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Zusammenfassung Zeitdiagnosen

CC
by Cathérine C.

Begriff „Moderne“

Soziologisch lassen sich drei Bedeutungen unterscheiden:

  1. Gegenwärtig → Moderne als Epochenbegriff

  2. Neu (Gegensatz zu alt) → Moderne als Projekt (Habermas)

  3. Vorübergehend (Baudelaire: „modernité“ = das Flüchtige, Kontingente + das Ewige im Momenthaften der Mode)

Tradition vs. Moderne

Karl Polanyis „Große Transformation“ beschreibt den Wandel von einer agrarisch-ländlich, feudal-ständischen Gesellschaft zu einer industriell-städtischen, klassenstrukturierten Gesellschaft. Typische Gegensatzpaare:

  • Agrarisch / Industriell

  • Ländlich / Städtisch

  • Stände / Klassen

  • Gemeinschaft / Gesellschaft

Müller unterscheidet drei Eckfeiler der „Großen Transformation“

  • Ökonomische Revolution in England: führte aufgrund technologischer Fortschritte unter anderem zur

    • Entstehung eines Arbeitsmarktes

    • Trennung von Kapital und Arbeit und

    • Trennung von Betrieb und Haushalt. (2)

  • Politische Revolution in Frankreich etablierte:

    • demokratische Regierungsformen in Europa

    • „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ machte aus Untertanen souveräne Bürger*innen, die über gleiche Rechte verfügen, welche nicht mehr an Stände gebunden waren

    • wenn auch soziale Ungleichheit in Form sozialer Klassen fortbesteht

  • Kulturelle Revolution in Deutschland etablierte:

    • Sie beschreibt den Übergang vom Kollektivismus traditioneller Gesellschaften zum Individualismus moderner Gesellschaften, vorbereitet durch Christentum, Aufklärung, Renaissance und Reformation.

    • Talcott Parsons spricht von Bildungsrevolution (Zusammenhang von Wissenschaft, Bildung, Universität)

      • Neben der Wissenschaft gewinnen auch moralisch-ethische und expressiv-ästhetische Dimensionen an Bedeutung für die moderne Kultur = spezifischen Moralverständnis und einem bestimmten Menschenideal.

    • Die kulturelle Revolution zeigt sich in drei Dimensionen:

      1. ErkenntnisphilosophischSapere aude („Wage es zu denken“, Kant): Ausgang aus selbstverschuldeter Unmündigkeit durch Mut, den eigenen Verstand zu nutzen.

      2. MoralphilosophischKategorischer Imperativ (Kant): Handle nur nach Maximen, die als allgemeines Gesetz gelten könnten.

      3. HandlungspraktischWerde der du bist (Goethe): In Wilhelm Meisters Lehrjahre wird das Ideal der Selbstentfaltung dargestellt – über Bildung und Erfahrungen zur Selbstfindung und verantwortungsvollen gesellschaftlichen Rolle.


Soziologische Zeitdiagnostik

Prisching: “[…] Zeitdiagnosen sind eines der Instrumente, um aus dem Chaos Sinn zu machen”

  • = Versuch, die „Zeichen der Zeit“ zu verstehen, indem auffällige Grundzüge einer Epoche, Gesellschaft, Kultur oder eines Charakters herausgearbeitet, in Zusammenhang gestellt und als vorherrschende Trends/Tendenzen dargestellt werden. Oft verdichtet in einer Formel (z. B. Wilhelminismus, Kapitalismus, Amerikanismus, Narzissmus).

Zeitdiagnosen beschreiben nicht nur Realität, sondern prägen sie auch, indem sie Struktur- und Entwicklungsprinzipien benennen, die Orientierung geben.

  • = ZD sind Frage nach spezifischen Charakteristika der Gegenwartsgesellschaft


Vier Funktionen von Zeitdiagnosen

  1. Konstitutiv: Bieten Orientierungswissen für gesellschaftliche Selbstbeschreibung.

    • Erklären, wann, wo, wie und als was man lebt.

    • Ziel: ontologische Sicherheit.

  2. Kognitiv: Bringen Erfahrungen auf den Begriff und stützen sich idealerweise auf Theorien + empirische Analysen (evidenzbasiert).

    • Ziel: intersubjektiv überprüfbare Erkenntnis.

  3. Expressiv: Fassen den Zeitgeist in Begriffe (z. B. Postmoderne in Kunst/Kultur).

    • Ziel: authentische Erfassung kultureller Stimmung.

  4. Evaluativ: Bewerten Epochen, Gesellschaften, Kulturen, Charaktere nach einem Idealmaßstab. Häufig Diagnose einer Krise als Wendepunkt → Entscheidung: Kurs halten (Katastrophe) oder Umkehr (Annäherung ans Ideal).

    • Ziel: moralische Bestandsaufnahme + Notwendigkeit zur Veränderung.

Drei Hauptprobleme der soziologischen Zeitdiagnostik


1. Problem der Adäquanz: Ist der gewählte Begriff wirklich geeignet, den Gegenstand (Epoche, Gesellschaft, Kultur, Charakter) vollständig zu erfassen?

  • Risiken:

    • Überdehnung: Begriff wird zu weit gefasst (z. B. alles als „kapitalistisch“ bezeichnen).

    • Unterbestimmung: Begriff ist zu vage oder zu oberflächlich.

2. Problem

  • des Modischen Zeitgeists:

    • „Schnellschussdiagnostik“ ohne gründliche Analyse.

    • Medien, Werbung, Konsumindustrie und kommerzielle Sozialforschung verstärken Trends.

    • Gefahr der Selbsterfüllung: ein fragwürdiger Trend wird durch Reaktionen der Gesellschaft erst „wahr“.

  • und der Ideologie:

    • Festhalten an überholten Theorien, selbst wenn empirische Entwicklungen sie nicht mehr stützen.

    • Theoriebildung wird der Realität „angepasst“, ohne echte empirische Basis.

3. Problem des Normativen: Wirklichkeitsurteil (empirische Analyse) vs. Werturteil (moralische Empfehlung).

  • Gefahr: Verwischung der Grenze zwischen Soziologie und Sozialphilosophie.

  • Wissenschaftsideal:

    • Soziologie soll nur beschreiben und erklären, nicht moralisch bewerten.

    • Zeitdiagnosen enthalten aber oft implizit Kritik + normative Alternativen.

Zusätzliche Herausforderungen

  • Zeitpunktproblem:

    • Zu früh → unbeachtet.

    • Zu spät → irrelevant oder zynisch wirkend.

    • „Just in time“ ist ideal, um kollektive Stimmung zu treffen.

  • Unvermeidliche Spekulation:

  • Evidenzbasierung: Zeitdiagnosen können empirisch gesättigt sein, aber niemals ein vollständiges „Abbild“ der Gesellschaft liefern.

    • Es gibt nur verschiedene „Gesellschaftsbilder“ je nach Perspektive.


Karl Marx Zeitdiagnose und Kapitalismuskritik

bedeutender Philosoph, Nationalökonom und Soziologe des 19. Jahrhunderts - Themen: Kapitalismus, Klassenherrschaft und Sozialismus


Seine Gesellschaftstheorie gilt als fundamentale kritische Theorie, die auch heute trotz des Zusammenbruchs des realsozialistischen Systems relevant bleibt. Man unterscheidet zwischen dem

  • frühen Marx (philosophisch geprägt durch Hegel und Feuerbach) und dem

  • späten Marx (fokussiert auf politische Ökonomie).


Vorwissen und wichtige Thesen seiner Zeitdiagnose:

  • Klassenkampf als zentrale Triebkraft der Geschichte – zwischen Unterdrückern und Unterdrückten, die sich immer wieder in revolutionären Umgestaltungen entladen.

  • zwei Hauptklassen gegenüber: die Bourgeoisie (Kapitalisten, Eigentümer der Produktionsmittel) und das Proletariat (Arbeiterklasse). Diese Klassen befinden sich im unversöhnlichen Gegensatz.

  • Leistungen der Bourgeoisie

    • Zerstörung alter feudaler Strukturen und Enttraditionalisierung der Gesellschaft

    • Revolutionierung der Technik und Anhäufung materiellen Reichtums

    • Schaffung einer weltweiten bürgerlichen Zivilisation

  • Aber: Durch Ausbeutung und Unterdrückung schafft die Bourgeoisie das Proletariat, das mit zunehmender Organisierung und politischem Bewusstsein zur revolutionären Klasse wird. Besonders aufgrund vier Faktoren:

    • zunehmende Ausbeutung (Entfremdung und Verelendung)

    • wachsende Klassendichotomie (Verschwinden von Zwischenklassen)

    • zunehmende politische Organisation der Arbeiterklasse

    • eskalierender Klassenkampf

  • proletarische Revolution wird als letzte Revolution gesehen, weil sie nicht nur eine neue Klasse an die Macht bringen, sondern die Klassengesellschaft selbst abschaffen und eine humane, solidarische Gesellschaft schaffen.

  • Sozialismus verbindet den technischen Fortschritt und materiellen Reichtum des Kapitalismus mit der Brüderlichkeit und Gemeinschaft des Kommunismus – das „Beste aus beiden Welten“.

Praxisphilosophisches Grundmodell

  • Marx übernimmt Hegels Idee der Philosophie als Zeitdiagnose

    • nutzt Hegels dialektisches Prinzip von These – Antithese – Synthese, um Geschichte als Prozess von Konflikt und Wandel zu verstehen.

    • transformiert Hegels idealistische Philosophie in eine materialistische Gesellschaftskritik.

    • = Dialektik ist ein Instrument, um gesellschaftlichen Wandel zu verstehen.

  • Marx ergänzt Feuerbachs Materialismus um den Begriff der „Praxis“: Wirklichkeit ist nicht nur objektiv, sondern sinnlich-menschliche Tätigkeit.

    • = Wirklichkeit ist praktische Tätigkeit (Praxis), nicht nur abstrakte Reflexion.

  • Thesen:

    • Der Mensch ist kein abstraktes Individuum, sondern das Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse.

      • menschliche Wesen = „Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“.

    • Gesellschaftliche Verhältnisse als Produktionsverhältnisse: Das, was Menschen sind, hängt von den materiellen Bedingungen ihrer Produktion ab: „Wie die Individuen ihr Leben äußern, so sind sie.“

    • Entfremdung (Alienation) des Menschen, als zerbrochenen Beziehungen des Menschen zu Produkt, Arbeit, Mitmenschen und seinem eigenen Wesen im Kapitalismus

      in 4 Formen:

      • Entfremdung vom Produkt: Das hergestellte Produkt entfremdet sich vom Produzenten und gewinnt materielle Macht über ihn.

      • Entfremdung von der Tätigkeit: Arbeit wird zur monotonen, entfremdeten Routine, fern von der kreativen Selbstverwirklichung des Menschen.

      • Entfremdung zwischen Menschen: Arbeitsteilung und soziale Differenzierung führen zu Konkurrenz, Hierarchien und gesellschaftlicher Spaltung.

      • Entfremdung vom Gattungswesen: Der Mensch verliert die Möglichkeit zur allseitigen, freien Entfaltung seines Wesens als soziale Spezies.

Materialistische Geschichtsauffassung

Gesellschaft basiert nach Marxs immer auf materiellen Lebensverhältnissen. Im Kapitalismus bedeutet dies die Analyse der bürgerlichen Gesellschaft über die politische Ökonomie als Grundwissenschaft.

  • Produktivkräfte = Technik, Fähigkeiten und Fertigkeiten der Produzenten.

    • treiben die gesellschaftliche Entwicklung voran, eingebettet in die Produktionsverhältnisse.

  • Produktionsverhältnisse = gesellschaftliche Eigentums- und Herrschaftsverhältnisse (Kapital vs. Arbeit).

    • bilden die ökonomische Basis, während politische, rechtliche und kulturelle Beziehungen den Überbau darstellen.

  • Überbau folgt meist träge der ökonomischen Basis.

  • Dialektik: Das gesellschaftliche Sein bestimmt das Bewusstsein, nicht umgekehrt.

    • Überbau beeinflusst, wie Gesellschaft sich selbst wahrnimmt.

  • Widerspruch zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen: wenn die Produktionsverhältnisse die Weiterentwicklung der Produktivkräfte behindern und gesellschaftlichen Fortschirtt als “Fesseln” blockieren

    • Dieser Widerspruch führt zwangsläufig zu sozialen Konflikten und Revolutionen.

    • Ziel: neues Gleichgewicht zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen, also eine neue Produktionsweise und Gesellschaftsformation.

  • Historie von Gesellschaftstransformationen:

    • Vorgeschichte: Urgemeinschaft (natürlicher Ausgangspunkt).

    • Asiatische, antike, feudale und bürgerliche Produktionsweisen entsprechen historischen Gesellschaftsformationen.

    • Ziel: Kommunistische Gesellschaft als Endpunkt der historischen Entwicklung, in der nicht-entfremdete Lebensbedingungen auf höherem Niveau wiederhergestellt werden.

Kritik: Idealisierte Harmonie im Kommunismus und Gefahr der Teleologie: Das Modell neigt zu einem „Ende der Geschichte“-Denken, ähnlich wie bei Hegel.


Marxsche Strukturtheoretische Analyse

Marx liefert mit seiner Strukturtheorie des Kapitalismus eine tiefgehende Kritik der kapitalistischen Gesellschaft, indem er aufzeigt, wie kapitalistische Produktionsweise auf der Ausbeutung von Arbeitskraft beruht, wie Mehrwert erzeugt wird und welche inneren Widersprüche zu Krisen führen. Sein Ansatz ist sowohl eine empirische Analyse als auch eine Kritik der ideologischen „Verkehrungen“ der bürgerlichen Ökonomie. Dabei betont er die historische Wandelbarkeit des Systems und die Möglichkeit gesellschaftlicher Veränderung durch bewusstes Handeln.

  • Ware = Grundeinheit der kapitalistischen Ökonomie

    • Ware = Ding mit Gebrauchswert + Tauschwert (zweifache Bestimmung).

      • Arbeitskraft = besondere Ware, weil sie mehr Wert schafft als sie selbst kostet.

    • Gebrauchswert = konkrete, nützliche Arbeit (z.B. Schneiderei für Kleid).

    • Tauschwert = abstrakte, qualitätslose Arbeit (Arbeitszeit als Maß).

    • Wert einer Ware = durchschnittlich notwendige Arbeitszeit zur Produktion.

    • Geld = Ware, die Wert aller anderen Waren materiell ausdrückt (Vermittler im Tausch).

  • Kapital, Lohnarbeit und Mehrwert

    • Kapital: Einsatz von Geld mit Absicht, Wert zu mehren (Mehrwertbildung).

    • Spezielle Ware auf dem Markt, die Mehrwert schafft: Arbeitskraft (Arbeitsvermögen eines Menschen).

    • Proletarier = Menschen, die nur Arbeitskraft besitzen und diese verkaufen.

    • Verhältnis toter und lebendiger Arbeit

      • Tote Arbeit = Maschinen und Produktionsmittel (konstantes Kapital c).

      • Lebendige Arbeit = Arbeitskraft (variables Kapital v).

  • Ausbeutung: Formen der Mehrwertsproduktion

    • Absoluter Mehrwert: Verlängerung des Arbeitstages erhöht Mehrwert (begrenzt durch kollektiven Widerstand).

    • Relativer Mehrwert: Verkürzung der notwendigen Arbeitszeit durch Produktivitätssteigerung (Technologie), wodurch Arbeitskraft billiger wird.

    • Wertschöpfung entsteht nur durch lebendige Arbeit. Organische Zusammensetzung des Kapitals = Verhältnis c/v.

    • Marx geht davon aus, dass ein Unternehmen mehrere Produktionsbereiche besitzt, die unterschiedliche Profitraten abwerfen. Der Kapitalist wird den durchschnittlichen Profit errechnen und ihn dem Kostpreis zuschlagen. Daraus resultiert der Produktionspreis, den der Kapitalist auf alle Fälle erhalten will, zB durch

      • Erhöhung des Exploitationsgrades (m/v)

      • Senkung der Löhne unter Existenzminimum

      • Verbilligung von konstantem Kapital (Maschinen etc.)

      • Relative Überbevölkerung (Reservearmee)

      • Außenhandel

      • Aktienkapital

  • Paradoxe Folge steigender organischer Zusammensetzung:

    • Mehr Investition in Maschinen (c steigt) → weniger Arbeitskraft (v sinkt).

      • Für Kapital: Mehr Maschinen sollen Mehrwert steigern, reduzieren aber auch Mehrwertquelle (Arbeitskraft).

      • Für Arbeit: Führt zu technologischer Arbeitslosigkeit und industrieller Reservearmee (Überangebot an Arbeitskräften).

    • Grundwiderspruch des Kapitalismus

      • Gesellschaftliche Produktion vs. private Aneignung = Überproduktions- und Unterkonsumtionskrise:

        • Mehr Güterproduktion, aber Arbeiter können wegen Lohnsenkungen und Arbeitslosigkeit nicht genug konsumieren.

      • Widerspruch zwischen Bourgeoisie (Kapitalisten) und Proletariat (Arbeitern).

  • Kapitalakkumulation führt zu Produktivitätswachstum, das schneller als Bevölkerung wächst = Überproduktion bei gleichzeitigem Mangel an Nachfrage → wiederkehrende Wirtschaftskrisen -> Grund für Revolution


Durkheim Zeitdiagnose und Institutioneller Individualismus

Durkheims Forschungsprogramm macht die Soziologie zu einer eigenständigen Wissenschaft, die soziale Phänomene unabhängig von Individuen untersucht, mit klaren Kriterien (Äußerlichkeit, Zwang, Allgemeinheit, Unabhängigkeit) und einem methodischen Dreischritt aus Beschreibung, Erklärung und Beurteilung.


Was ist Soziologie für Durkheim?

  • Definition: „Wissenschaft von den Institutionen, deren Entstehung und Wirkungsart.“

  • Nicht nur politische Einrichtungen wie bei Montesquieu, sondern alle sozialen Faktoren, Strömungen und kollektiven Vorstellungen.

  • Zentraler Gegenstand: soziale Phänomene (faits sociaux).

„fait social“: „Jede mehr oder minder festgelegte Art des Handelns, die auf den Einzelnen einen äußeren Zwang ausüben kann und im Rahmen einer Gesellschaft allgemein auftritt, unabhängig von individuellen Äußerungen.“


Vier Merkmale sozialer Phänomene (Tatbestände)

  1. Äußerlichkeit: Existieren außerhalb des individuellen Bewusstseins.

    • Nicht angeboren, sondern durch Erziehung erworben.

    • = Gesellschaft als Realität sui generis: Gesellschaft ist eine eigene Realität (emergent), nicht auf Physik, Biologie oder Psychologie reduzierbar.

      • Nach dem Prinzip der schöpferischen Synthese: Aus vielen Individuen entsteht etwas Neues.

  2. Zwang: Soziale Regeln üben imperativen Druck aus.

    • Sichtbar, wenn Normen verletzt werden → Sanktionen.

    • Beispiele: Gesetze, Moral, Sitten.

  3. Allgemeinheit: Phänomen Tritt häufig und verbreitet in einer Gesellschaft auf.

    • Gilt auch für „indirekten Zwang“: kollektive Stimmungen, statistische Raten (Ehen, Geburten, Suizide).

  4. Unabhängigkeit: Soziale Muster sind mehr als die Summe individueller Fälle.

    • Statistische Raten zeigen die „soziale Tendenz“ ohne individuelle Abweichungen.


Drei Schritte der soziologischen Methode

1.Beschreibung

  • Befreien von Vorurteilen, soziale Fakten „wie Dinge“ (comme des choses) betrachten.

  • Präzise Initialdefinition erstellen, objektiv und allgemein.

  • Empirische Erscheinungsformen statt nur Ideen untersuchen.

2.Erklärung

  • Genese (Wie ist es entstanden?) und Funktion (Wozu dient es?) getrennt analysieren.

  • Methode: Historisch-komparativ

    • Diachron: Entwicklung über die Zeit.

    • Synchron: Vergleich verschiedener Gesellschaften zu einem Zeitpunkt.

3.Beurteilung

  • Frage: Ist ein Phänomen normal oder pathologisch?

  • Kriterium: Allgemeine Verbreitung + historische Bedingungen prüfen.

    • Wenn Bedingungen noch gegeben → normal.

    • Wenn nicht → pathologisch.


Durkheims institutioneller Individualismus

will die Werte von 1789 (der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) nicht nur als Ideal, sondern durch passende Institutionen real umsetzen – so, dass individuelle Autonomie und soziale Solidarität in einer arbeitsteiligen Gesellschaft dauerhaft zusammen bestehen können.


Ausgangspunkt: Die Ordnungsproblematik

  • Frage: Wie lässt sich soziale Ordnung mit individueller Freiheit vereinbaren?

  • Durkheim lehnt die utilitaristische Antwort (Adam Smith, Herbert Spencer) ab: → „Individuelle Interessenverfolgung führt automatisch zu gesellschaftlichem Wohlstand.“ → Problem: zu instabil, zu schwach als moralische Grundlage.

  • Stattdessen orientiert er sich an Kant: moralische Autonomie durch den kategorischen Imperativ als Basis einer geregelten, gerechten Ordnung.

Drei Thesen nach Durkheim

  1. 1. Zeitdiagnostische These

    Durkheim beschreibt die Gegenwart seiner Zeit (spätes 19. Jh.) und erkennt:

    • Die moderne Gesellschaft ist hochgradig arbeitsteilig. Damit diese komplexe Zusammenarbeit funktioniert, brauchen wir mehr als nur wirtschaftliche Interessen.

    • Lösung: Institutioneller Individualismus → Institutionen (Schulen, Rechtssystem, Berufsverbände etc.) müssen so gestaltet werden, dass sie individuelle Rechte und Freiheiten schützen, aber auch Solidarität sichern. 💡 Beispiel: Eine moderne Schule vermittelt nicht nur Wissen (für den Job), sondern auch Werte wie Respekt und Gerechtigkeit, die das gesellschaftliche Miteinander sichern.

    2. Werkinterpretatorische These

    • Früher Durkheim → Fokus auf Arbeitsteilung und Differenzierung.

    • Später Durkheim → Fokus auf Religion und gemeinsame Werte.

    • Diese Phasen sind kein Bruch, sondern unterschiedliche Perspektiven auf dasselbe Grundproblem: Wie hält man eine Gesellschaft zusammen, während Individuen immer freier werden? 💡 Beispiel: Arbeitsteilung erklärt, wie Menschen funktional zusammenarbeiten; Religion erklärt, warum sie sich moralisch gebunden fühlen.

    3. Systematische These

    • Die philosophische Frage: „Wie lassen sich Ordnung und Freiheit vereinen?“

    • Durkheim übersetzt sie in soziologische Begriffe:

      • Arbeitsteilung (strukturelle Verbindung der Menschen)

      • Moral / Solidarität (emotionale und normative Verbindung der Menschen)

    • Damit zeigt er: Die Stabilität einer Gesellschaft hängt nicht nur von Wirtschaft und Macht ab, sondern auch davon, wie moralische Werte institutionell verankert sind. 💡 Beispiel: Ein Justizsystem, das nicht nur Strafen verteilt, sondern auch das Prinzip der Gleichheit vor dem Gesetz aktiv schützt.


Arbeitsteilung

  • Moderne Gesellschaften basieren auf freiwilliger Kooperation → führt zu Arbeitsteilung. Aus Kooperation entstehen Pflichten und Zwänge, die langfristig soziale Solidarität sichern.

  • Frage: Wie kann das Individuum gleichzeitig autonomer und abhängiger von der Gesellschaft werden?

    • → Antwort: durch eine veränderte Form sozialer Solidarität in einer hochgradig arbeitsteiligen Gesellschaft.

Drei pathologische Formen der Arbeitsteilung

Durkheim geht grundsätzlich davon aus, dass Arbeitsteilung in modernen Gesellschaften normal und sogar stabilisierend ist –

aber unter bestimmten Bedingungen kann sie krankhafte (pathologische) Formen annehmen.


a) Anomische Arbeitsteilung: Regellosigkeit / Orientierungslosigkeit

  • Ursache: Sehr schneller sozialer und wirtschaftlicher Wandel → neue Berufe, Institutionen, Wissensbereiche entstehen.

  • Problem: Es gibt noch keine etablierten Regeln für das Miteinander dieser neuen Funktionen.

  • Folge: „Anomie“ = Normlosigkeit → Menschen wissen nicht, was sie voneinander erwarten können.

  • Beispiel: Plötzliche Industrialisierung, Globalisierungsschub, Finanzkrisen.

  • Durkheims Einschätzung: Übergangskrise, kein dauerhafter Systemfehler. → Mit der Zeit bilden sich neue Regeln (erst informell, dann rechtlich), und die Solidarität stabilisiert sich wieder.

b) Erzwungene Arbeitsteilung: Ungerechte Ordnung / illegitime Regeln

  • Ursache: Die bestehenden Regeln spiegeln nicht mehr das moralische Bewusstsein der Gesellschaft wider.

  • Problem: Regeln werden als ungerecht und unterdrückend empfunden, weil sie Privilegien sichern.

  • Folge: Konflikte, Klassenkämpfe, Streiks, „ungerechte Verträge“.

  • Beispiel: Arbeitsgesetze, die nur Arbeitgebern nützen, Eigentumsrechte, die extreme Ungleichheit zementieren.

  • Durkheims Einschätzung: Systemkrise → hier helfen keine bloßen Anpassungen, sondern tiefgreifende Reformen der Regeln.

  • Unterschied zu Marx:

    • Marx: Sieht hier den Kern des Kapitalismus → Ausbeutung nur durch Revolution behebbar.

    • Durkheim: Sieht erzwungene Arbeitsteilung eher als Begleiterscheinung von Anomie, nicht als Dauerzustand.

c) „Innere Koordinationsdefizite“: Schwache Abstimmung zwischen Funktionen

  • Ursache: Innerhalb einer Organisation oder eines Funktionsbereichs stimmen sich die einzelnen Teile nicht ausreichend ab.

  • Problem: Selbst wenn Regeln existieren, greifen sie nicht ineinander, und die Zusammenarbeit stockt.

  • Beispiel: Forschungsteams, die parallel arbeiten, aber Ergebnisse nicht teilen; Abteilungen eines Unternehmens, die gegeneinander arbeiten.

  • Durkheim behandelt diese Form am kürzesten – er sieht sie eher als technisch-organisatorisches Problem.


Anomie vs. Zwang - Durkheim unterscheidet klar:

  • Anomie = Vorübergehender Mangel an Regeln, der sich durch Selbstorganisation lösen kann.

    • Die moderne Gesellschaft befindet sich hauptsächlich in einer anomischen Übergangskrise.

    • Zwang ist für ihn nur eine temporäre Begleiterscheinung der Anomie.

  • Zwang = Dauerhafte, illegitime Regeln, die nur durch bewusste politische Veränderungen beseitigt werden können.

Therapie“: Geplanter sozialer Wandel, keine Revolution → Institutionen anpassen, Regeln schaffen.


Soziale Solidarität

= tatsächlich gelebtes soziales Band, das Menschen trotz Individualisierung miteinander verbindet. Zeigt sich im Gefühl der Zugehörigkeit, gemeinsamen Verpflichtungen und wechselseitigen Abhängigkeiten

  • Durkheim: „Solidarität ist ein rein moralisches Phänomen, das aus dem Bewusstsein der Individuen hervorgeht.“, als Zusammenspiel von:

    Sozialstruktur (Wie eine Gesellschaft aufgebaut ist) Und Kultur/ Werten

  • Gleichgewicht dieser Puntke = Solidarität

Heißt: ein rechtliches oder ökonomisches Verhältnis und beruht auf gemeinsamen moralischen Überzeugungen – z. B. was gerecht, gut oder verpflichtend

  • = nur gerechte Institutionen, die Werte widerspiegeln, erzeugen moralische Autorität und sozialen Zusammenhalt.

Arten sozialer Solidarität

  1. Mechanische Solidarität: Archaische Gesellschaften

    1. in kleinen, segmentierten Einheiten

    2. stark einheitliches Kollektivbewusstsein

    3. Integration direkt in die Gemeinschaft

    4. Basis: Ähnlichkeit aller

  2. Organische Solidarität: Moderne Gesellschaften

    1. in großen differenzierten Lebensbereichen

    2. vielfältiges und funktionsspezifisches Kollektivbewusstsein

    3. Integration indirekt über Arbeitsteilung und INterdependenzen

    4. Basis: Unterschiedlichkeit (Arbeitsteilung) aller

    -> Problem: Träger der organischen Solidarität:Wer sind konkret die Gruppen, die Solidarität in einer arbeitsteiligen Gesellschaft stützen?

= Solidarität ist ohne Moral nicht möglich, denn sie beruht auf einer gemeinsam geteilten Vorstellung davon, was richtig und verbindlich ist – sei es durch Ähnlichkeit (mechanisch) oder funktionale Abhängigkeit (organisch).


Durkheim erkennt selbst, dass er drei Probleme nicht klar genug gelöst hat:

  1. Träger organischer Solidarität: Wer sorgt eigentlich dafür, dass Solidarität im Alltag wirklich gelebt wird?

    • → Durkheim ergänzt später Berufsgruppen (z. B. Kammern, Verbände) als mögliche Träger.

  2. Rolle des Staates: Zwischen starkem Staat (Comte) und minimalem Staat (Spencer).

    • → Ist der Staat nur „Nebenprodukt“ der Differenzierung oder aktiver Garant der Gerechtigkeit?

  3. Rolle des modernen Kollektivbewusstseins: Unklar: Reicht Individualismus wirklich aus, um Solidarität zu sichern?

    • Früher: Religion als gemeinsames Wertesystem.

    • Heute: „Kult des Individuums“ als neues Kollektivideal.

Suizid

= soziales Phänomen moderner Gesellschaften als Ausdruck eines tiefen gesellschaftlichen Unbehagens, die trotz der scheinbar individuellen Entscheidung soziale Ursachen hat:

  1. Er widerlegt biologische, klimatische und psychologische Erklärungen für Selbstmord, da diese keinen signifikanten Zusammenhang mit den Suizidraten zeigen.

  2. Typologie mit vier Selbstmordarten:

    • Egoistischer Selbstmord: Folge mangelnder sozialer Integration (z.B. bei Protestanten oder alleinstehenden Menschen).

    • Altruistischer Selbstmord: Folge übermäßiger Integration (z.B. in traditionellen Gemeinschaften oder Armeen).

    • Anomischer Selbstmord: Entsteht durch Regellosigkeit in Krisen oder bei plötzlichem sozialen Auf- oder Abstieg.

    • Fatalistischer Selbstmord: Resultat übermäßiger Regelung (wird von Durkheim kaum behandelt).

  3. Zeitdiagnose und Schlussfolgerung:

    • Durkheim sieht insbesondere Egoismus und Anomie als Symptome einer moralischen Krise in der modernen Gesellschaft.

    • Durkheim gelingt mit dieser Studie ein wichtiger Beitrag zur Soziologie, indem er zeigt, dass selbst intime, persönliche Entscheidungen wie Selbstmord stark von gesellschaftlichen Faktoren geprägt sind.

    • Dennoch bleibt sein Ansatz einseitig, da er psychologische Motive ausklammert und keine Therapie für die diagnostizierte Gesellschaftskrise bietet.


Mit zunehmender Arbeitsteilung und dem Übergang von Geburtsprivilegien zu Leistungskriterien wird Beruf zum zentralen Lebensbereich.

  • Kontraktionsgesetz der Familie: Familie und Verwandtschaft verlieren an sozialer Bindekraft

    • Arbeit erfüllt nun drei entscheidende Bedingungen für Solidarität:

      1. Zeit (hier verbringen Menschen den Großteil ihres wachen Lebens)

      2. Kontakt (Regelmäßiger Austausch mit anderen)

      3. Kooperation (Zusammenarbeit für gemeinsame Ziele) → Daraus können Regeln entstehen, die organische Solidarität stiften.

Staat und Berufsgruppen

Durkheim will eine Gesellschaft, in der moralischer Individualismus (Würde & Rechte des Einzelnen) nicht nur als Ideal existiert, sondern durch Institutionen gesichert wird – vor allem durch Berufsgruppen als Mittler zwischen Individuum und Staat, in einer Demokratie mit klarer Machtbalance.

  • Berufsgruppen sollen nicht nur wirtschaftliche Anomie verhindern, sondern auch politische Reorganisation unterstützen als Träger organischer Solidarität

    • mittlere Größe zwischen Familie und Staat → gute Vermittler.

    • Sie können Berufsinteressen artikulieren und zwischen privaten Pflichten (Familie) und öffentlichen Pflichten (Staat) vermitteln.

    • Organisationsmodell:

      • Gewählter administrativer Rat (nationale Ebene, alle Industriezweige vertreten).

      • Untergeordnete Organe auf regionaler und lokaler Ebene.

      • Zwei-Kammer-System mit Zwangsmitgliedschaft:

        • Kammer der Arbeitgeber

        • Kammer der Arbeitnehmer

      • Zuständig für: Arbeitsbedingungen, Löhne/Gehälter, Wettbewerbsregeln.

  • Durkheim lehnt eine Gesellschaft aus „unorganisierten Individuen“ ab, die nur von einem zentralen Überstaat zusammengehalten wird → sieht darin Gefahr für Demokratie.

Rolle des Staates

  • Einerseits Produkt sozialer Differenzierung.

  • Andererseits eigenständiges Organ mit bewusstem, reflektiertem Handeln.

  • Aufgaben des Staates:

    • Artikulation (gesellschaftliche Vorstellungen aufnehmen)

    • Systematisierung & Entscheidung

    • Integration (Hüter des Kollektivideals)

  • Wandel des Kollektivideals:

    • Früher: „Kult des Staates“ (Individuum unwichtig, Staat alles).

    • Heute: „Kult des Individuums“ (Person ist heilig, Staat bleibt wichtig).

Gefahr: Spannung zwischen Individualismus (revolutionäre Ideale) und bürokratischer Routine (Traditionalismus).

  • Ziel: „Kult des Individuums“ praktisch leben → Rechte und Würde jeder Person werden zum höchsten gesellschaftlichen Wert.

  • Sieht Demokratie als besonders geeignet.

    • Machtbalance + Kommunikation zwischen Berufsgruppen und Staat = Voraussetzung für Autonomie des Individuums.


Institutioneller Individualismus als Die Lösung

  • Definition: Eine institutionelle Konfiguration, die moralischen Individualismus (Werte der Französischen Revolution: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) in der gesellschaftlichen Realität verankert.

    • Diese Werte existieren schon in Verfassungen und Köpfen, sind aber noch nicht institutionell umgesetzt. Umsetzung nicht durch Revolution (wie bei Marx), sondern durch geplante institutionelle Reformen.

  • Ziel: Institutionen so gestalten, dass sie individuelle Freiheit UND soziale Gerechtigkeit ermöglichen.

Abgrenzung zu Karl Marx

  • Gemeinsamkeit: Werte der Französischen Revolution, Regulierung der Ökonomie.

  • Unterschiede:

    • Marx: Kapitalismus, Entfremdung, Revolution, Vergesellschaftung der Produktionsmittel.

    • Durkheim: Industrielle Gesellschaft, Anomie, Reformen statt Revolution, organische Solidarität statt Klassenkampf. Klassen sind für Durkheim Übergangsphänomen, das mit Abbau sozialer Ungleichheiten verschwindet.


Durkheims Ziel: Korporative Gesellschaft (Soziologie der Moral)

Er orientiert sich an Saint-Simon und will eine „korporative Gesellschaft“ schaffen, die zwei Dinge gleichzeitig erreicht:

  • Politisierung der Ökonomie → Die Wirtschaft soll nicht als autonomer Selbstläufer agieren, sondern in die gesellschaftliche Steuerung eingebunden werden.

  • Ökonomisierung der Politik → Politik soll anerkennen, dass die Wirtschaft in der modernen Gesellschaft eine zentrale Rolle spielt, und Berufsgruppen als wichtige, autonome und demokratische Einheiten einbinden.


3 Vorteile der korporativen Gesellschaft

  1. Mäßigung statt Abschaffung von Konkurrenz

    • Ziel ist nicht die vollständige Beseitigung wirtschaftlicher Kämpfe, sondern ihre Regulierung, damit soziale Beziehungen nicht zerstört werden.

    • So entsteht organische Solidarität trotz Wettbewerb.

  2. Stärkung des demokratischen Staates

    • Durch die Rückbindung der Wirtschaft an zentrale Regelorgane kann der Staat zugunsten des Individuums eingreifen.

    • Ergebnis: Mehr soziale Gerechtigkeit.

  3. Beste Bedingungen für moralischen Individualismus

    • Unter diesen Rahmenbedingungen sind die Chancen am größten, dass das Individuum als eigenständiger moralischer Wert geachtet wird.

    • Durkheim will so eine theoretische Brücke schlagen zwischen:

      • Utilitarismus (z. B. Spencer: Primat der Ökonomie)

      • Sozialismus (Fokus auf kollektive Organisation)

    • Er akzeptiert die zentrale Rolle der Wirtschaft, ohne Gesellschaft auf „Markt“ zu reduzieren, und betont, dass politische und berufliche Organisation nötig sind.


Rolle des Staates in einer korporativen Gesellschaft

  • Für Durkheim ist der Staat Hüter des Kollektivideals und Organ, das der Gesellschaft Selbstbewusstsein verleiht.

  • Er ist Sachwalter des Allgemeininteresses, nicht Selbstzweck.

  • Unterschied zu Hegel:

    • Hegel: Staat selbst ist das Kollektivideal.

    • Durkheim: Individuum ist das Kollektivideal.

  • → Deshalb wird Durkheim oft als Vertreter einer substanziellen / normativen Demokratietheorie gesehen.

Politische Vision

Durkheim glaubt, dass die Weiterentwicklung der Ideen von 1789 (Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit) zu einer modernen Demokratie führen kann, in der:

  • Der Staat Hüter des individualistischen Kollektivideals ist,

  • Berufsorganisationen Wirtschaft & Politik regulieren,

  • Bildung autonome Persönlichkeiten hervorbringt.


Grundformen menschlicher Existenz – Religion und Erkenntnis

Durkheim wollte nicht sofort eine große „Essenzdefinition“ geben, sondern die minimalen Grundelemente finden, die jede Religion – auch die einfachste – haben muss.


Was ist Religion überhaupt?

Er identifiziert zwei grundlegende Unterscheidungen:

  1. Heilig vs. profan

    • Heilig: durch Verbote geschützt, abgesondert, höher bewertet

    • Profan: das Alltägliche, nicht-abgesonderte

    • Die Trennung ist strikt, oft antagonistisch.

  2. Glaube vs. Ritus

    • Glaube: Vorstellungen, Überzeugungen über das Heilige

    • Ritus: Handlungsweisen im Umgang mit dem Heiligen

  3. Abgrenzung von Magie: Nur Religion kennt eine Kirche – also eine moralische Gemeinschaft aller Gläubigen (nicht nur Priester).


    → Definition: „Religion ist ein solidarisches System von Überzeugungen und Praktiken zu heiligen Dingen, das alle, die dazugehören, in einer moralischen Gemeinschaft (Kirche) vereint.“

Durkheim lehnt rein spiritualistische oder idealistische Religionstheorien ab – Religion ist für ihn immer auch Handlung, nicht nur Glaube.


Bestandteile

  • Glaube (le croyance): Kognitive Inhalte einer Religion

    • = kollektive Vorstellungen über das Heilige, die eine Gruppe miteinander teilt

    • Glaubensinhalte sind kollektive Repräsentationen – also gesellschaftlich geteilte Symbole, die gemeinsame Bedeutung stiften. (Repräsentations collectives)

    • z.B. „Es gibt einen Gott, der allmächtig ist.“

  • Ritus (le rite): kollektiv geregelte verhaltensregulierende Handlungen, die den Glauben körperlich und sozial umsetzen

    • Riten strukturieren den Umgang mit dem Heiligen: wann, wie und wer sich dem Heiligen nähern darf – oder es vermeiden muss.

    • Sie schaffen soziale Kohärenz und kollektive Identität.

    • z.B. Opfer bringen, Beten, Fasten, etc

Diese Trennung spiegelt das Verhältnis von Denken und Tun in Religion wider.


Dreifache Perspektive auf Religion

  1. Kausale Hypothese – Religion ist sozial bedingt → Sie entsteht aus sozialen Bedingungen, insbesondere in Momenten kollektiver Erregung

    1. effervescence créatrice“: In Momenten intensiver kollektiver Versammlung (z. B. Rituale, Feste, Trauer) entsteht ein emotionaler Überschuss, der als „überindividuelle Kraft“ erlebt wird.

  2. Interpretative Hypothese – Religion ist nicht nur kausal aus Gesellschaft hervorgegangen, sondern sie bildet diese auch ab: repräsentationstheoretischen Sicht:

    • Kognitiv: Religion bildet gesellschaftliche Strukturen ab

      • Gott = Gesellschaft: Was als Gott oder Heiliges verehrt wird, ist in Wahrheit die Gesellschaft selbst in überhöhter Form.

        = Religion erzeugt damit kollektive Weltdeutungsmuster, die Denken und Wahrnehmung strukturieren.

        z.B. Kalender mit Feiertagen basiert auf kollektiven Gedenkakten, nicht auf Naturgesetzen.

    • Expressiv: Religion dramatisiert und symbolisiert gesellschaftliche Wirklichkeiten

      • Religion ist eine Bühne, auf der Gesellschaft sich selbst inszeniert: durch Rituale, Mythen, Feste.

        Sie dramatisiert ihre Werte, Normen und Konflikte in symbolischer Form – etwa durch Opfer, Reinigung, Tabus.

  3. Funktionale Hypothese – Religion ist nicht nur ein „Abbild“ der Gesellschaft, sondern wirkt auf Gesellschaft & Individuum zurück

    • Makrosozial:

      • Integration: Religion stiftet Zusammenhalt durch gemeinsame Rituale, Werte, Normen.

      • Kollektive Identität: Durch das Heilige wird eine moralische Gemeinschaft („Kirche“) gebildet.

      • Kulturstiftung: Religion trägt zur Entwicklung von Recht, Moral und Wissen bei.

      • Selbstreflexion der Gesellschaft: In der religiösen Symbolik denkt Gesellschaft über sich selbst nach.

    • Mikrosozial:

      • Lebensorientierung: Religion gibt dem Einzelnen Sinn, Halt und moralische Orientierung.

      • Disziplinierung: Rituelle Vorschriften strukturieren das Verhalten, formen den Charakter.

      • Kraftquelle: Durch Rituale oder Gebet erlebt das Individuum Kollektivmacht als innere Stärke.

Heißt: Das Gebet an Gott ist in Wahrheit die Mobilisierung kollektiver Energie – aber sie wird als persönliche Kraft erlebt.


Moderner Individualismus

  • Religion ist nicht nur etwas Vergangenes – Durkheim sieht in der Moderne eine neue Form der Religion: den moralischen Individualismus.

    • Hier wird das Individuum selbst heilig – ähnlich wie früher Gottheiten.

  • „Der Mensch ist Gott für den Menschen.“ → Jede Person trägt etwas Göttliches (Menschheit) in sich.

= Moderne Gesellschaften heiligen nicht mehr Götter, sondern das Individuum: „Der Mensch ist ein Gott für den Menschen geworden.“ Individuum wird in seiner Würde und Unverletzlichkeit religiös überhöht = moralischen Individualismus.




Georg Simmel Zeitdiagnose und Ambivalenz der Moderne

Simmel hatte eine mstrittene Position in der Soziologiegeschichte:

  • Pro: Begründer der formalen Soziologie, Analyse sozialer Strukturen, Prozesse, Wechselwirkungen (z. B. Arbeitsteilung, soziale Differenzierung, Über-/Unterordnung, Kreuzung sozialer Kreise).

  • Contra: Kein klarer, eigener Ansatz; keine „Simmel-Schule“ gegründet.


Seine Zentralen Themen:

  • Grundproblem: Verhältnis von gesellschaftlicher Differenzierung und menschlicher Individualität.

  • Tenbruck (1958): Wertvoll ist das Ineinander von Strukturanalyse und Kulturanalyse.

    • Gesellschaftsanalyse: Differenzierung → schafft Freiräume & Möglichkeiten zur Individualität.

    • Kulturanalyse: Prüft, ob diese Freiräume auch kulturell abgesichert werden → autonome Lebensführung möglich?

  • Leitfragen

    • Wie ist Gesellschaft möglich? → soziale Differenzierung, Geldwirtschaft, Urbanität.

    • Wie ist Individualität möglich? → „Tragödie der Kultur“, „individuelles Gesetz“.

  • Ambivalenz: Moderne bietet Chancen zur Selbstentfaltung, aber fehlen oft verbindliche Wertorientierungen.


Perspektivischer Relativismus

  • Wahrheit ist immer relativ zum Standpunkt, zur Zeit und zum gesellschaftlichen Kontext.

  • Erkenntnis: ist konstruiert, relativ und zweckgebunden: Der Mensch ordnet diese selbst, indem er die Welt in Formen, Begriffe, Kategorien fasst. Diese Ordnungen sind nicht falsch, aber eben auch nicht absolut wahr – sie sind relativ zur Perspektive, zur Zeit, zum Zweck.

    • “Unsere Begriffe sind Werkzeuge, nicht Spiegelbilder.”

  • Es gibt keine absolute, sondern nur perspektivische Erkenntnis – je nach Disziplin, Erkenntnisinteresse und sozialen Bedingungen.

    • Jede Wissenschaft liefert nur ausschnittsweise, historisch variable Erkenntnisse.

  • Anlehnung zu Kant: “Der Mensch erkennt nicht einfach die Welt „wie sie ist“, sondern nur wie sie ihm erscheint, gefiltert durch bestimmte notwendige und universale Strukturen des Verstandes, die fix, ewig und für alle Menschen gleich sind.” = Apiori (z.B. Raum, Zeit, Kausalität)

    • Aber findet, dass Erkenntnisse historisch/gesellschaftlich wandelbar sind

  • = Relativistischer Charakter des Seins

    • Auflösung einheitsstiftender Werte → pluralistischer Wertekosmos.

    • Lebensbereiche (Recht, Moral, Kunst, Wissenschaft, Politik, Wirtschaft) → haben eigene Regeln & Dynamiken.

3 Erkenntnisstufen

  1. Pragmatische Stufe: “Wahr ist, was nützt.“→ Erkenntnis entsteht aus praktischem Bedürfnis

    • Menschen müssen handeln, überleben, entscheiden → Sie entwickeln Begriffe, Erklärungen, Ordnungssysteme, die dabei helfen.

  2. Darwinistische Stufe: Erkenntnisformen unterliegen einem Auswahlprozess – analog zur biologischen Evolution:

    • Sie entstehen, behaupten sich (oder nicht), werden angepasst oder ersetzt.

    • = historischer Prozess mit Selektion, Mutation, Anpassung.

      • kein Ziel der „absolute Wahrheit“, sondern ein ständiges Sich-Behaupten im Lebens- und Erkenntnisraum.

  3. Spezialisierung: “Immer neue Disziplinen schaffen eigene Erkenntnislogiken.” -> Erkenntnis wird plural - Simmel spricht hier von einem "relativen Apriorismus".

Homo Duplex - der Mensch als Grenzwesen

  • Grenzwesen: Mensch ist durch Grenzen bestimmt, welche ihm Orientierung in der Welt geben. Diese Grenzen sind veränderlich und werden auch überschritten → Mensch steht diesseits und jenseits von Grenzen.

  • Homo duplex:

    • Standbein in der Gesellschaft (soziale Existenz).

    • Spielbein außerhalb (personale Existenz).

  • Individualität entsteht im Zusammenspiel von sozialer Zugehörigkeit und persönlicher Distanz.

  • Simmel lehnt Soziologismus (à la Durkheim) ab: Gesellschaft ist Geschehen, nicht Substanz.


Gesellschaft und Formen der Vergesellschaftung

  • Gesellschaft existiert, wo Individuen in Wechselwirkung treten innerhalb von sozialer Strukturen, wie z. B. Konkurrenz, Streit oder Arbeitsteilung

  • Drei Arbeits(Forschungs)gebiete:

    1. Reine Soziologie (formale Soziologie): untersucht Formen der Wechselwirkung.

    2. Allgemeine Soziologie: bettet spezielle Erkenntnisse in allgemeine Prinzipien ein.

    3. Philosophische Soziologie: Erkenntnistheorie & kulturelle Deutung.


Gesellschaftliche Differenzierung

drei zentrale Prozesse

  1. Arbeitsteilung: spart Kräfte, erhöht Produktivität und verringert Konkurrenz, weil nicht alle dasselbe machen. = (Prinzip der Kraftersparnis).

  2. Rollendifferenzierung:

    • In größeren Gruppen hat der Einzelne mehr Möglichkeiten, seine Individualität auszuleben, weil mehr Rollen (z. B. beruflich, familiär, freundschaftlich) verteilt werden können.

    • Je mehr Rollen sich überschneiden, desto größer die Freiheit in der Selbstgestaltung. (soziale Kreise)

  3. Funktionsdifferenzierung:

    • Gesellschaft spaltet sich in Eigenständige Funktionsbereiche (Wirtschaft, Wissenschaft, Recht) = „formale Lebensmächte“ mit eigenen Normen/Werten.

      • Bringen Widersprüche in die „Totalität des Lebens“. Mensch wird nicht mehr als Ganzes angesprochen – sondern nur noch als Käufer, Wähler, Angeklagter, Patient etc.

      • = erzeugt Zustand der „Tragödie der Kultur“

        • Die vom Menschen geschaffenen objektiven Formen (Geld, Wissenschaft, Recht...) verselbstständigen sich und werden mächtiger als der Mensch selbst, der sie ursprünglich geschaffen hat.

Geldwirtschaft

Geld = zentrales Symbol der Moderne und einer funktional differenzierten Gesellschaft.

  • Es verobjektiviert soziale Beziehungen: Menschen begegnen sich weniger persönlich, sondern auf der Basis von Tauschwert und Zweckmäßigkeit.

  • Gleichzeitig differenziert Geld, weil ungleich verteilt → soziale Distanz, Ungleichheit, Freiheit von Bedürftigkeit.


Urbanität = Brennpunkt der Moderne

-> Großstadt ist der Ort, an dem sich all diese Prozesse verdichten


Strukturmerkmale einer Großstadt

  1. Steigerung des Nervenlebens (Tempo, Reizvüberflutung).

  2. Intellektualistischer Charakter (Verstand > Gemüt).

    • Individuum entwickelt gegen Reize einen „intellektualistischen Schutzmechanismus“ – also:

      • Rationalität, Distanz und Gefühlsabstumpfung

      • = Verstandesdominanz führt zu Raum, in dem Individualität entsteht – aber auf Kosten persönlicher Tiefe.

  3. Sitz der Geldwirtschaft (Sachlichkeit + „formale Gerechtigkeit“)

    • GW als sachliche Basis aller Beziehungen

    • Geld = pars pro toto für eine Gesellschaft, in der Beziehungen funktionalisiert werden

  4. Rechenhaftigkeit (Wissenschaft, Technik, Wirtschaft). → ermöglicht:

    • Vergleichbarkeit

    • Gerechtigkeit

    • Effizienz

    • Austauschbarkeit

    Aber: reduziert auch die Komplexität menschlichen Daseins auf messbare Faktoren und führt zur Reduktion des Menschen auf Rollen, Funktionen, Fähigkeiten – nicht auf Persönlichkeit oder Charakter.

Mentalität des Großstädters

  • Blasiertheit → Abstumpfung ggü. Unterschieden, Werte relativieren sich.

  • Reserviertheit → emotionale Distanz zu Menschen (Schutz vor Überforderung).

  • Freiheit → doppelte Freiheit:

    • Von Zwängen & Rücksichtnahmen.

    • Zu Selbstgestaltung & Unverwechselbarkeit.

  • Kosmopolitismus → globale Perspektive, „Welt im Kleinen“


Kultur

Definition: „Verfeinerungen, vergeistigte Formen des Lebens“ – Ergebnis innerer & äußerer Arbeit am Leben.

  • Objektive Kultur → Schaffung von Kulturgütern (Wissen, Technik, Kunst, Institutionen).

  • Subjektive Kultur → Kultivierung des Menschen selbst =persönliche Fähigkeit des Individuums, sich diese Kulturgüter anzueignen und sie in die persönliche Entwicklung zu integrieren.

In der Moderne produziert die Gesellschaft Kulturgüter in rasender Geschwindigkeit, die das Individuum kaum noch rezipieren/ verarbeiten kann -> es entsteht eine Kluft zwischen objektiver und subjektiver Kultur.

  • Folge: Überforderung der Gesellschaft. Die Dinge werden immer kultivierter, die Menschen aber nicht unbedingt mit ihnen.

  • = Verlust eines verbindlichen Zeitstils - Stilpluralismus

    • Folge: Die Vielzahl verfügbarer Stile verunsichert. Der Mensch sehnt sich nach neuer Bedeutsamkeit, einem „tiefen Sinn“


Individualusmus

Historisch entstanden 2 Formen

  • Quantitativer Individualismus (Aufklärung, 18. Jh.)

    • Leitidee: Freiheit und Gleichheit aller Menschen als Träger allgemeiner Menschenrechte.

    • Paradoxon: Freiheit und Gleichheit stehen in Spannung, denn reale Verschiedenheit der Menschen (Fähigkeiten, Ressourcen) führt zu sozialen Ungleichheiten, die wiederum die Freiheit Einzelner gefährden können. = Volle Freiheit nur bei voller Gleichheit möglich.

  • Qualitativer Individualismus (19. Jh.)

    • Ziel: Freiheit zu einem unverwechselbaren Anderssein.

    • Betonung der Einzigartigkeit und Unvergleichbarkeit des Individuums.

    • Das Ich = letzter Ankerpunkt, Projekt lebenslanger Selbstverwirklichung.

    • Verbindung mit Arbeitsteilung: Jeder soll besondere, einmalige Leistungen erbringen → „Metaphysik der Arbeitsteilung“.

Modernität und Individualität → untrennbar, historisch gleichzeitig entstanden. Menschen versuchen damit umzugehen, durch

  • den Weg der breiten Massen (Mehrheit): Wahl der schnell wechselnden Mode- und Stilangeboten aus Reiz und Überforderung oder

  • den Weg des aristokratischen Individuums: Minderheit ist in der Lage, aus innerer Stärke und schöpferischer Kraft einen authentischen Lebensstil zu entwickeln.


“Das Dritte” - Die Trias

in Form Simmles Kritik an Kants dualistischen Gegensätzen wie Subjekt–Objekt, Individuum–Allgemeines, Freiheit–Gesetz, Sein–Sollen.

  • Simmels Lösung: Wirklichkeit – Sollen – Leben.

    • Ethik soll nicht „von außen“ kommen, sondern aus dem Leben selbst entstehen, denn Leben enthält beides: Wirklichkeit und Sollen.

  • Ausdruck des Absoluten und Metaphysische Aufhebung von Gegensätzen (Subjekt/Objekt, Leben/Tod, Sein/Sollen).

  • In Gesellschaftstheorie: Gesellschaft – Kultur – Persönlichkeit.

= Das Individuum muss sich von innen heraus ein eigenes individuelles Gesetz geben, das als Lebenskompass dient.


Das Individuelle Gesetz:

bewusstes, vernünftiges ethisches Gesetz, das die gesamte Lebensführung leitet.

  • Aber: nicht für Gott oder Jenseits, sondern für eigenes Seelenheil im Diesseits.

  • Funktion:

    • Orientierung in einer komplexen, differenzierten, stilpluralistischen Gesellschaft.

    • Selbsthilfe als einzige verlässliche ethische Orientierung.

  • Goethe als Vorbild: Synthese aus zwei Formen von Individualismus (aristokratisch + künstlerisch) = erfüllte Individualität.

    • = ethische Selbstbestimmung, die in der modernen Welt die verlorengegangene Einheit von Leben und Sinn durch ein innerlich gesetztes, individuelles Gesetz wiederherstellen will. > Es geht nicht um bloße Freiheit, sondern um eine verantwortete, gestalterische Lebensführung, deren Maßstab aus dem eigenen Leben selbst hervorgeht.


Zeitdiagnostik: Ambivalenz der Moderne

Spannungsverhältnis von Überfluss, Freiheit, Individualität und Sinnverlust ähnlich wie bei Weber

  • Hiatus = wachsende Trennung zwischen den Strukturen der modernen Gesellschaft (z. B. Wirtschaft, Wissenschaft, Politik) und dem individuellen Erleben, Fühlen und Handeln einzelner Menschen.

    • Positive Seite: gesellschaftliche Differenzierung schafft Freiheit & Individualität.

    • Negative Seite: Verlust kollektiver Lebensstile → keine verbindlichen Identitätsmodelle.

  • Simmels Diagnose: Moderne macht Individualität möglich und zugleich unmöglich. ABER: Kein stahlhartes Gebilde wie bei Weber

  • Zwei Lösungen:

    1. Individualistisch-aristokratisch (Elite): durch Bildung & ästhetische Erfahrung eigenen Stil schaffen.

    2. Demokratisch-konsumistisch (Masse): bedient sich Marktangeboten von Mode & Stil → oft nur oberflächlich tragfähig.

  • Simmels Kritik: Konsum-Individualismus (Konsumgesellschaft)

    • Rascher Stilwechsel & Moden → scheinbare Selbstverwirklichung über Konsum.

    • Mangel an innerem Zentrum → Suche nach momentaner Befriedigung.

    • Symptome: Hektik der Großstadt, Reisemanie, Konkurrenzjagd, Treulosigkeit in Geschmack & Beziehungen.

    → Gefahr: „Alles haben, nichts besitzen“ (Umkehrung des franziskanischen Ideals).


Lebensphilosophie

Plädoyer: Spannungen der Moderne aushalten (ähnlich Weber).

  • Moderne ist kein „stahlhartes Gehäuse“, sondern „Gehäuse des schöpferischen Lebens“.

  • Sinn des Lebens: nicht dauerhafte Harmonie, sondern produktive Spannung zwischen Gegensätzen.


Strukturelle Darstellung:

Freiheit ←→ Kultur ←→ Gesellschaftliche Differenzierung

↓ ↓

Objektive Kultur ↔ Subjektive Kultur

Arbeitsteilung / Rollendifferenzierung

Hiatus (Kluft zwischen objektiv & subjektiv)

„Tragödie der Kultur“ → Funktionsdifferenzierung + Geldwirtschaft

Individualismus:

- Aristokratisch (individuelles Gesetz) → Elite

- Demokratisch (Konsum/Stilangebote) → Masse



Max Weber und die 2 Säulen der Moderne: Religion und Kapitalismus

vermutlich letzter Universalgelehrter (Ökonomie, Jura, Geschichte, Politik, Soziologie, teils Philosophie).

  • Zentrale Themen: Wirtschaft, Recht, Staat, Kultur, Religion – historisch und vergleichend.

  • Ziel: Verständnis der okzidentalen Moderne (Europa/USA) und ihrer historischen Einzigartigkeit.

Forschungsfelder seines Forschungsprogramms:

  • Kapitalismus: moderner bürgerlicher Betriebskapitalismus („schicksalsvollste Macht unseres Lebens“).

  • Staat, Bürokratie, Recht: Garantieren Stabilität und Rahmen für Kapitalismus.

  • Religion: These: asketischer Protestantismus förderte Modernisierung, andere Religionen hemmten.

Methodologischer Ansatz

  • Kombination aus Erklären (kausale Analyse) und Verstehen (Sinnanalyse).

  • Ablehnung einer rein naturwissenschaftlichen oder rein geisteswissenschaftlichen Orientierung → dritte Kultur.

  • Vier Schritte der soziologischen Erklärung:

    1. Kausalanalyse (Ursache-Wirkung-Relationen feststellen)

    2. Individuelle Konstellationsanalyse (Zusammenwirken spezifischer Faktoren)

    3. Genetische Analyse (historische Entstehung)

    4. Projektive Zukunftsanalyse (mögliche Entwicklungen abschätzen)

  • Keine Wertutreilsfreiheit: Weber fordert keine „wertfreie Soziologie“. Forschung ist immer wertbezogen (Problemwahl durch Kulturwertideen),aber Ergebnisse sollen ohne politische oder moralische Wertung präsentiert werden.

Begriff: Kulturmensch und Kultur

  • Kultur = sinnvoller Ausschnitt aus dem unendlichen Weltgeschehen.

  • „Kulturmensch“ = fähig und willens, der Welt Sinn zu geben.

= Grundlage jeder Kulturwissenschaft → Fähigkeit zur Stellungnahme und Sinngebung


Strukturelle Konfiguration der Moderne

Leitfrage: Warum traten bestimmte Kulturerscheinungen nur im Westen auf, die wir als von universeller Bedeutung ansehen?

  • Rationaler Kapitalismus: Gewinnerwartung + friedlicher Tausch (nicht Raub, Spekulation, Gewalt). Trennung von Haushalt/Betrieb, rationale Buchführung, freie Arbeit.

  • Rationale Wissenschaft: wissenschaftlicher Entdeckung, technologischer Anwendung und kapitalistischer Nutzung.

  • Rationale Kunst: Z. B. gotisches Gewölbe (Architektur), Perspektive (Renaissance-Malerei).

  • Rationales Recht: Juristische Schemata und Systematik (römisches Recht, kanonisches Recht).

  • Rationaler Staat: Verfassung, gesatztes Recht, Fachbeamte, Verwaltung nach Regeln.

  • Rationale Bürokratie: durch geschulte Fachbeamte

  • Freie Lohnarbeit: Formell frei, Grundlage kapitalistischer Organisation.

Zusammenspiel dieser Institutionen = westliche Moderne.

  • Andere Kulturen kannten viele Elemente, aber nicht in dieser Kombination.

  • Moderne = institutionelle Rationalisierungsrevolution.


Drei Formen des Rationalismus (nach Schluchter 1980)

  1. Wissenschaftlich-technischer Rationalismus

    • Berechnung, Beherrschung von Sachverhalten.

  2. Metaphysisch-ethischer Rationalismus

    • Sinnsysteme, geordnete Weltbilder, Werte.

  3. Praktischer Rationalismus

    • Methodische Lebensführung, institutionalisierte Sinn- und Interessenskomplexe


2 Säulen der Moderne: Religion und Kapitalismus


Protestantische Ethik

Ausgangspunkt: Empirische Beobachtung: Protestanten häufiger Unternehmer und gebildete Arbeiter als Katholiken.

Kernergebnis: Kein direkter Kausalzusammenhang, sondern „Wahlverwandtschaft“ zwischen:

  • asketischem Protestantismus

  • methodisch-rationaler Lebensführung

  • frühem Kapitalismus

= Religion formte Werte und Disziplin, die Kapitalismus in Entstehungsphase förderten.


Zentral: Prädestinationslehre

= religiöser Individualismus („Gott hilft dem, der sich selbst hilft“).

  • Luther: Beruf als gottgegebene Stellung, traditionalistisch, keine ökonomische Dynamik.

  • Calvin: fides efficax → Glaube zeigt sich in asketischem Handeln, methodisch-rationale Lebensführung.

    • = Puritanische Ethik (Calvinismus, Pietismus, Methodismus, Täufer-Sekten)

    • Beruf = ständige Kontrolle des Gnadenstandes.

    • Arbeit = Mittel gegen Sünde, fördert Spezialisierung und Produktivität.

  • = Lösung der Heilsunsicherheit (nach Baxter):

    1. Selbsterwähltheit annehmen (Zweifel = teuflische Versuchung).

    2. Rastlose Berufsarbeit → Selbstgewissheit und Bewährung.


und der Geist des Kapitalismus

Beruf = göttlicher Auftrag, nicht nur Erwerbsquelle.

Ziel: Kapitalvermehrung als ethische Lebensmaxime („Tüchtigkeit im Beruf“).

  • Idealtyp: „kreditwürdiger Ehrenmann“ (engl. Gentleman → amerikanischer Businessman).

Wirtschaftliche Folgen

  • Reichtum nicht Selbstzweck, aber Zeichen göttlicher Auserwähltheit. (Konsum: schlicht erlaubt, Luxus verpönt.)

    • Sparzwang + begrenzter Konsum = Kapitalakkumulation → „Akkumulationsethik“.

  • Paradox: Askese wollte Besitz meiden, förderte aber Kapitalanhäufung.

  • Ende der Liason: Kapitalismus wird selbsttragend, verliert religiöse Basis. Säkularisierung untergräbt asketische Lebensführung.


Zeitdiagnose: „Der Puritaner wollte Berufsmensch sein – wir müssen es sein.“


Rationalisierung, Wertsphären und Lebensführung

= Die Rationalisierung der Welt führt zur Ausdifferenzierung verschiedener Wertsphären (z. B. Wissenschaft, Politik, Religion) mit eigenen institutionellen Regeln.


Folge: Jede Wertsphäre erfordert eine passende Lebensführung und einen spezifischen Persönlichkeitstyp. Der „Beruf“ ist für Weber keine Selbstverwirklichung im Sinne von Persönlichkeitskult, sondern verlangt Selbstbegrenzung, Disziplin und Dienst an der Sache.


Heißt: wenn Beruf zur „Berufung“ wird, kann sich eine stabile Persönlichkeit entwickeln – getragen von innerer Konstanz zu bestimmten letzten Werten und Lebensbedeutungen.


Wissenschaft als Beruf

= entsagungsvolles Leben, Dienst an der Sache, Spezialisierung statt „faustischer Allseitigkeit“ + Entzauberung der Welt“.


Vier Bildungsleistungen der Wissenschaft:

  1. Technisches Wissen zur Berechnung und Beherrschung des Lebens.

  2. Methodisches Denken.

  3. Klarheit über Zweck-Mittel-Relationen und (Neben-)Folgen des Handelns.

  4. Rechenschaft über den Sinn des eigenen Tuns.


Politik als Beruf

erfordert, Paradoxien und ethische Spannungen auszuhalten („dennoch!“ sagen können).

  • Politik = Streben nach Machtanteil oder Beeinflussung der Machtverteilung (innerhalb oder zwischen Staaten).

  • Staat = Herrschaftsverhältnis, gestützt auf legitime Gewaltsamkeit.

  • Persönliche Voraussetzungen:

    • Leidenschaft (für die Sache).

    • Verantwortungsgefühl (Folgenabschätzung).

    • Augenmaß (Balance zwischen Leidenschaft und Verantwortung).

  • Formen politischer Tätigkeit:

    1. Gelegenheitspolitiker (z. B. Wähler).

    2. Nebenberuflicher Politiker (z. B. Gemeinderatsmitglied).

    3. Berufspolitiker: lebt für die Politik (ideell, meist finanziell unabhängig) oder von der Politik (materieller Lebensunterhalt).

      • Fachbeamte: arbeiten neutral („sine ira et studio“).

      • Politische Beamte: vertreten mit Leidenschaft Interessen („cum ira et studio“).


3 zentrale Konsequenzen der Rationalisierung

  1. Institutionelle Ebene – Religion wird aus rationaler in irrationale Macht verdrängt und Wissenschaft ersetzt magische und religiöse Rationalität (Wissen statt Glauben).

    • Kunst löst sich von religiöser Bedeutung („L’art pour l’art“ – Kunst um der Kunst willen).

    • Religiöse Ethik wird durch weltliche Moralmodelle ersetzt.

    • = Religion als Machtquelle wird ersetzt

  2. Ideelle Ebene – Religion verliert im Alltag ihre höchste Priorität. Statt religiösem Heil stehen nun säkulare Ziele im Vordergrund: Schulerfolg, Berufserfolg, Liebe, Freizeit, Ruhm etc.

    • Haltung unter Studierenden: „Erleben will ich, erleben!“, eine Jagd nach Erlebnis und Konsum.

    • Der Kapitalismus unterstützt diese Haltung mit seinem Imperativ: „Konsumieren sollst du!“

    • = Religion als Lebensführungsmacht wird ersetzt!

  3. Inter- und intrainstitutionelle Ebene – Wirtschaft und Politik gewinnen als eigenständige Wertsphären an Bedeutung.

    • Andere Kulturmächte konkurrieren mit Religion um Sinnstiftung (z. B. Kunst, Liebe, Wissenschaft).

    • Konsequente Rationalisierung öffnet die Kluft zwischen den Wertsphären und erzeugt dauerhafte Spannungen.

    • Werte und Regeln einer Sphäre lassen sich nicht ohne Verlust in eine andere übertragen (z. B. Liebe ≠ Gewinnmaximierung).

    • = Wertsphären und Lebensordnungen sind teilweise nicht ersetzbar


Wertkonflikte und die Heterogenität der Moderne

Die Ausdifferenzierung der Lebensbereiche bringt unterschiedliche, nicht übertragbare Wertmaßstäbe hervor.

  • Wertpluralität = zentrale Merkmal der Moderne.

  • Religion konnte früher Versöhnung und Einheit stiften – heute ist das unter modernen Bedingungen unmöglich.

    • Es gibt keine einheitliche „Überwährung“, die Werte verschiedener Sphären harmonisch vereint.

    • Keine Ideologie (Sozialismus, religiöser Fundamentalismus) kann diese Einheit herstellen.


Drei Schlussfolgerungen Webers zur Moderne

  1. Pessimistische Diagnose: Kapitalismus und Bürokratie schaffen ein „stahlhartes Gehäuse der Hörigkeit“, das individuelle Freiheit bedroht.

    • Entwertung des religiösen Weltbilda führt zu sozialer Zerrissenheit und Sinnorientierung geht verloren

  2. Pluralismus der Werte: Der Antagonismus letzter Werte verhindert eine einheitliche ethische Koordination der Gesellschaft.

    • gemeinsames Moral- und Wertsystem für gesellschaftliche Integration ist eine Illusion.

  3. Skepsis gegenüber individueller Lebensführung: Perfektibilität von Mensch und Gesellschaft – deren Vergeblichkeit Weber betont.

    • Kultur ist ein Heraustreten aus dem natürlichen Leben, das aber zunehmend sinnlos und widersprüchlich wird.



Ulrich Beck - Risikogesellschaft

Grundidee: Übergang von Erster zu Zweiter Moderne

  • Erste Moderne: Industriegesellschaft, geprägt durch einfache Modernisierung, Aufbruch aus der Agrargesellschaft, Fortschrittsglaube, wissenschaftlich-technischer Fortschritt als positives Projekt, Überwindung materiellen Mangels.

  • Zweite Moderne (Risikogesellschaft): Reflexive Modernisierung – Risiken sind nicht natürliche Gefahren, sondern Folgen der Modernisierung und gesellschaftliche Risiken werden sichtbar und zum Thema. Die Moderne konfrontiert sich mit ihren eigenen Risiken und Nebenfolgen.

= Reflexive Modernisierung: Modernisierung ist nicht nur Fortschritt, sondern auch Produktion von Risiken (z. B. Umweltzerstörung, technische Risiken), bei der

  1. Wissenschaft ist nicht nur Erkenntnisquelle, sondern selbst Teil des Problems (konfrontiert mit Folgen ihrer Produkte)

    • Erst in der Zweiten Moderne werden Risiken als solche erkannt und definiert (reflexive Verwissenschaftlichung).

  2. Die Risiken sind systemimmanent, können nicht mehr „außerhalb“ abgewälzt werden, sondern betreffen Gesellschaft, Politik, Ökonomie.

Aber: Trotz der Risiken bleibt die Überzeugung bestehen, dass Probleme wissenschaftlich-technisch lösbar sind.

  • weil, verschiedene gesellschaftliche Teilsysteme (Wissenschaft, Wirtschaft, Politik) agieren nach unterschiedlichen Rationalitäten, was das Problem verstärkt.

= Grund für Risikogesellschaft


Heißt: Die Risikogesellschaft ist ein Prozess der Modernisierung, in dem Fortschritt und Risiko untrennbar zusammengehören und reflexiv durch die Bevölkerung wahrgenommen werden.


Strukturen der Risikogesellschaft

  1. Kategorien: Um die Erste von der Zweiten Moderne analytisch abzugrenzen

    • Reichtum: erstrebenswerte Knappheiten (Bildung, Einkommen, Konsum).

    • Risiken: „Modernisierungsbeiprodukt von verhinderungswertem Überfluss.“ = Überfluss, der gefährdet (z. B. Umweltverschmutzung, Atomkraft).

    • Wird die Aneignung von Reichtum allgemein als erstrebenswert angesehen, so stellen Modernisierungsrisiken demgegenüber eine Bedrohung dar, deren Realisierung möglichst vermieden werden soll. „Der positiven Aneignungslogik steht also eine negative Logik des Wegverteilens ... gegenüber.“

  2. Verteilungsprinzipien der Risiken

    • Industriegesellschaft: Risiken sind ungleich verteilt, vor allem sozial Schwache betroffen.

    • Risikogesellschaft: Risiken „demokratisieren“ sich – auch Wohlhabende und Verursacher sind betroffen („Not ist hierarchisch, Smog ist demokratisch“).

  3. Konfliktverschiebung

    • Früher: Konflikte über Verteilung von Reichtum (materielle Ungleichheit).

    • Jetzt: Konflikte über Verteilung von Risiken (Sicherheitsfragen).

      • Klassenlagen werden durch Risikolagen ergänzt oder teilweise ersetzt, diese können quer zu sozialen Ungleichheiten verlaufen.

  4. Globalisierung der Risiken: Weltrisikogesellschaft

    • Risiken sind nicht national begrenzt (Umweltkatastr.)


Probleme der Risikogesellschaft

1. Latenz der Risiken

  • Risiken sind potenzielle und zukünftige Gefahren, keine sicher eingetretenen Ereignisse.

    • Zukunft (und damit das Ungewisse) rückt in den Mittelpunkt des Handelns.

    • Risiken sagen vor allem, was nicht zu tun ist, sie geben keine klare Handlungsanleitung → Handlungsunsicherheit.

2. Erkennen und Definieren von Risiken

  • Risiken müssen erst wissenschaftlich definiert und sichtbar gemacht werden.

    • = Definitionsmacht – Betroffenheit hängt von deren Erkenntnissen ab.

    • Risiko-Bewusstsein ist oft abstrakt und abhängig von Expertenwissen.

3. Rolle der Medien und Kommunikation

  • Risiko-Wissen muss durch Medien vermittelt und „übersetzt“ werden.

    • Medien und Wissenschaft werden zu zentralen Akteuren und Schlüsselstellen gesellschaftlicher Macht.

    • Bessergestellte Gruppen sind eher informiert und fühlen sich stärker betroffen, sozial schwächere oft weniger.


Institutionelle Nicht-Zuständigkeit

Wissenschaft ist in dreifacher Weise mit Risiken verbunden:

  • Sie produziert Risiken, indem wissenschaftliche Erkenntnisse technisch-wirtschaftlich umgesetzt werden (z.B. Industrie).

  • Sie definiert Risiken und macht sie sichtbar (Erkennen von Gefahren).

  • Sie hilft, Risiken zu bewältigen (z.B. durch Umwelttechnologien).

    Aber:

    • Die eigentliche technische Umsetzung – also wo Risiken entstehen und bewältigt werden – findet in der Wirtschaft statt, nicht in der Wissenschaft.

    • Entscheidungen, welche wissenschaftlichen Erkenntnisse tatsächlich angewandt werden, fallen nicht in den Verantwortungsbereich der Wissenschaft, sondern auch in den der Wirtschaft.

    Heißt:

    • Wissenschaft ist also nur mittelbar an der Risikoproduktion beteiligt.

    • Wirtschaft trägt daher die Hauptverantwortung

    • Politik bleibt meist bei der Legitimation des technischen Wandels („technisch-ökonomische Sachzwänge“), verkauft also der Bevölkerung die Innovationsfolgen als unausweichlich.


„Organisierte Unverantwortlichkeit“

= Verteilte Zuständigkeiten, aber keine klare Verantwortlichkeit, weil jeder nur innerhalb seines Teilsystems handelt.

  • Wissenschaft, Wirtschaft und Politik sind jeweils teilweise zuständig, aber niemand trägt für die Folgen volle Verantwortung.

  • Entscheidungen, die die Gesellschaft verändern, werden in unpolitischen, sozial nicht legitimierten Kontexten (Wirtschaftsinvestitionen) getroffen.

  • Risiken liegen gerade „zwischen den Spezialisierungen“ und entziehen sich so der Kontrolle des Wissenschaftssystems.

    • Veränderung wird dadurch systematisch ausgeschlossen.


Individualisierung als Folge der reflexiven Modernsierung

  • Traditionelle Bindungen (Klasse, Familie, Geschlecht) verlieren ihre Verbindlichkeit. Menschen lösen sich aus den sozialen Strukturen der Ersten Moderne – sie werden „freigesetzt“ und müssen sich nun eigenverantwortlich um ihre Biographie, Existenzsicherung und Lebensplanung kümmern.

  • Fahrstuhl-Effekt: Dieser Freisetzungsprozess wurde durch den Wirtschaftsaufschwung der 1950er/60er Jahre verstärkt, der zwar den materiellen Wohlstand für alle erhöhte, aber soziale Ungleichheiten nicht grundsätzlich beseitigte.

    • Wohlstand ermöglicht mehr Zeit, Geld und Konsummöglichkeiten, was traditionelle Lebensformen weiter aufweicht.

Aber

  • Ambivalenz: Individualisierung bedeutet nicht nur Befreiung, sondern auch den Zwang zur Autonomie: Menschen müssen permanent Entscheidungen treffen, da sie auf keine vorgegebenen sozialen Sicherheiten mehr zurückgreifen können („homo optionis“).

  • Institutionen fördern einerseits Individualisierung, erzeugen aber gleichzeitig neue Abhängigkeiten (Arbeitsmarkt, Bildung, Sozialrecht, Konsum, Beratung), während traditionelle soziale Sicherhheiten verschwinden


Lösung: Wechsel zur Akteurperspektive

Nur durch reflektierte und verantwortungsbewusste Akteure, die ihr Leben aktiv gestalten, kann die Risikogesellschaft bewältigt werden.

  • Akteure müssen sich über die engen Systemrationalitäten hinwegsetzen und ihr Handeln am gesamtgesellschaftlichen Ziel – dem Überleben der Gesellschaft – ausrichten.

  • = Risikobewusstsein und eigenverantwortliches Handeln notwendig, trotz des hohen Entscheidungsdrucks.

Um die organisierte Unverantwortlichkeit zu überwinden, ist eine Entdifferenzierung (bzw. bessere Vernetzung) der Teilsysteme nötig.

  • Ausweg in

    • einer neuen politischen Kultur, in der sich Bürger politisch mündig zeigen, sich engagieren und Risiken als gemeinsame gesellschaftliche Herausforderung begreifen.

    • = Erfindung des Politischen: da bisherigen Strategien der Ersten Moderne (mehr Technik, Wirtschaft, Wissenschaft, Differenzierung) nicht mehr ausreichen, um mit Modernisierungsrisiken umzugehen.

      • Risiken könnten zu Kristallisationskern sozialer Integration führen, denn nur durch gemeinsame Einsicht in die Risiken kann gesellschaftliche Bindung entstehen

        • „Projektive Integration“ ist, wenn man die Individualität der Menschen nicht unterdrückt, sondern mit den drängenden Zukunftsfragen verbindet und neue politische Bündnisse schafft.

    • Wissenschaft muss sich stärker mit Risiken befassen, Fehler akzeptieren und interdisziplinär arbeiten, was durch öffentliche Kritik und politischen Druck von unten gefördert wird.

    • demokratische Öffentlichkeit, unabhängige Justiz und Massenmedien, indem sie Risiken sichtbar machen und Verantwortliche öffentlich zur Rechenschaft ziehen.



Gerhard Schulze - Erlebnisgesellschaft

Zentrale These: In einer hochgradig individualisierten Gesellschaft bildet die Gestaltungsidee eines schönen, interessanten, subjektiv lohnenden Lebens den kleinsten gemeinsamen Nenner.

  • Dieses Ideal war früher ein Privileg höherer Schichten, ist aber durch veränderte Lebensbedingungen zum Massenphänomen geworden.

  • Innenorientiertes bzw. erlebnisorientiertes Denken und Handeln ist durch die Betonung von Subjektivität zur letzten Gemeinsamkeit aller Akteure geworden.


Erlebnisgesellschaft als Übergangszustand

= erste kollektive Antwort auf die Frage nach dem Glück – nun zeigt sich ihre Unzulänglichkeit.

Seit Mitte der 1960er Jahre: Kontinuierlicher Anstieg des Lebensstandards mit 2 zentralen Entwicklungen:

  • Steigende Einkommen und Reduzierung der Arbeitszeit → mehr Freizeit.

  • Technisierung von Arbeit und Alltag → Zeitersparnis (z. B. Hausarbeit).

Folge: Freizeit wird gestaltbarer und barrierefreier zugänglich und Explosion des Waren- und Dienstleistungsangebots → riesiger Markt.

  • Früher: Ressourcenmangel → Ziel: Lebenssituation verbessern (Aufstieg, Ausbildung der Kinder).

  • Heute: Entgrenzung: Zunahme der Wahlmöglichkeiten, nicht nur Wohlstandsphänomen, sondern Modernisierungseffekt (auch bei Arbeitslosigkeit oder Rezession).

    • Situationen selbst werden frei wählbar (z. B. Kino, Kneipe, Mountainbike).

    • Von „Situationsarbeit“ zu „Situationsmanagement“: Lebensumstände werden bewusst gewählt oder vermieden.

= Soziologische Implikationen: Subjekt rückt in den Vordergrund.

  • Mehr Wahlmöglichkeiten → Handeln wird stärker von subjektiven Intentionen geprägt. Individuelle Erfahrungen bleiben prägend, vergangene Situationen wirken begrenzend auf aktuelles Handeln.

  • Aber: Keine völlige subjektive Willkür!


Orientierungskrise: Von Außen- zur Innenorientierung

Mit der Entgrenzung der Lebenssituation verändern sich auch die Wahrnehmungs-, Bewertungs- und Einstellungsmuster und damit die kognitive Orientierung der Akteure:

  • bis 1960er Jahre: Erwerbsarbeit im Mittelpunkt, zur materiellen Absicherung

  • Heute: Mit steigendem Wohlstandsniveau wird es zunehmend schwieriger, einen ‚äußeren’ Nutzen von Gegenständen zu definieren, da die Mehrzahl der angebotenen Produkte für das rein physische Überleben der Akteure kaum noch relevant ist.

  • Ende 20jhd.: Steigerungslogik der Industriegesellschaft führte zu einer Orientierungskrise

    • Folge: kopernikanische Wende des Alltagsdenkens (Handlungsziele des Subjekts verlagern sich)

      • Je größer die Vielfalt von Angeboten gleicher außenorientierter Zweckbestimmung ist, desto mehr treten innenorientierte Motive in den Vordergrund.

      • Der Erlebnischarakter von Produkten, ehemals lediglich ein Nebeneffekt, wird zum zentralen Gesichtspunkt für die Konsumentscheidung

    • = Systematisierung des Handelns als Erlebnisrationalität:

      • Mit dem Übergang von der Außen- zur Innenorientierung auf der kognitiven Ebene ändert sich auch die Rationalität auf der Handlungsebene. Nach wie vor agieren die Akteure nach dem Kosten-Nutzen-Prinzip, nur zielt ihr Handeln jetzt auf einen subjektiven Prozess

Zielprobleme der Erlebnisrationalität (innenorientiert)

  • Entscheidungsunsicherheit: Was will ich eigentlich? Und je mehr Möglichkeiten einem offenstehen, desto schwieriger wird es, klare Bedürfnisse zu definieren.

  • Enttäuschungsrisiko: Da Erlebnisse erst durch reflexive Verarbeitung äußerer Ereignisse entstehen und die eigenen Reaktionen auf die gewählten Erlebnismittel nie vollständig kalkulierbar sind, kann sich ein Akteur seiner Sache sozusagen nie sicher sein.

  • Gewöhnungseffekt: der durch die fortdauernde Angebotssteigerung hervorgerufen wird – das ewig Neue ist Normalität –, steigert diese beiden Probleme noch

= grundsätzliches Dilemma innenorientierter Akteure.


Um dem entgegenzuwirken, ist der Akteur gezwungen, sich in neue Situationen zu begeben, womit sich aber wiederum die Entscheidungsfrage stellt. Dies führt erneut zu einem „Orientierungsbedarf, der die Gemeinsamkeiten der Erlebnisgesellschaft erst erklärbar macht“:

  • „Es entsteht eine Bereitschaft, Dienstleistungen anzunehmen, die sich, sobald Anbieter auftreten, rasch zur Abhängigkeit entwickelt. ... Auf dem Erlebnismarkt ... werden die Ordnungserfindungen der Menschen aufgegriffen, akzentuiert und in massenhafte Angebote übersetzt. Ein wichtiger Bereich der Situation gerät in die Regie korporativ organisierter Anbieter, zu denen nicht nur der ‚böse‘ Kommerz zu rechnen ist, sondern auch die ‚gute‘ Kulturpolitik ...“


Der Erlebnismarkt

= gesellschaftlicher Ort, an dem Erlebnisnachfrage und Erlebnisangebot aufeinandertreffen

  • Dominanz des außenorientierten Handelns:

    • Innenorientiertes Handeln ist stark von subjektiven Faktoren abhängig und daher weder berechenbar noch langfristig planbar.

    • außenorientiertes Handeln ist leicht zu optimieren, da die Wirkungen im Großen und Ganzen berechenbar sind und handelt es sich bei den Erlebnisanbietern im Gegensatz zu den Konsumenten meist um korporative Akteure.

      • Auf Grund dessen, dass Korporationen unabhängig vom Wollen der beteiligten Akteure eine Tendenz zur Selbsterhaltung inhärent ist, werden die Interaktionen zwischen Produzenten und Konsumenten mehr und mehr von den Intentionen der Akteure entkoppelt = Eigendynamik

  • Ersatz für den Verlust an früheren Möglichkeiten kollektiver Selbsterfahrungen im Alltagsleben.

    • Nicht mehr die soziale Lage, d. h. die Situation, bedingt die Zugehörigkeit zu einer sozialen Großgruppe, sondern der persönliche Stil und damit auch der Akt des Konsumierens spezifischer Erlebnisangebote.

    • Die Sozialstruktur der Erlebnisgesellschaft ist demnach eng mit dem Erlebnismarkt verknüpft

      • Soziale Milieus zeichnen sich nach Schulze durch typische Existenzformen und eine erhöhte Binnenkommunikation aus. Die Akteure verorten sich selbst und andere über die Feststellung von Ähnlichkeit bzw. Unähnlichkeit.

        • Der persönliche Stil,

        • das Alter

        • Bildung

        • Art und Weise des Situationsmanagements

      • Diese Zeichenbündel lassen sich bestimmten Erlebnisroutinen zuordnen = alltagsästhetischen Schemata


Alltagsästhetisches Schemata

Er unterscheidet zwischen: Hochkultur-, Trivial- und Spannungsschema.

Die Milieuzugehörigkeit und damit die soziale Position von Akteuren lässt sich dann anhand von Nähe und Distanz zu diesen drei Schemata ermitteln. Schulze gelangt auf diese Weise zu fünf verschiedenen sozialen Milieus:

  • Niveaumilieu: Nähe zum Hochkulturschema, Distanz zu den beiden anderen Schemata. Sie bevorzugen „überregionale Tageszeitungen, Zeit, Spiegel, Belletristik. Musikalisch dominiert die klassische Musik ... Fast alle beteiligen sich an der Hochkulturszene, gehen ins Konzert, ins Theater, ins Museum, in die Oper, in Ausstellungen, Dichterlesungen und ähnliches.“ Parallelen zum Bildungsbürgertum

  • Harmoniemilieu: Nähe zum Trivialschema, Distanz zu den beiden anderen Schemata. Als Pedant zur eben geschilderten sozialen Gruppe lässt sich hier eine Nähe zur Arbeiterschicht konstatieren. Man liest Zeitschriften der Regenbogenpresse und Bestsellerromane, hört Unterhaltungs- und Volksmusik, sieht Heimat- und Naturfilme sowie Game-Shows im Fernsehen. Gemütlichkeit als Genussform, Harmonie als Lebensphilosophie, Antiexzentrität als Muster der Distinktion.“

  • Integrationsmilieu: Nähe zum Hochkultur- und zum Trivialschema, Distanz zum Spannungsschema. „Seinen besonderen Charakter erhält das Integrationsmilieu nicht durch eigene Stilelemente, sondern durch die Kombination von Stilelementen anderer Milieus.“ Ebenso verhält es sich mit den Mustern von Genuss, Distinktion und Lebensphilosophie. Die Merkmale des Niveau- und des Harmoniemilieus fließen auch diesbezüglich ineinander.

  • Selbstverwirklichungsmilieu: Nähe zum Hochkultur- und zum Spannungsschema, Distanz zum Trivialschema. Auf Grund der Kombination zweier Schemata zeichnet sich diese soziale Großgruppe durch einen ‚Grenzverkehr’ zwischen den Zeichenkonfigurationen aus: Man hört ebenso klassische Musik wie Rockmusik, der Besuch von Museen und Kunstausstellungen ist ebenso charakteristisch wie der Gang ins Kino oder in Diskotheken. Hinsichtlich der Muster des Genießens vermischen sich hier Kontemplation und Action, man distinguiert sich ebenso vom Trivialen wie vom Konventionellen, und die Lebensphilosophie ist einerseits die Perfektion und andererseits der Narzissmus.

  • Unterhaltungsmilieu: Nähe zum Spannungsschema, Distanz zu den beiden anderen Schemata. „Orientiert am Spannungsschema, auf der Suche nach Action als Genussform, bedient sich das Milieu mehr als jedes andere solcher Erlebnisangebote, die reines Aktiviert-Werden ohne ästhetische Dekodierungsarbeit verheißen, oft in Verbindung mit Unterhaltungsmaschinen.“


Aber: Die gesellschaftliche Großgruppenstruktur insgesamt gerät mehr aus dem Blickfeld. Und damit werden auch die Relationen, in denen diese Gruppen zueinanderstehen, für den einzelnen immer unbedeutender. War es bis in die 70er Jahre hinein noch wichtig, sich über die kulturelle Alltagspraxis von anderen gesellschaftlichen Gruppen abzugrenzen – zuerst, um die soziale Position in der gesellschaftlichen Hierarchie sichtbar zu machen, später dann, um die normative Orientierung zu dokumentieren – so verschwand diese auf wechselseitigem Bezug basierende distinktive Alltagspraxis mit dem Übergang in die Erlebnisgesellschaft:

„Nach der Bedeutungsminderung der ökonomischen Semantik und dem Bedeutungsgewinn der psychophysischen Semantik hat sich eine Struktur des Nichtverstehens etabliert, die einhergeht mit einem Rückzug sozialer Kollektive auf sich selbst.”


Achtung: Neben den beiden bereits angesprochenen Risiken der Unsicherheit und der Enttäuschung sowie dem daraus resultierenden Widerspruch erlebnisrationalen Handelns bringt die Innenorientierung auf Dauer aber noch weitaus tiefgreifendere Probleme für die Akteure mit sich:


Erlebnisgesellschaft: ein instabiler Zustand

Auf Grund der Subjektbezogenheit existiert kein für alle Gesellschaftsmitglieder verbindlicher Bewertungsmaßstab mehr

  • Generelle Nicht- Kommunizierbarkeit von Erlebnissen: Ob ein Erlebnisangebot innere Prozesse aktiviert (Nutzen) und intensiviert (Qualität), ist nur noch subjektiv beurteilbar und bleibt damit schlussendlich beliebig

  • Unsicherheiten und Enttäuschungsrisiken lassen sich demnach nicht minimieren

  • Blindes Vertrauen in Erlebnisanbieter: „In einer Situation der Unsicherheit verschafft man sich das Gefühl, das Richtige zu tun.“ Aber da den Akteuren letztlich bewusst ist, dass es sich bei dem, was die Ware suggeriert, um gezielt erzeugte Illusionen seitens der Anbieter handelt, können diese Sinnkonstruktionen leicht zusammenbrechen

  • Folge: Kumulation, d. h. sie streben nach immer mehr Erlebnissen in immer kürzeren zeitlichen Intervallen.

    • Diese Verdichtung stößt aber – anders als das bei der Außenorientierung der Fall war – an psychische Grenzen: Menschen sind nicht in der Lage, unbegrenzt viele Reize zu verarbeiten, denn Reflexion erfordert immer ein Mindestmaß an Zeit und Aufmerksamkeit.

    • Erlebnisreichtum führt so letztendlich zur Erlebnisverarmung!

    • = Orientierungsvakuum: Innenorientierung führt somit zur kollektiv-politischen Handlungsunfähigkeit.

Schulze stellt daher dem zirkulären Subjekt das eigensinnige Subjekt gegenüber.

  • Heißt: Der Akteur muss sich aus seiner zirkulären Existenz, in der alles „Objektive nur Kristallisationspunkt für Gefühle ist“, lösen und lernen, „sich auf etwas anderes einzulassen, ... auch jenseits seiner selbst.“ (Schulze 1999, 100 102) Dieses andere meint die Fähigkeit,

    • für sich äußere Handlungsziele zu definieren,

    • Wiederholungen im Alltagsleben zu genießen,

    • und „mit einem Nichts zu spielen“ , d. h. kreativ und phantasievoll mit den vorhandenen Gegebenheiten umzugehen


Wilhelm Heitmeyer und Forschungsgruppe - Soziologische Anomietheorie

Diagnose: Gesellschaftliche Desintegration in westlichen Industriegesellschaften (Ende 20. Jh.)

  • Durch Radikale Beschleunigung sozialstruktureller, normativer und kognitiver Veränderungen (im Vergleich zu moderatem Wandel 1949–1989).

  • Beispiel Deutschland seit 1989: Massenarbeitslosigkeit + Verunsicherung durch Globalisierung (Kapital, Kommunikation) erzeugen:

    • Wachsende Kluft zwischen Arm und Reich → Erosion der Mittelschicht

    • Rückzug aus Institutionen (Ehe, Familie, Kirche, Vereine, Parteien, Gewerkschaften)

    • Steigende Arbeitswelt-Anforderungen (Mobilität, Flexibilität) → Zerstörung sozialer Beziehungen, Bastelbiographien

    • Auflösung gemeinsamer Werte- und Normenkonsense

  • Fazit: Anomie (Durkheim) = Auflösung sozialer Ordnung und Orientierung.


Soziologische Anomietheorie

Klassiker:

  • Durkheim (1893): Anomie = Gesetz-/Normlosigkeit.

    • Moderne Gesellschaft → Arbeitsteilung → organische Solidarität (Vertrag + korporative Sittlichkeit).

    • Problem: Materielle Entwicklung > moralische Entwicklung → Autorität/Religion/Sittlichkeit brechen weg, neues Normensystem fehlt → Anomie (u. a. steigende Selbstmordrate).

    • Späte Erkenntnis: Anomie kann Dauerzustand sein.

  • Merton (1930): Anomie = Zusammenbruch kultureller Struktur.

    • Amerikanischer Leitwert: finanzieller Erfolg/Wohlstand.

    • Strukturelle Barrieren für Teile der Bevölkerung → Ziel-Mittel-Diskrepanz → abweichendes Verhalten → Anomie

Heitmeyer:

  • Baut auf Durkheim & Merton auf - PLUS:

  • Grundlage: Habermas’ Differenzierungstheorie (2 Systeme):

    • Wirtschaftssystem (Marktlogik)

    • Politisch-administratives System (Bürokratie, Gewaltmonopol)

    • vs. Lebenswelt (kulturelle Werte, frei von Marktlogik)

  • Problem: Marktlogik dringt in Lebenswelt & Politik ein → Werteverlust, Politikverlust, Auflösung von Milieus.

    • = Leitorientierung „Individualität“ (seit 1989 + entfesselter Kapitalismus):

      • Chancen ungleich verteilt → Inkonsistenz (Wertefreiheit vs. Marktdruck),

      • Ungleichzeitigkeit (alte soziale Probleme kollidieren mit neuen Individualitätsansprüchen),

      • Asymmetrie (Wert gilt für alle, Realisierungschancen ungleich verteilt) → Konkurrenz als Motor der Desintegration.


Normative Pluralisierung und Anomie

  • Wertewandel der Nachkriegsgeborenen auf post-materialistische und individualistische Werte wie Selbstverwirklichung, Autonomie, Genuss und Emanzipation

  • Zunehmende Ablehnung traditioneller Normen → ehemals als abweichend geltendes Verhalten wird alltäglich (z. B. Schwarzarbeit, Vandalismus, verbale Aggression, öffentliche sexuelle Selbstdarstellung).

  • Stärkeres Ausleben individueller Wünsche steigert Anspruch auf Selbstverwirklichung → Konflikte, wenn diese eingeschränkt werden.

    • = Dominanz egozentrischer, individualistischer Werte, die als Freiheit erscheinen, aber häufig Willkür bedeuten.

  • Folgen:

    • Kontrolle liegt oft bei der abweichenden Person, nicht beim Kritiker. Soziale Normkontrollen werden selbst stigmatisiert („Dummkopf“, „Querulant“).

    • = „Wegschau-Gesellschaft“ – Öffentlichkeit greift nicht mehr ein; politische Appelle zu Zivilcourage verpuffen.

    • = Gesellschaftliche Pluralisierung geht einher mit Differenzierung in Subkulturen.

      • Paradox: Gesamtgesellschaftliche informelle Kontrolle sinkt, während Subkulturen rigide Normen und Sanktionen entwickeln.


Anomische BEdrohung moderner Gesellschaften

  • Empirische Evidenz: Integrative Kräfte der Solidarität nehmen ab → anomische Krisen steigen.

    • Heitmeyer: “aktuelle empirische Studien zeigen nur „die Spitze des Eisbergs“ → dramatische Entwicklungen treten zeitversetzt auf.

    • Krisen als Gefahr für gesellschaftlichen Zusammenhalt vs. Rückkehr zur Normalität nach ungewöhnlich konfliktarmer Nachkriegszeit.

    • Kernaussage: Normative Pluralisierung führt zu abnehmender informeller Kontrolle, während Subkulturen rigide Normen entwickeln.

  • Überlagerung mit ethnisch-kulturellen Konflikten: Funktionale Differenzierung hat ethnische Konflikte verschärft: Mobilität + Migration + Strukturwandel → Nationalismus, Fundamentalismus, Rassismus.

    • Hohe Zuwanderung → Desintegrationserfahrungen für Einheimische, Integrationshemmnisse für Migranten.

    • Zunahme unteilbarer Konflikte (nicht verhandelbare kulturelle Fragen, z. B. Religion, Identität).

    • Kernaussage: Individualisierung steigert Anspruch auf Selbstverwirklichung und kann Aggression bei Konflikten erzeugen.

  • Funktionale Differenzierung: z. B. ist das zentrale Problem heute nicht mehr die Ausbeutung und Entfremdung in Arbeitsorganisationen, sondern, viel grundlegender, der Zugang zur Mitgliedschaft in einer Arbeitsorganisation überhaupt.

    • Kernaussage: ermöglicht Stabilität trotz lokaler/individueller Anomie, verschärft aber ethnisch-kulturelle Konflikte.

  • Interdependenzunterbrechung: wird in Deutschland bislang durch wohlfahrtsstaatliche Kompensationsleistungen (z. B. in Organisationen der Arbeitslosen- und Sozialhilfe, durch Sozialpädagogik etc.) aufrechterhalten. → regionale/individuelle Anomie muss nicht gesamtgesellschaftlich wirken.

    • Metapher: „Zwei-Drittel-Gesellschaft“ → der größte Teil bleibt stabil, Anomie greift nicht automatisch um sich.

    • Aber: Die Legitimität wohlfahrtsstaatlicher Leistungen zugunsten der ‚Outsider’ schwindet jedoch zunehmend in den Augen derer, die noch ‚in’ sind und für Transferleistungen steuerlich zur Kasse gebeten werden. Die Angehörigen der Mittelschicht – Stabilitätsanker einer jeden modernen Gesellschaft – müssen heute härter und länger arbeiten als früher, um ‚in’ zu bleiben; auch sie fühlen sich zunehmend vom Abstieg in den Kreis der ‚Outsider’ bedroht, neigen aber dazu, dies als individuelles Schicksal und nicht als strukturelles Problem zu betrachten

    • Kernaussage: Exklusion und marginalisierte Gruppen („Outsider“) sind zentrale Risikofaktoren für gesellschaftliche Desintegration.

  • Politische Herausforderung: Reformen des Wohlfahrtsstaates berücksichtigen oft nicht die gesellschaftsstabilisierende Funktion. aber Ohne funktionale Äquivalente könnte Anomie wieder zu einer ernsthaften Bedrohung der modernen Gesellschaft werden.

    • Kernaussage: Wohlfahrtsstaatliche Kompensation ist entscheidend, um Anomie einzudämmen – ohne sie droht gesellschaftliche Destabilisierung.

Drei Krisenlagen der Gegenwart

  1. Strukturkrise – sinkende politische Steuerungsfähigkeit (Globalisierung) → Ungleichheit, Ausgrenzung → Ohnmacht, Indifferenz, Gewaltpotenzial.

  2. Regulationskrise – Werte-/Normenverfall → Delegitimierung → sinkende Gewaltschwellen.

  3. Kohäsionskrise – Überindividualisierung → Vereinsamung, Verlust sozialer Bindungen → Abgrenzungen, (Selbst-)Ethnisierung.


Anomie im Wirtschaftssystem

  • Globalisierung sprengt nationale Volkswirtschaften → weltweiter Markt (Güter, Arbeit, Kapital) → Standortkonkurrenz, Rationalisierung, Rentabilitätsdruck.

  • „Deutsches Modell“ (organisierter Kapitalismus: Qualitätsproduktion + Sozialpartnerschaft) verliert Bedeutung → internationale Verflechtungen, Rationalisierung, Stellenabbau.

  • Jobless Growth: Wirtschaftswachstum ohne Beschäftigungszuwachs → keine ausreichende Kompensation durch Informations-/Medienbranche.

Strukturkrise im Wirtschaftssystem + anomische Folgen

  • Blaumann-Berufe (Industriearbeiter) = Verlierer der Globalisierung:

    • Doppelte Entwertung:

      1. Konkurrenz & Vergleich mit ausländischen Arbeitern (niedrigere Standards, Löhne).

      2. Verlust gesellschaftlicher Anerkennung des traditionellen Facharbeiterstatus.

  • Folge: Verlust von Selbstbewusstsein & sozialer Sicherheit; Beruflichkeit bietet keinen Schutz mehr.

führt zu: Arbeitsnationalismus (nach Dörre)

  • Reaktion junger Arbeiter auf Statusverlust = defensiver, auf Erhalt des Status quo gerichteter Nationalismus.

    • Gegner: Manager-Internationalismus, Produktionsverlagerungen, Konkurrenz durch Arbeitsmigranten.

    • Zeichen von Schwäche/Statusunsicherheit, nicht Stärke.

    • Getrieben von relativer Deprivation (nicht absolute Verelendung).

    • Bedrohung: nicht nur Arbeitsplatzverlust, sondern Blockade sozialer Identität & Selbstverwirklichung.


Anomie im politischen System

  • Problem der Globalisierung: Wirtschaftliches Mehrprodukt kann in andere Volkswirtschaften fließen → nationale Verteilung prekär → Steuereinnahmen aus Unternehmensgewinnen sinken, Arbeitnehmerlast steigt.

  • Legitimität in Kontinentaleuropa hängt stark vom materiellen Output des politischen Systems ab → Demokratieakzeptanz beruht auf Wohlfahrtsleistungen (Schutz, Vorsorge, Transfers).

Strukturkrise im politischen System:

  • Anpassungskrisen der Wirtschaft (Arbeitsplatzabbau, steigende Arbeitslosigkeit) erzeugen neue Leistungsempfänger → politische Leistungserwartungen können nicht erfüllt werden → Entfremdung zwischen Bevölkerung & Politik.

  • Politiker wirken elitär und distanziert; Bevölkerung erscheint den Politikern unzufrieden und konsumorientiert → demokratisches Vertrauen sinkt.

    • Mehrheit vertraut weder Regierung noch Opposition → Parteien verlieren Vertrauen gleichermaßen.

    • Intermediäre Institutionen (Vereine, Kirchen, Verbände) ebenfalls geschwächt → politische Integration erodiert → rebellische Unzufriedenheit wächst

      • → Ausdruck in linker/rechter Protestwahl - politische Analogie zu Dörres Arbeiternationalismus.

      • Idee: Wohlfahrtsleistungen sollen nach ethnischer Zugehörigkeit verteilt werden → nur „Deutsche“ als Adressaten des volkswirtschaftlichen Mehrprodukts.

  • Folge:

    • Demokratie in Deutschland leidet unter latenter Strukturkrise → Legitimität nicht mehr über stetig wachsende Wohlfahrtsleistungen begründbar.

    • Henning pessimistisch: wohlstandschauvinistischer Isolationismus (Protestwahl) könnte Mehrheitsmeinung werden → politische Verantwortung wird zunehmend auf Individuen verlagert.


Anomie und Massenmedien

Die Wahrnehmung der Welt durch Menschen wird heute stark von Massenmedien geprägt. Fernsehen fungiert als transkulturelles Medium und konstituiert eine Weltgesellschaft


Massenmedien wirken durch 2 Wege anomisch:

  1. Entdifferenzierung: Kulturelle Angleichung durch global verbreitete Lebensmuster (z. B. „Way of Life“ aus Nordamerika).

  2. Differenzierung/Individualisierung: Entstehung neuer „Sinnmärkte“ und Subwelten, in denen spezifische Interessen und Sonderkommunikationen entwickelt werden.

Aber: Massenmedien verursachen Anomie nicht automatisch; die Wirkung hängt von Rezeptionskontexten ab:

  • Sind familiäre oder normative Strukturen bereits geschwächt, kann die mediale Anomiewirkung verstärkt werden, aber wissenschaftlich schwer zu messen

  • = Rezeptionsabhängigkeit

Privates Fernsehen (im Gegensatz zu öffentlich-rechtlichem) orientiert sich nicht an Gemeinwohl, sondern an Marktanteilen und Werbeeinnahmen. Folgen für Inhalte:

  • Normabweichungen werden inszeniert.

  • Sensation wird Unterhaltung.

  • Politische Inhalte werden zu emotional optimiertem Infotainment, weniger am Sozialwert oder Gemeinwohl gemessen.

Auswirkungen auf politische Kultur

  • Symbolische Politik: Politische Inszenierungen und Pseudoereignisse werden stärker, weniger auf reale Problemlösungen ausgerichtet.

  • Sensations- und Gewaltsteigerung: Führt zu Ängsten, Unsicherheitsgefühlen und einem „globalen Anomieverdacht“.

  • Nachahmungseffekte: Mögliche Steigerung von abweichendem Verhalten durch mediale Inszenierung.

Heißt: Massenmedien erzeugen eine ambivalente Wirkung: Sie fördern sowohl kulturelle Gleichheit als auch Individualisierung. Ihre Kommerzialisierung und Sensationsorientierung kann normative Orientierungskrisen verstärken, insbesondere wenn bestehende gesellschaftliche und familiäre Strukturen bereits instabil sind – ein Anomiepotenzial, das im Zusammenspiel mit gesellschaftlichen Krisen wirkt.

Georg Ritzer - McDonaldisierung

Bereits Max Weber befürchtet, dass immer mehr Bereiche der Gesellschaft nach Maßgaben rationaler bürokratischer Systeme organisiert würden, so dass sich die Menschen schließlich – in den Worten von George Ritzer – „in einem eisernen Käfig des Rationalen wiederfinden, aus dem es kein Entkommen … geben könnte.“ Um „Weber zeitgemäßer zu interpretieren“ , wählt Ritzer den Begriff der McDonaldisierung.

  • Gegenwartsdiagnose: Die moderne, McDonaldisierte Welt ist eine extrem verwaltete, bürokratische Welt, in welcher die Menschen keine eigenen Entscheidungen mehr treffen, sondern dies den Vorschriften und Verfahrensweisen überlassen, die von Organisationen stammen.

  • Ritzer überträgt demnach Webers Bürokratie- und Rationalisierungskonzepte (wie Effizienz, Berechenbarkeit und Vorhersagbarkeit) auf die moderne Gesellschaft, wobei Fast-Food-Ketten wie McDonald’s als Paradebeispiel dienen. Die Menschen unterwerfen sich immer mehr einer formalen Rationalität.


Die Kernthesen beruht auf 3 Dimensionen:

  1. Effizienz und Berechenbarkeit

  • Effizienz:

    • Menschen tendieren zu Handlungen, die als effizient gelten, und meiden alles, was als ineffizient gilt – unabhängig davon, ob die Effizienz objektiv gerechtfertigt ist.

    • = wird zu einer gesellschaftlichen Norm, die „lebensweltliche“, subjektive Entscheidungen verdrängt.

  • Berechenbarkeit:

    • Für Unternehmen: Alles wird kalkuliert – von Produktstandardisierung über Vertrieb bis Marketing. Strenge Hierarchien und Kontrollen sichern dies.

    • Für Kunden: Entsteht die Illusion eines zuverlässigen, preiswerten und überall gleich guten Produkts.

    • = führt dazu, dass Menschen zunehmend auch im Privatleben Zeit und Geld rational kalkulieren, statt persönliche Urteile zu nutzen.

  • Folge: Sogar Entspannung und Freizeit unterliegen nun Erfolgs- und Effizienzkriterien.

    • Kultur und Kommunikation leiden: Gespräche, individuelle Wünsche und gemeinschaftliche Rituale verschwinden zunehmend.

    • Reisebüros und standardisierte Dienstleistungen symbolisieren die Unterordnung individueller Bedürfnisse unter rationalisierte Organisationsformen.

  • Ironische Gegenbewegung: Manche Menschen halten sich bewusst länger in Schnellrestaurants auf, wodurch die vorgesehene Berechenbarkeit „gesprengt“ wird.

  • McDonaldisierung = Rationalisierung von fast allen Lebensbereichen.


  1. hohe Vorhersagbarkeit und Standardisierung aller Lebensbereiche. Überall soll der Kunde, Reisende oder Nutzer die gleichen Produkte und Services erleben

  • Beispiel: Tourismus

    • Hotelketten wie Holiday Inn oder Motel 6 bieten weltweit ein einheitliches Erlebnis: gleiche Preise, gleicher Standard, keine Überraschungen.

    • Früher war ein Motel-Besuch eher ein Abenteuer; heute verspricht die Standardisierung Sicherheit und Planbarkeit.

    • Effekt: Reisende vermeiden das Unbekannte und erleben weniger authentische lokale Kultur.

  • Folgen:

    • Kulturelle Verarmung: Das Erleben des Fremden wird minimiert; individuelle und subjektive Erfahrungen werden verdrängt.

    • Verlust der Individualität: Ob im Studium, in der Medizin oder im Reisen – persönliche Bedürfnisse, kreative Lösungen oder individuelle Interaktionen werden durch standardisierte Prozesse ersetzt.

    • Illusion von Gleichheit: Maschinen, standardisierte Abläufe und Normen erzeugen das Bild, dass Entscheidungen überall gleich und fair sind, während in Wirklichkeit Individualität und Qualität leiden.

    • Präferenz für Sicherheit: Menschen vermeiden Überraschungen, was paradoxerweise zu einer Art „Einheitskultur“ führt, die zwar komfortabel, aber kulturell verarmt ist.

  • McDonaldisierung = ersetzt subjektive, persönliche Entscheidungen durch normierte, effiziente und rationalisierte Strukturen


  1. Kontrolle

  • Steuerung der Menschen durch technologische Systeme, bürokratische Regeln und standardisierte Arbeitsabläufe

  • Mechanismen:

    • Arbeitsprozesse: Menschen in fließbandartige, standardisierte Abläufen.

      • Beispiel: Bäcker darf Brot nicht „mal heller, mal dunkler“ backen; Abweichungen stören den Prozess.

    • Technologische Steuerung: Kernschritte werden automatisiert, qualifizierte Fachkräfte werden überflüssig.

      • Beispiel: Pommes-Frites-Zubereitung nach Klingelzeichen

    • Kontrolle der Kunden: Individuelle Wünsche und Geschmack gelten als störend.

      • z. B. Restaurantorganisation, Zeitpläne, Diät- und Reisepläne oder Einkaufs- und Vergnügungsparks (Disneyland etc.) die Menschen effizient von Punkt A nach B lenken

    • Bürokratischer Apparat: komplexer bürokratischer Mechanismus, der Menschen Vorschriften unterwirft.

      • Wer dies nicht bemerkt, gerät in das „Gehäuse der Hörigkeit“ – das heißt, Menschen werden unbewusst kontrolliert.

    • Inhumanität der Effizienz: Technologie und Bürokratie dienen nicht dem Menschen, sondern der Organisation.

      • Beispiele: automatisches Einchecken, Schlangestehen, Mikrowellen-Fastfood, Fitnessstudio-Routinen, Online-Shopping.

Folge: weniger Lebensqualität, da der Mensch selbst kaum Handlungsspielraum außerhalb der konsumierten Angebote hat.

  • Verlust von Autonomie und Selbstbestimmung.

  • Reduktion von Fachkompetenz und individuellen Fähigkeiten.

  • Individuelle Erfahrungen werden durch technische und bürokratische Standardisierung ersetzt.

  • Konsumiertes Leben bleibt oberflächlich, echte Lebensqualität und menschliche Interaktion gehen verloren.


Anspruch-Enttäuschungs-Spirale

= Menschen verlassen sich auf Organisationen, um Dinge zu tun, die sie früher selbst organisiert hätten, und geraten so in den Teufelskreis der Erwartungs-Enttäuschung.

  1. Enttäuschung entsteht: Standardisierte Angebote erfüllen die versprochenen Erwartungen nicht.

  2. Steigende Ansprüche: Menschen erwarten nun noch mehr Effizienz oder Erlebnis, um die Unzufriedenheit auszugleichen.

  3. Ersatzbefriedigungen: Konsum anderer McDonaldisierter Produkte (z. B. Freizeitparks, Fitnessstudios) soll die Enttäuschung kompensieren.

  4. Verstärkung des Mechanismus: Auch Ersatzangebote sind standardisiert und nur scheinbar erfüllend → Unzufriedenheit steigt → noch mehr Konsum.

Menschen geraten in widersprüchliche Botschaften:

  • Botschaft 1: Vorhersagbarkeit, Effizienz, Risikolosigkeit.

  • Botschaft 2: Abenteuer, Erlebnis, Spaß, Risiko.

    • Diese zweite Botschaft ist oft nur äußerlich vorhanden, steigert aber die Attraktivität der Angebote.

  • Interpretation (Adorno): Menschen „spielen mit“, obwohl sie die Illusion erkennen – sie wollen zumindest „gut betrogen“ werden.

Dehumanisierende Auswirkungen

  • Standardisierte Produkte und Prozesse entindividualisieren die Menschen.

    • Individuen übernehmen weniger eigene Entscheidungen, weil Organisationen scheinbare Effizienz bieten, die im Alltag jedoch nicht garantiert ist (z. B. Stau trotz geplantem schnellen Restaurantbesuch).

  • Traditionelle, kulturell unterschiedliche Lebensweisen werden nivelliert.

Ausweg aus der Spirale

  • Möglich nur, wenn man eigene Unlustgefühle und rationalen Fiktionen bewusst in Entscheidungen einbezieht.

  • Konsum allein löst das Problem nicht; man muss die Effizienzversprechen kritisch reflektieren.


Fazit:

  • McDonaldisierung ist ein doppelter Mechanismus:

    1. Sie verspricht Sicherheit, Effizienz und Vorhersagbarkeit.

    2. Sie lockt mit Erlebnis, Risiko und Unterhaltung, die nicht wirklich erfüllt werden.

  • Dies erzeugt die Anspruchs-Enttäuschungs-Spirale, die Konsumenten in eine Endlosschleife aus Erwartungen, Enttäuschungen und Ersatzbefriedigungen zieht.

    • Ritzer überträgt hier Webers These vom „Gehäuse der Hörigkeit“ auf heutige Organisationen:

      • Menschen bewegen sich von rationalisierten Institutionen zu rationalisierten Institutionen (Ausbildung → Arbeit → Freizeit → Zuhause).

  • Durch bewusste Reflexion eigener Erwartungen kann die Dominanz McDonaldisierter Angebote theoretisch durchbrochen werden.

    • Gegenbewegungen existieren bereits (z. B. regionale Anbieter, Umweltschutzkampagnen), doch McDonaldisierung setzt sich oft subtil durch („Scheinvielfalt“).


Richard Sennet - Dequalifizierung und Unsicherheiten im neuen flexiblen Kapitalismus

Flexibilität und ständige Anpassung untergraben die Entwicklung von Charakterstabilität, Vertrauen und langfristigen Bindungen.


Flexibler Kapitalismus

= Arbeits- und Wirtschaftsform, die sich von den starren, hierarchischen Strukturen des Fordismus (große Fabriken, feste Arbeitszeiten, stabile Laufbahnen) löst. Er setzt auf Flexibilität, kurzfristige Anpassungen und ständige Marktreaktionen, wobei traditionelle Routinen, langfristige Bindungen und planbare Karrieren aufgelöst werden.


Organisationsprinzipien des flexiblen Kapitalismus

  1. Reengineering - Diskontinuierlicher Umbau von Institutionen: Firmen werden ständig umgebaut, routinierte Erfahrungen werden verworfen.

    • Entlassungen und Arbeitslosigkeit steigen; Beschäftigte stehen unter ständigem Druck.

  2. Flexible Spezialisierung der Produktion: Firmen arbeiten mit vielen kleineren Zulieferern zusammen, die schnell auf Marktänderungen reagieren müssen.

    • Jede Einheit agiert unter immensem Profit- und Zeitdruck → permanente Konkurrenz und Schuldgefühle bei Beschäftigten.

  3. Konzentration der Macht ohne Zentralisierung: Macht erscheint dezentralisiert, ist aber subtil und unsichtbar konzentriert:

    • Teams konkurrieren gegeneinander, Führung behält Kontrolle über Entscheidungen und Ressourcen.

    • Formale Freiheit existiert nur scheinbar („vorgegaukelte Freiheit“).


Folgen für den Menschen:

  • Zerstörung von Routinen und Stabilität: häufige Jobwechsel, ständige Anpassung, Verlust von Vertrauen, Loyalität und stabiler Selbstwahrnehmung.

    • Im Fordismus boten feste Arbeitsstrukturen Menschen die Möglichkeit, stabile Lebensgeschichten und Selbstbilder zu entwickeln. Routine bedeutete nicht geistlose Wiederholung, sondern Ermöglichung von Kreativität und Verlässlichkeit.

  • Dequalifizierung des Charakter: Unsichere Arbeitsverhältnisse erzeugen Gefühle der Nutzlosigkeit, trotz hoher Ausbildung.

    • Mangel an kontinuierlichen Narrativen (Erzählungen über das eigene Leben) macht es schwer, Charakter und Lebenssinn zusammenhängend zu entwickeln.


Unsicherheiten im flexiblen Kapitalismus

Der flexible Kapitalismus verlangt vom Individuum, sich ständig von der eigenen Vergangenheit zu lösen. Realität: Menschen haben zwar Erfolg, leiden aber unter Unsicherheit, Entwurzelung und fehlender Stabilität.

  • = Permanente Unsicherheit: Moderne Organisationen üben Macht oft unsichtbar aus: Regeln, Zielvorgaben oder Standortwechsel können jederzeit geändert werden. Anpassungsbereitschaft wird überwacht; wer nicht flexibel ist, scheidet aus, wer flexibel ist, wird zum „Drifter“.

  • = Unlesbarkeit der Arbeit: Durch Automatisierung und Computerisierung (z. B. Bäckereien) wird die Arbeit vereinfachter, aber zugleich entfremdet. Menschen wissen kaum mehr, was ein „guter Arbeiter“ ist, und verlieren die Bindung zur Arbeit.

    • Unlesbarkeit → man kann die Arbeit und die Welt um sich herum nicht mehr „lesen“.

    • Ergebnis: Identitätsverlust und oberflächliche Arbeitsbeziehungen.


Drei Arten von Unsicherheiten

  1. Mehrdeutige Seitwärtsbewegungen: Karriereschritte sind schwer einzuschätzen → man glaubt voranzukommen, bewegt sich aber oft seitwärts oder rückwärts. Erfolg zeigt sich erst rückblickend.

  2. Aushalten retrospektiver Verluste: Nach einem Wechsel erkennt man vielleicht, dass Risiken falsch eingeschätzt wurden. Die Folgen müssen trotzdem ausgehalten werden.

  3. Unvorhersehbare Einkommensentwicklungen: Arbeitsplatzwechsel führt oft zu unklaren finanziellen Ergebnissen → viele verlieren, nur wenige gewinnen nennenswert. Berufliche Mobilität ist daher undurchschaubar.


Wechseln als Imperativ

= „wer sich nicht bewegt, ist draußen“. Heißt:

  • Moderne Kultur des Risikos: Menschen nehmen Veränderungen auf sich, ohne den Erfolg sicher vorhersehen zu können

    • Risiko als Charakterprobe: Flexibilität wird als ethische und moralische Herausforderung gesehen. Langfristige Planung und Stabilität werden oft vernachlässigt.

  • Neuer kultureller Imperativ: Traditionelle Orientierungssysteme wie Einkommensklassen verlieren an Aussagekraft.

  • Bewegung statt Berechnung: Menschen wechseln, „ohne viel zu kalkulieren“, in der Hoffnung, dass sich etwas durch die Veränderung ergibt.

  • Bildung und Überschätzung der Erfolgschancen: Besonders Hochschulabsolventen überschätzen aufgrund ihrer Qualifikation ihre Chancen, während nur wenige von der flexiblen Gesellschaft profitieren.


Folge: Das Leben als Würfelspiel

  • Kurzfristige Orientierung: Arbeitsverhältnisse werden wie Sprungbretter behandelt, langfristige Bindungen fehlen.

  • Risiko und Zufall: Jede berufliche Entscheidung ähnelt einem Würfelspiel: Erfolg oder Misserfolg hängen stark vom Zufall ab.

  • Fragmentiertes Selbst: Dauerhafte Zielverfolgung und biographische Kontinuität werden verhindert. Erfahrungen lassen sich nicht mehr zu zusammenhängenden Lebensgeschichten verknüpfen → Selbstbewusstsein und soziales Gedächtnis fragmentieren.


Heißt: flexiblen Kapitalismus = System, das Freiheit und Anpassungsfähigkeit vorgibt, in der Praxis aber Unsicherheit, Entwurzelung und Identitätsverlust erzeugt. Arbeitsprozesse werden oberflächlich, soziale Bindungen instabil, und Erfolg wird vom Zufall bestimmt.


Scheitern der Mittelschicht als besondere Risikogruppe

= Durch höhere Bildung setzen sich Menschen selbst unter Druck, flexibel zu bleiben, und tragen stärker die Risiken des flexiblen Kapitalismus.

  • Moralischer Verlust: Früher definierte eine Karriere langfristige Ziele, Verantwortungsbewusstsein und Charakterentwicklung. Flexible Arbeitsbedingungen verhindern diese Kontinuität.

  • Programmierer als Fallbeispiel:

    • Erleben Status- und Identitätsverluste. Suchen Sinn im Scheitern, indem sie über ihre Erfahrungen sprechen.

    • Gemeinschaftliches Erzählen fördert Selbstheilung und Reflexion über die eigene Verantwortung.

    • Schafft eine reale „Problemgemeinschaft“ jenseits individueller Drifts.


Fazit

  • Flexibler Kapitalismus erzeugt „Drift“: Individuen werden isoliert, müssen wiederholt bei null anfangen, während Unternehmen strategisches Gedächtnis besitzen.

  • Gemeinschaft als Gegengewicht: Erzählen, Austausch und gegenseitiges Vertrauen können die Bindungslosigkeit teilweise aufheben.

  • Ethik und Verantwortung: Ohne institutionellen Schutz kann die Betonung individueller Verantwortung in der Moderne zu einem Gefühl des Versagens führen.

  • Orte und soziale Bindungen: Lokale Gemeinschaften bieten Ansatzpunkte, um gegen die Unsichtbarkeit und Machtkonzentration der globalen Wirtschaft vorzugehen.


Michel Foucault - Genealogie der Macht, Herrschaftszustände und Regierungstechnologien

Foucault entwickelt keine allgemeine Theorie, sondern eine Analytik der Macht, die die historische Entstehung von Machtbeziehungen untersucht und zugleich eine Diagnostik der Gegenwartsgesellschaft erlaubt.


Historischer Kontext:

  • Nach Mai 1968 verschiebt Foucault den Schwerpunkt seiner Arbeit: Von der „Archäologie des Wissens“ hin zur Genealogie, einer Methode, die die Vorstellung der Macht als reine Repression aufbricht.

  • Genealogie: inspiriert durch Nietzsche, betrachtet Macht als historisch gewordene Praxis, nicht als unveränderliches Prinzip.


Kritik an traditionellen Machtkonzepten (juridisch-diskursiv)

  • Traditionelles westliches Denken versteht Macht als:

    • Verhältnis zwischen Freiheit der Subjekte und Souveränität des Staates

    • Macht legitim durch Gesellschaftsvertrag

    • Gesetz, Verbot, Zensur

  • Drei Grundannahmen juridischer Machtkonzeption

    • Postulat des Besitzes: Macht ist ein „Gut“, das besessen, veräußert oder getauscht wird; einige haben Macht, andere nicht.

    • Postulat der Lokalisation: Macht fließt „von oben nach unten“, konzentriert sich auf Staatsapparate.

    • Postulat der Unterordnung: Macht wirkt primär durch Verbote, Zwang, Ausschluss; sie dient der Aufrechterhaltung bestehender Verhältnisse.


Faucaults alternatives Machtmodell: Strategisches Modell

“„Man muß aufhören, die Wirkungen der Macht immer negativ zu beschreiben... In Wirklichkeit ist die Macht produktiv; und sie produziert Wirkliches.“

  • Macht ist keine Substanz, sondern eine Beziehung.

  • Macht kann nicht zentralisiert sein; niemand ist vollständig von Macht ausgeschlossen.

  • Macht reproduziert sich selbst über die Gesellschaft hinaus, unabhängig vom Staat.

  • Macht ist produktiv, nicht nur repressiv:

    • Produziert Wirklichkeit, Gegenstandsbereiche, Wahrheitsrituale

    • Formt das Individuum und Wissen

  • Machttechnologien: Disziplinierung

    • sie ist nicht nur Zwang, sondern aktiv Herstellung von Körpern und Fähigkeiten.

    • Disziplin konstituiert:

      • Körper mit spezifischen Qualitäten

      • Wissen (Disziplinen), das diese Körper bewertet


Kritik an Genealogie:

  1. Kriegsperspektive: Macht wird vor allem über Konflikt/Verfolgung analysiert → stabilisierende Aspekte wie Akzeptanz oder Konsens werden wenig beachtet.

  2. Begrenzter Fokus: Analyse konzentriert sich auf Disziplinierungsprozesse lokaler Institutionen → Rolle des Staates und komplexe Subjektivierungsprozesse werden nur unzureichend erklärt.

Als Reaktion darauf:

  • In der zweiten Hälfte der 1970er Jahre erweitert Foucault seine Machtanalytik, um Staatlichkeit und Subjektivierungsprozesse adäquat zu untersuchen.

  • Der neue zentrale Begriff: Gouvernementalität (vom französischen gouvernemental = die Regierung betreffend): Als Analyse von Macht jenseits juristischer oder militärischer Perspektiven, Fokus auf Regierungstechniken und die Führung von Menschen.


Regierung im erweiterten Sinne:

Bis ins 18. Jh. hatte „Regierung“ die Bedeutung der Leitung von Menschen, nicht nur staatlicher Strukturen.

  • Foucault verwendet „Regierung“ ebenfalls historisch:

    • Nicht nur politische Leitung eines Staates.

    • Sondern auch: Führung des Selbst, Familie, Kindererziehung, Seele, Gemeinwesen, Wirtschaft.

  • Moderne Regierungstechniken verbinden Totalisierung (Gesellschaft) und Individualisierung (Subjekte).


Führung durch Macht

  • Politische Macht: abgeleitet aus antiker Polis – Recht, Universalität, Öffentlichkeit.

  • Pastorale Macht: Ursprung im Christentum, Beziehung Hirt – Herde, Ziel: Regierung der Seelen.

    • 16.–17. Jh.: Pastoralmacht wird säkularisiert, ausgedehnt über Gesellschaft, beeinflusst Staat und kapitalistische Ordnung.

  • Charakteristisch: Macht wirkt nicht über Territorium, sondern über eine Herde von Individuen, zielt auf individuelle Führung und Seelenheil.

    • Der moderne Staat entsteht nicht nur durch Territorialstaaten oder Verwaltung, sondern auch durch Techniken der Menschenführung und Normalisierung (z. B. Humanwissenschaften).


Gouvernmentalität: Regierung druch Macht zur Führung

„Macht ist auf Handeln gerichtetes Handeln.“

= Ausübung von Macht als gezielte Lenkung und Organisation des Verhaltens von Individuen und Gruppen, wobei Regierungstechniken darauf abzielen, das Handeln der Handelnden selbst zu steuern.

  • Macht ist nicht nur Gewalt oder Konsens, sondern besteht aus Einfluss auf das Verhalten anderer

  • Macht lenkt Handlungsoptionen, bietet Anreize, verführt oder erschwert Handlungen – immer auf handelnde Subjekte gerichtet.

  • Regierung ist damit die praktische Umsetzung einer Machtbeziehung über kalkulierte Programme und Wissensformen (Technologien, Rationalitäten).


Kernpunkte der Regierungstechnologie

  1. Indirekte Steuerung: Regiert wird wie Menschen ihr Verhalten selbst regieren.

    • Ziel: nicht direkte Kontrolle, sondern Gestaltung der Rahmenbedingungen des Handelns.

  2. Rationalität und Kalkül: Regierung basiert auf Wissen und Techniken, nicht auf willkürlicher Gewalt.

    • Macht wird operationalisiert durch Normen, Verfahren und Selbstregulierungsmechanismen.

  3. Verbindung von Selbstführung und Fremdführung:

    • Selbstdisziplin der Regierten - Machttechniken koppeln die Führung des Selbst mit der Führung anderer.


Heißt:

  • Gouvernementalität: Logik, die darauf abzielt, das Handeln von Menschen in bestimmten Bahnen zu lenken, zum Zweck der Machtausübung oder Steuerung einer Gesellschaft und ist immer eine Form von Macht, die versucht, auf Handeln gerichtetes Handeln zu gestalten.

    • z. B. indem „gesund leben“ oder „diszipliniert arbeiten“ als gesellschaftliche Pflicht vermittelt wird.

  • Regierungstechnologien: die konkreten Mittel, Verfahren und Praktiken, mit denen diese Logik umgesetzt wird. Dazu gehören

    • z. B. Bildung, Erziehung, Verwaltung, Sozialtechnologien, statistische Verfahren oder normative Regeln, die das Verhalten der Menschen lenken.


Drei Dimensionen der Machtanalytik (Foucault)

  1. Machtbeziehungen

    • = allgegenwärtig: jeder kann auf das Handeln anderer Dynamisch, veränderbar, umkehrbar Einfluss nehmen.

    • Grundlage jeder Gesellschaft: „Machtbeziehungen sind nicht parasitär, sondern konstitutiv für Gesellschaft.“

    • Beispiele: Verhandlungen zwischen Individuen, informelle soziale Einflussnahme.

  2. Herrschaftszustände: Dauerhaft, starr, institutionalisiert, blockiert, asymmetrische Machtbeziehungen

    • Entsteht oft durch ökonomische, politische oder militärische Machtmittel.

    • Anders als bei Weber ist Zustimmung oder Legitimität nicht die Grundlage der Macht, sondern selbst Teil der Analyse: Wie wird Konsens erzeugt?

  3. Regierungstechnologien

    • Systematisierte, reflektierte Formen der Machtausübung.

    • Vermitteln zwischen strategischen Beziehungen (dynamisch) und Herrschaftszuständen (starr).

    • Ziel: Machtbeziehungen stabilisieren und potenziell Herrschaftszustände erzeugen.

    • Beispiele: Polizei- und Verwaltungssysteme, Sozialpolitik, Gesundheitsvorschriften, Schulen.

Heißt: Herrschaft ist kein Ausgangspunkt, sondern das Ergebnis von Regierungstechnologien, die Machtbeziehungen systematisieren.


Politik und Ethik

Foucault verbindet Machtanalysen mit ethischen Überlegungen: Es geht um die Beziehung des Individuums zu sich selbst im Kontext von Gouvernementalität („Regierung seiner selbst und der anderen“).

  • Diese Ethik ist relational und historisch: Subjektivierung (wie Individuen sich selbst verstehen und definieren) wird zum zentralen Feld politischer Auseinandersetzungen.

  • Macht kann auf unterschiedliche Weisen ausgeübt werden: von moralischen Ratschlägen über rationale Überzeugung bis zu ideologischer Manipulation, Zwang oder ökonomischer Ausbeutung.

  • Nur die Strategien, die zu starren, institutionalisierten Ungleichheiten führen, rufen legitime Einwände hervor.

  • Gefahren der Macht

    • Machtbeziehungen können sich zu Herrschaftszuständen verfestigen – dauerhafte Asymmetrien, die die Freiheit der Unterworfenen stark einschränken.

    • Die kritische Analyse von Regierungstechnologien ist notwendig, um zu prüfen, wie offen oder fixiert diese Machtspiele ablaufen, und um „Praktiken der Freiheit“ zu ermöglichen.


Historischer Kontext als Beispiel

  • Seit den 1960er Jahren gewinnen Kämpfe gegen Subjektivierungsformen an Bedeutung: Feminismus, Gesundheitsdebatten, Umweltbewegungen, sexuelle Minderheiten usw.

  • Die Opposition richtet sich gegen Technologien, die Individuen in Kategorien einteilen, an Identitäten binden und ihnen Wahrheiten auferlegen.

  • Denn:

    • Macht erfordert die Anerkennung des Anderen als handelndes Subjekt: „Macht nur über ‚freie Subjekte‘ ausgeübt werden kann, insofern sie ‚frei‘ sind“.

    • Macht zeigt sich nicht nur in Einschränkung, sondern auch in der Schaffung von Handlungsmöglichkeiten: Wenn A das Feld möglichen Handelns von B verändert, übt A Macht über B aus.

    • Machtbeziehungen sind nicht per se gut oder böse; sie sind strategische Spiele, deren Konsequenzen weder automatisch negativ noch positiv bewertet werden. Andernfalls wären es Herrschaftszustände


Pierre Bourdieu und das Leiden

Bourdieu sieht gesellschaftliche Ungleichheit nicht nur als Ergebnis materieller Unterschiede (Einkommen, Vermögen), sondern auch als Produkt von symbolischen und kulturellen Machtstrukturen, die Ungleichheit stabilisieren. Er spricht von unterschiedlichen Kapitalsorten, die ungleich verteilt sind:

  • Ökonomisches Kapital: Geld, Besitz, ökonomische Ressourcen

  • Kulturelles Kapital: Bildung, Wissen, Qualifikationen, kulturelle Kompetenz

  • Soziales Kapital: Netzwerke, Kontakte, Zugehörigkeit zu Gruppen

  • Symbolisches Kapital: Ansehen, Prestige, gesellschaftliche Anerkennung

Das Schlagwort von der „Zweidrittel-Gesellschaft“ machte die Runde.

  • Obere 2/3: ökonomisch integriert, profitieren von wirtschaftlichem Wachstum, verfügen über relativ gesicherte soziale Positionen.

  • Untere 1/3: dauerhaft vom Wohlstand ausgeschlossen, mit sinkender Mobilitätschance.

Aus Bourdieus Sicht bedeutet diese Spaltung:

  • Die benachteiligte Gruppe verliert nicht nur ökonomische Chancen, sondern auch soziale Sichtbarkeit und politisches Gewicht.

  • Die institutionellen Mechanismen (Bildungssystem, Arbeitsmarkt, Medien) und Habitus-Unterschiede (tief verinnerlichte Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster) reproduzieren diese Ungleichheit.


Symbolische Gewalt

= Die Herrschenden definieren, wie soziale Probleme wahrgenommen werden – in diesem Fall als persönliches Versagen statt als Ergebnis struktureller Bedingungen.

  • Mit dem Wechsel vom Keynesianismus (staatliche Regulierung, Sozialstaat) zum Neoliberalismus (Marktliberalisierung, Deregulierung) verschiebt sich die Logik gesellschaftlicher Teilhabe:

    • Erfolg wird stärker als individuelle Leistung interpretiert.

    • Strukturelle Ursachen von Armut werden unsichtbar gemacht und durch moralische Wertungen ersetzt („fehlende Leistungsbereitschaft“).

    • Der soziale Schutz für Abgehängte wird reduziert, was ihre Position weiter schwächt.

Folgen für das “abgehängte Drittel”

  • Verlust multipler Kapitalformen Arbeitslosigkeit oder prekäre Beschäftigung mindert nicht nur Einkommen (ökonomisches Kapital), sondern auch Bildungschancen (kulturelles Kapital) und Netzwerke (soziales Kapital).

  • Stigmatisierung Neoliberale Rhetorik („wer nicht arbeitet, ist selbst schuld“) degradiert die Gruppe moralisch. Das mindert ihr symbolisches Kapital und erschwert gesellschaftliche Integration.

  • Erosion des Habitus Dauerhafte Exklusion verändert den Habitus: Erwartungen an das Leben sinken, das Gefühl politischer und sozialer Einflusslosigkeit wächst.

  • Kumulation der Ungleichheit Die Benachteiligung verstärkt sich über Generationen hinweg – Bourdieu spricht von Reproduktion sozialer Ungleichheit.


Das Elend der Welt (1993) als empirische Bestätigung

  • Der neoliberale Umbau nicht zu einer Einlösung der „Zukunftsverheißung“ führt, sondern zu dauerhafter Marginalisierung.

  • Die „freundliche“ Erzählung eines späteren Wohlstands für alle als symbolische Beschwichtigung dient.

  • Die Spaltung nicht nur ökonomisch, sondern auch kulturell, sozial und symbolisch tiefer wird.

= Exklusionstendenzen sind kein Nebenprodukt wirtschaftlicher Modernisierung, sondern strukturell angelegt:

  • Sie entstehen durch ungleiche Verteilung von Kapitalformen.

  • Sie werden durch neoliberale Politik verstärkt.

  • Sie reproduzieren sich durch Institutionen und symbolische Gewalt.

  • Die „Zweidrittel-Gesellschaft“ ist aus Bourdieus Sicht nicht nur ökonomische, sondern habituelle und kulturelle Spaltung – und damit besonders schwer zu überwinden.


Perspektive des Leidens

Bourdieu und sein Forschungsteam in Das Elend der Welt brechen bewusst mit einer distanziert-analytischen, von oben herab geordneten Darstellung. Stattdessen:

  • mit einer Collage aus Transkriptionen realer Gespräche

  • Ziel: Aufgabe des „göttlichen Standpunkts“ des Beobachters → kein privilegierter Blick, sondern Pluralität der Perspektiven

  • Methode: Verstehen vor Erklären – die Deutungen der Betroffenen haben Vorrang gegenüber vorgefertigten soziologischen Kategorien

  • Normatives Postulat: Soziologie soll den Benachteiligten helfen, ihre Sicht öffentlich hörbar zu machen, statt sie durch blasse Idealtypen zu „übersetzen“

🔍 Wichtiger Unterschied zu subjektivistischem Relativismus: Die subjektiven Perspektiven werden nicht einfach als gleichwertige, isolierte Erzählungen nebeneinandergestellt. Bourdieu ordnet sie in gesellschaftsstrukturelle Kontexte ein.

  • Perspektivismus nach Bourdieu: Methodischer Zugang, der soziale Positionen ernst nimmt, ohne einer einzigen davon den Status der „objektiven Wahrheit“ zuzuschreiben.


Drei Blickwinkel des Leidens durch den Neoliberalismus

  1. Unmittelbares Leiden: Direktes Erfahren von Notlagen

    • Perspektive: aus eigener Erfahrung und der eigenen sozialen Position

      • betrifft hier Menschen, die:

        • bereits aus der „Arbeitsgesellschaft“ ausgeschlossen sind,

        • akut vom Ausschluss bedroht sind, oder

        • gar nicht erst inkludiert werden (v. a. jüngere Generationen).

    • Bedeutung: Enthüllt die unmittelbare Wirkung neoliberaler Politik auf die Lebensrealität

    • Bourdieu unterscheidet innerhalb des unmittelbaren Leidens vier Gruppen, gebildet aus der Kombination zweier dichotomer Kriterien:

      • Ältere: erleben Abstieg aus der Arbeitsgesellschaft (Verlust der bisherigen Position).

        • Vs. Jüngere: erleben Verhinderung des Aufstiegs (Verweigerung des Zugangs).

      • Franzosen: vor allem klassenspezifische Benachteiligung.

        • vs. Einwanderer: doppelte Benachteiligung – Klasse + Ethnie.

    • Gruppen unmittelbaren Leidens:

      • 1. Ältere Franzosen - Arbeiter in Krisenbranchen

        • Zentrale Bedrohung: Arbeitslosigkeit

        • Besonderes Merkmale des Leidens: Verlust ökonomischer Sicherheit und Identität; Altersdiskriminierung bei Wiedereinstieg; Auflösung früherer kollektiver Gegenwehr (z. B. Gewerkschaften)

        • Haltung: Perspektivlosigkeit, Resignation, Selbstzweifel („vielleicht doch selbst schuld“), kaum Vertrauen in Staat

      • 2. Ältere Einwanderer/ Gastarbeiter - Langjährig in Frankreich lebende Arbeitsmigranten (oft aus ehemaligen Kolonien)

        • Zentr. Bedroh.: wie Gruppe 1 + Diskriminierung aufgrund nicht-französischer Herkunft

        • Bes. MErkm.: Ausgrenzung („fehl am Platz“), kulturelle Entwurzelung, Konkurrenznachteile gegenüber älteren Franz.

        • Haltung: Zuspitzung des Leidens durch doppelte Benachteiligung (Klassen- & Herkunftsdimension)

      • 3. Jüngere Franzosen - Schulabgänger und junge Erwachsene aus prekären Milieus

        • Zentr. Bedroh.: Schwieriger bis unmöglicher Einstieg in Arbeitsmarkt; wertlose Abschlüsse;

        • Bes. Merkm.: Entwertung des Bildungskapitals; schwaches soziales Kapital (kaum Netzwerke für Jobchancen)

        • Haltung: Erst Hoffnung, dann Frustration → Fatalismus oder Zynismus

      • 4. Jüngere Einwanderer / Kinder von Gastarbeitern

        • Zentr. Bedr: Ähnliche Lage wie Gruppe 3, oft mit zusätzlicher ethnischer Diskriminierung + Marginalisierung

        • Besond.Merkm.: Häufige Eltern aus Gruppen 1 oder 2 → geringes „Erbe“ an ökonomischem, kulturellem & sozialem Kapital

        • Haltung: Häufig kollektive Identitätsstrategien (Jugendbanden), heroische Stilisierung des „Rausgefallenseins“

    • Theoretische Einordnung

      • Kapitalverlust & Kapitalmangel

        • Gruppen 1 & 2: Verlust ökonomischen Kapitals (Arbeitsplatz, Betrieb), verbunden mit Verlust symbolischen Kapitals (Status als produktives Mitglied der Gesellschaft).

        • Gruppen 3 & 4: Mangel an ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital bereits beim Eintritt ins Erwachsenenleben.

      • Habitus & Strukturwandel

        • Gruppen 1 & 2 haben einen Habitus, der auf stabile industrielle Arbeitswelten ausgerichtet war. Der neoliberale Strukturwandel zerstört diese Grundlage, führt zu Desorientierung.

        • Gruppen 3 & 4 entwickeln einen Habitus, der stärker von prekären Verhältnissen, fatalistischer Zukunftssicht und Ablehnung offizieller Institutionen geprägt ist.

      • Symbolische Gewalt

        • Alle Gruppen internalisieren in unterschiedlichem Maß neoliberale Deutungen (Eigenverantwortung, Leistungsideal), was zu Selbstzweifeln führt, obwohl strukturelle Faktoren die Hauptursache sind.

  2. Mittelbares Leiden: Leiden „zweiter Ordnung“ – entsteht durch Nähe zu Menschen, die direkt betroffen sind

    • Charakter: Mischung aus Empathie, Überforderung, sekundärer Belastung

    • Bedeutung: Zeigt, dass die Auswirkungen neoliberaler Strukturen nicht nur die unmittelbar Benachteiligten betreffen, sondern auch deren soziales Umfeld und Unterstützungsnetzwerke

    • Gruppen mittelbaren Leidens:

      • 5. Negativ Betroffene durch “Externalitäten” - (z. B. Ladenbesitzer, Hausmeister in Problemvierteln)

        • Beziehung zu 1-4: Direkt betroffen durch Vandalismus, Diebstahl, Gewalt von v. a. Jugendlichen

        • Belastung: edrohung der wirtschaftlichen Existenz, körperliche Gefährdung, Frust über Zerstörung eigener Arbeit

        • Haltung: Ambivalenz: teils kein Verständnis, teils Mitgefühl; innerlich zerrissen

      • 6. Ehrenamtliche Interessenvertreter - (z. B. Gewerkschaftsaktivisten, Initiatorinnen von Frauenhäusern)

        • Beziehung zu 1-4: Oft selbst (ehemals) unmittelbar Leidende; kämpfen für die Interessen der Gruppen 1–4

        • Belastung: Ohnmacht, wenn Hilfe nicht mehr wirkt; sinkende Solidarität; interne Konflikte

        • Haltung: Hohe Identifikation mit Leidenden; Wut und Engagement, die bei Misserfolg ins Innere umschlagen

      • 7. Professionelle staatliche Betreuer („Inklusionsarbeiter“ wie Sozialarbeiter, Lehrer, Polizisten, Richter)

        • Beziehung zu 1-4: Beruflich verpflichtet, Exklusionsgefährdete zu unterstützen

        • Belastung: Zweifrontenkampf: Resignation der Klienten + Abbau sozialstaatlicher Strukturen; politischer Druck

        • Haltung: „Linke Hand des Staates“, ausgebremst durch Sparpolitik der „rechten Hand“; erleben neoliberale self-fulfilling prophecy

    • Kernidee: ebenso intensiv wie das unmittelbare, aber es hat einen anderen Charakter: weniger materielle Prekarität, mehr Identitäts- und Sinnkrisen durch Ohnmacht, Widersprüche und das ständige Scheitern an strukturellen Barrieren.

  3. Öffentliche Inszenierung des Leidens: Darstellung von Leid in den Massenmedien oder durch öffentliche Diskurse

    • Charakter: Selektiv, oft stereotypisiert oder instrumentalisiert

    • Bedeutung: Formt gesellschaftliche Wahrnehmung von Armut und Exklusion; kann Mitleid erzeugen, aber auch stigmatisieren oder legitimieren

    • Gruppe des Leidens:

      • 8. Journalist:innen, die über Exklusion als unveränderbares Naturereignis inszeniert berichten, aber die die Sichtweise prägen (oft verzerrt, mediengerecht, ohne strukturelle Tiefe)

    • Folge für Exkludierte:

      • Alltägliche Präsenz der Medienbilder formt gesellschaftliche Vorstellungen – oft fern der Realität.

      • Ergebnis: Bestätigung bestehender Stereotype (zwischen Abscheu und Bedauern).

    • Aufklärerischer Journalismus – theoretisch möglich, praktisch selten

      • Könnte strukturelle Hintergründe sichtbar machen und Betroffenen eine echte Stimme geben.

      • Hindernis: Journalisten selbst geraten in einen „prekarisierten Habitus“ (Bourdieu).

        • Kommerzialisierung + Konkurrenzdruck führen zu Anpassung an oberflächlichen Massengeschmack.

        • Leitmotiv: Wer nicht selbst exkludiert werden will, stellt Exklusion mediengerecht und nicht als gesellschaftlich veränderbar dar.

Zusammenspiel der Perspektiven:

  • Alle drei Perspektiven sind miteinander verschränkt: Öffentliche Inszenierungen beeinflussen, wie mittelbares Leiden wahrgenommen wird; mittelbares Leiden kann wiederum das Verständnis von unmittelbarem Leiden prägen.

  • Perspektivismus macht sichtbar, dass jede Form von Leiden sozial situiert ist – und dass keine Perspektive neutral oder „gottgleich“ ist.

    • Perspektivität ist kein methodischer Mangel, sondern Teil des Erkenntnisprozesses.

      • = Leiden muss aus der Position der Betroffenen heraus verstanden werden, bevor es im sozialen Raum verortet wird.

  • Durch die methodische Collage kann Bourdieu sowohl Empathie als auch Strukturanalyse erzeugen: Die individuellen Geschichten berühren emotional, ihre Einbettung in soziale Felder verdeutlicht systemische Ursachen.

    • = Die drei Blickwinkel (unmittelbar, mittelbar, inszeniert) bilden zusammen ein vielschichtiges Bild, das verdeutlicht, wie tief der neoliberale Umbau in alle Schichten sozialer Erfahrung eingreift.


Gesellschaftliche Zersplitterung des Leidens

  • Gruppen 1–4: Unmittelbar Betroffene, die unter Exklusion, Prekarität und sozialer Benachteiligung leiden.

    • 1 & 2: Konkurrenten untereinander (z. B. Alte vs. Junge)

    • 3 & 4: Ebenfalls konkurrierend, aber innerhalb der Franzosen gegenüber Nicht-Franzosen bevorteilt.

    • Interne Konflikte: Alters- und Nationalitätsunterschiede verhindern Solidarität; die Gegenkräfte sind zersplittert.

  • Gruppe 5: Konflikt mit 1–4, nähere Funktion im Text unklar, aber in die Zersplitterung involviert.

  • Gruppen 6 & 7: Interessenvertreter und „Inklusionsarbeiter“, die sich zunehmend von den direkt Betroffenen entfremden.

  • Gruppe 8: Journalisten, die in ihrer Berichterstattung die Interessen der anderen Gruppen „verraten“; Medienschaffung wird zur Distanzierung vom Leid.

Kerngedanke: Die Zersplitterung (z. B. nach Generationen, Nationalität, Rolle) schwächt die kollektive Handlungsfähigkeit der Leidtragenden und erleichtert die Durchsetzung neoliberaler Strukturen („divide et impera“).


Die Mächte des Marktes und ihre Rolle

  • Unternehmen/Großunternehmen, insbesondere Banken, treiben eine neoliberale Agenda („shareholder value“, Kostenreduktion) voran.

  • Staatliche Wirtschafts- und Finanzpolitiker setzen diese neoliberalen Maßnahmen um (z. B. Rückbau des Wohlfahrtsstaates) – oft unter dem Deckmantel „Sachzwang“.

  • Ökonomische Experten (z. B. Weltbank, IWF) legitimieren die Maßnahmen wissenschaftlich.

Folge: Soziale Exklusion, Entsolidarisierung, gesundheitliche und familiäre Schäden – alles zugunsten wirtschaftlicher Profite.


Potentielle Gegenkräfte

  • Linke Intellektuelle, Gewerkschaften, Sozialverbände, soziale Bewegungen können die Zersplitterung überwinden und eine verteidigende Allianz für den Wohlfahrtsstaat bilden.

  • Internationalisierung des Widerstands nötig, um den globalisierten neoliberalen Kräften wirksam entgegenzutreten.





Niklas Luhmann - Funktionale Differenzierung (Polykontexturale Gesellschaft)

Luhmann hat keine gebündelte Gegenwartsdiagnose veröffentlicht; seine gegenwartsdiagnostischen Ideen sind über theoretische Überlegungen und Teilsystemanalysen verstreut.

  • Grundlage für die Zusammenfassung: Luhmann 1997 („Soziale Systeme“)


Funktionale Differenzierung der modernen Gesellschaft:

= Die funktionale Differenzierung vervielfacht die Gesellschaft, statt sie zu vereinheitlichen. Jedes Teilsystem entwickelt eigene Codes und Perspektiven, die für die gesellschaftliche Kommunikation relevant sind. Einheit entsteht nicht aus homogenen Strukturen, sondern aus der Differenz und Autonomie der Funktionssysteme.


Im Detail:

  • Gesellschaft besteht aus ungleichartigen, aber gleichrangigen Teilsystemen.

  • Jedes Teilsystem hat eine eigene funktionale Spezialisierung.

  • Beispiele für Teilsysteme:

    • Wirtschaft, Politik, Recht, Militär, Wissenschaft, Kunst, Religion, Massenmedien, Erziehung, Gesundheitswesen, Sport, Familie, Intimbeziehungen.

  • Ungleichartigkeit der Teilsysteme:

    • Unterschiedliche Sinnbezüge im Handeln.

    • Unterschiedlicher funktionaler Sinn des Handlungsergebnisses.

    • Beispiel: Politisches Handeln → Macht; künstlerisches Handeln → originelle Schönheit.

  • Gleichrangigkeit der Teilsysteme:

    • Kein Teilsystem kann durch ein anderes ersetzt werden.

    • Sekundäre Ungleichheiten (z. B. Wirtschaft dominiert) werden kaum betrachtet, da Luhmann Übertragungen aus stratifizierten Gesellschaften ablehnt.

    • Prinzip: Dominanz durch Krisen

      • Das System mit der höchsten Versagensquote prägt andere, weil Ausfälle nirgendwo kompensiert werden können.

      • Dominanz entsteht nicht durch Stärke, sondern durch chronisches „Kränkeln“.

      • Luhmann nennt nicht, welche Teilsysteme auf diese Weise besonders prägend sind.

  • Leitdifferenz der binären Codes: Jedes Teilsystem entwickelt eine eigene “Sprache” mit eigenen Interessen, z.B.

    • Wirtschaft: zahlen/nicht-zahlen

    • Recht: Recht/Unrecht

    • Politik: Macht/Wiederwahl

  • Polykontexturale Gesellschaft: Ereignisse haben mehrere gesellschaftlich relevante Bedeutungen gleichzeitig.

    • Beispiel: Ein Zugunglück: rechtlich, wirtschaftlich, politisch, massenmedial, wissenschaftlich, medizinisch, ggf. militärisch, pädagogisch, künstlerisch – jedes Mal anders.


Heißt: Gesellschaft ist nicht einheitlich, sondern existiert mehrfach aus Sicht der Teilsysteme.

  • Einheit der Gesellschaft = Differenz der Funktionssysteme.

  • Charakteristika:

    • Wechselseitige Autonomie

    • Unsubstituierbarkeit der Teilsysteme

Vergleich mit Weber:

“Moderne Gesellschaft entsteht durch Ausdifferenzierung von „Wertsphären“ → entspricht Luhmanns Teilsystemen.”

  • Wertsphären wirken oft selbstreferentiell und gleichgültig gegenüber anderen.

  • Spannungsreiches Neben- und Gegeneinander: z. B. wirtschaftlich nützlich ≠ politisch opportun ≠ künstlerisch wertvoll.


Selbstreferentielle Geschlossenheit der Teilsysteme

= Gesellschaftliche Teilsysteme (z. B. Sport, Wirtschaft, Wissenschaft, Politik) operieren nach eigenen binären Codes, die den Sinnhorizont des Systems bestimmen.

  • Codes bilden Sinngrenzen, die klar machen, worum es im jeweiligen Teilsystem geht.

  • Teilsysteme verstehen einander nicht automatisch, da sie die konstitutive Orientierung des anderen Systems nicht teilen.

  • Die Systeme sind also selbstreferentiell geschlossen, aber nicht völlig isoliert: Außenreize (Irritationen) können in die Programmstrukturen der Systeme eingehen.

    • Sog. Programme spezifizieren die abstrakten Codes und geben Regeln vor, wie der Code konkret umgesetzt wird.

      • Beispiele: Wettkampfregeln im Sport, Investitionskalküle in der Wirtschaft, wissenschaftliche Methodologien.

    • Systeme können fremdreferentielle Programmelemente aufnehmen, z. B. Gesetze, Fördermaßnahmen oder externe Interessen.

    • Diese Kanalisierung beeinflusst das System restriktiv, orientierend oder bestärkend, ohne den Code selbst außer Kraft zu setzen.

      • Beispiel: Wirtschaftlich orientierte Forschung muss trotzdem wissenschaftlich „wahr“ sein, um brauchbar zu bleiben.

  • Polykontexturale Kopplung der Teilsysteme:

    • keine einheitliche, substanzielle Gesellschaft, sondern ein Netz spezialisierter Teilsysteme, die vielvältig strukturelle gekoppelt sind:

      • Politik finanziert sich über Steuern aus der Wirtschaft.

      • Unternehmen unterstützen Hochschulforschung.

    • Strukturelle Kopplungen respektieren die Selbstreferentialität des anderen Systems:

      • Politik handelt nach eigenem Code (Macht, Wiederwahl), nicht primär zum Wohl anderer Systeme.

  • Kopplungen sorgen für Systemintegration: verhindern, dass Operationen eines Systems in einem anderen unlösbare Probleme erzeugen.

    • Typische Probleme:

      1. Unterversorgung: Ein System produziert nicht genug für die Bedürfnisse anderer (z. B. Erziehungssystem liefert nicht genügend Fachkräfte für die Wirtschaft).

      2. Negative Externalitäten: Ein System belastet andere übermäßig (z. B. unersättlicher Finanzbedarf des Gesundheitssystems).

  • Diese Probleme sind grundsätzlich in der Selbstreferentialität der Systeme angelegt.

  • Die Gesellschaft kann nur dafür sorgen, dass sie nicht zu extrem werden; dauerhafte Stabilität ist nicht garantiert.


= Luhmann betrachtet die moderne Gesellschaft als ein System aus strukturell gekoppelten Teilsystemen, die binär codiert und selbstreferentiell geschlossen sind, stehen aber über strukturelle Kopplungen in Verbindung, die eine gewisse Integration der Gesellschaft ermöglichen.


  1. Problem: Wie werden Konflikte und Abhängigkeiten zwischen Teilsystemen geregelt?

Antwort: Gesellschaftliche Systemintegration

Integration bedeutet hier nicht Harmonie oder ein gemeinsames Ziel, sondern lediglich: „Operationen eines Teilsystems führen in einem anderen nicht zu unlösbaren Problemen“.

  • Beispiel: Bildungssystem produziert genügend Fachkräfte für die Wirtschaft, ohne dass es zu massiven Engpässen kommt.


  1. Problem: Teilsysteme (Wirtschaft, Wissenschaft, Politik etc.) operieren nach eigenen Codes und ignorieren weitgehend die Folgen ihres Handelns für die natürliche Umwelt und provozieren Gefährdung der Reproduktionsfähigkeit der Gesellschaft.

    • Natur: Physikalische, chemische, biologische Systeme.

      • Beispiel: Umweltzerstörung, Klimawandel.

      • Ursache: Übermäßige Befriedigung wirtschaftlicher Ansprüche (Wachstum, Konsum), die „Grenzen des Wachstums“ erreichen.

      • Offene Flanke (Konsequenz): Ressourcenknappheit, Umweltverschmutzung.

      • wird erst gesellschaftlich relevant, wenn darüber kommuniziert wird.

        • Heißt: Ohne Kommunikation haben ökologische Ereignisse keine sozialen Auswirkungen.

      • Moralische Appelle (Verantwortung, Öko-Bewusstsein) sind meist ineffektiv und können als gesellschaftlicher Selbstbetrug interpretiert werden.

    • Personen: Individuen als psychische Systeme. Sie müssen gesellschaftliche Rollen erfüllen, was kognitive und motivationale Leistung verlangt.

      • Beispiel: Burnout, Stress, Überforderung, soziale Fehlregulation.

      • Offene Flanke: psychische Belastung, Überforderung, gesellschaftlich unterminierte Funktionsfähigkeit.

= Luhmann spricht vom „Altwerden“ der funktionalen Differenzierung, d.h., je erfolgreicher eine Gesellschaft diese Differenzierungsform etabliert hat, desto stärker treten langfristige negative Nebenfolgen hervor.


Ansruchsinflation

Die Modernisierung hat traditionelle Selbstbeschreibungen von Individuen ersetzt durch Ansprüche, die sie an die Teilsysteme der Gesellschaft stellen. Das moderne Individuum sucht seine Identität in der Differenz zwischen aktuellem Zustand und dem, was sein soll. Anspruchsinflationen entstehen, wenn diese Erwartungen kontinuierlich steigen.

  • = Individuen identifizieren sich über Ansprüche: „Ich stimme mit meinem Anspruch überein, weil ich mich über ihn definiere.“

    • Ungleiche Lebenslagen verstärken Anspruchsspiralen durch sozialen Vergleich.

    • Wachstum wird als Konfliktentschärfung genutzt („mehr für alle“), ohne strukturelle Ungleichheit zu beseitigen.

  • Funktionsautonomie der Teilsysteme erzeugt keine Begrenzung: Bestmögliche Erfüllung der Funktion wird angestrebt → Ansprüche wachsen ständig.

    • Problem: Ansprüche und Teilsystemleistungen steigern sich gegenseitig. (Symbiose)

    • Beispiel: Wirtschaft → Konsum, Bildung → Bildungschancen, Gesundheit → medizinische Versorgung.

Grenzen der Anspruchserfüllung (des Wachstums):

  • Positionale Güter: Einige Leistungen sind nicht beliebig vermehrbar (z. B. Hochschulabschlüsse).

  • Ressourcenbegrenzung: Finanzen, Umwelt oder andere natürliche Grenzen

Folge = Problemverschiebung: das Verschieben der Folgen auf einen anderen Bereich (z. B. Natur, Ressourcenverbrauch), um die Grenzen kurzfristig zu umgehen.


Exklusionsverkettung

= entstehen, wenn Personen von den Leistungen eines oder mehrerer Teilsysteme ausgeschlossen werden, z.B wenn

  • der Wohlfahrtsstaat seine „Grenzen des Wachstums“ erreicht hat, oder

  • ein Wohlfahrtsstaat gar nicht existiert.

  • Beispiele:

    • Elendsviertel in der Dritten Welt

    • Ghettos in nordamerikanischen Städten

    • heruntergekommene Arbeiterviertel in europäischen Krisenregionen

  • Charakteristika:

    • Person gehört nicht zum Publikum eines Teilsystems → keine Teilhabe an dessen Leistungen.

    • Exklusion wirkt meist teilsystemübergreifend → Kettereaktionen.

    • Beispiel brasilianische Favelas: Ausschluss von Arbeit, Einkommen, Bildung, medizinischer Versorgung, Rechtssystem, politischer Partizipation etc.

  • Folgen:

    • Exklusionsphänomene gefährden soziale Ordnung.

    • „Vollinklusion“ als normative Erwartung → faktische Exklusion erzeugt Unzufriedenheit und Konfliktpotenzial.

      • Individuelle und kollektive Gewalt als mögliche Folge.

    • Exkludierte verschaffen sich gesellschaftliche Beachtung fast nur über den Körper (Mode, Schauspiel, etc)


Politische Gesellschaftssteuerung

Politische Intervention wird aufgrund der Selbstreferenz zu einer Selbstbeobachtung der Politik selbst – Steuerungserfolg ist strukturell begrenzt.

  • Moderne Staaten übernehmen oft „Gesamtverantwortung“, durch Wohlfahrtsstaaten scheitern aber regelmäßig.

  • = Gesellschaftliche Steuerung ist begrenzt und oft ineffektiv

  • Luhmann empfiehlt: restriktives Politikverständnis → Fokus auf Konfliktregulierung ohne Anspruch auf Steuerung der Gesellschaft.


Soziale Bewegungen

weisen auf ökologische oder soziale Probleme hin und schaffen Aufmerksamkeit.

  • Begrenzung: Empörung oder Angstkommunikation erzeugt nur minimale Problemlösungseffekte; kann „Anspruchsinflationen“ fördern.


Zusammenfassend: „Für funktionale Differenzierung gibt es keine Alternative.“

  • Evolutionäre Prozesse der funktional differenzierten Gesellschaft sichern langfristig das Überleben, auch wenn kurzfristige Probleme bestehen.


Anthony Giddens - Strukturierungstheorie

Giddens versucht, die Trennung von Handlungstheorien (subjektivistisch) und Strukturtheorien (objektivistisch) zu überwinden. Er versteht Gesellschaft als fortlaufenden Prozess, in dem Strukturen und Handlungen wechselseitig aufeinander wirken.

  • Strukturen: Ermöglichend und restriktiv zugleich und existieren nicht unabhängig; sie entstehen durch Handlungen.

    • Beispiel Spracherwerb: Sprache begrenzt Denken, ermöglicht aber zugleich kognitive Entwicklung.

  • Handlungen: kontinuierliches Eingreifen in die Umwelt und sind geprägt von Strukturen

    • Quasi-Bewusstsein von Regeln: Akteure sind aktiv in der Produktion von Strukturen beteiligt und entwickeln so ein reflexives Wissen über diese

= „Dualität der Struktur“

  • „Strukturen selbst existieren gar nicht als eigenständige Phänomene ... Struktur wird nur in konkreten Vollzügen der handlungspraktischen Strukturierung sozialer Systeme wirklich.“

Heißt: Strukturen sind nicht nur Einschränkungen, sondern auch Möglichkeiten, die Handeln ermöglichen.

  • Strukturen existieren, weil Menschen sie durch Handeln ständig reproduzieren.

  • Beispiel: Kapitalismus existiert, weil wir ihn durch Konsum, Arbeit, Investitionen immer wieder bestätigen.


Dynamik der Moderne:

  1. Zentrale Elemente

    als Soziale Organisationsformen, die ab dem 17. Jh. in Europa entstanden und global verbreitet sind.

    • Entkopplung von Raum und Zeit: Traditionelle Korrelation von Distanz und Zeit wird aufgehoben.

    • Entbettung sozialer Beziehungen: Beziehungen werden aus situativen Kontexten gelöst.

      • Mechanismen: symbolische Zeichen (Geld), Expertensysteme.

    • Vertrauensmobilisierung: Vertrauen ist notwendig, um soziale Beziehungen über Raum und Zeit hinweg zu ordnen.

  2. Institutionelle Merkmale

    • Kapitalismus – Klassenstruktur durch privates Kapital vs. Lohnarbeit.

    • Industrialismus – Einsatz unbelebter Energiequellen zur Produktion.

    • Überwachung und Kontrolle durch staatliche Überwachungsapparate.

    • Kontrolle über Gewaltmittel – monopolisierte militärische Macht.


Radikalisierung der Moderne

Heutige Gesellschaft zeigt eine extremere Ausprägung der modernen Dynamiken.

  • Konsequenz: beschleunigte und global vernetzte Prozesse (Globalisierung).

    • Intensivierung weltweiter sozialer Beziehungen.

    • Ereignisse an einem Ort beeinflussen andere Orte global.

    • Umwandlung von Raum und Zeit, „Handeln auf Entfernung“.

  • Institutionalle Auswirkungen:

    • Kapitalismus → globale Wirtschaft, multinational agierende Unternehmen.

    • Überwachung → internationale Informationskontrolle.

    • Militärische Macht → Einbindung in globale Sicherheitsstrukturen.

    • Dialektik von Zentralisierung und Souveränität -> Nationalstaaten behalten Autonomie, aber sind gleichzeitig Teil des globalen Systems

Risikoprofil der Moderne

Giddens beschreibt, dass die Moderne ein spezifisches Risikoprofil erzeugt, das sich vom vormodernen Risikoverständnis deutlich unterscheidet.

Hauptmerkmale:

  1. Globalisierung von Risiken

    • Risiken wirken auf globaler Ebene (z. B. Atomkrieg)

    • Zunahme kontingenter Ereignisse (z. B. globale Arbeitsteilung)

  2. „vergesellschaftete Natur“ - Gestaltung der Umwelt als Risiko

    • Menschliche Eingriffe in die Natur erzeugen neue Gefahren

  3. Institutionalisierte Risikoumwelten

    • Risiken entstehen durch gesellschaftliche Institutionen, z. B. Finanzmärkte

  4. Bewusstsein vom Risiko

    • Menschen wissen um die Fehlerhaftigkeit eigener Entscheidungen

    • Risiko wird öffentlich diskutiert, Grenzen des Expertenwissens werden sichtbar


Konkrete Risikokontexte (nach institutioneller Dimension):

  • Ökologische Gefahren -> Negative Beeinflussung der Ökosysteme

  • Ökonomische Polarisierung -> Ausbreitung von Armut

  • Verbreitung von Massenvernichtungswaffen → Gefahr eines großen Krieges

  • Verweigerung demokratischer Rechte / Überwachung -> Unterdrückung demokratischer Rechte

Metapher des Dschagannath-Wagens

= Metapher, die die Moderne als einen indischen Lasten-Wagen darstellt. In dieser Vorstellung muss man entweder mit dem Wagen (der Moderne) mitfahren oder sich ihm entgegenstellen. Wer sich ihm widersetzt, wird überrollt


heißt:


Globale Ereignisse wirken direkt auf das individuelle Leben: Entscheidungen im Alltag (z. B. Kleidungskauf) haben weltweite Konsequenzen – wirtschaftlich, ökologisch, sozial.


Posttraditionale Sozialordnung

Traditionen verlieren ihre unbedingte Autorität („formelhafte Wahrheit“) und müssen ständig begründet und diskutiert werden.

  • Selbst die Natur wird zunehmend „verhandelbar“: Beispiele sind In-vitro-Fertilisation, Leihmutterschaft, genetische Wunschkinder – traditionelle Vorstellungen von „natürlich“ lösen sich auf.

= Ausdehnung sozialer Reflexivität

  • Individuen müssen ständig Entscheidungen treffen und ihre Lebenswege selbst entwerfen.

  • Reflexivität wird sowohl Voraussetzung als auch Folge der posttraditionalen Gesellschaft.

  • Die Identität wird aktiv durch eigene Entscheidungen und Interaktionen gestaltet.

  • Neue Formen der Solidarität entstehen, da Identität nur im Austausch mit anderen gestaltet werden kann.

Zitat:

„Das Voranschreiten der sozialen Reflexivität bedeutet, dass den einzelnen gar keine andere Entscheidung bleibt, als Entscheidungen zu treffen; und durch diese Entscheidungen wird bestimmt, wer sie sind…“


Individualisierung

= Verschiebung moralischer Orientierung von traditionellen Normen zu individuellen und globalen Interessen.

  • ungleich Egoismus! Individualisierung kann Solidarität stärken, wenn diese nicht an traditionelle Formen gebunden ist.

    • Beispiel: Eintreten für Menschenrechte statt blinde Bindung an alte moralische Regeln.


Radikale Politik als Reaktion auf Moderne

= Traditionelle politische Modelle (Sozialismus, Konservatismus) sind obsolet. Neoliberalismus ist widersprüchlich

  • Feindlich gegenüber Traditionen

  • Abhängig von tradierten Strukturen zur Legitimation

Giddens Vorschlag: Grundwerte bewahrender, sozialistisch inspirierter philosophischer Konservatismus


Sechs-Punkte-Prgramm radikaler Politik:

  1. Reparatur beschädigter Solidarität

    • Beispiel: Vertrauen in enttraditionalisierte Familien

  2. Lebenspolitik / Entscheidungsorientierung

    • Fokus auf individuelle Entscheidungen („Wie sollen wir leben?“) = Berufswahl vs. Familie, Mobilität, individuelle Lebensgestaltung

  3. Generative Politik

    • Politik soll Handeln ermöglichen, nicht nur Reaktionen auf Ereignisse erzwingen

  4. Dialogische Demokratie

    • Repräsentation + Diskursraum für Konfliktaustragung

    • Gilt politisch wie persönlich (z. B. Eltern-Kind-Beziehungen)

  5. Neuorientierung des Wohlfahrtsstaates („positive Wohlfahrt“)

    • Prävention statt reaktive Unterstützung

    • Drei Stufen der Verhütung von Risiken

      • Primär: versucht über soziale Normierung (oder dessen Veränderung) einzuwirken. Rauchen etwa ist nicht mehr ‚in’, sondern ‚out’, weil sich die normative Bewertung des Rauchens gewandelt hat

      • Sekundär: Wo die Prävention versagt hat, greift der sekundäre Schritt in dem Versuch, die ungewollten Gewohnheiten zu ändern. Im Falle des Rauchens gehören dazu Therapien, Nikotin-Ersatzstoffe, Gespräche etc.

      • Tertiär: Kann auch im zweiten Schritt kein Erfolg verbucht werden, geht es weiter auf die vom Rauchen hervorgerufenen Pathologien reagieren, sobald sie sich herausgebildet haben. Selbst hier ist es nicht vernünftig, die Sache nur als äußeres Risiko aufzufassen. Die Behandlung der physischen Auswirkungen des Rauchens muss darauf abgestimmt werden, dass die betreffenden Personen anschließend ihren Lebensstil ändern.“

    • Prinzip der Sozialstaatlichkeit wird als Investition in Aktivität und nicht als Unterstützung von Passivität aufgefasst. Das leitende Prinzip moderner Wohlfahrt lautet nach Giddens (1998: 137) : „Investition in menschliches Kapital statt direkter Zahlungen. An die Stelle des Sozialstaates sollten wir den Sozialinvestitionsstaat setzen, der einen integralen Bestandteil einer Gesellschaft mit positiver Wohlfahrt bildet.“

  6. Umgang mit Gewalt

    • Absonderung (Vermeidung des Kontakts), Austritt (ähnlich wie die Absonderung mit höherer Betonung der Aktivität), Dialog (mit der Chance des gegenseitigen Kennenlernens und Verstehens) und Gewalt.


Institutionelle Zukunftsvision

  • Kapitalismus

    • Risiko: Nachknappheitsökonomie

      • Knappheit ist nicht total, sondern begrenzt – man muss wirtschaftliche Risiken managen.

    • Alternative: Neubewertung von Lohnarbeit, Lebensstilentscheidungen

    • Kritik an Giddens: beschreibt ein Ideal, in dem Menschen Risiken durch Lebensstil aktiv managen können, aber vernachlässigt stark, dass viele strukturelle Hindernisse diese Möglichkeiten massiv einschränken. Für den Großteil der Bevölkerung ist das Risiko nicht einfach „bewältigbar“, sondern stark vorgegeben durch soziale, wirtschaftliche und politische Bedingungen.

  • Industrialismus:

    • Risiko: Überwachung

    • Dialogische Demokratie

  • Natur:

    • Ökologische Gefahren

    • Humanisierte Natur

  • Gewalt

    • Risiko: Direkte Mittel zur Gewaltanwendung

    • Ausgehandelte Machtverhältnisse




Hartmut Rosa - Beschleunigte Spätmoderne und Akzelerationszirkel

Rosa verbindet die Frage nach einem „guten Leben“ direkt mit der Zeit: Ein gutes Leben hängt davon ab, wie wir unsere Zeit verbringen (Rosa 2005). Zeit wird also zur entscheidenden Dimension für Lebensqualität.

  • Kernthese: Zeitstrukturen sind der zentrale Ort, an dem sich individuelle Autonomie und systemische Zwänge treffen. Die Beschleunigung dieser Strukturen führt dazu, dass Freiheit und Lebensqualität paradox reguliert und eingeschränkt werden – auch in einer Gesellschaft, die sich als emanzipiert versteht.


Paradoxon der Moderne

Obwohl moderne Menschen theoretisch freier sind durch Individualisierung und emanzipatorische Entwicklungen (vgl. Beck 1986), zeigt Rosa, dass wir gleichzeitig durch unsichtbare und nicht hinterfragte Zeitregime reguliert werden. Diese „unsichtbaren“ Zeitstrukturen wirken rigoros und restriktiv


Zeitstrukturen = Verbindung von individuellen Lebensentwürfen und gesellschaftlichen Systemzwängen

  • Heißt: Unsere Handlungen werden durch gesellschaftliche Imperative – wie Deadlines, Regeln und zeitliche Normen – koordiniert und kompatibel gemacht (Rosa 2013).


Soziale Beschleunigung

= Veränderungen der Zeitstrukturen, in Form von Verdichtung von Alltagshandlungen als auch die steigende Geschwindigkeit gesellschaftlicher Prozesse.


= Moderne Gesellschaften erhalten sich nur durch Beschleunigung.

  • Beschleunigung = Mengenzunahme pro Zeiteinheit bzw. Reduktion des Zeitquantums pro feststehendem Mengenquantum.

    • „Menge“ kann vieles sein: E-Mails, Lebensabschnittspartner, Bruttosozialprodukt etc.

  • Eigenlogik der Dynamisierung = Anders als vormoderne Gesellschaften, die eher adaptiv auf Umweltbedingungen reagierten, ist die Moderne innerlich gezwungen, sich zu beschleunigen.

    • Beschleunigung ist daher strukturell notwendig, nicht optional.


Triebkräfte

  • Strukturelle:

    • Funktionale Differenzierung der Gesellschaft (z. B. Wirtschaft, Recht, Wissenschaft) → Subsysteme handeln zunehmend unabhängig.

      • Vorteil: Steigerung der Geschwindigkeit, weil Hemmungen durch andere Systeme reduziert werden.

      • Nachteil: Verknappung von Zeit und steigende Komplexität → zukünftige Bearbeitung schwieriger.

      • Paradoxon: Aufschieben zur Effizienzsteigerung erzeugt noch mehr Komplexität in der Zukunft.

  • Institutionell:

    • Nationalstaaten: Infrastruktur, Rechts- und Handelssicherheit → stabile Erwartungshorizonte für Unternehmen → weitere Beschleunigung möglich.

    • Bürokratie: hocheffizientes Entscheidungsinstrument, schnellere Umsetzung.

    • Militär: Expansion → schnelleres Transport- und Kommunikationswesen; Zeitdisziplin wird „eingeschrieben“.

  • Kulturell:

    • Protestantische Ethik (Weber): innerweltliche Askese → strikte Zeitdisziplin → kulturelle Komplementarität für Kapitalismus.

    • Dualität:

      • Verheißung: Erfolg = Kontrolle über Lebensoptionen.

      • Angst: Aufgestaute Unsicherheiten durch Prädestinationslehre → Leistungsdruck.

    • Heute: religiöse Begründung schwächer, sozialer Wettbewerb übernimmt die motivationale Funktion.


Heißt: Beschleunigung wird durch ökonomische, strukturelle, institutionelle und kulturelle Faktoren getrieben = Zwang zur Beschleunigung → immer schnellere Produktion, Innovation, Entscheidungsprozesse und Lebensführung.

  • Paradox: Beschleunigung erzeugt Komplexität → steigender Druck → noch mehr Beschleunigung.


Arten der Beschleunigung

  1. Technische Beschleunigung: Transport, Kommunikation, Produktion

    • Beispiel: Eisenbahn

    • Veränderung: Menge an Gütern/Personen pro Zeiteinheit und ihre durchschnittliche Geschwindigkeit.

    • Folgen: Raumschrumpfung

      • Entfernungen werden weniger relevant, Zeit wird zentraler.

      • Elektronische Kommunikation: weitgehend ortsunabhängig.

    • materielle Basis für die soziale Beschleunigung der Gesellschaft.

  2. Beschleunigung des sozialen Wandels

    • Schnellere Veränderungen der Handlungsorientierungen, Praxisformen, Assoziationsstrukturen und Beziehungsmustern.

      • Zeitliche Dimension:

        • Vormoderne: intergenerationale Veränderung (z. B. Beruf wird vom Vater an den Sohn weitergegeben).

        • Moderne: Berufsstrukturen ändern sich auf Generationsebene → Beruf als Identitätsprojekt.

        • Spätmoderne: Berufswechsel und Veränderung der Berufsfelder intragenerational, schnellere Anpassung nötig.

      • Folgen: Gegenwartsschrumpfung

        • = Veränderungsraten selbst beschleunigen sich

          • Steigerung der Verfallsraten von Erfahrungen/Erwartungen und Verkürzung der für Gegenwart maßgeblichen Zeiträume.

        • Verlust von Erwartungssicherheit, Anpassungsdruck, Risiko des „Abgehängt-Werdens“.

          • = „Slippery-Slopes“-Gefühl: permanentes Gefühl auf rutschigem Abhang zu stehen.

        • Symptome: Offenhalten von Optionen, Aufschieben von Entscheidungen, Angst, Zeitdruck.

  3. Beschleunigung des Lebenstempos

    • = Steigerung der Handlungs- und Erlebnisepisoden pro Zeiteinheit.

    • Faktoren:

      • Objektive Faktoren: Verdichtung von Handlungsepisoden, Multitasking, Eliminierung von Pausen.

        • Beispiel: weniger Zeit für Schlaf oder Essen, kombinierte Tätigkeiten.

      • Subjektive Faktoren: Gefühl der ständigen Zeitnot, Freizeit als Pflicht, Druck zur optimalen Nutzung der Zeit.

    • Ursachen: Anpassungszwang an rasch veränderliche Bedingungen („struktureller Beschleunigungszwang“) und der Wunsch nichts zu verpassen

    • Paradox: Trotz zeitsparender Technologien erleben Menschen mehr Zeitknappheit, denn Technische Beschleunigung spart Zeit nur dann, wenn Menge konstant bleibt – aber steigende Nutzung (z. B. häufiger Kleidung wechseln, steigender E-Mail-Verkehr) neutralisiert dies.


Beschleunigungszirkel - Akzelerationszirkel

= Wechselseitige Verstärkung der drei Beschleunigungsprozesse (technisch, sozial, Lebenstempo).

  • Mechanismus:

    • Technische Beschleunigung → Veränderung sozialer Praktiken

      • Neue Technologien (z. B. Smartphones, schnelle Transportmittel, Instant-Kommunikation) machen es möglich, Aufgaben schneller zu erledigen.

      • Dies verändert die sozialen Erwartungen: „Alle sind immer erreichbar“, „Antworten müssen sofort erfolgen“, „Projekte können schneller umgesetzt werden“.

      • Beispiel: Früher dauerte die Koordination eines Treffens Tage, heute Minuten. Daraus entstehen neue Normen: Wer nicht sofort reagiert, gilt als unzuverlässig.

    • Veränderung sozialer Praktiken → höheres Lebenstempo

      • Individuen passen sich den neuen Erwartungen an und versuchen, mehr in kürzerer Zeit zu erledigen.

      • Multitasking, ständige Verfügbarkeit, Optimierung jeder Handlung.

      • Beispiel: Parallel arbeiten, E-Mails checken während des Essens, Social Media in Pausen – Zeit wird verdichtet, nicht verlängert.

    • Höheres Lebenstempo → erneuter Wunsch nach technischer Beschleunigung

      • Das gesteigerte Tempo erzeugt Stress, Zeitknappheit und das Gefühl, nie genug zu schaffen.

      • Lösungssuche führt wieder zu neuen Technologien, Apps, Tools oder Automatisierungen, die noch mehr Effizienz versprechen.

      • Paradoxon: Mehr Technik reduziert nicht die Zeitknappheit, sondern erhöht die Anforderungen.

= Selbstverstärkendes Feedback-System

  • Kein natürlicher Stillstand: Pausen werden aktiv oder passiv durch die Erwartungen sabotiert.

  • Ohne bewusste Gegenmaßnahmen führt jeder Fortschritt zu noch mehr Beschleunigung.

Technik schafft Handlungsoptionen -> schafft Erwartung/ Druck diese zu erfüllen -> schafft schnelleres Lebenstempo -> schafft Wunsch nach Technik, um dieses zu erleichtern.


Folgen:

  1. Individuelle vs. kollektive Rationalität

    • Auf Mikroebene: Einzelne nutzen Technik, um Zeit zu sparen.

    • Auf Makroebene: Wenn alle das Gleiche tun, erhöht sich der soziale Druck, schneller zu werden → Gesamteffizienz wird nicht gesteigert, sondern Zeitknappheit steigt.

    • Beispiel: Homeoffice-Technologien sollen Flexibilität bringen, führen aber dazu, dass Arbeit außerhalb der Bürozeiten erwartet wird.

  2. Zeit wird zum Luxus

    • Langsamkeit, Nicht-Erreichbarkeit und freie Pausen werden selten und gelten als Luxus.

    • Wer „langsamer“ sein will, riskiert sozialen oder beruflichen Nachteil.

    • Subjektiv: Menschen erleben dauernden Druck, ständig verfügbar und produktiv sein zu müssen.

    • Psychologische Folge: Stress, Burnout-Risiko, permanente innere Unruhe.

  3. Zusätzliche soziale Dynamik

    • Beschleunigung verändert nicht nur den Alltag, sondern auch Werte und Normen: Geschwindigkeit wird als Leistung, Effizienz als Tugend wahrgenommen.

    • Gesellschaftliche Konsequenz: Wer langsamer lebt oder arbeitet, wird als „faul“ oder „zurückgeblieben“ bewertet

    • = Beschleunigung wird moralisiert.


Subjektive Seite der Spätmoderne: Situative Identitäten

  • Normalbiografie teilt das Leben in einen Ablauf spezifischer Lebensphasen, wie z. B. den Ablauf von Ausbildung, Beruf und Rente. Während es sich bei vormodernen Identitäten also um substanzielle Identitäten a priori handelt, ermöglichen die Wahlmöglichkeiten unter Bedingungen einer notwendigen Stabilität der Lebenslaufregime eine stabile Identität a posteriori. Die Geschwindigkeit des sozialen Wandels ist an dieser Stelle von einem intergenerationalen zu einem generationalen Tempo übergegangen. Jeder Generation stellt sich das Identitätsprojekt als Aufgabe erneut

  • Mit dem jüngsten Beschleunigungsschub ändert sich dieses Verhältnis abermals, denn der soziale Wandel erreicht nach Rosa ein intragenerationales Tempo und geht dadurch mit einem zweiten Individualisierungsschub einher: „Individualisierung meint auch in ihrer spätmodernen Form die Steigerung von Wahlmöglichkeiten und Kontingenzen in Bezug auf die Gestaltung der eigenen Biografie, wobei diese Steigerung nun vor allem die Form einer freieren Kombinierbarkeit und einer leichteren Revidierbarkeit der Identitätsbausteine annimmt.“ (Rosa 2005)

    • Diese Kombinierbarkeit und Revidierbarkeit betrifft sowohl zentrale Dimensionen wie Beruf, Familie, Wohnort und Religion als auch periphere Bereiche wie Vereine, Geldanlagen, Telefongesellschaften, Versicherungen usw.

    • = Verzeitlichung der Zeit: dass über Dauer, Sequenz, Rhythmus und Tempo von Handlungen, Ereignissen und Bindungen erst im Vollzug, und das heißt: in der Zeit selbst entschieden wird, sie folgen keinem vordefinierten Zeitplan mehr.“ (Rosa 2005)

    • Berufliche wie auch familiäre Sequenzen werden entsprechend immer weniger an das biologische Alter gekoppelt. Es entsteht eine situative Logik der Lebensführung, die sich unmittelbar identitätsprägend auswirkt.

    • = Stabile, auf Kontinuität ausgelegte Identitäten werden also kaum möglich.

    • Es werden in diesem Identitätsmodell allerdings nicht alle Identitätsmerkmale ständig verändert, sondern einige rudimentäre Eigenschaften werden über eine Vielzahl von Situationen konstant gehalten, welche durch vier Faktoren gewährleistet werden:

      • 1. Narrative Muster aus situativen Kontexten werden für Zusammenhang verschiedener Episoden entnommen

      • 2. Habituelle Kontinuität (Bourdieu: Habitus).

      • 3. Geliebte Objekte zur Überbrückung von Reorganisationsperioden.

      • 4. ein gleichsam ›angeborenes‹, prädikatsloses ›Kernselbst‹ , das ihnen die Aufrechterhaltung eines Identitätsgefühles unter Umständen sogar bei vollständiger situativer Diskontinuität erlaubt

  • Paradoxon: wenn nämlich die Verzeitlichung der Zeit mit dem „Verlust der Wahrnehmung einer gerichteten Bewegung des Selbst oder des Lebens durch die Zeit, und daher der Verlust der Entwicklungsperspektive“ (Rosa 2005) einhergeht, erklärt die Wahrnehmung, dass alles immer schneller und kontingenter zu werden scheint, sich am Ende aber doch nichts von Bedeutung ändert.

  • Als Pathologien solcher Zeiterfahrungen und damit der Spätmoderne macht Rosa dann auch den Anstieg an Depressions- und Burnout-Erkrankungen aus, die er als Pathologien der Zeit interpretiert


Kollektive Seite der Spätmoderne: Situative Politik

  • Politik als Projekt der Moderne

    • klassische Moderne = Gesellschaft als durch politik gestaltbares Projekt, aufgrund auf Ziel gerichtete Zeiterfahrung

      • = Politik kann vorausplanen, weil angenommen wird, dass die Zukunft prinzipiell anders ist als die Vergangenheit.

  • Verzeitlichung der Geschichte

    • Moderne denkt Geschichte als Fortschrittsgeschichte (Koselleck)

    • Zukunft wird als grundsätzlich anders und besser erwartet, was Handlungsspielräume eröffnet.

      • Politik kann auf gesellschaftliche Veränderungen reagieren und gleichzeitig langfristige Projekte planen.

      • Entscheidungen erfolgen synchron zum gesellschaftlichen Wandel: Politik wird zu einem Instrument, die Zukunft aktiv zu gestalten.

    • Balance zwischen Stabilität und Flexibilität:

      • Stabilität ist notwendig, damit Bürger und Institutionen Vertrauen in die Funktionsfähigkeit haben (z. B. Rechtsstaat, Verwaltung).

      • Flexibilität ist nötig, um auf unvorhergesehene Entwicklungen reagieren zu können.

      • Ein praktisches Beispiel ist die begrenzte Legislaturperiode:

        • Gewährt Politiker:innen Handlungsspielräume für Projekte.

        • Verhindert langfristige Blockaden oder Stillstand.

      • In der Spätmoderne wird dieser Steuerungsrahmen zunehmend brüchig, da beschleunigte gesellschaftliche Veränderungen und situative Entscheidungen die Planungssicherheit reduzieren.

  • Situative Politik in der Spätmoderne

    • Entscheidungen müssen oft ad hoc getroffen werden.

    • Die Orientierung an langfristigen Fortschrittsprojekten wird schwieriger, da gesellschaftliche Entwicklungen schneller, vernetzter und weniger vorhersehbar sind.

    • = Beschleunigungsfalle: Politische Prozesse hinken der sozialen Beschleunigung hinterher, was zu Handlungsdruck, Unsicherheit und teilweise reaktiver Politik führt.


Soziologie der Weltbeziehungen

= die Art und Weise, in der wir als Subjekte Welt erfahren und in der wir zur Welt Stellung nehmen“ (Rosa 2016: 19).

  • Die Welt ist der Horizont, in dem Ereignisse stattfinden und Dinge vorkommen (Rosa 2016: 65).

  • Krise der Spätmoderne kann als Krise der Weltbeziehungen verstanden werden: Institutionelle und kulturelle Bezugnahmen auf die Welt geraten in die Krise → „umfassende Krise der Resonanzverhältnisse“ bzw. „Weltverstummen“.


Resonanzbegriff

= Beziehung zwischen zwei schwingungsfähigen Körpern, bei der die Eigenschwingung des einen die des anderen anregt, ohne sie mechanisch zu erzwingen.

  • Wesentliche Merkmale:

    • Relational (beziehungsorientiert)

      • Resonanz passiert zwischen zwei Seiten, nicht alleine.

      • Beispiel: Ein Lehrer und ein Schüler „finden einen gemeinsamen Rhythmus“ – beide sind aktiv beteiligt.

      • Wichtig: Beide behalten ihre eigene Identität. Es ist kein Verschmelzen, sondern ein gegenseitiges Antworten.

    • Keine Emotion, kein Echo

      • Resonanz ist nicht dasselbe wie Gefühle.

      • Ein trauriger Film kann Resonanz erzeugen – du wirst bewegt – aber das ist nicht nur emotional, sondern eine echte Verbindung zur Welt, zum Thema, zur Geschichte.

    • Unverfügbarkeit

      • Resonanz lässt sich nicht erzwingen.

      • Beide Seiten müssen offen sein, aber gleichzeitig genug Eigenständigkeit haben.

      • Beispiel: Du kannst jemanden nicht zwingen, deinen Humor zu teilen – Resonanz entsteht nur, wenn er „mitgeht“.

    • Starke Wertungen & Selbstwirksamkeit

      • Resonanz entsteht, wenn etwas für dich wirklich Bedeutung hat und du dich selbst als wirksam/handlungsfähig erlebst.

      • Beispiel: Du lernst etwas Neues, das dich wirklich interessiert, und merkst, dass du es verstehst → Resonanz zwischen dir und dem Lernstoff.

Formen der Resonanz

  1. Horizontal: Zwischen Menschen (Freundschaft, Liebe, Politik).

  2. Diagonal: Zu Dingen, z. B. Werkstoffe, Bildungsinhalte.

  3. Vertikal: Zur Welt selbst, z. B. Natur, Geschichte, Religion.


Gegenbegriff: Entfremdung

  • Gegenteil von Resonanz: Subjekt und Welt stehen sich gegenüber, ohne sich zu berühren.

  • Die Welt wirkt kalt, fremd oder abweisend.

  • Beispiel: Job oder Alltag, der sich sinnlos anfühlt → alles „läuft“, aber es fühlt sich innerlich leer an.


Resonanz ist nicht automatisch da, auch wenn alles schnelllebig ist.

  • Beschleunigung ≠ Resonanzverlust:

    • Manchmal kann viel Dynamik sogar Resonanz fördern.

    • Umgekehrt kann Stagnation (keine Bewegung, Routine) zu Entfremdung führen, z. B. bei Obdachlosen oder Menschen in Monotonie.

Resonanzkrisen in der Spätmoderne

  • Trennung der Resonanzdimensionen:

    • Selbstwirksamkeit nach außen vs. innere emotionale Berührung – oft inkompatibel.

    • Beispiel: Du bist super produktiv, fühlst dich aber innerlich leer → Resonanz geht verloren.

  • Instrumentelle Weltbeziehungen

    • Dinge nur benutzen, um sie zu „haben“ oder „aufzuzeichnen“

    • Beispiel: Foto von einem Moment machen, anstatt ihn wirklich zu erleben → Resonanz „verstummt“ → Akkumulation von Resonanz wie Kapital.

  • Selbstverlust: Resonanzverlust auf der Ebene des Selbst.

    • Kontrolle über Psyche/Körper, über Digitale Medien, Medikamente oder anderes um Kontrolle zu ersetzen → man fühlt sich nicht mehr wirklich verbunden


Institutionalisierte Resonanzkrisen

= Gesellschaftliche Strukturen (Institutionen) erzeugen Bedingungen, die Resonanz blockieren.

  • Ökokrise: Überproduktion und Ressourcenverbrauch führen nicht nur zur Umweltkrise, sondern auch zu einer Entfremdung des Menschen von der Natur → Resonanzverlust mit ökologischer Umwelt.

  • Krise der Demokratie: Beschleunigung, Optimierung, Effizienzdenken in Politik & Verwaltung blockieren echte Resonanz zwischen Bürgern und Staat. → Menschen fühlen sich entfremdet.→ Politikverdrossenheit, Alternativlosigkeit, Populismus.

Ursachen:

  • Psychische Belastung der Subjekte: Ständige Wachstums- und Beschleunigungsanforderungen → existenzielle Angst, die Resonanz verhindert („Slippery Slopes“).

  • Wenn alles auf Steigerung ausgerichtet ist, kann der Einzelne nicht mehr echt antworten oder sich verbinden, sondern erlebt nur Druck → Resonanz wird unmöglich.


Perspektive: Postwachstumsgesellschaft

= Abkehr von der dominanten Strategie der Reichweitenvergrößerung mit dem Ziel Stabile Resonanzbeziehungen zu schaffen

  • Reduktion von Entfremdung

    • Weniger Fokus auf endloses Wachstum → weniger Druck → Menschen können wieder echte Beziehungen zu Arbeit, Natur, Mitmenschen aufbauen.

  • Selbstwirksamkeit + emotionale Berührung

    • Handlungsspielräume werden wieder spürbar.

    • Menschen erleben, dass ihr Tun wirklich wirkt, und sie können emotional darauf reagieren → Resonanz statt Beschleunigungsstress.

  • Nachhaltige Nutzung ökologischer & sozialer Ressourcen

    • Ökologische Grenzen werden respektiert → Umwelt bleibt als Resonanzraum erhalten.

    • Soziale Ressourcen (z. B. Gemeinschaft, Bildung, Pflege) werden nachhaltig gepflegt → Beziehungen können gedeihen.


Luc Boltansky & Ève Chiapellos - Rechtfertigung / Cité

Boltanski & Chiapello (1999) zeigen, dass der Kapitalismus sich neu formiert, indem er Kritik integriert, um seine Legitimität zu sichern.


Historische Typen des Kapitalismus

  • Traditioneller Kapitalismus: bis 19. Jhd.

    • Merkamle: Hierarchisch, stabile Unternehmen, feste Rollen

    • Werteorientierung: Konservativ, Stabilität, Pflichtbewusstsein

  • Industrieller Kapitalismus: 19.-20. Jhd

    • Merkmale: Effizienz, Rationalisierung, Spezialisierung

    • Werteorientierung: PRoduktivität, Disziplin, Normen

  • Neuer Geist des Kapitalismus: Ende 20. Jhd - heute

    • Werteorientierung: Innovation, Eigenverantwortung, Kritikfähigkeit, Selbstverwirklichung


Hauptmerkmale des neuen Geist des Kapitalismus

  1. Vernetzung & Flexibilität

    • Unternehmen arbeiten in Netzwerken statt starrer Hierarchien.

    • Teams sind projektbasiert, flach organisiert.

    • Kreativität, Innovation und Eigeninitiative werden gefördert.

  2. Meritokratie

    • Aufstieg und Belohnung basieren auf Leistung, Kreativität und Engagement, nicht mehr nur auf Position oder Alter.

    • Eigenverantwortung wird stark betont.

  3. Unscharfe Organisationsstrukturen

    • Rollen sind nicht festgelegt, Zuständigkeiten oft flexibel.

    • Mitarbeiter sollen adaptiv handeln und Netzwerkeffekte nutzen.

  4. Integration von Kritik

    • Moralische Kritik (Umwelt, soziale Gerechtigkeit) wird absorbiert.

    • Kapitalismus „lernt“, wie er Kritik in Marketing, CSR oder Innovationsstrategien nutzt.

    • Dadurch verändert sich das System, ohne seine Grundlogik zu verlieren.


Kritik = Reproduktionsmechanismus

Kritik wird nicht einfach unterdrückt, sondern aufgenommen und genutzt, z. B.:

  • Nachhaltigkeit → Marketinginstrument

  • Soziale Verantwortung → Markenimage

  • Dadurch verändert sich das System, ohne dass die Grundlogik in Frage gestellt wird.

  • Menschen können nur wenig gegen diese Anpassung tun, weil Kritik selbst Teil der Reproduktion geworden ist.


„Rechtfertigung = Legitimierung des Handelns in pluralen Wertsystemen.“


Die sechs klassischen Rechtfertigungsordnungen („Polisformen“) nach Boltanski & Thévenot

  1. Erleuchtete Polis („cité inspirée“)

    • Fokus: Kreativität, Inspiration, Autonomie.

    • Ablehnung: Bürokratie, Routinen, etablierte Ordnung.

    • Referenz: Schöpferisches Genie, künstlerische Exzentrik.

    • Kapitalistische Relevanz: Schöpferische Zerstörung (Schumpeter).

  2. Familienweltliche Polis („cité domestique“)

    • Fokus: Tradition, Ehrgefühl, Anstand, Erbe, Erziehung.

    • Referenztext: Jacques Bénigne Bossuet, „La Politique tirée des propres paroles de l'Écriture Sainte“.

    • Gegenwelt zu: Inspiration, öffentliche Meinung, Reputationspolis.

  3. Reputationspolis („cité de la renommée“)

    • Fokus: Ruhm, mediale Aufmerksamkeit, Bewertung durch Andere.

    • Referenz: Thomas Hobbes, „Leviathan“.

    • Mechanismus: Markt des Ruhmes und der Wertschätzung.

  4. Staatsbürgerliche Polis („cité civique“)

    • Fokus: Gemeinwille, kollektive Verantwortung, politische Partizipation.

    • Referenz: Jean-Jacques Rousseau, „Contrat social“.

    • Beispiel: Gewerkschaften als Ausdruck des Gemeinwillens.

  5. Marktwirtschaftliche Polis („cité marchande“)

    • Fokus: Individualismus, Wettbewerb, wirtschaftlicher Erfolg, Freiheit.

    • Referenz: Adam Smith.

    • Charakter: Punktuelle, relativ unpersönliche Transaktionen.

  6. Industrielle Polis („cité industrielle“)

    • Fokus: Methode, Effizienz, Funktionieren, Leistung, Optimierung.

    • Gegenwelt zur Marktwirtschaft: Normierung, Planung, instrumentelle Rationalität.

→ Kritik und Legitimation des Kapitalismus

  • Kritik kann an fehlender Effizienz, Intransparenz, Fremdbestimmtheit, Paternalismus usw. ansetzen.

  • Verteidigung entlang derselben Wertlogiken: Kapitalismus wächst durch Aufnahme und Integration der Kritik.


Die projektbasierte Polis („cité par projet“) nach Boltanski & Chiapello

Entstehung:

  • Reaktion auf neue Organisationsformen: projektbezogene, netzwerkartige Strukturen.

  • Netzwerke allein = keine eigene Polis, da normative Beziehungen nicht klar bestimmbar sind.

  • Positive Werte: Aktivität, Mobilität, Partnerschaftlichkeit, Selbstorganisation, Offenheit, Vertrauen, Neugier, Begeisterung.

  • Temporäre Netzwerke: klare Zugehörigkeit, wichtiger als formale Leitungsfunktionen ist Kontaktfähigkeit.


Author

Cathérine C.

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