Leitliniengerechte Behandlung
S3-Leitlinie (abgelaufen seit 2023)
Behandlung sollte aufgrund der Gefahr einer Chronifizierung so rasch wie möglich erfolgen und primär psychotherapeutisch ausgerichtet sein.
Bei noch kurzer Krankheitsdauer hat die Normalisierung von Ernährung und Gewicht höchste Priorität, um eine Chronifizierung zu verhindern.
Bei Patientinnen mit schwerem und langem Krankheitsverlauf sind die Ziele individuell und gemeinsam mit einer Patientin zu entscheiden (Fokussierung auf sehr kleine Schritte und erreichbare Ziele).
Psychotherapie ist bei der AN das Behandlungsverfahren der ersten Wahl (Evidenzlevel 1b)
Stationäre oder ambulante Behandlung
- Bei massivem Untergewicht muss ein stationärer Aufenthalt in Betracht gezogen werden, da – neben den risikohaften somatischen Beschwerden – durch das Untergewicht auch kognitive Einschränkungen auftreten können, weshalb eine ambulant psychotherapeutisch Arbeit ggf. gar nicht möglich ist (-> es muss ein gewisses kognitives Niveau vorhanden sein, um eine ambulante Therapie durchführen zu können)
Zwangsbehandlung
bei körperlicher Gefährdung und fehlender Bereitschaft für eine Behandlung ist zu klären, inwieweit Symptome und Folgen der Erkrankung die Einsichts- und/oder Entscheidungsfähigkeit so weit beeinträchtigen, dass Interventionen gegen den Willen der Patientin im Sinne einer Zwangsbehandlung erforderlich sind
Gesamteffekte freiwillig oder unfreiwillig durchgeführter Behandlungen sind vergleichbar und die Mortalitäts- und Suizidraten in beiden Gruppen unterscheiden sich nicht signifikant (Ward et al. 2015) -> Aber: bezüglich längerfristiger Effekte ist bisher wenig bekannt
Da eine Zwangsbehandlung die vom Grundgesetz nach Art. 2, Abs. 2 geschützte Freiheit und körperliche Unversehrtheit verletzt, muss das Vorliegen der gesetzlichen Voraussetzungen sorgfältig geprüft werden
Bei minderjährigen Patientinnen müssen die Sorgeberechtigten (i. d. R. die Eltern) eine Genehmigung zur Behandlung mit freiheitsentziehenden Mitteln nach § 1631b BGB beim Familiengericht beantragen
Evtl. Einrichtung einer juristischen Betreuung -> kann Antrag auf Zwangsbehandlung stellen
Besonderheiten in der therapeutischen Beziehung
Patient*innen bei Vorstellung zumeist ambivalent hinsichtlich der Veränderung ihrer Essprobleme
Geringe Bereitschaft eigene Gedanken und Gefühle zum Ausdruck zu bringen
erfolglose Behandlungen -> Bestätigung einer negativen Sicht der eigenen Person
Häufig Überzeugungen mit identitätsstiftendem Charakter (z.B.: „Wenn ich dem Essen widerstehe, bin ich stark und kann stolz auf mich sein“)
Für Männer mit Essstörungen kann die Therapiemotivation ferner dadurch erschwert sein, dass sie vermeintlich unter einer „weiblichen“ Störung leiden
- Größte Herausforderung: Das oberste Ziel ist immer die Gewichtszunahme, was konträr zu den Zielen der Patient:innen steht (bspw. einen BMI von 18,5 oder über dem 25. Perzentil bei Jugendlichen zu erreichen). Auch bei Patient:innen mit schwerem und langem Krankheitsverlauf ist das oberste Ziel eine Gewichtsnormalisierung; allerdings muss hier kleinschrittiger vorgegangen werden.
Wirksamke Verfahren bei Kindern und Jugendlichen
Familienbasierter Ansätze (meist nach dem Maudsley-Ansatz, MANTRA) (Evidenzlevel 1b)
Second-line Treatment: Erweiterte Kognitive Verhaltenstherapie (CBT-E) and Adolescent-Focused Therapy (AFT)
Bei einem hohen Ausmaß kritischer elterlicher Kommentare kann es günstiger sein, Eltern und Patientin getrennt zu sehen (Evidenzlevel 1b)
Eine geringe Motivation zu einer Veränderung der Essstörung ist mit geringerem Behandlungserfolg und höherem Risiko zu einem Therapieabbruch assoziiert (Evidenzlevel 1a)
Was sind potentielle Therapieziele?
Herstellung von Motivation, Steigerung der Selbstverantwortung, Förderung von Krankheitseinsicht
Gewichtszunahme und Normalisierung des Essverhaltens
Zielgewicht: 25. BMI-Altersperzentile
wöchentliche Gewichtszunahme von 500 bis 1000g pro Woche (stationär) bzw. 300g pro Woche (ambulant)
Abbau von Heißhungerattacken und gegensteuernden Maßnahmen
Aufbau einer realistischen Körperwahrnehmung und -bewertung
Bearbeitung dysfunktionaler Einstellungen zu Körper und Gewicht
Bearbeitung der Körperbildstörung
Reduktion dysfunktionaler Überzeugungen hinsichtlich des Selbstkonzeptes
Verbesserung des Selbstwerts
Abbau von überhöhten Leistungsansprüchen
Abbau dysfunktionaler Überzeugungen mit essbezogenem, identitätsstiftendem Charakter
Identifikation individueller Auslösebedingungen und Aufbau alternativer Bewältigungsstrategien
Merke: Problembewusstsein und intrinsische Behandlungs- und Veränderungsmotivation können nicht als gegeben vorausgesetzt werden -> gemeinsames Problemverständnis entwickeln
-> Stufenweise vorgehen (Stepped Care)
Behandlungsbausteine VT
Baustein: Psychoedukation
Baustein: Motivational Interviewing
Baustein: Aufbau strukturierten Essverhaltens
Kognitive Interventionen
Bearbeitung dysfunktionaler Überzeugungen hinsichtlich des Selbstkonzeptes
Bearbeitung des Selbstwerts und Abbau überhöhter Leistungsansprüche
Familiensitzungen: Bearbeitung dysfunktionaler familiärer Interaktionsmuster
Baustein: Erlebnisbasierte Interventionen
Baustein: Training von Emotionsregulationsstrategien und Spannungsabbau
Baustein: Problemlöse- und Fertigkeitentraining
-> alles unter Einbezug der Eltern/ des Familiensystems
Vermittlung eines individuellen, plausiblen Erklärungsmodells, detaillierter Therapievorschlag und hohe Transparenz des Therapierationals
Identifikation individueller Auslösebedingungen
Ziel: Motivierung und Steigerung der Selbstverantwortung
Eltern: Entlastung von Schuldgefühlen
Ziel: Förderung von Änderungsmotivation; Motivation zur Gewichtszunahme; Motivierung und Steigerung der Selbstverantwortung
Alternativen: Besprechung der Folgeerscheinungen; Vor- und Nachteile der Anorexie; Hinterfragen der Befürchtungen
Ziel:
Gewichtszunahme und Normalisierung des Essverhaltens.
Abbau von Heißhungerattacken und gegensteuernde Maßnahmen
Vorgehen:
Mahlzeitenpläne
zum Aufbau strukturierten & ausgewogenen Essverhaltens -> Vorbeugen von mangelernährungsbedingten Essattacken
Familiensitzungen
Vereinbarungen hinsichtlich Einkaufen, Zubereitung und Einnahme des Essens
Einüben gemeinsamer Essenssituationen
Identifikation von individuellen situativen oder emotionalen Auslösern mithilfe von Selbstbeobachtungsprotokolle und Aufbau alternativer Bewältigungsstrategien für typische Auslösesituationen
Identifizierung und Bearbeitung dysfunktionaler Einstellungen zu Körper, Gewicht, Essen und Diätregelm
häufig Überzeugungen mit identitätsstiftendem Charakter (z. B. „Wenn ich dem Essen widerstehe, bin ich stark und kann stolz auf mich sein“)
Abbau überhöhter Leistungsansprüche
Bewältigung weiterer Probleme, die zur Entwicklung der Störung beigetragen haben
ggf. Familiensitzungen zur Bearbeitung dysfunktionaler familiärer Interaktionsmuster
Realistisches Körperbild entwickeln
Zum Beispiel: Spiegelkonfrontationen mit dem Ziel, ein realistisches Körperbild zu etablieren und positive Aspekte des eigenen Körpers zugänglich zu machen
Vermittlung von Fähigkeiten zur
Impuls- und Emotionsregulation
Stressbewältigung
Entspannung
Aufbau alternativer Bewältigungsstrategien zur Rückfallprophylaxe
Vermittlung von Konflikt- und Problemlösekompetenzen sowie Kommunikationsverhalten
MANTRA
= Maudsley Model of Anorexia nervosa treatment for adolescents and young adults (MANTRA) -> Systemischer Therapieansatz
20 (oder 30) wöchentliche Sitzungen + 4 monatliche Booster Sitzungen
Davon 2-3 Sitzungen in der Familie (Konfliktgespräche)
Hauptunterschied zu erweiterter KVT: Gewicht und Figurprobleme sind nicht der Fokus, sondern werden als Symptome grundlegenderer Probleme betrachtet
Im Mittelpunkt steht ein Arbeitsbuch für den/die Patient:in, das Elemente der kognitiven Verhaltenstherapie (z. B. eine schematische Fallformulierung mit Schwerpunkt auf aufrechterhaltenden Faktoren) und Schreibaufgaben zur Unterstützung des Ausdrucks und der Regulierung von Emotionen kombiniert.
Zusätzlich: Verwendung von MI, um die intrinsische Motivation für Veränderungen zu steigern und Widerstände zu überwinden
MANTRA – 3 Therapiephasen
Phase 1
Eltern anleiten zur Unterstützung des Wiederaufbaus der Ernährung der Kinder
Vorübergehende Übertragung der Verantwortung für die Ernährung auf die Eltern
Soll Familie von den anhaltenden Diskussionen um das Essen entlasten
Einbezug der Jugendlichen in diesen Prozess (in Abhängigkeit vom Alter)
Phase 2
Rückgabe der Verantwortung zur Nahrungsaufnahme an Jugendliche/n
Gleichzeitige Förderung ihrer altersgerechten Autonomisierung, Gesundung und angemessenen Familienbeziehungen
Phase 3
Bearbeitung von Themen der Adoleszenz wie Ablösung und Autonomie mit der Familie
-> Eltern werden nicht für die Entstehung der Essstörung verantwortlich gemacht, aber als Ressource sehr stark eingebunden. AN wird als ein familiäres Problem betrachtet; die Familie wird nicht zwingend als Ursache gesehen, sondern als Teil der Lösung -> andere Botschaft: Familie als Ressource, mit der man versucht das Problem zu lösen
-> Übertragen von altersgemäßen Aufgaben: es ist wichtig, dass Jugendliche im Laufe der Therapie lernen, wieder Eigenverantwortung zu übernehmen
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