Einleitung
Widmen sich der Frage wie der Grad an Literalität und die Unterscheidung von Forschungsbereichen zusammenhängen und ob eine Differenzierung zwischen literalen und nicht-literale Gesellschaften noch sinnvoll ist?
Klassicher Weise werden Forschungsdisziplinen durch den erreichten Grad der Literalität unterschieden:
Zoologie: ➡️ Mensch als Tier (biologische Evolution)
Anthropologie: ➡️ Mensch als sprechendes Tier
Soziologie: ➡️ Mensch als sprechendes & schreibendes Tier
Tiere: soziale Organisation instinktiv, genetisch überliefert
Menschen: soziale Organisation erlernt, sprachlich überliefert
Vorgeschichte: Sprache vorhanden, aber keine Schrift
Geschichte: Beginnt mit dem Aufkommen der Schrift
Prähistoriker → Historiker: ➡️ Wenn schriftliche Dokumente existieren
Anthropologe → Soziologe: ➡️ Mit alphabetischer Schrift & allgemeiner Literalität (Lesen & Schreiben in der Breite)
„In dem Maße, in dem eine signifikante Menge schriftlicher Dokumente vorhanden ist, überlässt der Prähistoriker dem Historiker das Feld.“
Diese Differenzierung geht mit Problemen einher:
1️⃣ Ab wann gilt ein Schriftsystem als „Literalität“?
2️⃣ Ab wann sprechen wir von „Buchstaben“?
3️⃣ Wie groß muss der Anteil der Lesefähigen sein, damit eine Kultur „literal“ genannt wird?
Alte Sicht:
Anthropologie = primitive Kulturen (primitives Denken)
Soziologie = zivilisierte Gesellschaften (rationales Denken)
diese Trennung ist ethnozentrisch und wir heutzutage hinterfragt
Zudem gibt es zunehmend neue Entwicklungen: Anthropologen untersuchen heutzutage auch Industriegesellschaften (welche ja eigentlich “zivilisierte” Gesellschaften sind und damit in den Bereich der Soziolog*innen fallen)
Grenze zwischen Anthropologie & Soziologie wird unscharf
Nicht nur methodische, sondern auch inhaltliche Unterschiede gehen fließend ineinanderüber
Wie definieren die Disziplinen ihre Gegenstände und wo liegt die Grenze?
Aus der Kritik über die ethnozentrische Trennung zwischen Soziologie und Anthropologie heraus entstand eine starke Gegenbewegung:
➡️ Ablehnung der Unterscheidung zwischen nicht-literalen & literalen Gesellschaften
Goody und Watt widersprechen dieser Extremposition:
➡️ Plädieren für differenzierte Analyse
Auch aus empirischer, relativistischer Perspektive können historische & analytische Unterschiede erkenntnisreich sein
Ziel: Neue Einsichten über gesellschaftliche Entwicklung
„Es erscheint daher der Mühe wert zu untersuchen, ob sich nicht […] wirkliche Erkenntnisse gewinnen lassen.“
Ermöglicht komplexe soziale Organisation
Übergang von Vorgeschichte zu Geschichte
Neue Formen der sozialen Übermittlung & Organisation
Unscharf, fließend
Klassische Trennungen zunehmend fragwürdig
Unterschied zwischen literalen & nicht-literalen Kulturen sollte nicht ganz aufgegeben werden
Auch wenn alte Grenzziehungen problematisch sind, bietet eine differenzierte Betrachtung von Schrift & Literalität wichtige Erkenntnisse über die Entwicklung menschlicher Gesellschaften.
Die kulturelle Tradition in nicht-literalen Gesellschaften - Teil 1
1. Teil des Textes beschäftigt sich mit den Weisen der Überlieferung des kulturellen Erbes in nicht-literalen Gesellschaften und wie sich diese Überlieferung durch die Einführung einer Schrift verändert hat.
1️⃣ Materieller Fundus
Werkzeuge, natürliche Ressourcen
2️⃣ Handlungsmuster
Praktische Verhaltensweisen (z. B. Kochen, Nahrungseinnahme, Ackerbau, der Umgang mit Kindern)
Meistens durch Nachahmung, nur teilweise Sprache
3️⃣ Sprachlich vermittelte Elemente
Weltanschauung, Werte, Vorstellungen von Raum & Zeit
Wichtigstes Element des kulturellen Erbes
„Die bedeutsamsten Elemente der menschlichen Kultur sind jedoch zweifellos sprachlich vermittelt.“
nach Durkheim: Sprache transportiert das intellektuelle Kapital einer Gesellschaft
Lange Kette von Gesprächen: Direkte, face-to-face Kommunikation, da sich hierdurch die soziale Erfahrung am eindrücklichsten ausdrückt
Keine Aufzeichnungen (wie bei Höhlenmalerei oder einer Holzaxt), sondern Aufbewahrung im Gedächtnis
„Die relative Kontinuität dieser Verstehenskategorien […] wird in erster Linie durch die Sprache sichergestellt.“
Direkte Beziehung zwischen Symbol und Referent
Keine Wörterbuchdefinitionen oder historische Schichtungen von Bedeutungen ist möglich
Die Bedeutung entfaltet sich bei der mündlichen Überlieferung in konkreten Situationen
geht mit stimmlichen Veränderungen und körperlichen Gesten einher
Bedeutung entsteht demnach kumulativ und situationsabhängig
Diese Prozess nennen Goody und Watt Semantische Ratifizierung und weil das Individuum diese direkte Symbol-Referent-Beziehung in ihrer Totalität (kumulativ) mitbekommt, wird es gründlicher sozialisiert
Illustration dieses Prozesses möglich, wenn das Vokabular einer nicht-literalen Gesellschaften betrachtet wird
denn dieses spiegelt eindeutig da welche Themen von Interesse für die entsprechende Gesellschaft sind
Bewohner*innen der Insel Lesu (Pazifik; eine nicht-literale Gesellschaft): Viele Wörter für Schweine (nach Geschlecht, Fellfärbung, Herkunft usw.) → hohe Bedeutung in der Gesellschaft, deswegen stärkere sprachliche Ausdifferenzierung
dort, wo nicht bestimmte materielle oder sonstige Interessen im Spiel sind, kaum sprachliche Entwicklung stattfindet
z. B. Trobriander: Benennung der Natur nur, wenn nützlich
kleineres Vokabular, weil wenigere Dinge benannt werden
Sprache reflektiert nicht nur dominante Interessen & Praktiken in ihrem konkreten Teil des Vokabulars
Sondern auch in abstraktere Kategorien des Vokabulars findet sich häufig ein enger Zusammenhang mit der allgemein anerkannten Terminologie für praktische Zwecke verknüpft ist
Beispiel Lodagaa (Nordghana):
Tage werden nach Märkten in der Nachbarschaft gezählt
Wort für „Tag“ und „Markt“ ist identisch
‚wöchentlicher‘ Zyklus ist ein Sechstagezyklus der wichtigsten Märkte: ein Zyklus, der auch den räumlichen Bereich der alltäglichen Aktivitäten bestimmt
“Die Weise, in der diese verschiedenen Institutionen in einer oralen Kultur in relativ enger Anpassung aneinander gehalten werden, ist für die Frage des zentralen Unterschiedes zwischen literalen und nicht-literalen Gesellschaften zweifellos von unmittelbarer Bedeutung”
Gesamtheit des kulturellen Gedächtnisses (außer materielle Erbstücke) werden im Gedächtnis aufbewahrt
und was das Individuum erinnert ist von entscheidender Bedeutung für die sozialen Beziehungen
Forschungen zur sozialen Funktion vom Gedächtnis
das individuelle Gedächtnis wird sich also bemühen das kulturelle Gedächtnis mit neuen sozialen Verhaltensweisen anzureichern, die sich nahtlos an altes anschließen; sozial unbedeutendes wird vergessen
= Nur sozial Bedeutendes bleibt erhalten
Sprache dient als Filter: Wichtiges bleibt, der Rest wird vergessen
Erinnerung & Vergessen = homöostatische Funktion des Gedächtnisses
“Die soziale Funktion des Gedächtnisses (und des Vergessens) kann als Endstufe der homöostatische Organisation der kulturellen Tradition in nicht-literalen Gesellschaften.”
“Die Sprache entwickelt sich in enger Verbindung mit der Erfahrung der Gemeinschaft, und das Individuum erlernt sie im unmittelbaren Kontakt mit anderen Mitgliedern seiner Gruppe. Was von sozialer Bedeutung bleibt, wird im Gedächtnis gespeichert, während das übrige in der Regel vergessen wird: und Sprache - in erster Linie das Vokabular - ist das wirksame Medium dieses wichtigen Prozesses sozialer Verdauung und Ausscheidung, den man als ein Analogon zur homöostatischen Organisation des menschlichen Körpers, vermittels deren er sein Dasein zu erhalten sucht, auffassen kann.”
Diese Herangehensweise ignoriert weder den sozialen Wandel, noch dessen Überbleibsel, noch die Erinnerungstechniken nicht-literaler Gesellschaften.
Nicht-literale Gesellschaften besitzen mnemotische Techniken um den Prozess des Vergessens und der Bedeutungsverschiebung etwas entgegenzuwirken:
Formelhafte Redeweisen
Rituale & musikalische Begleitung (z. B. Trommeln)
Professionelle Erinnerer (z. B. Barden)
Wahrscheinlich 750–650 v. Chr. niedergeschrieben
Blicken auf viel ältere Zeit zurück → zeigen Stabilität mündlicher Tradition
Kultur wird vor allem sprachlich, mündlich vermittelt
Direkter sozialer Kontakt
Kein Archiv, keine Texte
Gedächtnis = zentrales Medium
Gedächtnis „sortiert“: Wichtig bleibt, Unwichtiges wird vergessen
Sprache eng mit Lebensweise und sozialen Strukturen verknüpft
Rituale, Wiederholung, Musiker, feste Formeln
Aspekt
Nicht-literal
Literal
Überlieferung
Mündlich, Gedächtnis
Schriftlich, dokumentiert
Bedeutung
Situativ, konkret
Abstrakt, historisch
Stabilisierung
Formeln, Rituale
Texte, Archive
Gedächtnis
Zentrale Rolle
Unterstützende Rolle
In nicht-literalen Kulturen funktioniert Sprache wie ein sozialer Speicher: Sie sichert kulturelles Wissen, aber nur, was aktuell relevant ist, bleibt erhalten.
Die kulturelle Tradition in nicht-literalen Gesellschaften - Teil 2
Unterscheidet die Überlieferung des kulturellen Gedächtnisses im Unterschied zu literalen Gesellschaften
Orale Gesellschaften bewahren Traditionen nicht „fix“, sondern anpassungsfähig.
Anpassung dient der Aufrechterhaltung sozialer Ordnung in der Gegenwart.
Haben eine lange Tradition in verschiedenene Kulturen und dienen der Stabilisierug des Zusammenlebens
z. B. Tiv in Nigeria; Hebräer und Beduinen des Alten Testaments; Nuer im Südsudan; Tallensi in Nordghana
Genealogien reichen über etwa ein Dutzend Generationen zurück.
große Bedeutung: waren häufig Bestandteil von Prozessen, in denen die Recht einer Person gegenüber einer anderen abgeleitet wurden
📖 Britische Verwaltung
Schrieb Genealogien auf, um sie als „feste Tatsachen“ zu verwenden.
Konflikte: Tiv behaupteten, die Listen seien falsch, aber Briten glaubten ihre liberalen Vorgänger*innen
Keine der beiden Parteien erkannten, dass diese Genealogien Anpassungen bedurften (wenn diese ihre Funktion als Stützen sozialer Beziehungen weiterhin erfüllen sollen), da sie sich auf aktuelle Verhältnisse zu beziehen hatten
Tiv machten die Anpassungen in mdl. Tradition und vergaßen das Frühere; und Briten hielten an 40 Jahre alten Aufzeichnungen fest
⚖️ Homöostatische Anpassung
Genealogien werden laufend verändert, um aktuelle Strukturen zu stützen.
Veränderungen durch:
Generationenwechsel („strukturelle Amnesie“)
Organisatorische Umstrukturierungen
Strukturelle soziale Veränderungen
Generationsmäßige Veränderungen
z. B. verlängern sich die Genealogien durch das Aufeinanderfolgen von Generationen, aber das Wachsen passiert in unterschiedlichen Raten, sodass sich vielleicht nur die eine Generation durch eine andere ersetzt wird, die Genealogie sich also auf die gleiche Anzahl von Menschen wie vor 50 Jahren bezieht
Mit den durch neue Geburten verlängerten Abstammungslinien muß daher ein genealogischer Schrumpfungsprozeß (aber wieso) einhergehen; das Vorhandensein dieses Prozesses – der ein gutes Beispiel für das von J.A. Barnes mit einem glücklichen Ausdruck als „strukturelle Amnesie“ bezeichnete allgemeine soziale Phänomen darstellt – ist in vielen Gesellschaften nachgewiesen worden, u.a. in allen oben erwähnten
Zusammenfassend kann gesagt werden, dass Genealogien immer aus der gleichen Anzahl von Personen besteht. Kommt eine neue Generation hinzu wird die alte vergessen.
Organisatorische Veränderungen
Beispiel: Gonja in Nordghana
Erzählungen über die Entstehung des Reiches des Gonja in Nordghana
Ndewura Japka, der Gründer des Reiches, besetzte Gebiet und machte sich zum Oberhaupt und Söhne als Herrscher der einzelnen Bezirke. Nach seinem Tode wechselten sich die Bezirkshäuptlinge in der Oberherrschaft ab.
Briten wollten Erzählung über die Entstehung niederschreiben
Erwähnten in ihrem ursprünglichen Bericht 7 Söhne, entsprechend den damals existierenden 7 Bezirken
Zwei Bezirke verschwinden → 60 Jahre späztere erneute Aufzeichnungen erwähnten nur noch 5 Söhne
Anpassung der Gründungsmythen an aktuelle politische Gegebenheiten.
Nicht primär historische Tatsachenberichte (ähnlich wie der Mythos)
Funktionieren vielmehr als „Verfassungen“ gegenwärtiger sozialer Institutionen.
Automatische Anpassung durch mündliche Überlieferung.
„Sie können dies relativ widerspruchsfrei leisten, weil sie stärker als im Rahmen einer schriftlich in dem einer mündlich überlieferten Tradition wirksam sind und im Prozeß der mündlichen Überlieferung gewissermaßen automatisch an bestehende soziale Beziehungen angepaßt werden.”
Verändern sich wie Genealogien.
Gottheiten verschwinden, wenn sie „nutzlos“ werden.
Mythen werden vergessen, verändert oder umgedeutet.
Tendenz zur Homöostase bewirkt, dass das Individuum aus nicht-literale Gesellschaften die Vergangenheit immer auch der Sicht der Gegenwart betrachtet
Keine „objektive“ Unterscheidung zwischen damals und heute, wie es die Historik von literalen Gesellschaften ermöglicht
Beispiel Eskimos bei Franz Boas: Welt ist „immer so gewesen, wie sie heute ist.“
Keine schriftlichen Aufzeichnungen → keine Möglichkeit, aktuelle Erzählungen zu überprüfen.
auch keine Möglichkeit Bedeutungswandel von Worten zu erkennen oder schwindendes Vokabular
Mythos & Geschichte verschmelzen.
Tradition wird aktiv angepasst, nicht unverändert konserviert.
Genealogien & Mythen sichern aktuelle soziale Ordnung, nicht historische Wahrheit.
Keine festen Aufzeichnungen → Vergangenheit wird flexibel „aktualisiert“.
Alles wird so erzählt, wie es zur aktuellen Situation passt.
Orale Gesellschaft
Literale Gesellschaft
Flexibel, angepasst
Fixiert, überprüfbar
Vergangenheit
Gegenwartsbezogen
Chronologisch, getrennt
Kontrolle
Schriftlich, Dokumente
Wahrheitsbegriff
Funktional, sozial
Historisch, objektiv
In oralen Gesellschaften lebt die Vergangenheit nur als nützliches Werkzeug für die Gegenwart, nicht als fixe Chronik. Mythen und Genealogien werden stetig umgeschrieben, um soziale Stabilität zu sichern.
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