Symptome einer Tic-Störung
Tic = eine unwillkürliche, in der Regel sehr plötzliche, schnelle und wiederholte nicht rhythmische Bewegung, i.d.R. nicht zweckgerichtet (= Unterschied zu einer motorischen Handlung, bspw. Zwangshandlung); wird subjektiv als sinnlos und/oder störend empfunden
ICD-10 = psychische Störung
ICD-11 = neurologische Störung / Störung des Nervensystems -> Bewegungsstörung
Differentialdiagnosen: Zwangsstörung oder impulsive Störungen (=F6)
Bei den meisten Betroffenen geht der Tic nach einem gewissen Zeitraum wieder weg
Tourette-Syndrom = länger als 1 Jahr andauernde multiple sowohl motorische als auch vokale Tics (also die Kombination aus beidem)
Die Diagnose basiert auf dem Chronifizierungsgrad und ob ein isolierter motorischer/vokaler Tic vorhanden ist oder beides gemeinsam auftritt
Wann sollten Tics behandelt werden?
Leitliniengerechte Behandlung
Psychologische Interventionen 2022 (Europa)
Psychoedukation (immer als erste Maßnahme). Wenn das nicht ausreicht dann:
HRT/CBIT und ERP als Erstbehandlungsmethoden
HRT = Habit Reversal Training
CBIT = Comprehensive Behavioral Intervention for Tics = erweitertes Paket des HRT
Hierfür am meisten Evidenz
ERP = Expositions- und Reaktionsprävention
Kognitive Interventionen und Interventionen der 3. Welle
Nicht als eigenständige Behandlungsmaßnahme empfohlen
Pharmakotherapie bei schwerer Symptomatik, bestenfalls in Kombi mit VT
Was sind potentielle Ziele der Therapie?
Reduktion der Tics (Frequenz + Stärke)
Verminderung der psychosozialen Belastung durch die Tics
bspw. besserer Umgang mit Reaktionen des Umfeldes auf Tics
Wo setzt VT an?
Behandlungsbausteine VT
Baustein 1: Problemdefinition und Erhebung des Störungskonzeptes
Baustein 2: Psychoedukation
Baustein 3: Verminderung symptomaufrechterhaltender Belastungen
Baustein 4: Ressourcenaktivierung
Baustein 5: Bewältigung negativer Reaktionen des Umfeldes
Baustein 6: Selbstwahrnehmungstraining mit:
Training der Fähigkeit, Tic-Reaktion detailiert zu beschreiben
Training der Wahrnehmung des Tic-Impulses
Training der Wahrnehmung situativer Einflüsse
Baustein 7: Entspannungsverfahren: Atemübung und Progressive Muskelrelaxation
Baustein 8: Training der Gegenbewegung
Baustein 9: Bewältigung residualer Tic-Symptome
Baustein 10: Einbeziehung der Lehrer
-> zum Beispiel: Therapieprogramm für Kinder- und Jugendliche mit Tic-Störungen (THICS)
Symptomorientiertes, verhaltenstherapeutisches Behandlungsprogramm für Tic-Störungen und verwandte Störungen im Kindes- und Jugendalter
Basiert auf dem Habit-Reversal-Training von Azrin und Nunn
Kindzentrierte Intervention mit Einbezug der Bezugspersonen
Altersbereich:
ab 7 Jahren
Hinweise zur Durchführung bei Kindern unter 7 Jahren bzw. ab 13 Jahren
Kindgerechte Gestaltung:
Geschichten von Tim, dem Jungen mit den Tics
Ausbildung zu Tic-Detektiv
Indikation: Immer durchführen
mit Bezugsperson
Ziele:
Identifikation und Beschreibung der zu behandelnen Tics und anderer Probleme
Exploration des Störungskonzeptes von Patent:in und Eltern
-> Immer durchführen!! Siehe Leitlinien
Informationsvermittlung zu Tic-Störungen
Festlegung der Behandlungsziele*
Erarbeitung eines gemeinsamen Störungskonzeptes (auf Basis der Informationen aus Baustein 1)
Erstellung eines individuellen Behandlungsplanes
Erste Tic-Beobachtungen
*Manche Patient:innen wollen/brauchen keine Reduzierung der Tic-Symptomatikk, sondern eher einfach eine bessere Bewältigung negativer Reaktionen des Umfeldes oder einen besseren Umgang mit der Störung selbst
Indikation: Wenn Belastungen identifiziert wurden, die wahrscheinlich zur Aufrechterhaltung der Tic-Symptomatik beitragen
Exploration der Belastungen
Minimierung der Belastung durch Erarbeiten von Lösungsstrategien
-> Durch die Reduktion der Belastungen soll eine Verminderung der Tic-Symptomatik erreicht werden
Wenn Belastungen durch die Reaktion des Umfeldes auf die Tics -> Baustein 5
Indikation: Immer, besonders bei
niedrigem Selbstwert, deutlichem Rückzugsverhalten, geringen sozialen Kontakten und/oder
einer noch schwierigen Therapiebeziehung
mit Bezugsperson, aber auch z.T. separate Sitzungen
Ressourcenaktivierung
Integration der Tics ins Selbstbild
Therapeutische Beziehung stärken
Techniken:
Stärken-Tagebuch führen
Andere Menschen über Tics informieren
Positiv-Tagebuch (Eltern)
Gemeinsame angenehme Eltern-Kind-Zeit etablieren
Indikation: bei negativen Reaktionen des Umfeldes
Ziele: Bewältigung negativer Reaktionen im familiären und schulischem Umfeld sowie im Freizeitbereich
Überprüfung der tatsächlichen Häufigkeit
Entwickeln von “Überlebensstrategien” bei unveränderbaren Situationen
Stärkung positiver Interaktionen
Förderung des gegenseitigen Verständnisses für Tics und Reaktionen des Umfeldes
Entschärfung belastender Situationen
Baustein 6: Selbstwahrnehmungstraining
Indikation: Immer
Die Tic-Reaktionen kann detailliert beschrieben werden.
Das Auftreten von Tics kann erkannt und signalisiert werden.
Das Vorgefühl/der Tic-Impuls kann erkannt und signalisiert werden.
Techniken: Selbstbeobachtung
Baustein 7: Entspannungsverfahren
Ziel:
Allgemeine Reduktion von Stress und Anspannung
Unterbrechung des Teufelskreise: Stress -> vermehrte Tics -> noch höherer Stress -> noch mehr Tics
Etablierung von Entspannungsverfahren als Selbstkontrolltechnik
Methoden:
Progressive Muskelrelaxation nach Jacobson
Autogenes Training
Atemübungen
Bildhaftes Vorstellung beruhigender Szenen
Erarbeiten einzelner Gegenbewegungen in der Therapiestunde
Einüben und Einsetzen der Gegenbewegung
Merkmale der Gegenbewegung:
Für jeden Tic eine spezifische Gegenbewegung
Gegenbewegung = Anspannung entgegengesetzter Muskelgruppen, die das Auftreten von Tics verhindern
Ziel: Gegenbewegung, die weitgehend unauffällig durchführbar ist
Durchführung der Gegenbewegung:
Meist isometrische Anspannung der Antagonisten
Erst in der Therapiesitzung einüben
Gegenreaktion etwa ein bis zwei Minuten lang ausführen, wenn ein Tic-Impuls wahrgenommen/ausgeführt wird
Nacheinander Gegenbewegung für verschiedene Tics erarbeiten
Ablauf der Gegenbewegung:
Im Impulsprozess hilft Entspannung nicht mehr
die Gegenbewegung kann man auch noch ausführen, wenn der Tic-Prozess schon im Gange ist (d.h., wenn der Tic-Impuls nicht zu unterdrücken ist, kann man trotzdem versuchen, die Gegenbewegung auszuführen, umso den Tic-Prozess zu inferieren)
Generalisierungstraining (nicht vergessen…)
Ziel: Unterstützung der in der Therapiesitzung erworbenen Techniken auf das natürliche soziale Umfeld
So lange in der Sitzung üben, bis entsprechende Methode beherrscht wird
Konkrete Hilfestellungen zur Umsetzung im Alltag
Positive Verstärkung der Umsetzung
Baustein 8: Alternative zu Training der Gegenbewegung:
Exposition mit Reaktionsverhinderung
Patient:in soll unangenehmes Vorgefühl aushalten, ohne jedoch den Tic auszuführen
Analogie eines Mückenstichs: halte das Jucken aus, ohne zu kratzen und der Stich wird nach einer Zeit verheilen und nicht mehr jucken
Zu Beginn der Übung Stopp-Uhr aktivieren und sobald ein Tic auftritt, wird Zeit gestoppt. Im nächsten Durchlauf eigene Tic-freie Zeit verbessern.
Nach Möglichkeit auf alle Tics zeitgleich konzentrieren, wenn nicht möglich, dann einzelnen herausgreifen und diesen so lange üben, bis 5min. Tic-frei
Wenn 15min. Tic-frei schafft, dann zum nächsten Baustein übergehen
-> v.a. wenn viele verschiedene Tics oder viele auf einmal
-> Evidenz: wenig Studien und gemischte Ergebnisse
-> Rational kommt aus der Zwangsbehandlung; aber deutlich weniger Evidenz für Tic-Störung
Massierte Übung
Zugrundeliegende Hypothese: durch willentliche, sehr häufige Wiederholungen eines Tics soll eine reaktive Inhibition (Hemmung) des spezifischen motorischen Musters erfolgen
Praktische Durchführung: der Pat. soll eine ausgewählte Ticreaktion über eine bestimmte Zeit so schnell und intensiv wie möglich ausführen, z.B. über eine halbe Stunde im Wechsel: 4 min massierte Übungen, dann 2 min Pause (oder 2 min, dann 1 min. Pause)
-> Evidenz: wenig Studien und gemischte Ergebnisse, kontrovers
Baustein 9: Bewältigung residualer Tic-Syndrome
Indikation: Erster Teil des Bausteins immer; weitere Teile nur bei Indikation
Was tun, wenn Tics wieder auftreten?
Thematisierung von Medikation
Thematisierung eines Lebens mit Tics
Thematisierung anderer Probleme
Baustein 10: Einbeziehung der Lehrer:innen
Indikation: Wenn besondere Problematik im schulischen Bereich besteht
mit Lehrer:innen (eventuell mit Patient:innen und Eltern)
Psychoedukation
Umgang mit den Tics in der Schule erarbeiten
Interventionen bei weiteren Problemen erarbeiten
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