Gattungsgeschichte
Ziel: Darstellung der historischen Entwicklung einer Gattung, z. B. Novelle oder Novellenroman.
Rückgriff auf Lexikonartikel oder historiographische Quellen als Materialfundament.
Beobachtung: Gattungen sind ständigen Veränderungen unterworfen; vollständige Erstarrung = Grenzfall.
Klassifizierender Literaturwissenschaftler → definiert Begriffe.
Historiographischer Literaturwissenschaftler → formuliert oft essentialistische, aber vage Definitionen, um die Gattung über die Geschichte hinweg erfassen zu können.
Herausforderung:
Gattungen wandeln sich → schwierige vorab festgelegte Definition
Begriff kann historisch nicht existieren oder verschiedene Bedeutungen haben (z. B. Novellenroman).
Definition soll wesentliche Kernelemente abbilden, aber nicht zu restriktiv sein → alle relevanten Texte bleiben einbezogen.
Beispiel Johannes Klein (Urform der Novelle):
Mittelpunkts-Ereignis
Leitmotiv
Idee
Anwendung:
Kurzprosa von Boccaccio (14. Jh.)
Umfangreiche Texte wie Ludwig Tiecks „Der junge Tischlermeister“ (19. Jh.)
Historiographische Gattungsgeschichtsschreibung muss flexibel bleiben, da Gattungen wandelbar sind.
Essentialistische Definitionen sind ein praktisches Werkzeug, um historische Vielfalt abzubilden.
Dieses Sprachspiel zeigt: Gattungsbegriffe sind nicht statisch, sondern dynamische Werkzeuge zur Ordnung von Literaturgeschichte.
Historiographische Gattungsgeschichte sucht nach wesentlichen Merkmalen einer Gattung über die Geschichte hinweg.
Strube vergleicht das Vorgehen mit Francis Galtons Mischphotographie:
Verschiedene Gesichter werden übereinandergelegt → man erhält ein „Durchschnittsgesicht“.
Analog: Gattungshistoriker überlagern viele Werke, um einen „Durchschnittstyp“ der Novelle zu bestimmen.
Problem:
Ergebnis ist nur ein synthetischer Durchschnitt, kein tatsächlicher Wesensbegriff.
Realistisch kaum praktikabel → so wird heute kaum Gattungsgeschichte betrieben.
Wittgenstein: kein einzelnes Merkmal ist allen Mitgliedern einer Kategorie gemeinsam (Beispiel „Spiele“).
Analogie zur Literatur: Novellen, Dramen, Aphorismen…
Klaus W. Hempfer: Familienähnlichkeit beschreibt historisch unterschiedliche Merkmalsbündel, die teilweise überlappen → diachrone Identität ohne einheitliches Merkmal.
Historische Novellen variieren in ihren Merkmalen (A–H).
Modell nach Zymner:
Typ
Merkmale
a
A B C D
b
B C D E
c
C D E F
d
D E F G
e
E F G H
Erkenntnis:
Jede Novelle teilt Merkmale mit den vorhergehenden Typen.
Der erste Typ hat keine Merkmale mit dem letzten Typ → trotzdem alle „Novellen“.
Fazit: Ein „Durchschnittstyp“ reicht nicht aus, um historische Vielfalt abzubilden.
Formale Definitionen (z. B. mindestens 4 von 8 Merkmalen) sind theoretisch möglich, aber:
Erklären nicht, wie sich Gattungen über die Zeit entwickeln.
Genetische Betrachtung (Entstehung und Veränderung) bleibt zentrale Aufgabe der Gattungsgeschichtsschreibung.
Essentialistische Definition = „Durchschnittstyp“ → zu vereinfachend.
Familienähnlichkeit = flexible Beschreibung, die Verschiebungen und Überlappungen historischer Merkmalsbündel berücksichtigt.
Gattungsgeschichtsschreibung muss die Dynamik und Geschichte von Gattungen im Blick behalten, nicht nur statische Merkmale.
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