-Grundannahme der Soziologie: Individuen werden in ihren Werten, Einstellungen und Handlungen von ihrem sozialen Umfeld beeinflusst und richten ihren Handlungen auf die Wirkung für ihr soziales Umfeld aus
-Pierre Bourdieu (1983), James Coleman (1988) und Robert Putnam (2000) haben den Begriff Sozialkapital verwendet, um die Einbettung von Individuen in ein soziales Umfeld zu beschreiben.
-Kapital ist akkumulierte Arbeit – in materieller oder verinnerlichter (inkorporierter) Form
-Kapitalstrukturen haben ein Beharrungsvermögen, da sie durch Institutionen reproduziert werden. Diese sind ihrerseits auf Kapitalstrukturen abgestimmt
o Kapital ist eine Kraft, die dafür sorgt, dass nicht alles gleich möglich ist – Gesellschaft funktioniert nicht wie ein Glücksspiel (das würde bedeuten: vollkommene Konkurrenz, Chancengleichheit, keine Trägheit, jeder Augenblick ist unabhängig von allen vorangegangenen)
-Verteilungsstruktur von Kapital entspricht der Struktur der Gesellschaft
-Sozialer Raum bei Bordieu
-Drei bedeutsame Formen des Kapitals (gibt weitere (politsche, ect.) – diese aber unbedeutend)
o Ökonomisches Kapital (z.B. Vermögen)
§ Unmittelbar in Geld konvertierbar
§ Institutionalisierung: Eigentumsrechte
o Kulturelles Kapital (z.B. Bildung, Bücherbesitz)
§ Unter bestimmten Vorrausetzungen in Geld konvertierbar
§ Institutionalisierung: z.B. schulischer Titel
o Soziales Kapital (z.B. soziale Verpflichtungen und Beziehungen)
§ Institutionalisierung: z.B. Adelstitel, Familienname
==> Institutionalisierung: Werte, Gesetze, Normen, Traditionen, etc.
-Drei Formen des kulturellen Kapitals
o Verinnerlicht (inkorporierter): „Bildung“ – erfordert Zeit und Arbeit, körpergebunden, kann deshalb nicht einfach weitergegeben werden, klassengebunden und Teil des Habitus (d.h. beeinflusst das Handeln und wird Teil des Wertesystems)
o Objektiviert: Schriften, Gemälde, Bücher, etc. übertragbar materiell und durch Eigentumsrechte, Aneignung setzt kulturelle Fähigkeiten voraus (auch hier ist wieder Arbeit vonnöten)
o Institutionalisiert: schulische oder akademische Titel, etc. sanktionieren, anerkennen oder garantieren kulturelles Kapital
==> Kulturkapital wird in Schule und Familie übertragen und vermittelt (u.a. Kritik am Humankapitalkonzept)
-Sozialkapital ist Mittel zur Erlangung persönlicher Ziele (instrumentelle Funktion des Sozialkapitals) – soziale Beziehungen um bestimmte persönliche Ziele zu erreichen
-Definition: „Das Sozialkapital ist die Gesamtheit der aktuellen und potentiellen Ressourcen, die mit dem Besitz eines dauerhaften Netzes oder Anerkennens verbunden sind; (…) es handelt sich dabei um Ressourcen, die auf der Zugehörigkeit zu einer Gruppe beruhen“ ==> soziale Netzwerke
-Das Gesamtkapital der Gruppenmitglieder dient allen als Sicherheit und verleiht ihnen Kreditwürdigkeit
-Sozialkapitalbeziehungen existieren auf Grundlage von materiellen und/oder symbolischen Tauschbeziehungen
-Sie werden auf unterschiedliche Weise gesellschaftlich anerkannt oder garantiert (Institutionalisierung) – Beispiele:
o Gemeinsamer Name (kennzeichnet Zugehörigkeit zu einer Familie, Klasse, Partei, o.Ä.)
o Bestimmte Institutionalisierungsakte (prägen die Beteiligten und informieren über Sozialkapitalverhältnisse (z.B. die Heirat))
-Umfang des Sozialkapitals hängt ab von
o Der Ausdehnung und Umfang des Netzes von Beziehungen, die mobilisierbar sind
o Dem Kapitalumfang derjenigen, zu denen eine Beziehung besteht (Netzwerkpartner)
-Profite, die sich aus der Zugehörigkeit zu einer Gruppe ergeben, sind zugleich Grundlagen für die Solidarität, die wiederum diese Profite ermöglicht
-Beziehungsnetze erfordern Institutionalisierungs- oder Beziehungsarbeit, z.B. durch Institutionalisierungsriten: gegenseitiges Kennen und Anerkennen
-Kapitalumwandlungen
o Kulturelles und soziales Kapital können mithilfe von ökonomischem Kapital erworben werden
o Dafür ist die Transformationsarbeit nötig – z.B. Investitionen in Beziehungen
o Ökonomisches Kapital liegt allen anderen Kapitalarten zugrunde, bei Kapitalumwandlungen muss dies z.T. verborgen werden – bspw. durch Erbschaften
-Reproduzierbarkeit (Übertragbarkeit) von Kapital
o Risiken bei Reproduktion von Sozialkapital: „Undankbarkeit“, Schuldverpflichtungen werden nicht anerkannt
-Ähnlich wie Bourdieu argumentiert Coleman, dass Sozialkapital individuellen und kollektiven Akteuren zur Durchsetzung ihrer Interessen dient – er betont aber, dass daraus kooperative Beziehungen und Vertrauen entstehen können und Sozialkapital deshalb nicht nur für Individuen, sondern auch für die Gemeinschaft positive Folgen hat
o Definition von Coleman (1990: 302): „Social capital inheres in the structure of relations between persons and among persons“
-An Beispielen will Putnam seine These demonstrieren, dass in den 1960er Jahren das US-amerikanische Gemeinde- und Gemeinschaftsleben (Vereins-, Freizeit- und Ehrenamtaktivitäten, etc.) einen Aufschwung nahm – in den 90er Kahren aber wieder abnahm
-In Analogie zum „physikalischen Kapital“ und „Humankapital“ wird das Konzept „Sozialkapital“ verwendet: „Whereas physical capital refers to physical objects and human capital refers to properties of individuals, social capital refers to connections among individuals – social networks and the norms of reciprocity and trustworthiness that arise from them“ (Putnam 2000) // „By social capital I mean features of social life, networks, norms, and trust, that enable participants to act together more effectively to pursue shared objectives“ (Putnam 1995b)
==> soziale Netzwerke haben – wie andere Kapitalformen – einen Wert/Nutzen für die gesamte Gesellschaft und erhöhen die Produktivität sowohl von Individuen, als auch von Gruppen und Kollektiven
==> Ergebnisse
-Informelle Beziehungen sind wichtig um soziale Netzwerke zu erhalten
-Empirische Befunde für die USA von 1975 bis in die späten 90er Jahre:
o Immer weniger haben im Hause Freunde;1975: 14-15 mal; späte 90er Jahre 8 mal im Jahr
o Immer weniger besuchen Freunde
o Immer seltener gibt es in Familien ein gemeinsames Abendessen
o Rückgang beim Besuch von Bars, Restaurants; dagegen mehr fast food
o Rückgang beim Kartenspielen
o Rückgang bei „social events“ mit Nachbarn
o Stagnation bei Fitness-Aktvitäten
o Rückgang beim Bowling
==> „doing“ culture (as opposed to merely consuming it) has been declining (Putnam 2000: 114)
-Grundidee: Soziale Netzwerke haben (wie andere Kapitalformen) einen Wert und erhöhen die Produktivität von Individuen und Gruppen/Kollektiven: „Just as a screwdriver (physical capital) or a college education (human capital) can increase productivity (both individual and collective), so too social contacts affect the producitvity of individuals and groups“
-Putnam betont u.a.
o Dass Soziakapital die Effizienz (d.h. Einsatz von Mitteln im Verhältnis zum Ergebnis) von Gesellschaften erhöhen kann, weil es Kooperationen fördert
o Dass Netzwerke für staatsbürgerliches Engagement bedeutsam sind
-Sozialkapital kann privates oder öffentliches/kollektives Gut (private or public good) sein. Öffentliche Güter sind Güter, von deren Konsum niemand ausgeschlossen werden kann
o Privat: Personen unterhalten soziale Beziehungen, weil sie ihnen nützen und ihren Interessen dienen (z.B. „Networking“ um einen Job zu finden)
o Öffentlich/kollektiv: Sozialkapital erzeugt auch „Externalitäten“ die die weitere Gruppe/Gemeinde betreffen: „(…) a well-connected individual in a poorly connected society is not as productive as a well-connected individual in a well-connected society. And even a poorly connected individual may derive some of the spillover benefits from living in a well-connected community“ (Putnam 2000) ==> Individuen einer Gesellschaft können auch von kollektivem Sozialkapital profitieren, auch wenn sie selbst über kein hohes Sozialkapital verfügen
-Sozialkapital oder Netzwerke beinhalten gegenseitige Verpflichtungen und fördern die Entstehung von Reziprozität
o Spezifische Reziprozität: „I‘ll do this for you if you do that for me“ – Erwartung einer Gegenleistung der Interaktionspartner (direkter Austausch)
o Generalisierte Reziprozität: „I‘ll do this for you without expecting anything specific back from you, in the confident expectation that someone else will do something for me down the road“ (Putnam 2000) – keine Erwartung einer direkten Gegenleistung (Vertrauen, dass diese zu einem späteren Zeitpukt oder bei Bedarf aber noch kommt) – Folgen einer guten Ausstattung mit Sozialkapital
-Häufige Interaktion führt zu generalisierter Reziprozität. Eine Gesellschaft ist effizienter, wenn sie durch generalisierte Reziprozität und Vertrauenswürdigkeit gekennzeichnet ist (im Gegensatz zu einer Gesellschaft, in der man sich misstraut)
-Typen des Sozialkapitals
o Formal (offizieller Zusammenschluss) vs. informell (spontane Basketballgruppe) – Letzere sind besonders wichtig um soziale Netzwerke aufrecht zu erhalten
o Sozialkapital kann also entlang verschiedener Dimensionen variieren – eine wichtige Unterscheidung bezeichnet bridging vs. bonding
§ Bridging: Netzwerkbeziehungen zwischen Personen, die verschiedenen Gruppen angehören – fördert Zugang zu externen Gütern und die Diffusion von Informationen
§ Bonding: Netzwerkbeziehungen zwischen Menschen innerhalb der eigenen sozialen Gruppe, verstärkt exklusive Identität und homogene Gruppenbildung. Bonding fördert spezifische Reziprozität, Unterstützung und Solidarität
-Sozialkapital hat in der Regel positive Folgen für diejenigen, die zum Netzwerk gehören, es kann aber negative externe Effekte haben
o Personen handeln auf Druck, sie tun etwas, was sie alleine bzw. von sich aus nicht getan hätten
o Jugendgangs oder Machteliten können antisoziale Ziele verfolgen
o Sektierertum (Angehörige einer Sekte, „Abweichler“) Korruption, Ethnozentrismus, etc.
-Definition der Netzwerkgrenzen – Festlegung der Grundgesamtheit
-Definition der Knoten: Akteure, NW-Mitglieder müssen namentlich bekannt sein
-Definition der Kanten: Beziehungen, relationale Varianten
-Entwicklung der Erhebungsinstrumente; Vollerhebung der Knoten (für alle Akteure Beziehungen zu allen anderen Akteuren erheben)
-Auswertung und grafische Darstellung (Multivariate und grafische Verfahren – „Netzwerkanalyse, Soziometrie“)
-Ziele der Untersuchung
o McPherson et al. (2006) haben gezeigt, dass in den USA das Sozialkapital – gemessen an der Größe der Diskussionsnetzwerke – in den Jahren 1985 bis 2004 geringer geworden ist. Das betrifft vor allem die sozialen Beziehungen zu Freunden und Nachbarn (Nicht-Verwandtschaft). Die Befunde unterstützen die Ergebnisse von Putnam und die These, dass in den USA ein Zerfall des Sozialkapitals stattgefunden hat.
==> Wöhler/Hinz wollen diese Studie replizieren und untersuchen, ob sich für Deutschland ähnliche Veränderungen nachweisen lassen.
o Die Größe der Diskussionsnetzwerke ist den USA zwischen 1985 und 2004 deutlich geschrumpft
o Rückgang der Diskussionspartner betrifft die Nicht-Verwandten stärker als die Verwandten
o Partner werden als Diskussionspartner wichtiger / „Außenkontakte“ werden seltener, die Reichweite der Netzwerke nimmt damit ab
-Egozentrierte Netzwerke betrachten Ausschnitte eines Gesamtnetzwerks, nämlich Beziehungen der untersuchten Person (ego) zu allen anderen Personen (alteri)
-Ego ist dabei die Zielperson einer Zufallsstichprobe
-Unterscheidung zwischen kin-Netzwerke (Verwandtschaftskontakte) und non-kin-Netzwerke(Freundschaftskontakte)
-Alteri werden durch Namensgeneratoren erfragt – Beispiele
o „Who would care for your home if you went out of town?“ und „With whom do you discuss personal worries? (Fischer 1982)
o „Drei-Freunde-Frage“ (ALLBUS): „Wir haben jetzt einige Fragen zu den Personen, mit denen Sie häufig privat zusammen sind. Denken Sie bitte einmal an die drei Personen, mit denen Sie am häufigsten privat zusammen sind“ (keine Haushaltsmitglieder)
o „From time to time, most people discuss important matters with other people. Looking back over the last six months – who are the people with whom you discussed matters important to you? Just tell me their first names or initials.“
-Mit Namensinterpretatoren werden weitere Merkmale der alteri sowie der Beziehungen zwischen ego und alteri erhoben
==> Wöhler/Hinz verwenden Daten des DJI-Familiensurvey (befragt wurden Personen im Alter zwischen 18 und 55 Jahren)
==> Sieben Namensgeneratoren:
o „Mit wem besprechen Sie Dinge, die Ihnen persönlich wichtig sind?“
o „Mit wem haben Sie eine sehr enge gefühlsmäßige Bindung?“
o „Von wem erhalten Sie ab und zu oder regelmäßig finanzielle Unterstützung?“
o „An wen geben Sie ab und zu oder regelmäßig finanzielle Unterstützung?“
o „Mit wem verbringen Sie hauptsächlich Ihre Freizeit?“
o „Welche Personen außer Ihnen selbst leben in Ihrem Haushalt?“
o „Nennen Sie mir zum Schluss bitte die Personen, die Sie persönlich zu Ihrer
o Familie zählen.“
==> Wöhler/Hinz verwenden nur die erste Frage und generieren so ein Diskussionsnetzwerk
-Größe der Diskussionsnetzwerke
o Westdeutschland: 1,86 (1988), USA: 2,94 (1985)
o Deutschland: 2,10 (2000), USA: 2,08 (2004)
-Im Vergleich zu den USA bestehen die Netzwerke in Deutschland zu einem viel größeren Anteil aus Verwandten
-Auch ohne Partner hat mittlere Netzwerkgröße in West-Deutschland zwischen 1988 u. 2000 zugenommen (von 1,13 auf 1,45).
-Wichtigste Diskussionspartner in West-Deutschland 2000 (%-Anteil, die mindestens den Beziehungstyp genannt haben: Partner (65%), Freundeskreis (29%), Eltern (29%), Kind oder Geschwister (15%)
o Abiturienten haben in Deutschland und in den USA größere Netzwerke und seltener keine Diskussionspartner
o Frauen haben größere Netzwerke als Männer (USA, D) und in Deutschland auch seltener keinen Diskussionspartner
o Verheiratete haben in den USA größere Netzwerke, in Deutschland kleinere. In beiden Ländern haben Verheiratete seltener keinen Diskussionspartner
o In Deutschland ist der Einfluss des Alters nicht linear: die Netzwerkgröße verringert sich ab dem 18. Lebensjahr – ab etwa dem Alter 50 nimmt sie wieder zu
==> Allgemein: keine zunehmende Isolation in Dt., ebenso keine Auflösung von Diskussionsnetzwerken
-Erklärungen von McPherson für die USA
o Zunahme der Frauenerwerbstätigkeit – These: Frauen in Arbeit haben weniger Zeit für die Netzwerkpflege
==> kann in Dt. nicht nachgewiesen werden – im Gegenteil, Frauen die nicht erwerbstätig sind, haben ein besonders kleines Netzwerk (Vollzeit: 2,36; Teilzeit: 2,29; nicht erwerbstätig: 2,15)
o Wandel des Kommunikationsverhaltens
§ Mehr (asynchrone) Kommunikation im Internet, deshalb weniger (synchrone) face-to-face-Kommunikation: „Diskussion“ setzt synchrone Kommunikation voraus
§ Kommunikationspartner im Internet sind häufiger namentlich nicht bekannt und können daher von Namensgeneratoren nicht erfasst werden
==> Wandel des Kommunikationsverhaltens, Zunahme der Internetnutzung
o „Diskussion“ setzt gleichzeitig präsente Partner und synchrone Kommunikation voraus, z.B. E-Mail-Kommunikation ist asynchron
o Da „Diskussion“ auch als Informationsquelle dienen können, man sich zunehmend aber auch im Internet informiert, dienen Personen immer seltener als Informationsquellen
o Internetdiskussionspartner sind oft anonym
o Könnte die Unterschiede zwischen den USA und Dt. erklären, da Internetnutzung in USA in dem betrachteten Zeitraum stärker verbreitet war als in Deutschland
==> Vermutete Entwicklung in Deutschland – es bleibt fraglich ob das Sozialkapital in Deutschland wirklich zerfällt
o Geht vor alle auf Zunahme der „nicht-partnerbezogenen familiären Beziehungen“ (z.B. Kinder, Eltern, Geschwister) zurück, Partner ist immer noch die wichtigste Beziehung, Bedeutung hat aber abgenommen
o Freundeskreis wird auch wieder wichtiger
o „Erklärung“ durch Wandel der Familie? (Lebenslange) Partnerschaft wird unwichtiger, Beziehungen zu Eltern, Geschwister, Kindern werden „gleichberechtigter“
o Bedürfnis nach Nähe und persönlichem Gespräch wird auf mehrere Personen innerhalb der Verwandtschaft verteilt
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