Historie MHI
Erste epidemiologische Studie 1987 von Koch et al.
Seit 2001 in der Fachliteratur als MIH beschrieben
Vorher:
Hypomineralisierte erste Molaren
Idiopathische Schmelzhypomineralisation an den permanenten ersten Molaren
Nicht fluoridbedingte Hypomineralisation an den permanenten ersten Molaren
Käse-Molaren (Cheesy-molars)
Im Volksmund heute „Kreidezähne“
Definition
„Qualitativer Schmelzdefekt an einem oder mehreren 6-Jahr-Molaren mit oder ohne Beteiligung der bleibenden Schneidezähne“
Weißlich, gelblich oder bräunlich verfärbter Zahnschmelz direkt nach Zahndurchbruch
mindestens ein 6-Jahr-Molar betroffen
Molaren zusammen mit Schneidezähnen betroffen sein, dies ist aber nicht erforderlich
Betroffene Schneidezähne ohne Molaren haben i.d.R. andere Ursache
Hypersensibilität (Temperatur- und Berührungsempfindlichkeit) häufig
Definition im Wandel: Teilweise auch MIH an 3ern, 4ern, 5ern ,7ern oder Milchmolaren
MHI
Mögliche Merkmale
Klar abgegrenzte Opazität im Bereich der Okklusal- und Bukkalflächen
Defekte variieren in Form, Größe und Befallsmuster
Weißlich, cremefarbene, gelbbräunliche Farbabweichungen
Schmelzeinbruch direkt nach Durchbruch
Hypersensibilität
Atypische Restaurationen
Störungen Zahnbildung (Übersicht)
Prävalenz
Weltweites Auftreten, globale Prävalenz von 14,2 %
Regional und je nach Studie stark schwankende Zahlen: 0,4 - 40,2%
Jungen und Mädchen gleich stark betroffen
Deutschland:
DMS V 2014: 28,7%
Systematisches Review Bekes et al. 2021: 5,6 - 14,7%
Prävalenz in Deutschland
Krämer et al 2021:
Klinische Untersuchung von 2103 Schulkindern (6-12 Jahre) in städtischer und ländlicher Region in Hessen
Vergleich mit 2003
Trend:
zunehmende Prävalenz
Höherer Anteil in städtischen Regionen
Schweregrad nimmt zu
Signifikante Korrelation zwischen MMH (Milchmolarenhypomineralisation) und MIH
Kinder mit MMH haben eine 11x höhere Wahrscheinlichkeit MIH zu bekommen
Hypomineralisierter Schmelz - Histologie
Erhöhte Porositäten im Schmelz mit eingelagerter organischer Substanz (bis zu 20fach erhöht)
Läsion erstrecken sich über den gesamten Schmelzbereich bis zur Schmelz-Dentin Grenze
REM: weniger dichte Prismenstruktur, partieller Verlust an prismatischen Mustern, lose gepackte Kristalle
Nach Ätzung mit 37% Phosphorsäure: kein regelmäßiges Ätzmuster, lediglich leicht erhöhte Rauigkeiten
Niedrigerer Härte und E-Modul -> häufige Randfrakturen bei Restaurationen, deren Ränder im MIH-Schmelz enden
Hypomineralisierter Schmelz - Bedeutung für Klinik
Hypersensibilitäten!
Erhöhtes Kariesrisiko durch verminderten Mineralisation
Keine Übertragung der Therapieansätze bei Karies möglich
Adhäsiver Verbund für direkte Restaurationen erschwert aufgrund von:
Erhöhten Anteil organischer Substanz im Schmelz
Atypischem Ätzmuster
Geringerer Härte und E-Modul -> leichtere Abplatzungen im Randbereich
Für langfristig stabile adhäsive Restauration -> alle Restaurationsränder im gesunden Schmelz und poröser MIH Schmelz entfernt
(aufgrund der Defekttiefe bei gerade durchbrechenden oder hypersensiblen Molaren nicht immer möglich)
MIH - Äthiolgie
Bis heute nicht abschließend geklärt
Vermutlich keine monokausale Ursache
Problematik:
Unterschiedliches, schwer vergleichbares Studiendesign
Retrospektive Studien
Unterscheidung:
pränatal
perinatal
postnatal
Äthiologie - Pränatal
Erkrankungen während der Schwangerschaft
Medikamenteneinnahme
Mütterliches Rauchen
Stress
CAVE: kaum klinische Evidenz
Äthiologie - Perinatal
Frühgeburt
Geringes Geburtsgewicht
Kaiserschnitt
Geburtskomplikation
Sauerstoffmangel unter der Geburt
Äthiologie - Postnatal
Stillen und Dioxine in der Muttermilch
Erkrankungen in den ersten Lebensjahren:
Fieberzustände
Atemwegserkrankungen
(Pneumonie, Asthma)
Masern
Windpocken
Magen-Darm-Erkrankungen
Bronchitis
Mandelentzündung
Adenoiditis
Otitis Media
Medikamente/AB: ua. Amoxicillin
Bisphenol A
Vitamin D
Zahnentwicklung - MIH
Schädlicher Einfluss während Amelogenese (und dann je nach Ausprägung während Sekretion oder Reifungsphase der Ameloblasten)
6er und 1er ca. zwischen dem 8. Schwangerschaftswoche und dem 4. Lebensjahr
Toxischer Einfluss muss „neu“ in Welt -> stark zunehmende Prävalenz und erste Beschreibung erst 2001
Ätiologie - mögliche postnatale Faktoren
Bisphenol A? (BPA)
Weichmacher im Plastik
Endokriner Disruptor: hormonähnliche Wirkung
Erwiesener Einfluss auf Entstehung von Diabetes Mellitus, Fettleibigkeit, Hypothyreodismus, Unfruchtbarkeit
Jedeon et al:
Untersuchung mit BPA an schwangeren und neugeborenen
Ratten
Klinische und histologische Korrelation zwischen der BPA Konzentration und MIH-ähnlichem Schmelz
Äthiologie - Problematik
Krankheit tritt erst viele Jahre (ca. 6 Jahre) nach dem toxischen Einfluss auf
Multifaktorieller, ggf. epigenetischer Einfluss möglich -> Vergleichbares Studiendesign schwierig
Rekrutierung und Untersuchung bereits während Schwangerschaft notwendig
Einteilung MIH-TNI
MIH-Treatment Need Index
Index 1: MIH ohne Hypersensibilität, kein Substanzdefekt
2/4a: < 1/3
Index 2 und 4: MIH ohne/ mit Hypersensibilität, mit Substanzdefekt
2/4b: > 1/3 - < 2/3
2/4c: > 2/3
Index 3: MIH mit Hypersensibilität, kein Substanzdefekt
Plaquereste und schlechteres Putzen weisen auf Hypersensibilität hin
Therapie bei MIH
A Prophylaxe
B Fissurenversiegelung
C kurzfristige provisorische Restauration (bis zum vollständigen Durchbruch)
D langfristige provisorische Restauration (bis zum präparationsfähigen Alter)
E definitive Restauration
F Extraktion
Prophylaxe bei MIH
Ziel: frühzeitige Diagnose, Verhinderung einer Kariesentstehung, Remineralisation, Therapie der Hypersensibilität
Möglichkeiten:
Fluoride
CCP-ACP
Arginin
Prophylaxe bei MIH - Fluoride
Wirkmechanismus:
Ausbildung einer Kalziumfluorid-Deckschicht auf der Zahnoberfläche -> geht bei niedrigem pH in Lösung und remineralisiert Zahnschmelz
Verbessert die posteruptive Schmelzreifung durch Einlagerung von Fluorappatit
Keine signifikante Besserung der Hypersensibilitäten bei MIH
-> Kariesprophylaxe
Prophylaxe bei MIH - CCP-ACP
Casein-Phosphopeptid-Amorphes Calciumphosphat
stabilisiert Kalizum- und Phosphationen in amorphen Nanokomplexen auf der Zahnoberfläche -> Remineralisation
Bei MIH: posteruptive Nachreifung des geschädigten Schmelzes bei intensiver Anwendung (20 min pro Tag über 3 Jahre) -> verbesserter Mineralgehalt, weniger Porositäten (Baroni et. Al 2011, Crombi et. Al. 2013)
-> Verringerung von Hypersensibiltäten (Ozgul et al. 2013, Pasini et al. 2018)
-> Als Paste, Kaugummi, Lutschtabletten
Prophylaxe bei MIH - Arginin
Präzipitat aus Arginin, Kalzium, Bikarbonat und Phosphat
haftet auf exponierter Dentinoberfläche
Verschluss der Dentintubuli, Säureresistenz
-> Reduktion der Schmerzempfindlichkeit (Bekes et al. 2017)
Fissurenversiegelung bei MIH
Bei allen hypomineraliserten Molaren, die keine okklusalen posteruptiven Schmelzeinbrüche oder kariöse Läsionen aufweisen
Material
Niedrigvisköse metacrylbasierte Versiegelungskunststoffe
in Verbindung mit Säurekonditionierung
Bei hypomineralisiertem Schmelz immer mit zusätzlichem lichthärtenden Adhäsiv!
zB. Schmelzätzung 60 Sek, 20 Sek Optibond FL Adhäsiv + Lichthärtung, Helioseal/Clinpro
Kotsanos et al. 2005
Ohne Adhäsiv: 26 % Erfolgsrate nach 4 Jahren
Mit Adhäsiv: 70 % Erfolgsrate nach 4 Jahren
Fissurenversiegelung bei MIH - Trockenlegung nicht möglich
bei hypersensiblen Molaren, die sich im Durchbruch befinden
Zusätzlich Reduktion der Hypersensibilität
Material:
Glasionomerzemente bei nicht ausreichender Trockenlegung
zB. Fuji Triage Pink: härtet durch Wärmezufuhr der Polymerisationslampe in 20 Sek aus
Direkte Restauration
Wahl des Materials und des Therapiekonzepts abhängig von:
Alter und Compliance
Schweregrad der Hypomineralisation/ Karies
Hypersensibilitäten
Durchbruch
Kurzfristige provisorische Versorgung
Zur Verhinderung eines weiteren Einbruchs und zur Beseitigung von Hypersensibilitäten
Bei nicht ausreichender Trockenlegung (Compliance, Durchbruch, Schmerzen) -> Um Zeit für definitve Versorgung zu gewinnen
Glasionomerzement (GIZ)
Glaspulver+ Polyalkylensäure
Aushärtung über Säure-Basen Reation
Ionische Bindung über Carboxylatgruppen
Ggf. kann vorab ein orthodontisches Band zur Separation und zum Schutz der Zähne vor Fraktur eingebracht werden
Langfristige provisorische Versorgung
Konfektionierte Stahlkronen
Bei Molaren mit signifikanter Höckerbeteiligung und subgingivaler Präparationsrändern
Deutlich besserer Schutz vor sekundären Frakturen als bei großflächigen Kompositrestaurationen
Langfristige Versorgung mit zB. Zirkonoxidkrone möglich
Regelmäßige Kontrollen (1/2jährlich) notwendig, da gelegentliches Durchbeißen der Krone -> Sekundärkaries
Definitive Restauration - Möglichkeiten
direkte Kompositrestaurationen
indirekte Restaurationen
CAD/CAM Keramik
laborgeschichtetes Komposit
Direkte Kompositrestaurationen
Adhäsiver Verbund auf hypomineralisiertem Schmelz deutlich schlechter als auf gesundem Schmelz
Dentinhaftung nach aktueller Datenlage nicht beeinträchtigt
Hauptproblematik:
Große okklusale Kavität -> hohe Polymerisationsschrumpfung
Schmelzfrakturen am Füllungsrand
vollständiger Retentionsverlust
Hoher Reparaturbedarf
Komplexe anatomische Höckergestaltung
Indirekte Restaurationen: CAD/CAM gefertigte Keramik
Ausdehnung der MIH (nur okklusal, kaum approximal oder lateral) eignet sich ideal für Versorgung mit keramischen Teilkronen
CAD/CAM Workflow ohne Abdruck auf bei hypersensiblen Zähnen
Voraussetzung:
Compliance
Absolute Trockenlegung
Einhaltung der Mindestschichtstärke ohne Gefährdung einer Pulpenexposition
Indirekte Restaurationen aus laborgeschichtetem Komposit
Vorteile gegenüber Keramik:
kein Einhalten einer Mindestschichtstärke (im Gegenteil zu Keramik)
Reparaturen im Randbereich langfristig möglich
Abnutzung im Wechselgebiss physiologischer als bei Keramik
Zahntechniker
Extraktion
Ultima ratio
Muss interdisziplinär (KFO) abgesprochen sein
Idealer Zeitpunkt, damit 7er mit geringst möglichem Aufwand mesialisiert werden können: 2/3 des Wurzelwachstums und Sichtbarwerden der Furkation der 2. Molarenwurzel (ca. 8,5-11,5 Jahre)
Extraktion - Zahnärztliche Indikation
schwerste Form der Hypomineralisation mit exzessivem Substanzverlust
Rasches Voranschreiten des posteruptiven Schmelzeinbruchs
Nicht kontrollierbare endodontische oder parodontale Problematik
Extreme Hypersensibilitäten
Stark eingeschränkte Mundhygiene
Wiederholt erfolglose konservierende Behandlung
Extraktion - KFO Indikation
ausgeprägter Engstand
Kleine Kieferbasis, große Zahnkronen
Angle Kl. II bei Anstreben einer dentalen Kompensation
Anlage der Weisheitszähne, mit der Möglichkeit diese an Stelle der 2. Molaren zu mesialisieren
Schmerzmanagement
Hypersensibilitäten durch Penetration oraler Bakterien durch den hypomineralisierten Schmelz (auch ohne Einbruch) in die Dentinkanälchen -> pulpale Entzündung
Lokalanästhesie: Immer!
Oberflächenanästhesie (ca. 1 min)
Infiltrations- oder Leitungsanästhesie (oft. N. mentalis bei Kindern ausreichend statt N. alv. inferior)
Anästhesieversager
Durch Chronifizierung der Schmerzen (Schmerzspirale)
Durch gegenüberliegende hypersensible Molaren (Kontralateral oder anderer Kiefer)
Prämedikation:
4 Dosen vor Behandlung: 24 h / 12 h / 6-8 h / 0,5-1h vor dem Eingriff
Präparat mit analgetischem und antiinflammatorischem Effekt
zB. Paracetamol als Monopräparat, Alternativ Ibuprofen
Sedierung:
Leichte Sedierung und Analgesie (Lachgas) bis hin zur Sanierung in Intubationsnarkose
Schmerzmanagement - akute Schmerzen
Schmerzen auf Berührung
Heiß/Kalt Empfindlichkeit
Schlechtere MuHy -> Karies
Schmerzmanagement - chronische Schmerzen
Zentrale Sensitiverung für Schmerzreize
Schmerzgedächtnis
Schmerzreiz auch ohne oder nur geringen Auslöser (mechanisch und thermisch: Luft, Wärme der Lampe)
CAVE: Compliance
Besonderheiten der Präparation von bleibenden Molaren:
Keine cervicale Schmelzwulst
Approximal tiefe Separation notwendig (Cave, 7er!), nicht zu konisch, um langfristige Versorgung mit Keramikkrone möglich zu machen
Tangentiale Präparation (keine Stufe, Krone darf nicht aufstehen)
Krone muss distal so weit nach cervical schnappen, dass der 7er problemfrei durchbrechen kann
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