „zivilisierter“ Mensch

  • Aus all dem entstand:

    • Ernst

    • Herrschaft über Affekte

    • Nachdenken

    • „Gewissen“ als inneres Kontrollorgan

🩸 Aber: Alle diese Errungenschaften haben sich mit Blut bezahlt gemacht!

🧾 Merksatz

Nietzsche zeigt, dass das, was wir heute als Gewissen, Vernunft oder moralisches Gedächtnis kennen, historisch auf Schmerz, Gewalt und Grausamkeit beruht. Der Mensch wurde durch Leid und Ritual formbar gemacht, um soziale Regeln und Versprechen nicht zu vergessen. Das „Gute“ entstand also auf dem Weg über das „Grauen“.


📚 Nietzsche über die Herkunft von Schuld und schlechtem Gewissen

(Zur Genealogie der Moral, Zweite Abhandlung, §4)

Zentrale Frage

Wie ist das Bewusstsein von Schuld und das sogenannte schlechte Gewissen entstanden?

Nietzsche stellt klar: Die bisherigen Moral-Genealogen verstehen die Ursprünge falsch – sie projizieren moderne Annahmen in die Vergangenheit.

1. Kritik an bisherigen Moral-Genealogen

  • Sie haben nur eine moderne Erfahrungsperspektive.

  • Ihnen fehlt:

    • historisches Wissen

    • historischer Instinkt („zweites Gesicht“)

    • Verständnis für tiefe psychologische Entwicklungen

🗨️ „Sie taugen nichts.“

💡 2. Ursprung des Schuldbegriffs: Aus „Schulden“

➤ Der moralische Begriff „Schuld“ stammt nicht aus Ethik, sondern aus:

➠ dem materiellen Begriff „Schulden“ (ökonomischer Ursprung)

  • Der Schuldbegriff ist zunächst:

    • ein wirtschaftlicher Begriff

    • Ausdruck des Verhältnisses zwischen Gläubiger und Schuldner

🔁 3. Strafe = Ausgleich, nicht moralische Vergeltung

➤ Strafe war ursprünglich:

  • keine moralische „Vergeltung“ für freie Willensentscheidungen

  • sondern:

    • Zornreaktion auf Schaden

    • gepaart mit der Idee: „Der Schaden muss abgezahlt werden – durch Schmerz“

⚠️ Erst sehr spät in der Geschichte entstand die Idee: „Der Täter verdient Strafe, weil er hätte anders handeln können.“

  • Diese Vorstellung setzt voraus:

    • komplexe Begriffe wie Freiheit, Verantwortlichkeit, Absicht

    • und ein hohes Maß an Reflexion

🕰️ ➤ In der Frühzeit:

  • Man bestrafte nicht, weil jemand „schuldig“ war

  • Sondern wie Eltern heute oft: aus Ärger/Zorn über einen Verlust

⚖️ 4. Die Idee der Äquivalenz: Schmerz als Ersatz für Schaden

  • Alte, tiefverwurzelte Vorstellung: ➤ Schmerz kann als Gegenwert („Äquivalent“) für Schaden gelten

  • Diese Idee stammt aus:

    • dem Vertragsverhältnis Gläubiger–Schuldner

    • das wiederum zurückgeht auf:

      • Kauf

      • Tausch

      • Handel

📌 Der Ursprung von Schuld- und Gerechtigkeitsdenken liegt also in wirtschaftlichen Austauschverhältnissen, nicht in moralischer Reflexion.

🧾 Merksatz

Nietzsche führt den Ursprung des Begriffs „Schuld“ nicht auf moralische Kategorien zurück, sondern auf ökonomische Verhältnisse: das Schuldverhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner. Auch Strafe entstand nicht aus Gerechtigkeit oder freiem Willen, sondern aus Zorn und dem Wunsch nach Ausgleich durch Schmerz. Die heutige moralische Vorstellung von Schuld ist eine späte, kulturell überformte Entwicklung – und wer sie in die Ursprünge hineinliest, verkennt die Geschichte der menschlichen Psyche.




Zur Strafte bei Nietzsche (Zweite Abhandlung §§ 12, 16)

📚 Nietzsche über Strafe, Zweck und historischen Fortschritt

(Zur Genealogie der Moral, Zweite Abhandlung, §12–13)

Zentrale Fragen

  • Wie ist Strafe entstanden?

  • Was ist ihr Ursprung – was ihr Zweck?

  • Und: Was ist der Fehler in der bisherigen historischen Betrachtung?

🧠 1. Trennung von Ursprung und Zweck

🔍 Nietzsche kritisiert:

  • Strafe wird oft naiv teleologisch erklärt:

    „Strafe wurde eingeführt, um abzuschrecken oder zu vergelten.“

  • Diese Sichtweise verwechselt:

    • aktuellen Nutzen mit

    • ursprünglicher Entstehung

📌 Der „Zweck“ einer Sache erklärt nicht ihre Entstehung!

📜 2. Zentrale These historischer Methodik

Ursprung und Zweck eines Dings fallen „toto coelo“ auseinander.

  • Jede Institution, Form, Sitte, Praxis:

    • wird im Laufe der Geschichte ständig umgedeutet, neu interpretiert, neu benutzt

    • bekommt durch mächtigere Instanzen einen neuen Sinn aufgeprägt

📌 Die Geschichte eines Dings ist ein Prozess ständiger Neuinterpretation durch Machtverhältnisse.

⚙️ 3. Geschichte = Abfolge von Überwältigung und Umdeutung

  • Geschichte ist kein Zielstreben, kein „logischer Fortschritt“:

    • kein Fortschritt in Richtung Vernunft, Humanität oder Effizienz

  • Sondern:

    • Aneinanderreihung von Machtprozessen

    • ständiger Sinnwandel, verursacht durch:

      • Überwältigung

      • Widerstand

      • Gegenaktionen

      • Funktionale Umnutzung

➤ Selbst Verfall oder Verlust von Funktion kann Zeichen von Wachstum sein:

„Auch der Tod gehört zu den Bedingungen des wirklichen progressus.“

📊 4. Fortschritt als Machtzuwachs – nicht als Humanisierung

  • Fortschritt misst sich daran:

    Wie viele kleinere Mächte geopfert wurden, um größere zu ermöglichen.

  • Nietzsche denkt gegen das moderne Ideal:

    • Fortschritt sei gleichbedeutend mit:

      • Menschheitswohl

      • Gleichheit

      • Anpassung

  • Für ihn ist Fortschritt:

    Durchsetzung einer stärkeren Spezies Mensch – auf Kosten der Masse.

🧬 5. Kritik am modernen Wissenschaftsgeist

🎯 Ziel von Nietzsche:

  • Kritik am modernen „Misarchismus“ = Hass auf Herrschaft und Ordnung

  • Dieser Zeitgeist habe:

    • selbst in objektivsten Wissenschaften (z. B. Physiologie) Fuß gefasst

    • die aktive Kraft des Lebens verdrängt

    • durch Fokus auf „Anpassung“ das Wesen des Lebens verkannt

➤ Kritik an Spencer (und Darwinismus):

  • Reduktion des Lebens auf Reaktivität (Anpassung)

  • Verkennung des Lebenswillens:

    Der Wille zur Macht ist die eigentliche treibende Kraft.

🧾 Merksatz

Nietzsche zeigt, dass man die Strafe nicht aus ihrem heutigen Zweck heraus erklären darf. Jede historische Erscheinung hat eine eigene, oft gewaltsame Entstehung, die sich von ihrer heutigen Funktion radikal unterscheidet. Machtverhältnisse deuten Bedeutungen ständig neu. Der eigentliche Fortschritt ist kein ethisches Ideal, sondern eine Folge von Überwältigung, Umnutzung und Machtzuwachs – oft auf Kosten anderer. Wer „Leben“ nur als Anpassung denkt, verkennt seinen formenden, aktiven, herrschenden Ursprung.

Nietzsche zum schlechten Gewissen

📚 Nietzsche über den Ursprung des schlechten Gewissens

Zentrale Frage

Wie ist das „schlechte Gewissen“ entstanden?

💡 1. Hypothese: Das schlechte Gewissen als psychische Krankheit

➤ Nietzsches These:

Das schlechte Gewissen ist eine tiefe Erkrankung des Menschen – entstanden durch die gewaltsame Umstellung von Freiheit zu Gesellschaft.

⚔️ 2. Der Mensch wird gezähmt – durch Gesellschaft und Staat

  • Der Mensch lebte ursprünglich wild, instinktgesteuert, frei, kriegerisch.

  • Mit der Sesshaftigkeit kam:

    • Staat, Gesetze, Regelmäßigkeit, Frieden

    • Unterdrückung seiner freien Instinkte

    • Verlust der natürlichen Entladung von Trieben

📌 Vergleich: Fisch wird an Land geworfen

Alte Instinkte wie Grausamkeit, Angriffslust, Abenteuerdrang werden nutzlos – sie „hängen in der Luft“.

🔄 3. Verinnerlichung: Instinkte wenden sich nach innen

  • Unterdrückte Triebe richten sich gegen den Menschen selbst:

    • Aggression wird zu Selbstquälerei

    • Gewalt nach außen wird zu innerer Pein

    • Der Mensch wird zum Feind seiner selbst

➤ Das ist die Entstehung der „Seele“:

Die innere Welt entsteht aus blockierter äußerer Entladung.

🩸 4. Ursprung des „schlechten Gewissens“

  • Der Mensch macht sich selbst zum Objekt seiner Grausamkeit:

    • Selbsthass, Selbstbestrafung, Selbstverfolgung

    • wie ein Tier im Käfig, das sich an den Gitterstäben wund stößt

➤ Das schlechte Gewissen ist das Produkt der Zähmung des Menschen

⚠️ 5. Größte psychische Krise der Menschheit

Eine Krankheit, von der die Menschheit bis heute nicht genesen ist:

  • Spaltung des Menschen von seiner animalischen Vergangenheit

  • Kampf gegen die eigenen natürlichen Instinkte

  • Leiden an der eigenen Existenz

🌀 6. Aber: Diese Krankheit bringt etwas Neues hervor

➤ Der Mensch wird:

  • tiefgründig

  • rätselhaft

  • innerlich

  • zukunftsfähig

📌 Die gegen sich selbst gekehrte Tierseele ist der Ursprung des modernen Menschen

⚡ Metaphysische Dimension:

Es brauchte „göttliche Zuschauer“, um die Tiefe und Bedeutung dieses „Schauspiels“ zu würdigen.

🌉 7. Der Mensch als Übergang, nicht Ziel

  • Der Mensch ist nicht Endzweck, sondern:

    • ein Zwischenfall

    • eine Brücke

    • ein großes Versprechen

➤ Bezug zu Nietzsches Übermensch-Gedanken:

Der Mensch ist etwas, das überwunden werden soll – aber auch etwas, das Zukunft in sich trägt.

🧾 Merksatz

Nietzsche erklärt das schlechte Gewissen als Folge der Verinnerlichung unterdrückter Triebe, die durch die Zivilisierung des Menschen nicht verschwanden, sondern sich gegen das eigene Selbst richteten. Der Mensch wurde dadurch krank, aber auch tiefgründig, bewusst, zukunftsfähig. Der Mensch ist nicht Endziel, sondern ein Übergang – ein Weg zu etwas Höherem.

Nietzsches Vorrede zur Geneologie der Moral

📚 Nietzsche über den Wert der Moral (aus Zur Genealogie der Moral, Vorrede §5-6)

🧭 Zentrales Anliegen

Nietzsche interessiert sich nicht primär für den Ursprung der Moral, sondern für ihren Wert.

Frage: Was ist der Wert der Moral, besonders der mitleidsethischen Werte?

🧠 Auseinandersetzung mit Schopenhauer

  • Nietzsche kritisiert Schopenhauers Verherrlichung des Mitleids, der Selbstverleugnung und Selbstaufopferung.

  • Schopenhauer sah darin "Werte an sich", aufgrund derer er das Leben verneinte.

⚠️ Nietzsches Kritik

  • In Nietzsche wächst ein grundsätzlicher Argwohn gegen diese sogenannten „unegoistischen“ Instinkte.

  • Er sieht in ihnen:

    • eine Gefahr für die Menschheit

    • eine Verführung ins Nichts (Nihilismus)

    • ein Symptom von Rückzug, Lebensverneinung, Schwäche

🩻 Die Mitleidsmoral erscheint Nietzsche als Zeichen einer kulturellen Krankheit im Europa seiner Zeit.

📉 Historische Perspektive

  • Früher waren viele Philosophen gegen das Mitleid:

    • Platon, Spinoza, La Rochefoucauld, Kant

👉 Sie sahen im Mitleid eher Schwäche als Tugend.

💥 Moderne Fehlentwicklung

  • Die moderne Überbewertung des Mitleids hält Nietzsche für eine neue, bedenkliche Entwicklung.

  • Er sieht sie als Zeichen einer „Gefühlsverweichlichung“.

🔍 Forderung: Kritik der Moral

  • Nietzsche fordert eine radikale Neubewertung moralischer Werte:

    • Man soll nicht mehr voraussetzen, dass Moral „gut“ ist.

    • Es braucht eine Genealogie der Moral:

      • Wie sind moralische Werte entstanden?

      • Welche Bedingungen haben sie geformt?

🧪 Moral kann sein:

  • Symptom, Maske, Tarnung, Krankheit, Heilmittel, Stimulans, Hemmung, Gift

Provokante Gegenfrage

Was, wenn „das Gute“ in Wahrheit Rückschritt, Gefahr oder Narkose ist?

  • Möglicherweise lebt die Gegenwart durch Moral auf Kosten der Zukunft – weniger gefährlich, aber auch kleiner, ärmer, schwächer.

  • Die Moral selbst könnte die größte Gefahr für das Menschentum sein.

🧾 Merksatz

Nietzsche stellt den Wert der Moral selbst infrage – insbesondere der Mitleidsmoral – und fordert eine kritische Untersuchung ihrer Entstehung, Wirkung und versteckten Funktionen, da sie womöglich den Menschen schwächt statt stärkt.

Author

Adele G.

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