Was beudeutet Klassifizieren in der Literaturwissenschaft?
Einen Text einer Gattung zuordnen bedeutet, ihn einer Textgruppe zuzuordnen, die bestimmte Merkmale teilt.
Gattungsbegriff: Wenn die Textgruppe einen Namen hat, nennt man diesen Namen Gattungsbegriff.
Voraussetzung: Man muss die Gattung definieren können.
Genus proximum â Oberbegriff
Differentia specifica â Merkmal, das die Art von anderen Arten des Oberbegriffs unterscheidet
Beispiel:
Ich sitze auf einem Schreibtischstuhl â gehört zur Gattung der StĂŒhle, nicht zu Hockern oder Sesseln.
SchreibtischstĂŒhle gehören zur Gattung StĂŒhle, nicht zu anderen Sitzmöbeln.
Beziehung: Das Wort âGattungâ wird relational verwendet â immer das nĂ€chsthöhere Element.
đĄ Problem in der Literatur: Manchmal werden die Hauptgattungen Epik, Lyrik, Dramatik als Gattungen bezeichnet, manchmal Unterarten wie Cento.
Genus-differentia-Definition ist klassifikatorisch:
Sie setzt eine systematische Ordnung voraus.
Beispiel Schreibtischstuhl: Schritt fĂŒr Schritt werden Merkmale hinzugefĂŒgt, bis die genaue Definition entsteht:
materiell, von Menschen gemacht, Sitzgelegenheit, RĂŒckenlehne, speziell fĂŒr den Schreibtisch.
Enzensberger möchte eine sinnvolle, systematische Zuordnung aller literarischen Erscheinungen.
Herausforderung:
Menschliche Werke sind zu vielfÀltig, um sie so prÀzise zu klassifizieren wie GegenstÀnde der Natur.
Inspiration aus der Biologie:
Klassifikation nach Carl von LinnĂ© (1707â1778).
MaĂstab: Organismen lassen sich in hierarchische Ebenen ordnen (Art â Gattung â Familie âŠ).
Homo sapiens â Homo â Homini â Menschenaffen â Menschenartige â ⊠â Lebewesen
Problematik: So eine fein abgestufte Klassifikation ist fĂŒr literarische Texte weder möglich noch wĂŒnschenswert.
Klassifikation literarischer Texte unterscheidet sich grundlegend von der Tier- oder Pflanzenklassifikation:
Texte sind flexibler und variabler.
Gattungen können ĂŒberlappen oder neue Formen entstehen.
Literaturwissenschaftler mĂŒssen daher oft auf Metaebene arbeiten, um Texte sinnvoll zu ordnen.
Werner Strube beschreibt:
Literaturwissenschaftliche Klassifikation funktioniert auf einer abstrakten Ebene.
Klassifikationen sind immer unvollstÀndig, da Texte nicht streng naturwissenschaftlich geordnet werden können.
Ziel ist es, Prinzipien und Muster zu erkennen, statt strikte Hierarchien aufzuerlegen.
Gattungen sind Hilfsmittel, um Texte zu ordnen, aber sie sind nicht absolut wie biologische Arten.
Klassifikationen der Literatur:
sind systematisch, aber nie perfekt
dienen der Orientierung
mĂŒssen die FlexibilitĂ€t und Vielfalt der Literatur berĂŒcksichtigen
Strube
Traditionelle epische Formen: Roman, Novelle, Novellenzyklus (+ viele Untergattungen).
Novellenzyklus: Mehrere Novellen, verbunden durch eine Rahmenhandlung.
Beispiel: Decamerone von Boccaccio.
Novellenroman (Hermann Broch, Die Schuldlosen. Roman in elf ErzÀhlungen):
Besteht wesentlich aus Novellen
Die Novellen sind so verbunden, dass eine zusammenhÀngende Romanhandlung entsteht.
Ziel: PrĂŒfen, ob der Begriff âNovellenromanâ sinnvoll in bestehende Gattungs-Klassifikationen passt.
Literaturwissenschaftler klassifizieren Werke nach Ăhnlichkeit wesentlicher Merkmale â Bildung von Sammelbegriffen.
âObjektiv angemessenâ:
Ein Sammelbegriff erscheint sinnvoll fĂŒr eine Gruppe von Texten.
Verschiedene Wissenschaftler können unterschiedliche âobjektiv angemesseneâ Begriffe finden.
Novellenroman vs. Novellenzyklus â literaturmorphologische Perspektive (Gestaltung/Struktur)
Andere Texte können ebenfalls als Novellenroman gelten (z.âŻB. Döblins Hamlet oder Die lange Nacht nimmt ein Ende).
đĄ Wichtig: Was in einer Perspektive passt, kann in einer anderen (z.âŻB. literatursoziologisch) nicht exklusiv als eigene Gattung gelten.
Man könnte Texte auch nach Wortzahl, Anfangsbuchstabe, SatzlÀnge oder Figurenanzahl einteilen.
Solche Kriterien sind nicht âobjektiv angemessenâ, sondern eher willkĂŒrlich.
Literaturwissenschaftler geben Gruppennamen und definieren klassifikatorische Begriffe:
Definition durch notwendige und hinreichende Bedingungen
Begriffe mĂŒssen eindeutig und prĂ€zise sein.
Novellenroman â drei Merkmale:
Mehrere Novellen (GröĂe der Menge unscharf)
EingefĂŒgt in einen Rahmen
Rahmen bildet eine zusammenhÀngende Romanhandlung
Die Definition ist intensional: beschreibt die wesentlichen Merkmale.
Sie ist nicht extensional: man kann nicht genau sagen, welche Werke genau dazugehören.
Beispiel: Wie viele Novellen ergeben âeine gröĂere Mengeâ?
Literaturklassifikationen sind systematisch unscharf an den RĂ€ndern.
Sie sind keine echten âKlassenbegriffeâ wie in der Biologie nach LinnĂ©.
Unklarheit ĂŒber den Rahmen:
Ist gemeint: RahmenerzĂ€hlung oder nur lose VerknĂŒpfung?
Die Definition bleibt an dieser Stelle offen.
Klassifikationen in der Literatur sind:
notwendig zur Orientierung,
prÀzise in der Definition,
aber unscharf in der konkreten Anwendung.
Verschiedene Perspektiven fĂŒhren zu unterschiedlichen âobjektiv angemessenenâ Einteilungen.
Literatur lÀsst sich nicht so streng wie biologische Arten klassifizieren.
Eine gute Klassifikation erfordert, dass die Begriffe gleichartig definiert sind â homogen.
In der Literatur scheitert das:
Beispiel: Epik/Lyrik/Dramatik â scheinbar homogen, aber Genette & Petersen zeigen, dass auch hier Unterschiede bestehen.
Untergattungen des Romans (Schelmenroman, Dialogroman, Briefroman, Gesellschaftsroman) â verschiedene Kriterien, also heterogen.
Strube nennt das âhistorisch zufĂ€llige Begriffsbildungâ â Wildwuchs in der Gattungsbezeichnung.
đĄ Konsequenz: Klassifikationen können nicht auf perfekte HomogenitĂ€t bauen.
Strube: Literaturwissenschaftler könnten Begriffe neu ordnen, klare Kriterien schaffen â âregelgerechte Klassifikationâ.
Kritik:
Wissenschaftler entfernt sich vom ĂŒblichen Sprachgebrauch
Aufgabe einer flÀchendeckenden Neuordnung praktisch unmöglich
Der Klassifikator wird zum nie endenden Diskurspolizisten.
Theorie: Ein Text darf nur einer Gattung zugeordnet werden.
Beispiel: Roman vs. Novellenkranz â Intensio (Definition) â Disjunkt.
Extensio (konkrete FĂ€lle) â unscharfe ĂbergĂ€nge.
Ergebnis: Neue Untergattungen wie der Novellenroman entstehen, um Unklarheiten zu lösen.
Praxis: Literaturwissenschaftler arbeitet oft nur mit eindeutigen FĂ€llen â Prinzip der Abstraktion/Idealisierung.
Klassifikation soll alle Werke eines Bereiches erfassen â komplementĂ€re Begriffe.
Problem:
Neue Werke passen oft nicht klar in bestehende Unterteilungen
Ausweichlösung: âSonstigesâ â unbefriedigend fĂŒr den Klassifikator
Klassifikation bleibt jeweils nur bis auf Weiteres komplementÀr.
Klassifikation erfolgt auf verschiedenen Hierarchieebenen.
Beispiel Novellenroman:
Name suggeriert Unterordnung unter Roman
Strube: Novellenroman ist gleichrangig neben Roman, Novelle, Novellenkranz
BegrĂŒndung: Merkmale des Novellenzyklus + Roman â keine klare Unterordnung möglich
Vergleich: Briefroman ist eindeutig Untergattung des Romans â nicht dasselbe Problem.
Problem: Klassifikationen mĂŒssen alltĂ€gliche Bedeutungen von Gattungsnamen neu interpretieren â Konflikte mit Sprachgebrauch & Untertiteln von BĂŒchern.
Klassifizieren literarischer Werke ist schwer, widersprĂŒchlich und unscharf.
Beste Strategie: Klassifikationen als interessante Versuche verstehen, nicht als abschlieĂende Wahrheit.
Klassifikationen sind relevant, weil sie scheitern und so auf die KomplexitÀt literarischer Gattungen hinweisen.
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