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Form und Inhalt

AG
by Adele G.

Form und Gattung: Äußere vs. innere Form

1. Form als zentrales Kriterium

  • Bei der Gattungsbestimmung spielt die Form eine entscheidende Rolle.

  • Form ist eng mit Inhalt/Stoff verbunden: „Wo Form ist, da kann Inhalt nicht ausbleiben“.

  • Viele Gattungsnamen enthalten bereits Formmerkmale:

    • Vers-Epos → Versform

    • Prosastück → Prosa

    • Poesie: Reim, Strophe

2. Äußere Form

  • Äußere Form = direkt sichtbare Strukturmerkmale, z. B.:

    • Prosa- oder Versform

    • Strophenform, Reimform

    • Rahmenform, Briefform

3. Innere Form

  • Innere Form = „Organisation der äußeren Form“ (Zymner nach Vietor)

  • Schwierig zu fassen; Beispiel Sonett:

    • Äußere Form → feste Versstruktur

    • Innere Form → „spezifische Lösung der Spannung von Geist und Gefühl“

  • Bezieht sich auf poetische Prinzipien, die die äußere Form organisch leiten (Goethe: Naturformen der Poesie)

4. Literaturtheoretische Perspektiven

  • Wellek & Warren (1949) unterscheiden:

    • Outer Form (äußere Form): Metrum, Struktur

    • Inner Form (innere Form): Haltung, Ton, Zweck, Gegenstand, Publikum

  • Beispiele:

    • Hirtendichtung → innere Form (Gegenstand)

    • Satire → innere Form (Haltung)

    • Dipodische Verse, Pindarische Ode → äußere Form

5. Beziehung zu Gattungsbegriffen

  • Innere und äußere Form können unterschiedliche Merkmale betonen, abhängig vom Gattungsnamen:

    • Abenteuerroman → innere Form (Handlung, Motivation)

    • Novellenroman → äußere Form (Struktur, Aufbau)

  • Form ≠ Inhalt, aber Form wird oft implizit durch alles definiert, was nicht in der Inhaltsangabe vorkommt

6. Methodischer Hinweis

  • Faustregel: Alles, was nicht in einer Inhaltsangabe vorkommt, gehört zur Form.

  • Das zeigt, dass die Form fast alles umfasst, was über den bloßen Stoff hinausgeht: Stil, Struktur, Organisation, Perspektive.

Kernidee: Die Gattung wird sowohl durch sichtbare äußere Merkmale als auch durch unsichtbare innere Prinzipien bestimmt. Diese Differenzierung hilft zu verstehen, warum Gattungen trotz inhaltlicher Vielfalt als erkennbare, stabile Kategorien existieren.

Gattung, Inhalt, Form und Queneaus „Exercices de Style“

1. Gattung und Form

  • Nach Wellek & Warren:

    • Form bestimmt die Gattung

    • Inhalt ist für die Bestimmung der Gattung nicht relevant

  • Inhaltsangaben spiegeln die Form des Originals nicht wider, sondern nur den Inhalt.

    • Beispiel: Streng formulierte Inhaltsangabe zeigt nicht, ob es sich um Gedicht, Prosastück, Drama oder Satire handelt.

2. Beispiel: „Exercices de Style“ von Raymond Queneau (1947)

  • Idee: 99 Varianten derselben Begebenheit → unterschiedliche Formen und Gattungen

  • Begebenheit: junger Mann im Pariser Bus, Konflikt wegen getretener Füße, später Gespräch vor dem Bahnhof

  • Umsetzung:

    • Sprachliche Experimente

    • Gattungsvariation: z. B. Komödie (Dreiakter), Ode, Sonett

  • Konsequenz: Inhalt bleibt gleich, Form ändert sich radikal → Gattung wird durch Form sichtbar, nicht durch Inhalt

3. Wirkung von Form auf Inhalt

  • Dieselbe Begebenheit erzeugt unterschiedliche Eindrücke, je nach Form:

    • Im Sonett wirkt der Inhalt anders als in der Prosa oder Komödie

    • Einige Details gehen verloren, andere werden umschrieben oder verfälscht

  • Erkenntnis: Form beeinflusst, wie der Inhalt wahrgenommen wird

4. Reflexion über Form und Inhalt

  • Frage:

    • Ist die Gattung „gleichgültig gegenüber dem Inhalt“, wie ein Gefäß, das beliebig gefüllt werden kann?

    • Oder enthält die Faustregel über die Inhaltsangabe bereits Elemente der Form, die wir fälschlich als Inhalt ansehen?

  • Fazit: Inhalt ohne Form existiert nicht – auch eine Inhaltsangabe ist bereits eine Form.

Kernidee:

  • Gattung = Form, nicht Inhalt

  • Queneau demonstriert dies eindrucksvoll: derselbe Inhalt kann 99 Gattungen annehmen

  • Die Wahrnehmung des Inhalts hängt von der Form ab, daher verschwimmen die Grenzen zwischen Inhalt und Form teilweise


Form-Inhalt-Theorien und Jolles’ „Einfache Formen“

1. Das Verhältnis von Form und Inhalt (Zymner)

Zymner unterscheidet fünf idealtypische Modelle, wie Form und Inhalt zusammenhängen können:

  1. Gefäßtheorie:

    • Form ist wie ein Gefäß, Inhalt wie die Füllung.

    • Für bestimmte Inhalte gibt es idealtypische Formen (Krug, Karton, Sieb).

  2. Begleitungstheorie:

    • Form und Inhalt sind weitgehend unabhängig, treten aber in bestimmten Kombinationen wieder auf.

    • Beispiel: dieselbe Begebenheit könnte ein Drama, eine Satire oder ein Gedicht sein.

  3. Organismustheorie:

    • Form und Inhalt sind untrennbar verbunden.

    • Ihre Einheit liegt in der inneren Form, dem Organisationsprinzip des Textes.

  4. Morphologische Auffassung:

    • Form ist äußerlich wahrnehmbar, wesentlich und wiederkehrend in mehreren Texten.

    • Form entwickelt sich „von selbst“; Inhalt kann unterschiedlich sein.

  5. Gehaltsästhetische Auffassung:

    • Inhalt ist wesentlich, Form ist nur Mittel zum Transport des Gehalts.

    • Gattungsfrage wird sekundär.

Beurteilung:

  • Außer der gehaltsästhetischen Theorie sind alle Modelle aus gattungstheoretischer Sicht bis zu einem gewissen Grad plausibel, aber jeweils für verschiedene Fälle geeignet.

  • Stilübungen wie bei Queneau widersprechen der gehaltsästhetischen Theorie, da hier Form Vorrang vor Inhalthat.

2. Morphologische Auffassung und Jolles

  • Morphologische Theorie: Form hat gestaltbildende Kraft, unabhängig vom Inhalt.

  • Bezug auf Goethes „Naturformen der Dichtung“: Formen entstehen organisch aus der inneren Dynamik der Sprache.

  • Zentrale Quelle: André Jolles, „Einfache Formen“ (1930)

    • Fokus auf neun einfachen Formen: Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz

    • Diese Formen entstehen aus der Sprache selbst, nicht aus der Schöpfung eines Dichters

    • Sie sind kulturell anthropologisch begründet:

      • Kultur braucht feste Formen, um sich selbst zu ordnen und zu deuten

      • Jede Kulturhandlung ist auch eine Form der Selbstdeutung

3. Die neun einfachen Formen bei Jolles

  • Legende: Darstellung der Taten eines vorbildhaften Menschen → Beschäftigung mit Nachahmbarkeit

  • Sage: Auseinandersetzung mit Herkommen, Familie, Blutsverwandtschaft

  • Mythe: Verbindung zur Wahrsage und Erklärung der Welt

  • Rätsel: Beschäftigung mit Wissen und Erkenntnis

  • Spruch: Zusammenfassung von Erfahrung

  • Kasus, Memorabile, Märchen, Witz: Weitere Formen, jeweils mit eigener „Sprachgebärde“ und spezifischer geistiger Funktion

  • Ziel: Jede Form repräsentiert eine kulturelle Grundtätigkeit und entsteht quasi „von selbst“ in der Sprache

4. Zusammenhang mit Form-Inhalt-Debatte

  • Morphologische Auffassung: Form ist zentral, Inhalt sekundär.

  • Jolles’ Ansatz zeigt, dass kulturelle und sprachliche Zwänge Formen hervorrufen, unabhängig vom konkreten Inhalt.

  • Vergleich zu Queneau: Stilübungen zeigen künstlich, dass derselbe Inhalt in unterschiedliche Formen gebracht werden kann – Jolles sucht hingegen natürliche, sprachlich entstehende Formen.

Kernideen:

  • Form ≠ Inhalt, aber sie prägt die Wahrnehmung des Inhalts

  • Morphologische Theorie betont die Kraft der Form

  • Jolles liefert kulturell- und sprachanthropologische Begründungen für die Entstehung einfacher Formen

  • Literatur entsteht also aus Formprinzipien, die unabhängig von individuellen Inhalten wirken


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Adele G.

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