Buffl

BGE

LH
von Licia Huber H.

BGE 145 III 281

Gemeinsame Miete der Wohnung der Familie; Aktivlegitimation zur Anfechtung der vom Vermieter ausgesprochenen Kündigung.

Keine analoge Anwendung von Art. 273a OR bei gemeinsamer Miete der Wohnung der Familie durch die Ehepartner. Sind sich die Ehepartner und gemeinsamen Mieter der Wohnung der Familie hinsichtlich der Kündigungsanfechtung uneinig, so ist ein Ehepartner zur alleinigen Anfechtung nur legitimiert, wenn er neben dem Vermieter auch den anderen Ehepartner ins Recht fasst, der die Kündigung nicht anfechten will (Änderung der Rechtsprechung; E. 3.4, 3.4.1 und 3.4.2).


3.4 Die Beschwerdeführerin ist der Ansicht, der Entscheid der Vorinstanz verstosse gegen die neuere Rechtsprechung des Bundesgerichts. Dieses habe sich in BGE 140 III 598 mit der Frage ausführlich und vollständig auseinandergesetzt, ob und wie Mitmieter gemeinsam handeln müssten, um die Aufhebung einer Kündigung in Anwendung von Art. 271 und Art. 271a OR zu verlangen. Das in BGE 140 III 598 Gesagte - nämlich dass der Kläger auf der Gegenseite nebst dem Vermieter auch den oder die anfechtungsunwilligen Mitmieter einklagen müsse, ansonsten ihm die Aktivlegitimation abgesprochen werde (vgl. nicht publ. E. 3.1) - gelte auch in Bezug auf Familienwohnungen. Die Anfechtung der Kündigung entscheide auch bei der gemeinsamen Miete einer Familienwohnung über den Bestand oder Nichtbestand eines Rechtsverhältnisses und stelle daher eine Gestaltungsklage (Art. 87 ZPO) dar. Die Vorinstanz sei unzulässigerweise von der in BGE 140 III 598 etablierten Praxis abgewichen.

3.4.1 Das Bundesgericht hat in BGE 140 III 598 einleitend festgehalten, die Frage, ob Mitmieter zur Anfechtung einer Kündigung im Sinne von Art. 271 und Art. 271a OR gemeinsam handeln müssten, werde in der Lehre kontrovers diskutiert und sei vom Bundesgericht noch nicht entschieden worden. Es hielt sodann mit Verweis auf BGE 118 II 168 fest, betreffe der Mietvertrag eine eheliche Wohnung, könne jeder Ehegatte die Kündigung selbständig anfechten. Dies ergebe sich schon aus Art. 273a Abs. 1 OR, der die Aktivlegitimation zur Anfechtung sogar dem Ehegatten zugestehe, der selbst nicht Mieter sei ( BGE 140 III 598 E. 3.1 S. 598 f.; vgl. auch BGE 136 III 431 E. 3.1 S. 433). Auf BGE 118 II 168 musste das Bundesgericht sodann nicht weiter eingehen, da es sich bei der streitgegenständlichen Wohnung gerade nicht um eine Familienwohnung handelte.

BGE 145 III 281 S. 284

3.4.2 Es ist somit zu prüfen, ob vor dem Hintergrund der in BGE 140 III 598 etablierten Praxis an BGE 118 II 168 festgehalten werden soll.

Nach konstanter Praxis muss sich eine Praxisänderung auf ernsthafte, sachliche Gründe stützen können, die - vor allem im Hinblick auf das Gebot der Rechtssicherheit - umso gewichtiger sein müssen, je länger die als falsch oder nicht mehr zeitgemäss erkannte Rechtsanwendung für zutreffend erachtet worden ist. Eine Praxisänderung lässt sich grundsätzlich nur begründen, wenn die neue Lösung besserer Erkenntnis der ratio legis, veränderten äusseren Verhältnissen oder gewandelten Rechtsanschauungen entspricht, andernfalls ist die bisherige Praxis beizubehalten ( BGE 135 III 66 E. 10 S. 79; BGE 132 III 770 E. 4 S. 777).

Ein erheblicher Teil der Lehre geht - meist unter ausdrücklichem Hinweis auf BGE 118 II 168 - davon aus, Art. 273a OR sei analog anzuwenden, wenn beide Ehegatten Mieter der Familienwohnung seien (ROGER WEBER, in: Basler Kommentar, Obligationenrecht, Bd. I, 6. Aufl. 2015, N. 2a zu Art. 273 und N. 4 zu Art. 273a OR; JÖRG SCHMID, Die gemeinsame Miete - Ausgewählte Fragen, AJP 2016 S. 31 ff., 36 f.; CAROLINE MEYER, Zur Sachlegitimation der Parteien im Mietprozess, MietRecht Aktuell [MRA] 2010 S. 47 ff., 54; NICOLAS FUCHS, Die Kündigungsanfechtung bei Familienwohnungen - Aspekte der Prozessstandschaft, BJM 2017 S. 11 ff., 30; THOMAS KOLLER, Die mietrechtliche Rechtsprechung des Bundesgerichts im Jahr 2014, ZBJV 152/2016 S. 1 ff., 48; INGRID JENT-SØRENSEN, Die Verfahrensrechte der Ehegatten bezüglich der Familienwohnung gemäss Art. 169 ZGB, Art. 273a OR und Art. 153 nSchKG, Mitteilungen aus dem Institut für zivilgerichtliches Verfahren in Zürich, 1996, S. 5 ff., 18; ANITA THANEI, in: Mietrecht für die Praxis, 9. Aufl. 2016, S. 679 bei Fn. 57). Andere Lehrmeinungen halten hingegen dafür, wenn beide Ehegatten Mieter der Familienwohnung seien, sei der anfechtungsunwillige Ehegatte gemäss BGE 140 III 598 auf der Passivseite mit dem Vermieter ins Recht zu ziehen (CORDULA LÖTSCHER, Die Prozessstandschaft im schweizerischen Zivilprozess, 2016, S. 466 Rz. 1099 f.; ZINON KOUMBARAKIS, Urteil des Bundesgerichts 4A_689/2016 vom 28. August 2017, Legitimation Kündigungsanfechtung, MRA 2018 S. 70 ff., 76; notwendige Streitgenossenschaft bejahend auch: PETER HIGI, Zürcher Kommentar, 4. Aufl. 1998, N. 17 zu Art. 273a OR).

BGE 145 III 281 S. 285

In BGE 140 III 598 hat das Bundesgericht dem Spannungsfeld zwischen den Anforderungen an eine notwendige Streitgenossenschaft und dem Sozialschutzgedanken im Mietrecht Rechnung getragen, indem es dem Mieter bei gemeinschaftlicher Miete - obwohl eine notwendige Streitgenossenschaft besteht - gestattete, selbstständig die Kündigung anzufechten, sofern er diejenigen Mitmieter, welche die Kündigung nicht anfechten wollen, zusammen mit dem Vermieter auf der Passivseite in den Prozess einbezieht (vgl. nicht publ. E. 3.1). Es ist somit bei gemeinsamer Miete jedem Mieter möglich, eine Kündigung anzufechten, selbst wenn sich der oder die Mitmieter der Kündigung nicht widersetzen wollen. Er hat diesfalls einfach die Mitmieter auf der Passivseite ins Verfahren einzubeziehen. Diese Möglichkeit besteht auch in Bezug auf die Kündigungsanfechtung bei gemeinsamer Miete einer Familienwohnung. Die Situation ist daher verschieden von derjenigen, in der nur ein Ehepartner den Mietvertrag für die Familienwohnung unterzeichnet hat. In der letzteren Situation könnte derjenige, der nicht Vertragspartei ist, ohne die Bestimmung von Art. 273a OR auch keine Rechte aus dem Mietvertrag geltend machen (LUKAS POLIVKA, in: Das Schweizerische Mietrecht, 4. Aufl. 2018, N. 3 zu Art. 273a OR). Dies hätte zur Folge, dass derjenige, der den Mietvertrag für die Familienwohnung unterzeichnet hat, die Rechte daran durch Unterlassung der Kündigungsanfechtung eigenmächtig preisgeben könnte (vgl. WEBER, a.a.O., N. 1 zu Art. 273a OR mit Hinweisen). Sinn und Zweck von Art. 273a OR ist es, den nicht mietenden Ehegatten gegen solche Handlungen, mit denen einseitig auf die gemeinsame Familienwohnung verzichtet wird, zu schützen ( BGE 136 III 431 E. 3.3 S. 435). Diesen durch Art. 273a OR dem nicht mietenden Ehegatten gewährten Schutz bedarf der mitmietende Ehegatte - wie dargelegt - gar nicht (vgl. in diesem Sinne auch FUCHS, a.a.O., S. 11, 12 f.).

Vor diesem Hintergrund kann an der analogen Anwendung von Art. 273a OR bei gemeinsamer Miete der Familienwohnung gemäss BGE 118 II 168 nicht festgehalten werden. Vielmehr ist auch in diesem Fall der Ehepartner und Mitmieter, der die Kündigung nicht anfechten will, gemäss BGE 140 III 598 auf der Passivseite ins Verfahren miteinzubeziehen.

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Licia Huber H.

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