Buffl

Umweltpolitik

MG
von Maya G.

Die Entdeckung der Umweltpolitik (1969-1974)


  • Wie bereits erwähnt, ist die Umweltpolitik ein vergleichsweise junges Politikfeld. Der Umweltschutz als eigenständiger Politikbereich etablierte sich in Deutschland erst seit Ende der sechziger Jahre, ), als zunehmend sichtbar wurde, dass die vorangegangene Periode des wirtschaftlichen Aufschwungs erhebliche Umweltschäden zur Folge hatte

  • Die Initiierung der Umweltpolitik in der Bundesrepublik hatte den Charakter einer Innovation „von oben“. Sie ist im Zusammenhang mit den Reformbestrebungen des ersten sozialdemokratischen Bundeskanzlers Willy Brandt zu sehen, der in seiner Regierungserklärung 1969 in vielen Bereichen Reformen versprach, obgleich er den Umweltschutz nicht explizit erwähnte (Malunat 1994: 4). Das Bewusstsein über Umweltgefährdungen wurde aus den USA und Japan „importiert“, wo umweltpolitische Themen bereits in den sechziger Jahren thematisiert wurden. Bemerkenswert ist, dass es in Deutschland die FDP war, die 1969 zum ersten Mal den Umweltschutz zu einem Wahlkampfthema machte. Malunat begründet dies damit, dass sich die FDP „gegenüber den Wählern, innerhalb der Regierung, aber auch innerparteilich mit einem Reformthema (...) profilieren wollte“

  • 1971 stellte die sozial-liberale Bundesregierung ihr erstes Umweltprogramm vor: Dieses definierte das Politikfeld Umweltpolitik als „Gesamtheit aller Maßnahmen, die notwendig sind, - um dem Menschen eine Umwelt zu sichern, wie er sie für seine Gesundheit und ein menschenwürdiges Dasein braucht, und - um Boden, Luft und Wasser, Pflanzen- und Tierwelt vor nachteiligen Wirkungen menschlicher Eingriffe zu schützen, und - um Schäden oder Nachteile aus menschlichen Eingriffen zu beseitigen.“

  • Das Programm benannte zudem die auch heute noch geltenden Grundprinzipien der Umweltpolitik: das Vorsorge-, Verursacher- und Kooperationsprinzip. Das Vorsorgeprinzip fordert, Schäden für Mensch und Natur durch eine vorhersehende Umweltplanung gar nicht erst entstehen zu lassen (Wilhelm 1994: 39). Das Verursacherprinzip impliziert, dass die durch Umweltschädigungen entstehenden Kosten zu ihrer Beseitigung dem jeweiligen Urheber anzulasten sind. Mit dem Kooperationsprinzip wird das Ziel verfolgt, durch Einbeziehung aller Beteiligten eine breite Akzeptanz für Umweltmaßnahmen zu schaffen

  • Umweltschutzaufgaben wurden in einer eigenen Abteilung innerhalb des Ministeriums des Inneren angesiedelt, es entstand zunächst kein spezielles Umweltministerium. Erster Minister mit umweltpolitischen Kompetenzen war daher der damalige Innenminister Genscher. Für Genscher war die Umweltpolitik „eine staatliche Aufgabe von gleichem Rang wie die soziale Frage im letzten Jahrhundert“ . Der Grundstein für die Institutionalisierung einer wissenschaftlichen Umweltpolitikberatung wurde 1972 mit der Einberufung des Rates von Sachverständigen für Umweltfragen (SRU) gelegt, der seitdem in regelmäßigen Abständen seine allgemeinen Umweltgutachten sowie zahlreiche Sondergutachten vorgelegt hat. Mit dem SRU wurde versucht, analog zur wirtschaftspolitischen Beratung durch den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ein ähnlich hochrangiges Beratungsgremium für das neue Politikfeld Umweltschutz zu etablieren. 1974 wurde darüber hinaus mit dem Umweltbundesamt eine Bundesoberbehörde gegründet, die seitdem Beratungs- und Forschungsaufgaben für das BMU übernimmt

  • In dieser Zeit wurden zahlreiche Umweltgesetze verabschiedet, so 1971 das Fluglärmgesetz und das Benzinbleigesetz, 1972 das Abfallbeseitigungsgesetz und herausragend, 1974, das Bundesimmissionsschutzgesetz (BImschG, 1974, s.u.). Diese erste Aufschwungphase der Umweltpolitik, die bis 1974 dauerte, ist gekennzeichnet durch die Institutionalisierung des neuen Politikfeldes. Sie fand im Rahmen einer generellen Reformfreudigkeit der sozial-liberalen Regierung statt und mündete materiell in einer Fülle von Gesetzen und der Schaffung von administrativen Strukturen. Begünstigt wurde diese erfolgreiche Initiationsphase durch einen weitgehenden Parteienkonsens in der Umweltpolitik und die Unterstützung gesellschaftlicher Gruppen wie der Unternehmerverbände und der Gewerkschaften.

  • Als in dieser Zeit die Umweltthematik erstmals in einer breiten Öffentlichkeit diskutiert wurde, standen auch die Wirtschaftsverbände dem durchaus aufgeschlossen gegenüber (Müller 1989: 7). So unterstützte der BDI damals in seinem Jahresbericht 1969/1970 eine Umweltpolitik, die zum einen bestehende Schäden repariert, forderte aber zugleich auch ein umweltpolitisches Vorsorgeprinzip ein (BDI 1970: 40). Diese Zeit war auf Seiten der Wirtschaftsverbände dadurch geprägt, zunächst einmal eigene institutionelle Kapazitäten für die Bearbeitung des neuen politischen Themas aufzubauen. So wurde 1970 beim BDI die Kommission „Industrie und Umwelt“, die sich mit umweltpolitischen Grundsatzfragen beschäftigen sollte, eingesetzt, bevor 1972 ein Umweltausschuss aus Vertretern der verschiedenen Mitgliedsverbände gebildet wurde (Müller 1989: 8). Ähnlich richtete auch der DIHT 1971 erstmals einen „Arbeitskreis für Umweltschutz“ ein

  • Die Aufgeschlossenheit des BDI in dieser ersten Phase der deutschen Umweltpolitik ist nach übereinstimmender Einschätzung in der Literatur vor allem damit zu erklären, dass die Kosten des Umweltschutzes noch kaum vorstellbar waren und daher auch nicht diskutiert wurden. Allerdings kündigten sich hier zukünftige Konfliktlinien bereits an, da der BDI die Wettbewerbsneutralität der Umweltpolitik einforderte und – schon damals! – eine Harmonisierung von Umweltmaßnahmen in der EG forderte



Die Ölkrise und der umweltpolitische Abschwung (1974-1978)


  • Mit der Ölkrise 1973/74 und der darauffolgenden weltweiten Rezession, die zu einer „Abwehrhaltung der Industrie gegenüber ökologischen Gesichtspunkten“ führte, begann die erste Depressionsphase der deutschen Umweltpolitik. Umweltpolitik galt nun als Belastung für das Wirtschaftswachstum und als Hemmschuh für die Entwicklung neuer Produkte (Rupp 2009: 192). Nun galt das Augenmerk zunächst einmal dem wirtschaftlichen Krisenmanagement und der Stabilisierung der sozialen Lage der Bevölkerung, worunter die Umweltpolitik zu leiden hatte.3 Bei einem Spitzengespräch mit Bundeskanzler Schmidt („Gymnicher Gespräche“) machten Vertreter von Gewerkschaften und Industrie 1975 deutlich, dass „durch eine restriktive Umweltpolitik ein riesiger Investitionsstau entstehe, die Energieversorgung gefährdet sei und durch die allgemeine Überforderung der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit weitere Arbeitsplätze bedroht würden

  • Diese Klagen einer Koalition aus Wirtschaftsverbänden und Gewerkschaften führten zu einer Entschleunigung der Umweltpolitik ab Mitte der 1970er Jahre. Die Verbände stießen mit ihren Bedenken bei der Bundesregierung auf offene Ohren, denn selbst der frühere Vorreiter einer Umweltpolitik, Innenminister Hans-Dietrich Genscher, machte im März 1973 vor der Arbeitsgemeinschaft für Umweltfragen deutlich, dass eine steigende Lebensqualität nur durch sichere Arbeitsplätze möglich sei (Rupp 2009: 193). Sogar der Sachverständigenrat für Umweltfragen folgerte in seinem Gutachten 1978, dass nach Jahren umweltpolitischer Erfolge nun eine „Zeit der Zweifel“ angebrochen sei

  • Dass in dieser Phase Gewerkschaften gemeinsam mit dem BDI versuchten, Einfluss auf die Umweltpolitik auszuüben, war kein Zufall. In einer wirtschaftlichen Krise wie nach der Ölkrise in den 1970er Jahren haben sowohl Unternehmensverbände als auch Gewerkschaften gleichgerichtete Interessen: die Unternehmensverbände an der Sicherung ihrer Gewinne, die sie durch umweltpolitische Maßnahmen in Zeiten von Krisen bedroht sahen, und die Gewerkschaften an der Sicherung der Arbeitsplätze der durch sie vertretenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer



Die umweltpolitische Rekonsolidierung (1978-1982)


  • Seit Ende der 1970er Jahre sah sich die Bundesregierung mit einer wachsenden und durch den Einzug der Grünen und grün-alternativen Listen in Landesparlamente auch institutionalisierten Ökologiebewegung konfrontiert. Diese opponierte anfänglich vor allem gegen die Kernenergie und fand ihren vorläufigen Höhepunkt 1980 mit Gründung der Partei der Grünen. Im Fokus der Bewegung stand die Politik der sozial-liberalen Regierung, die aufgrund der Energieknappheit ab 1974 die Kernenergietechnik rapide vorantrieb, um Wachstum und Energieversorgung unter allen Umständen zu sichern. Im Gegensatz dazu wurden „die Gefährdungs- und Bedrohungsdimensionen der Kernenergietechnik nunmehr von breiten Bevölkerungskreisen so stark ins Bewusstsein aufgenommen (...), daß eine Hinnahme dieses Preises für künftige Wachstumseffekte auf breiten und massiven Widerstand

  • Durch den gleichzeitigen Widerstand der Wirtschaft gegen umfassende ökologische Konzepte befand sich die sozial-liberale Bundesregierung jedoch umweltpolitisch in einer Zwickmühle. Eine zunehmend kritischere Medienberichterstattung und ein zum ersten Mal wirklich sichtbares Umweltproblem wie das Waldsterben, das zu Beginn der achtziger Jahre ins Blickfeld der Öffentlichkeit geriet, führten zu einer Diffusion der umweltpolitischen Thematik in breitere gesellschaftliche Schichten, die zunehmend die mangelnde staatliche Umweltpolitik kritisierten. Dadurch verschoben sich die politischen Kräfteverhältnisse deutlich: Die etablierten Parteien gerieten durch die Konkurrenz der Grünen, die zunächst in verschiedene Landesparlamente und 1983 auch in den deutschen Bundestag einzogen, in Zugzwang. Sie mussten den Stellenwert, den der Umweltschutz inzwischen bei einem wachsenden Teil der Bevölkerung genoss, erkennen. Das Ergebnis war eine rasche Verabschiedung von Umweltprogrammen in allen Parteien

  • In den 1980er Jahren wuchs insgesamt der Bestand an umweltpolitischen Gesetzen deutlich (Schaltegger/Frey 2001: 344), wenngleich im Einzelfall auch auf den Einsatz autoritativer Instrumente verzichtet und stattdessen z.B. Vereinbarungen abgeschlossen wurden (Weßels 1989: 283; Töller 2012). Angesichts der Erfolge der Grünen betrachteten bald alle Parteien, aber auch Gewerkschaften und Unternehmensverbände das Politikfeld Umweltschutz als wesentlich für die (eigene) Zukunft . In den 1980er Jahren wurde aber auch deutlich, dass die Interessen der Wirtschaftsakteure gegenüber Umweltschutzregulierung ganz unterschiedlich sein konnten. So waren für manche Branchen umweltpolitische Regulierungen als Markteintrittsschranken für Konkurrenten willkommen (Jacob/Jänicke 1998: 537, theoretisch dazu Buchanan/Tullock 1975).4 Auch erwies sich für manche Sub-Branchen das zunehmende ökologische Verbraucherbewusstsein (die „private Interventionsebene“, Jänicke 1992: 442) als ökonomisch positiv

  • Diese dritte Phase bundesdeutscher Umweltpolitik führte zu einer Institutionalisierung der Bürgerbewegungen der siebziger Jahre in Form einer neuen Partei im politischen System der Bundesrepublik. Die bisherige Umweltpolitik, die weitgehend auf die Exekutive beschränkt war, wurde einer kritischen Überprüfung unterzogen. Das Offensichtlichwerden akuter Umweltschäden führte darüber hinaus zu einem neuen umweltpolitischen Problembewusstsein in weiten Teilen der Bevölkerung und einem erneuten umweltpolitischen Aufschwung auch gegen die Interessen der Industrie.



Die umweltpolitische Stabilisierung (1982-1989)


  • Die von 1982 an regierende christlich-liberale Bundesregierung sorgte in der Umweltpolitik für eine Konsolidierung (Hucke 1990: 388). Besonders der neue Innenminister Zimmermann (CSU) erwies sich dabei (für manche überraschend) als umweltpolitischer Motor, der unter dem Einfluss zunehmenden Problemdrucks (die Diskussion um das Waldsterben begann 1981) umstrittene umweltpolitische Maßnahmen und Gesetzesvorhaben wie die Großfeuerungsanlagenverordnung (1982), die Verschärfung der Technischen Anleitung (TA) Luft (1983) und die Initiative zur Einführung von bleifreiem Benzin auch gegen massiven Widerstand der Industrie vorantrieb. Seit 1988 wurde das Tanken bleifreien Benzins in der Bundesrepublik obligatorisch, seit 1989 durften Neuwagen nur noch mit Katalysator zugelassen werden. Für die Einführung umweltfreundlicherer Autos und die Durchsetzung bleifreien Benzins setzte sich Zimmermann darüber hinaus auch im EG- Ministerrat ein

  • Dass ausgerechnet ein konservativer Politiker hier umweltpolitische Interessen schlagkräftig durchsetzen konnte, erklärt der Zeithistoriker Rupp in seiner „Politischen Geschichte der Bundesrepublik“ mit wahltaktischen Gründen, aber auch Gründen persönlicher Überzeugung: Zimmermann als „Sohn eines Holzkaufmanns und passionierter Jäger sorgte sich um die Zukunft des Waldes“ ), und weiter: „Bezeichnenderweise konnte aber ein konservativer Minister hier eher etwas ausrichten als der Minister eines sozialdemokratisch geführten Kabinetts, der von den entsprechenden Industrieverbandsfunktionären mit dem Vorhalt drohender Arbeitsplatzverluste viel leichter in Bedrängnis zu bringen war.“

  • Das Atomreaktorunglück in Tschernobyl brachte für die deutsche Umweltpolitik 1986 eine wesentliche Zäsur, deren Ergebnis in einer weiteren Institutionalisierung bestand. Innenminister Zimmermann war ob dieser Katastrophe mit dem erforderlichen Krisenmanagement überfordert, spielte die Gefahren einer drohenden atomaren Verseuchung für die Bundesrepublik herunter und betonte die Sicherheit der westdeutschen Atomkraftwerke. Bundeskanzler Kohl wiederum wollte angesichts dieser außergewöhnlichen umweltpolitischen Herausforderung Handlungskompetenz demonstrieren und errichtete 1986 das Bundesumweltministerium; mit diesem Schritt sollte der deutschen Bevölkerung demonstriert werden, dass man künftig politisch auf die Bewältigung derartiger Krisen und der dadurch verursachten Gefahren und Ängste vorbereitet war. Walter Wallmann, hessischer CDU-Oppositionsführer, wurde zum ersten (nicht sehr strahlenden) bundesdeutschen Minister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit ernannt. Nachdem Wallmann 1987 hessischer Ministerpräsident wurde, kam mit Klaus Töpfer ein ausgewiesener Umweltexperte und zuvor Mitglied im Sachverständigenrat für Umweltfragen in das Amt des Umweltministers. Töpfer verhalf der deutschen Umweltpolitik zu einer internationalen Vorreiterrolle und engagierte sich u.a. für den internationalen Klimaschutz. Die Übernahme des Amtes durch Töpfer markierte den Übergang zu einer intensiven umweltpolitischen Regulierung bei grundsätzlich weiterhin kooperativer Haltung der Regierung gegenüber der Wirtschaft.


Wiedererstarkender Konflikt Ökonomie vs. Ökologie (1989-1998)


  • Die Ende der achtziger Jahre einsetzende weltweite Konjunkturkrise und vor allem die Probleme, die mit der deutschen Einheit und dem Primat der raschen Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West für die deutsche Politik insgesamt entstanden, ließen den Konflikt zwischen ökonomischen und ökologischen Zielen in der ersten Hälfte der 1990er Jahre erneut verstärkt ausbrechen: Gerade Wirtschaftsverbände forderten offen ,,ein[en] Abbau der Umweltpolitik“ . Sie vertraten dabei keine generelle Ablehnung der Umweltpolitik, sondern forderten vielmehr eine Umweltpolitik, die den Absichten ihrer Mitgliedsverbände entgegenkam: „Die Integration des Umweltschutzes in eine gesamtwirtschaftlich notwendige wachstumsorientierte Vorwärtsstrategie setzt voraus, daß ordnungsrechtliche Instrumente auf ein Mindestmaß beschränkt werden, um Unternehmen mehr Freiraum für Eigeninitiative zu geben ...“

  • Bis 1994 war die Umweltpolitik weiterhin durch die Politik Klaus Töpfers geprägt: Rupp nennt die FCKW-Ausstiegsregelung, die Einstellung von Abfallverbrennung auf hoher See und die Stilllegung besonders umweltschädlicher Industrien der ehemaligen DDR als umweltpolitische Leistungen am Ende der Amtszeit Töpfers (Rupp 2009: 341). International vertrat die deutsche Bundesregierung eine entschiedene Klimaschutzposition, die sie in der Folge in die Verhandlungen der internationalen Klimakonferenzen in Rio (1992), Berlin (1995) und Kyoto (1997) einbrachte. Zudem wurde 1994 der Umweltschutz als Staatsziel in das Grundgesetz aufgenommen. Allerdings ging diese Bestimmung der damaligen Opposition aus SPD und Bündnisgrünen nicht weit genug

  • Die Nachfolgerin Töpfers, die spätere Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU), Umweltministerin von 1994-1998, setzte zwar scheinbar den Weg Töpfers fort. Unter ihrer Leitung kam es jedoch zu einer „Verlangsamung des Weiterentwicklungsprozesses in der Umweltpolitik“ (Weidner/Jänicke 1998: 208, s.u.). So gelang es Merkel zum Beispiel nicht, neu diskutierte umweltpolitische Instrumente wie eine ökologische Steuerreform, die sie und ihr Ministerium anfangs stark befürworteten, gegenüber den Interessen der Industrie und denen von Bundeskanzler Helmut Kohl durchzusetzen

  • Insgesamt kann für die Zeit zwischen Mitte und Ende der 1990er Jahre daher ein Wiedererstarken des umweltpolitischen Grundkonflikts zwischen Ökonomie und Ökologie konstatiert werden, der schließlich zu einem umweltpolitischen Abschwung bis zum Ende der christlich-liberalen Ära führte. Dabei betonten die Wirtschaftsverbände seit Ende der 1980er Jahre den Zusammenhang zwischen wirtschaftlichem Wachstum und Umweltschutzaufwendungen besonders. Umweltpolitische Kooperationslösungen wurden als Alternative zum Ordnungsrecht und den in den 1990er Jahren verstärkt diskutierten Abgabenlösungen propagiert. Anfang der 1990er Jahre forderte der BDI in seinem Konzept „Die Zukunft unserer Umwelt“ (BDI 1990) eine Ablösung der eher bürokratischen Umweltpolitik durch effizientere, marktwirtschaftliche Lösungen (BDI 1990: 7), wobei damit nicht etwa ökonomische Instrumente (s. u., Kap. 2.4.2) gemeint waren. Der BDI betonte besonders die ständig gestiegenen Umweltschutzaufwendungen der deutschen Wirtschaft und ihre Leistungen, beispielsweise die Verringerung der Luftbelastung mit Emissionen. Hingegen wurde bemängelt, dass immer mehr Gesetze initiiert wurden und die Genehmigungszeiten für neue Produkte und Anlagen viel zu lang wären. Gefordert wurde, dass der Staat sich auf „die Rahmensetzung beschränkte und den Unternehmen die Wahl der geeigneten Maßnahmen überließe, um die Wirtschaft auf umweltpolitische Anforderungen auszurichten“

  • Dessen ungeachtet schritt seit den frühen 1990er Jahren die Europäisierung der deutschen Umweltpolitik beachtlich fort: Von den Richtlinien zum Gewässerschutz und zur Luftreinhaltung, der Regelung des Inverkehrbringens von Pflanzenschutzmitteln und genetisch veränderten Organismen über eine ganze Reihe von Abfallrichtlinien bis hin zu Richtlinien und Verordnungen zum Natur- und Artenschutz war am Ende der 1990er Jahre kaum ein Bereich der Umweltpolitik noch von europäischem Recht unberührt (Héritier et al. 1994). Dabei war freilich manches auch von deutschen Umweltministerien nach Brüssel „gespielt“ worden, um Maßnahmen, für die es im Kabinett keine Unterstützung gab, über den Brüsseler Umweg in Deutschland durchzusetzen




Die Umweltpolitik der rot-grünen Koalition (1998-2005)


  • Die späten 1990er Jahre waren durch widersprüchliche Entwicklungen gekennzeichnet: einerseits brachte der Diskurs über Nachhaltigkeit, der sich in Deutschland mit einiger Verspätung im Rahmen des „Agenda 21-Konzeptes“ verbreitete , insgesamt eine stärker normative Dimension in die Diskussion und definierte gesellschaftliche Verantwortlichkeiten und umweltpolitische Inhalte in gewissem Maße neu. Damit wurde u.a. Umweltschutz nicht mehr als sektorale Politik betrachtet, die von staatlichen Akteuren gegen Wirtschaftsakteure betrieben wird. Zugleich wurde den Wirtschaftsakteuren im Sinne des Nachhaltigkeitskonzeptes, das auch eine ökonomische Dimension beinhaltet, eine eigene, aktive Rolle beim Schutz von Ressourcen und Umwelt im Sinne eines auch ökologisch zukunftsfähigen Wirtschaftens zugewiesen.

  • Pure Konfrontation und Zurückweisung umweltpolitischer Forderungen war seither keine akzeptable verbandliche Strategie mehr. Stattdessen wurde es üblich, die eigenen Positionen durch Gemeinwohlbezüge zu untermauern. Damit lösten sich Konflikte freilich nicht auf, sondern sie verschoben sich auf rivalisierende Gemeinwohldefinitionen, wie etwa den klassischen Konflikt zwischen Arbeitsplätzen und Umweltschutz, aber auch subtilere, umweltschutzinterne Konflikte, wie beispielsweise die Energieeffizienz von Fahrzeugen einerseits und ihr recycling-gerechtes Design andererseits, oder Klimaschutzversus Naturschutzinteressen

  • Mit der Regierungsübernahme durch die rot-grüne Koalition erlangte erstmals ein „Grüner“, Jürgen Trittin, das Amt des Bundesumweltministers. Angesichts der hohen Priorität von Umweltfragen für den kleinen Koalitionspartner Bündnis 90/Die Grünen kam es zu einer alles in allem größeren Konfliktbereitschaft und härteren Gangart der Regierung gegenüber der Wirtschaft und ihren Verbänden. Jahrelang formulierte umweltpolitische Ziele sollten durch die rot-grüne Koalition verwirklicht werden: der Atomausstieg, die ökologische Steuerreform und der Ausbau der Kraft-Wärme-Kopplung waren wichtige Maßnahmen dieser Zeit.

  • Die ökologische Steuerreform stellte dabei eine bemerkenswerte grundsätzliche Veränderung des in Deutschland verwendeten umweltpolitischen Instrumentariums in Richtung einer stärkeren Nutzung ökonomischer Instrumente dar, deren Realisierung zuvor seit Ende der 1980er Jahre vergeblich diskutiert worden war. Beim Atomausstieg handelt es sich sogar um Forderungen, die bereits seit den 1970er Jahren von der Anti-Atomkraftbewegung vorgebracht wurden. Der Atomausstieg wurde im Konsens mit der Industrie umgesetzt – die wesentlichen Punkte wurden in einer Vereinbarung festgehalten ; Heyen betont dabei aber zu Recht, dass die Konsens-Terminologie nicht überdecken sollte, dass es hier um einen „Deal“ nach positionsbezogenen Verhandlungen ging, jedoch keinesfalls um die Herstellung eines auch inhaltlichen Konsenses

  • Danach erhielt jedes Atomkraftwerk eine Reststrommenge, die einer Regellaufzeit von 32 Jahren entsprach, und es durften keine neuen Atomkraftwerke mehr gebaut werden. Die Bundesregierung versprach, keine weiteren Steuern zu erheben oder den Betrieb der Atomkraftwerke durch verschärfte Sicherheitsphilosophien zu erschweren, während die Energiekonzerne darauf verzichteten, Entschädigungsforderungen geltend zu machen

  • Umgesetzt wurde der Ausstieg durch eine Novelle des Atomgesetzes, die 2002 in Kraft trat. 2003 wurde dann das Atomkraftwerk Stade, 2005 das Atomkraftwerk Obrigheim stillgelegt (Rupp 2009: 403; Heyen 2011). Rupp weist darauf hin, dass der Atomausstieg im Gegensatz zu Österreich keinen Verfassungsrang bekam, d.h., dass er durch sich verändernde Regierungsmehrheit wieder rückgängig gemacht werden könnte (Rupp 2009: 403). Mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz wurde die stärkere Förderung erneuerbarer Energien durch eine Einspeisevergütung beschlossen, ein Gesetz, dessen Prinzipien in der Folge von zahlreichen anderen Ländern übernommen wurden (vgl. Kap. 2.3.2). Auch im Boden- und Naturschutz sowie bei der Entwicklung und Verabschiedung einer deutschen Nachhaltigkeitsstrategie (Bundesregierung 2002) brachte die rot-grüne Umweltpolitik Fortschritte


  • Ein weiteres Merkmal der rot-grünen Bundesregierung war eine veränderte Haltung zu Kooperationslösungen in der Umweltpolitik. So kam es zu der Ablösung kooperativer Instrumente durch durchgehend rechtliche Regelungen im Bereich der produktbezogenen Abfallpolitik. Bundesumweltminister Trittin betonte im Zusammenhang mit Kooperationslösungen besonders, dass Kooperationen in der Umweltpolitik nur dann anzustreben seien, wenn ihre Einhaltung durch die Industrie auch überprüft würde

  • Gerade die von Rot-Grün eingeführte Ökosteuer löste eine beispiellose Interessenpolitik der deutschen Industrie aus; deren Organisationen versuchten vehement, die Einführung einer solchen Steuer zu verhindern. Während die konservativ-liberale Bundesregierung 1995 nach der Selbstverpflichtungserklärung der deutschen Industrie zum Klimawandel noch auf die Einführung von Umweltabgaben verzichtete, mussten gerade die Grünen bei den WählerInnen Wort halten, und so wurde die Ökosteuer dann 1999 – freilich mit zahlreichen Ausnahmeregelungen zugunsten der Wirtschaft – eingeführt



Große Koalition und Finanz- und Wirtschaftskrise (2005-2009)


  • Die Umweltpolitik der Großen Koalition folgte weitgehend den Weichenstellungen durch die rot-grüne Vorgängerregierung (Jänicke 2010: 487). Das ist durchaus erstaunlich, wenn man bedenkt, wie z.B. der BDI im Wahlkampf 2005 versucht hatte, die Klimapolitik zu bremsen mit Worten wie „Die olle des Vorreiters um jeden Preis können wir uns nicht leisten“ (BDI 2005). Die wichtigsten im Koalitionsvertrag festgehaltenen Ziele der Großen Koalition waren ein weiterer Ausbau des Klimaschutzes, die Neuordnung des Umweltrechts durch das Umweltgesetzbuch sowie eine nationale Strategie für den Naturschutz (Jänicke 2010: 491). Der neue Umweltminister Sigmar Gabriel (SPD) verfolgte – ganz im Sinne der von Jänicke propagierten Strategie der ökologischen Modernisierung (s.u.) – insbesondere den Ansatz, Umweltpolitik als wirtschaftspolitische Erfolgsgeschichte zu verkaufen.

  • Betrachtet man die Umweltresultate, so konnte das Kyoto-Ziel von 21 % Reduzierung der Treibhausgase bis 2012 bereits 2007 erreicht und der Anteil erneuerbarer Energien am Strom von 10 % in 2005 auf 15 % in 2008 gesteigert werden

  • Allerdings wurde das anspruchsvolle Klimaprogramm (die sogenannten Meseberg-Beschlüsse) von 2007 nur teilweise umgesetzt. Obwohl sich die Kanzlerin noch 2006 von den gefürchteten „Anrufen“ der Industrie im Kanzleramt distanziert hatte (Jänicke 2010: 500), waren sowohl die Kohle- als auch die Auto-Lobby bei der Großen Koalition letztlich erfolgreich. Aufgrund eines Ausklammerns der Kohle von der Öko-Steuer und einer Begünstigung in der ersten Phase des Emissionshandels stiegen seit 1999 die klimaschädlichen Emissionen aus der Stromproduktion wieder an (Jänicke 2010: 494). Ohne politischen Druck hatte die Automobilindustrie Ende der 1990er Jahre kaum Maßnahmen ergriffen, um die CO2-Emissionen von Kfz nennenswert zu reduzieren. Die auf europäischer Ebene ergriffene Initiative der Kommission für eine entsprechende Verordnung torpedierte die Bundesregierung 2008 unisono mit den deutschen Automobilherstellern, so dass nicht nur der Grenzwert von 120 auf 130 g CO2/km aufgeweicht, sondern auch die Termine für die Geltung dieser Grenzwerte verschoben wurden

  • Im Naturschutz sind nach Jänickes Einschätzung, u.a. mit der Ausweisung von 13,6 % der Landesfläche im Rahmen von Natura 2000 sowie mit der „Nationalen Strategie zur biologischen Vielfalt“, mit der die Bundesregierung sich auch auf internationaler Ebene profilieren konnte, deutliche Erfolge erzielt worden

  • Während es zu den Leistungen der Großen Koalition gehört, mit der Föderalismusreform von 2006 auch die umweltpolitischen Kompetenzen neu organisiert zu haben (siehe hierzu Kap. 5.2), scheiterte sie an der Verabschiedung des Umweltgesetzbuches, die eigentlich als wichtiges Ziel hinter der dieser Neuordnung der Kompetenzen stand. Ziel dieses Gesetzbuches, zu dem bereits Ende der 1990er Jahre mit dem sogenannten Professorenentwurf von 1997 ein erster Anlauf erfolglos blieb, war es, das stark sektoralisierte und zersplitterte Umweltrecht zusammenzufassen, zu harmonisieren, zu vereinfachen und zu modernisieren.

  • Die Verabschiedung des UGB scheiterte Anfang 2009 vordergründig am Widerstand der CSU . Dahinter steckte allerdings eine komplexe Gemengelage aus Widerstand von Seiten der Industrie gegen die im UGB zentral vorgesehene integrierte Vorhabengenehmigung (iVG) und eine im entscheidenden Moment mangelnden Unterstützung durch die Kanzlerin (Kaufer 2010). Allerdings wurden die unstrittigen Teile als Einzelgesetze verabschiedet (Rechtsbereinigungsgesetz Umwelt, Gesetz zur Neuregelung des Rechts des Naturschutzes und der Landschaftspflege, Gesetz zur Neuregelung des Wasserrechts und Gesetz zur Regelung des Schutzes vor nichtionisierenden Strahlen)

  • Im Laufe der Finanz- und Wirtschaftskrise seit September 2008 erwarteten viele Beobachter eine Schwächung der Umweltpolitik, insbesondere, weil die Krise und ihre Folgen umweltpolitische Probleme von der politischen Agenda verdrängen würden und zudem der überwunden geglaubte Konflikt zwischen Ökonomie und Ökologie (s.u.) angesichts ökonomischer Bedrohungsszenarien wieder stärker zu Tage treten und ggf. von interessierten Akteuren auch instrumentalisiert werden würde. Allerdings kam eine erste Studie, die die umweltpolitische Bundesgesetzgebung auf Kriseneffekte untersuchte, zu dem Ergebnis, dass die deutsche Umweltpolitik infolge der Krise jedenfalls kurzfristig keine erkennbare Schwächung erfuhr. Zumindest fanden sich im erwähnten Zeitraum weder ein zahlenmäßiger Rückgang der verabschiedeten Gesetze noch Gesetze, die wegen der Krise scheiterten, noch schließlich solche Gesetze, bei denen aufgrund der Krise „Abschläge“ im ökologischen Anspruchsniveau zu identifizieren gewesen wären.

  • In Ansätzen fanden sich auf der europäischen Ebene solche Effekte, als bei den Verhandlungen über die weitere Umsetzung des Emissionshandels Ende 2008 die Vertreter der energieintensiven Industrien die Gefahr einer Abwanderung in Länder ohne Emissionsbeschränkungen (sogenannte „Carbon Leakage“) und damit eine Gefährdung von Arbeitsplätzen in Deutschland geltend machten und darauf aufbauend eine kostenfreie Zuteilung der Zertifikate verlangten. Diese Position machte sich die Bundeskanzlerin zu eigen, die zuvor eine relativ anspruchsvolle Klimapolitik vertreten hatte, dann aber im Zeichen der Wirtschaftskrise der schon im Laufe des Sommers 2008 gebildeten „Bremser-Koalition“ beitrat und relativ weitgehende Ausnahmen aushandelte. Auch mag es – empirisch gleichwohl schwer fassbar – eine Reihe von umweltpolitischen Themen geben, die angesichts der Krise gar nicht erst in Angriff genommen wurden


Umweltpolitik der schwarz-gelben Koalition (2009-2013)


  • Der schwarz-gelben Koalition, die Ende 2009 ins Amt kam, wurde von den Umweltverbänden in der üblichen 100-Tage-Bilanz „völliges Versagen“ attestiert, das Umweltthema spiele bei dieser Bundesregierung insgesamt kaum eine Rolle (WWF 2010) – eine Einschätzung, die man auch für die restliche Amtszeit im Großen und Ganzen teilen kann. Als spektakulär kann man allerdings die 2011 vollzogene 180-Grad-Wende dieser Koalition in der Energiepolitik bezeichnen: War sie im Wahlkampf mit dem Projekt eines „Ausstiegs aus dem Atomausstieg“ durch eine Laufzeitverlängerung angetreten, so verwirklichte sie Ende 2010 zunächst genau dies: Die vor 1980 in Betrieb gegangenen sieben Anlagen erhielten Strommengen für zusätzliche acht Betriebsjahre und die übrigen zehn Atomkraftwerke Strommengen für zusätzliche 14 Jahre – auch wenn der Neubaustopp, und damit ein wichtiger Teil des Atomausstiegs, unverändert bestehen blieb.

  • Unmittelbar nach dem Reaktorunfall von Fukushima m März jedoch wurde dieselbe Regierung (unter starker Führerschaft der Kanzlerin) zur Protagonistin einer „Energiewende“, die (im Sommer 2011 beschlossen) eine gesetzliche Regelung zum vollständigen Ausstieg aus der Atomenergie bis zum Jahre 2022 vorsah und zugleich die Weichen für einen massiven Ausbau erneuerbarer Energien stellte. Zum Ende der Legislaturperiode gelang noch der Beschluss des Standortauswahlgesetzes (StandAG) vom Juli 2013, welches die Einsetzung einer Kommission „Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe“ vorsah

  • Keine Lösung fand sich in dieser Legislaturperiode jedoch für das seit 2011 zunehmend kontrovers diskutierte Thema unkonventionelles Fracking, welches zu diesem Zeitpunkt nur wenig restriktiv im Bundesberggesetz reguliert war. Ein Anfang zwischen Wirtschafts- und Umweltministerium abgestimmter Entwurf für eine Regulierung, die vor allem eine UVP-Pflicht einführen und Fracking in Trinkwasserschutzgebieten verbieten sollte, konnte nicht beschlossen werden. Die Ursache hierfür war, dass der Entwurf vielen Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion, die in ihren Wahlkreisen entsprechende Schiefergas-Vorkommen haben, nicht streng genug war, eine strengere Regelung aber mit dem FDP-geführten Wirtschaftsministerium nicht zu erzielen war. Ebenfalls scheiterte der Beschluss eines Wertstoffgesetzes, das die bisherige Getrennterfassung von Abfällen beenden und stattdessen eine Wertstofftonne einführen sollte


Die Umweltpolitik der zweiten GroKo Merkel (2013-2017)


  • Die Umweltpolitik der zweiten Großen Koalition unter Bundeskanzlerin Merkel weist eine gemischte Bilanz auf (siehe im Einzelnen Töller 2019). Zum einen wurde eine Reihe von teilweise durchaus bemerkenswerten Maßnahmen beschlossen. Zweifach wurde – unter der Federführung des nun SPD-geführten Wirtschaftsministeriums – das Erneuerbare-Energien-Gesetz reformiert (2014 und 2016). Kern der grundlegenden Novellen war u.a. die Reduzierung des Ausbaus von Biomasse und Windkraft über den „atmenden Deckel“, der Umstieg von fester Einspeisevergütung auf eine gleitende Marktprämie, eine Reform der Ausnahmeregelungen für energieintensive Industrien sowie schließlich die Einführung einer Länderöffnungsklausel zur Festlegung länderspezifischer Abstände von Windkraftanlagen zur Wohnbebauung. Überdies wurden im Dezember 2014 der Nationale Aktionsplan Energieeffizienz und das Aktionsprogramm Klimaschutz 2020 beschlossen und Anfang 2015 ein Gesetz zur Teilumsetzung der Energieeffizienzrichtlinien verabschiedet.

  • Zur Förderung der Elektromobilität führte die Regierung nach jahrelanger Diskussion im Frühjahr 2016 überraschend eine Kaufprämie ein. In der Atompolitik wurde im April 2014 die im Standortauswahlgesetz (StandAG, s.o.) vorgesehene Kommission „Lagerung hoch radioaktiver Abfallstoffe“ eingesetzt, die im Juli 2016 ihren Abschlussbericht vorlegte. Im März 2017 wurden eine Neufassung des StandAG beschlossen, die insbesondere Kriterien für die Auswahl möglicher Standorte für die Endlagerung von Atommüll, Regelungen für Beteiligungsverfahren und den Ablauf des Standortauswahlverfahrens festlegte. 2016 wurde zudem die Verantwortung in der kerntechnischen Entsorgung neu geordnet und klargestellt, dass die Betreiber der Kernkraftwerke weiterhin für Stilllegung, Rückbau und Verpackung der radioaktiven Abfälle zuständig bleiben

  • Zu einer überraschend strengen Regulierung – einem Verbot – des kommerziellen unkonventionellen Frackings kam es im Juni 2016. Die Zahl der möglichen wissenschaftlichen Probebohrungen wurde auf vier begrenzt, diese können aber nur dort stattfinden, wo die zuständige Landesregierung dem zustimmt. Weiter genehmigungsfähig bleibt das sogenannte konventionelle Fracking nach Tight Gas in Sandgestein, allerdings unter verschärften Auflagen. Im Juni 2017 wurde eine Novelle des Bundesnaturschutzgesetzes beschlossen, in der das BMU neben einigen substanziellen Änderungen in den Bereichen Ausgleichs- und Ersatzmaßnahmen sowie Biotopverbunde seine Rolle bei der Ausweisung von Meeresschutzgebieten in Nord- und Ostsee behaupten konnte (BMUB 2017). Auf der Verfahrensebene wurde schließlich im Mai 2017 durch Anpassung des Umweltrechtsbehelfsgesetzes das Klagerecht der Umweltverbände weiter ausgedehnt und im Juli 2017 eine Modernisierung des Rechts der Umweltverträglichkeitsprüfung beschlossen.

  • In die Zeit der Regierung der zweiten Großen Koalition fällt zudem die Verabschiedung der gegenüber der ersten von 2002 völlig aktualisierten und veränderten deutschen Nachhaltigkeitsstrategie. Diese „Deutsche Nachhaltigkeitsstrategie – Neuauflage 2016“ wurde vom Bundeskabinett 2017 beschlossen. Sie steht im Zusammenhang mit der globalen Nachhaltigkeitsagenda der Vereinten Nationen, die für verschiedene soziale, ökologische und ökonomische Aspekte der Nachhaltigkeit 17 (Ober-) Ziele als „Sustainable Development Goals (SDG)“ definiert, welche weltweit bis 2030 umgesetzt werden sollen. Diese Ziele wurden im September 2015 in New York von den Staaten der Weltgemeinschaft beschlossen und traten zum 1. Januar 2016 in Kraft. Die aktualisierte deutsche Nachhaltigkeitsstrategie beschreibt u.a. Maßnahmen und auf Deutschland bezogene Ziele und Indikatoren, mit deren Hilfe diese SDGs in Deutschland umgesetzt werden solle

  • Allerdings lassen sich auch einige – teilweise durchaus gravierende – Nichtentscheidungen identifizieren. Erstens scheiterte das Wertstoffgesetz erneut. Zweitens bestand vor allem die Klimapolitik aus gravierenden Nichtentscheidungen. Insbesondere gelang es in dieser Wahlperiode trotz verschiedener Anläufe nicht, sich auf den – für die Erreichung der deutschen Klimaziele dringen notwendigen – Ausstieg aus der Kohleverstromung zu einigen (Töller 2019a: 574ff.). Ebenfalls mit Nichtentscheidungen reagierte die Regierung in dieser Wahlperiode auf die Problematik der Belastung der Luftqualität durch Stickoxide, welche vor allem durch Diesel-Kfz verursacht wird. Obwohl in vielen deutschen Ballungsgebieten die Grenzwerte der europäischen Luftqualitätsrichtlinie schon lange regelmäßig überschritten wurden, gelangte das Thema erst mit dem sogenannten Dieselskandal ab September 2015 auf die politische Agenda. Die Aufarbeitung des Skandals lag beim Verkehrsministerium, welches eine Beteiligung des Bundesumweltministeriums oder des Umweltbundesamtes (UBA) an der Untersuchungskommission ablehnte. Umweltministerin Hendricks gelang es trotz verschiedener Versuche nicht, wirksame Maßnahmen durchzusetzen, obwohl Analysen Tausende vorzeitige Todesfälle jährlich alleine in Deutschland berechneten und die deutsche Umwelthilfe in einer Reihe von Fällen erfolgreich auf die Einführung von Fahrverboten klagte

  • Erwähnenswert ist schließlich das vom BMUB im September 2016 beschlossene Integrierte Umweltprogramm 2030 (IU 2030, BMUB 2016c), das dritte Umweltprogramm in der Geschichte der deutschen Umweltpolitik. Ausgangspunkt dieses Programms war die Beobachtung, dass trotz nennenswerter Erfolge der Umweltpolitik gravierende Probleme ungelöst bleiben bzw. neu entstehen. Das Programm erklärt, dass aktuelle Formen des Wirtschaftens, der Landwirtschaft, der Mobilität und des Konsums ökologische Belastbarkeitsgrenzen überschritten hätten bzw. zu überschreiten drohten (BMUB 2016c: 11) und dass die genannten ökologischen Herausforderungen durch Umweltpolitiken bisheriger Machart nicht zu bewältigen seien.

  • Umweltpolitik könne daher – so schrieb Umweltministerin Hendricks im Vorwort – „… nicht mehr nur den Anspruch haben […], die Kollateralschäden eines aus dem Ruder gelaufenen Wirtschaftsmodells zu beseitigen.“ Vielmehr sei eine Wirtschaftsweise gefordert, die „nicht den kurzfristigen Profit für wenige, sondern nachhaltigen Wohlstand für alle im Auge hat“ (BMUB 2016c: Vorwort). Um eine „transformative Umweltpolitik“ (letztlich Gesellschaftspolitik) zu realisieren, forderte das BMUB u.a. ein „‘Initiativrecht in anderen Geschäftsbereichen‘ für das BMUB in Angelegenheiten von umweltpolitischer Bedeutung“, wie es vergleichbar bereits das Familien- und das Justizministerium haben . Das IU 2030 wurde nur kurz in den Medien diskutiert, dann von verschiedenen Seiten scharf kritisiert und verschwand schließlich in der Versenkung. Seine Inhalte wurden – bislang jedenfalls – nicht umgesetzt


Die Umweltpolitik der dritten Großen Koalition (seit 2017) und Gesamtentwicklung


  • Die Umweltpolitik der seit 2017 regierenden dritten Großen Koalition Merkel steht – soweit man das bereits beurteilen kann – stark im Zeichen der Klimapolitik. So hat die Bundesregierung eingeräumt, dass das deutsche Emissionsminderungsziel bis 2030 nicht erreicht werden kann. Im Koalitionsvertrag bekennt sich die Bundesregierung zum Pariser Abkommen und will durch ein Klimaschutzgesetz die Emissionen bis 2050 um 55 % senken. Die Erneuerbaren Energien sollen weiterhin ausgebaut werden, und es soll in die energetische Sanierung von Gebäuden investiert werden. Weiterhin beabsichtigt die Bundesregierung, die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie weiterzuentwickeln und umzusetzen. Zudem sollen die E-Mobilität ausgebaut und ein wirtschafts- und sozialverträglicher Kohleausstieg auf den Weg gebracht werden. Dazu wurde die Kommission „Wachstum, Strukturwandel und Beschäftigung“ eingerichtet, die als Kompromiss einen Kohleausstieg bis 2038 vorgeschlagen hat. Außerdem soll die Nationale Strategie zur biologischen Vielfalt gestärkt werden, und gegen das medial stark diskutierte Bienensterben sollen konkrete Maßnahmen unternommen werden („Aktionsplan Insektensterben) (CDU/CSU/SPD 2018; Schwarze 2018). Um im Klimaschutz vorzeigbare Maßnahmen zu entwickeln und abzustimmen, wurde 2019 das sogenannten Klimakabinett eingerichtet. Dies ist auch als Reaktion auf die regelmäßigen Demonstrationen der Schülerinnen und Schüler im Rahmen der Fridays-for-Future-Bewegung anzusehen, die durch zahlreiche weitere Gruppen (z.B. „Scientists for Future“) unterstützt, Druck auf die Bundesregierung erzeugten, effektive Maßnahmen zur Verwirklichung der eigenen klimapolitischen Ziele auf den Weg zu bringen. Ergebnis des Klimakabinetts sind die sogenannten „Eckpunkte für das Klimaschutzprogramm 2030“, die am 20.09.2019 vorgestellt wurden und zahlreiche Einzelmaßahmen zum Klimaschutz enthalten

Fazit: Konjunkturen der deutschen Umweltpolitik

  • Die deutsche Umweltpolitik existiert seit fast 50 Jahren. Mit dem ersten Umweltaktionsprogramm wurden 1971 die Weichen gestellt und umweltpolitische Grundlagen und Prinzipien geschaffen, die noch heute Gültigkeit haben (Verursacher-, Vorsorge- und Kooperationsprinzip). In dieser frühen Phase existierte noch kein eigenständiges Umweltministerium, aber es wurden institutionelle Neuerungen wie das Umweltbundesamt geschaffen. In den 1970er und 1980er Jahren ging es in erster Linie um umweltbezogene Schadensreparatur im Sinne von Gefahrenabwehr, wofür insbesondere regulative Instrumente eingesetzt wurden. Die Industrie stand der Umweltpolitik zunächst aufgeschlossen gegenüber. Dies änderte sich mit der Wirtschaftskrise Mitte der 1970er Jahre, als Industrieverbände gemeinsam mit Gewerkschaften gegen „zu viel“ Umweltpolitik opponierten.

  • Ab Ende der 1970er Jahre bis hinein in die 1980er Jahre etablierte sich mit der Entstehung der Grünen eine neue Kraft im Parteiensystem der Bundesrepublik, und die Umweltpolitik konnte sich sukzessive stabilisieren. Das Umweltthema sorgte für weitere Veränderungen im deutschen Regierungssystem – so wurde 1986 nach Tschernobyl mit dem Bundesumweltministerium ein eigenständiges Ministerium für Umweltschutz eingerichtet. Insbesondere in der Folge der Diskussion um sauren Regen und das „Waldsterben“ ging es in dieser Zeit um die Luftreinhaltung. Bei den Instrumenten wurde der regulative Kurs beibehalten, auch wenn wissenschaftlich die Diskussion um alternative (ökonomische) Instrumente begann.

  • In den 1990er Jahren kam es zu einem starken Wiederaufflackern des umweltpolitischen Grundkonfliktes zwischen Ökonomie und Ökologie, als Industrieverbände einen Abbau der Umweltpolitik forderten. Kooperative Instrumente wie die freiwillige Selbstverpflichtung ergänzten die nach wie vor durch regulative Instrumente dominierte deutsche Umweltpolitik. Allerdings änderte sich auch die Problemstruktur der Umweltpolitik: Der Vorsorgeaspekt wurde mit der beginnenden Nachhaltigkeitsdebatte deutlicher, mit dem Klimaschutz begann eine neue Ära der Umweltpolitik. Hier lässt sich zu einen ein Bedeutungsgewinn der Europäischen Union hinsichtlich einer abgestimmten europäischen Klimapolitik beobachten, zum anderen eine – zumindest auf der internationalen Ebene – Schrittmacherrolle der Bundesrepublik. Diese stellte sich national jedoch häufig als weniger konfliktfähig heraus: Mit der Ökosteuer begann eine neue Konjunktur ökonomischer Instrumente, auch wenn diese aufgrund des Einflusses der Industrie umwelt- und klimapolitisch wenig wirksam ausgestaltet wurde

  • Mit der ersten rot-grünen Koalition auf Bundesebene wurde 1998 erstmals ein Grüner Bundesumweltminister, was sich in einer Reihe von den umweltpolitischen Pfad verändernden Gesetzen niederschlug (z.B. Ökosteuer und Atomausstieg). Die Veränderung in der Regierungszusammensetzung sorgte hier auch für eine Veränderung in der Umweltpolitik. Die Große Koalition und die Umweltpolitik der konservativliberalen Bundesregierung setzten diesen Kurs in seinen Grundsätzen fort – allerdings überschattet von der weltweiten Finanzkrise.

  • Auffällig ist bei der jüngsten deutschen Umweltpolitik jedoch, dass vor allem die Klimapolitik die Diskussion beherrscht. Hier geht es zum einen allgemein um Treibhausgasemissionsminderung, wobei sich Deutschland ambitionierte Ziele gesetzt hat; zum anderen verfolgt das Energiekonzept der Bundesregierung einen starken Ausbau der erneuerbaren Energien. Hinter der Klimapolitik stehen andere umweltpolitische Themen zurück: Nachhaltigkeit hat als Ziel in der Umweltpolitik zunächst deutlich an Bedeutung verloren, ist allerdings durch die Diskussion über die im Rahmen der UN festgelegten „Sustainable Development Goals“ mit ihren 17 Nachhaltigkeitszielen und die darauf ausgerichtete völlige Neuformulierung der Deutschen Nachhaltigkeitsstrategie 2016 wieder im Aufwind. Beim Naturschutz lassen sich mit der Föderalismusreform ambivalente Wirkungen beobachten. Zur Lösung persistenter Umweltprobleme wie dem Flächenverbrauch, wo es durchaus ambitionierte Ziele gibt, fehlt bislang der Einsatz wirksamer umweltpolitischer Instrumente. Die Luftreinhaltung führte bis zum Dieselskandal ein Schattendasein und wurde auch danach nicht mit effektiven Instrumenten in Angriff genommen

  • Dass selbst im Rahmen der konservativ-liberalen Bundesregierung Klimaschutz weiter verfolgt wurde, hat allerdings auch industriepolitische Gründe: Klimapolitik wird auch als wichtig erachtet, um der deutschen Klimaschutzindustrie einen internationalen Wettbewerbsvorsprung zu verschaffen – diese von manchen als „ökologische Modernisierung“ bezeichnete Strategie sorgt auch dafür, dass die deutsche Industrie dem Klimaschutz – so als Beitrag zu Innovationen und Standortsicherung verstanden – nicht mehr einhellig entgegen steht. Die neueste Entwicklung der deutschen Umweltpolitik bestätigt dies. Mit dem deutschen Klimaschutzplan 2050 als Beitrag zur Umsetzung des Pariser Klimaschutzabkommens, der Einrichtung eines deutschen Klimakabinetts 2019 und dem politischen Druck, den die neu aufgekommene SchülerInnen Bewegung „Fridays-for-Future“ entfalten konnte, sah sich die deutsche Bundesregierung 2019 unter Zugzwang, klimapolitische Entscheidungen oder gar ein Bundesklimaschutzgesetz umzusetzen. Nachdem sich die Bundesregierung im Zuge des Wahlkampfes 2018 eingestehen musste, die eigenen Klimaschutzziele für 2020 nicht erreichen zu können und ambitioniertere Ziele für 2030 verkündete, werden entsprechende Maßnahmen notwendig sein.

  • Diese Zusammenfassung soll den Blick für politikfeldanalytische Fragen schärfen, die die Deskription der deutschen Umweltpolitikentwicklung aufgeworfen hat. Deutlich wurde, dass es unterschiedliche umweltpolitische Regelungsfelder gibt. Innerhalb dieser und der Umweltpolitik allgemein lässt sich eine schrittweise Veränderung des Einsatzes umweltpolitischer Instrumente konstatieren, anhand verschiedener Gesetze eine „Vorreiterrolle“ Deutschlands interpretieren und eine schrittweise veränderte Problemstruktur der Umweltpolitik mit entsprechenden umweltpolitischen Reaktionen erkennen . Akteure in der Umweltpolitik konnten in unterschiedlichem Maße die umweltpolitischen Entscheidungen beeinflussen , mit der Umweltpolitik wurden gar neue Akteure institutionalisiert. Die Umweltpolitik veränderte sich mit dem Aufkommen der Bürgerbewegungen der 1970er Jahre und war immer auf wissenschaftliche Beratung angewiesen. Mit der regulativen Umweltpolitik wurde ein institutioneller Pfad eingerichtet, der die Umweltpolitik noch heute prägt; nicht erst seit den 1990er Jahren und mit der „Entdeckung“ des Klimaproblems begann sowohl eine Europäisierung als auch eine Internationalisierung der Umweltpolitik. Die Herausstellung der hier kursiv geschriebenen Begriffe markiert diejenigen Konzepte und Fachtermini, die die Verbindung zwischen einer Beschreibung der Umweltpolitik und einer Analyse des Politikfeldes Umweltpolitik herstellen können






Abfallpolitik


  • Abfallpolitik existierte schon lange vor der Entstehung der Umweltpolitik. Mit der Abfallpolitik wurden zunächst Hygieneziele durch den Abtransport des Mülls aus den Siedlungen verfolgt; am Rande spielte die Abfallverbrennung eine Rolle (Lamping 1997: 49). Mit umweltpolitischen Zielen wurde die Abfallentsorgung erst Ende der 1960er Jahre in Verbindung gebracht. Im ersten Umweltbericht stellte die Bundesregierung 1971 fest, dass etwa 64 % des eingesammelten Mülls unsachgemäß abgelagert würden, was zur Verunreinigung von Oberflächen- und Grundwasser sowie zu gefährlicher Luftverschmutzung führe

  • Während für die operative Abfallpolitik die Kommunen im Rahmen der kommunalen Daseinsfürsorge zuständig waren und sind, lag die Zuständigkeit für die Gesetzgebung zur Abfallpolitik ursprünglich bei den Ländern. 1972 gelang es dem Bund, die Aufnahme des Bereichs Abfallentsorgung in die konkurrierende Gesetzgebung des Art. 74 GG durchzusetzen. Hieran hat auch die Föderalismusreform von 2006 im Kern nichts geändert.5 Das hierauf beruhende Abfallgesetz von 1972 verpflichtete die Kommunen, den ihnen überlassenen Abfall zu beseitigen, und legte erstmals bundeseinheitlich umweltpolitische Standards für die Entsorgung fest, insbesondere die Auflage, dass Abfall nur in zugelassenen Anlagen beseitigt werden darf (Lamping 1997: 50). Das Gesetz, das im Kern dem Konzept der Gefahrenabwehr verhaftet blieb, führte vor allem zu einer Bündelung der Ablagerung in zentralen, gewissen Umweltkriterien entsprechenden Deponien, die allerdings aufgrund fehlender Absicherung gegen Sickerwasser heute nach wie vor eine Umweltbedrohung, konkret für das Grundwasser, darstellen

  • In den 1980er Jahren stieg – insbesondere aufgrund der Zunahme der verwendeten Verpackungen – die Menge des Hausmülls deutlich an. Zugleich waren die Deponiekapazitäten weitgehend erschöpft, und die Einrichtung neuer Deponien und Verbrennungsanlagen stieß angesichts des wachsenden Umweltbewusstseins auf stärkeren Widerstand betroffener Anwohner. Seit dem Ende der 1980er Jahre wurde Müll sowohl mengenmäßig als auch aufgrund seiner stofflichen Zusammensetzung (z.B. Belastung durch Schwermetalle) immer mehr als Problem betrachtet: der Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) sprach von einem „Entsorgungsnotstand“ (SRU 1998: 174). Vor dem Hintergrund der politisch brisanten Deponieengpässe entwickelte die Bundesregierung in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre – im Kontext der Entsorgung von Batterien und Getränkeverpackungen – erste Konzepte für die Auslagerung bestimmter, ökologisch besonders problematischer Produktgruppen aus dem Hausmüll, die vor allem durch freiwillige Selbstverpflichtungen realisiert wurden

  • Diese Konzepte fanden ihre rechtliche Grundlage in dem 1986 verabschiedeten Abfallgesetz, in dem Beobachter nicht weniger als einen „Paradigmenwechsel“ in der Abfallpolitik erblickten (Seifert 2011: 90). Dieses Gesetz enthielt Pflichten zur Vermeidung und Verwertung von Müll und – im Gegensatz zum ersten Abfallgesetz 1972 – eine tragfähige Verordnungsermächtigung, die es der Bundesregierung erlaubte, die Kennzeichnung und getrennte Entsorgung von Produkten vorzuschreiben und Rücknahme- und Pfandpflichten sowie Verwendungsbeschränkungen zu verhängen. Das war wichtig, weil auch in der Abfallpolitik vieles auf der Ebene von Rechtsverordnungen geregelt wird. Rechtsverordnungen darf die Bundesregierung aber nur dann erlassen, wenn es hierfür eine gesetzliche Grundlage gibt, in der Inhalt, Zweck und Ausmaß der Verordnungsermächtigung bestimmt sind (Art. 80 Abs.1 S. 2 GG).

Produktverantwortung als neues Paradigma

  • Das 1994 verabschiedete und 1996 in Kraft getretene Kreislaufabfallwirtschaftsgesetz führte zu einer grundlegenden Neuorientierung in der Abfallpolitik: Nun waren Abfallerzeuger und Abfallbesitzer zur Entsorgung verpflichtet, sofern das Gesetz nichts Anderes regelt (Beckmann 2003: 375). Insbesondere wurden das Prinzip der Vermeidung festgelegt, die Produktverantwortung der Hersteller verstärkt und eine ausdrückliche Verordnungsermächtigung des Bundes für Rücknahmeverpflichtungen etabliert. Produkte sollten nun von Anfang an von ihrer Entsorgung her gedacht werden. Dabei verharrte jedoch das Vermeidungsgebot eher im Symbolischen. Die Abfallpolitik wurde einerseits ökologisiert, andererseits jedoch auch verstärkt privatisiert

  • Auf der Grundlage des Abfallgesetzes von 1986 erfolgte 1993 durch die Technische Anleitung (TA) Siedlungsabfall eine weitere zentrale abfallpolitische Weichenstellung, die die Behandlung des verbleibenden „Restmülls“ betraf. Deren Ziel war es, die dauerhafte ökologische Verträglichkeit der Deponien dadurch zu gewährleisten, dass als Bedingung für die Zusammensetzung des abzulagernden Restabfalls festgelegt wurde; dieser müsse eine reaktionsträge Konsistenz aufweisen. Über den Umweg eines Grenzwertes wurde dadurch de facto „die Müllverbrennung als einzig genehmigungsfähige Regelbehandlungstechnik festgeschrieben“ . Auch wenn es Abweichungsmöglichkeiten für den Einzelfall gab, schränkte die TA Siedlungsabfall mit dieser Festlegung den kommunalen Spielraum für eine Wahl der Behandlungsverfahren massiv ein und wurde auch als Erfolg der „Müllverbrennungslobby“ gewertet

  • Aus einer abfallwirtschaftlichen Perspektive wurde kritisiert, dass die (nun privilegierten) Verbrennungsanlagen (im Gegensatz zu den flexibleren, „kalten“ Anlagen) auf einen kontinuierlichen und relativ konstanten Mengenumsatz angewiesen sind und daher einen „Müllsog“ erzeugen, der das Ziel der Abfallvermeidung gerade konterkariere (Lamping 1997: 52). Zudem wurde befürchtet, dass mit den erforderlichen Investitionen für Müllverbrennungsanlagen die Kommunen zunehmend auf finanzkräftige Ver- und Entsorgungskonzerne angewiesen sein würden, was zu einer „weiteren Verengung des ohnehin eher geringen kommunalen Handlungsspielraums“ führe (Lamping 1997: 62f.). Allerdings wurde die TA Siedlungsabfall in verschiedenen Bundesländern höchst unterschiedlich umgesetzt. Während beispielsweise das von 1990 bis 1994 rot-grün regierte Niedersachsen alles daran setzte, den Bau von Verbrennungsanlagen zu vermeiden, setzte das traditionell durch eine hohe Dichte von Müllverbrennungsanlagen geprägte, lange Zeit sozialdemokratisch regierte NRW auf die zügige Umsetzung der TA Siedlungsabfall durch den Bau neuer Müllverbrennungsanlagen – eine Haltung, die erst mit der rot-grünen Koalition in NRW ab 1995 in Frage gestellt wurde. Mit der Abfallablagerungsverordnung von 2001 und deren Inkrafttreten 2005 wurde auf der Bundesebene durch die Politik der rot-grünen Bundesregierung die Gleichwertigkeit der mechanischbiologischen Abfallbehandlung mit der Verbrennung anerkannt

  • Kommt es im dezentralisierten deutschen Verwaltungssystem mit dem Satzungsrecht der Kommunen, den abfallwirtschaftlichen Kompetenzen der Länder und dem Bundesrecht also schon zu einer recht unübersichtlichen Zuständigkeitslage (Beckmann 2003), so wird die ganze Materie mit der zunehmenden Regelungskompetenz der Europäischen Union noch deutlich komplexer: Seit Mitte der 1970er Jahre verabschiedet die EU (damals EG) abfallrechtliche Richtlinien. Vor allem mit der Abfallrahmenrichtlinie von 1975, die seither mehrfach überarbeitet wurde, und den Richtlinien im Bereich der Produktentsorgung (Batterien, Getränkeverpackungen, Altautos, Elektroschrott) aus den letzten 15 Jahren hat sie die deutsche Abfallpolitik maßgeblich beeinflusst, wobei gerade die letztgenannten Maßnahmen andererseits nicht unwesentlich auf deutsche Konzepte zurückgehen (Töller 2012). Aber auch die europäische Binnenmarktpolitik, die Wettbewerbspolitik und die Liberalisierungspolitik beeinflussen die kommunale Abfallpolitik maßgeblich. Ein prominentes Beispiel für einen aus der komplexen Kompetenzlage des europäischen Mehrebenensystems erwachsenden Konflikt ist der 17 Jahre andauernde Streit zwischen Bundesregierung und europäischer Kommission um die Verpackungsverordnung, der 2004 vor dem EuGH entschieden wurde

  • Wie bereits erwähnt, gehen erste Ansätze zur gesonderten Entsorgung bestimmter, ökologisch besonders problematischer Produktgruppen außerhalb der kommunalen Entsorgungswege auf die 1980er Jahre zurück. Die Idee dieses Konzepts, das später das Label „Produktverantwortung“ erhielt, war, dass die Erzeuger der Produkte (z.B. Batterien, Verpackungen, Altautos, Elektroschrott) für deren Entsorgung in die Pflicht genommen werden sollten. Damit wurde zum einen die Erwartung verbunden, die kommunalen Entsorgungssysteme – und damit die öffentliche Zuständigkeit – zu entlasten. Zum anderen nahm man an, dies würde die Hersteller motivieren, ihre Produkte von vornherein entsorgungsfreundlicher zu entwerfen, was wesentlich zur Abfallvermeidung beitragen sollte. Dieses Konzept wurde ab 1991 insbesondere von Umweltminister Töpfer verfolgt und mit dem Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz von 1994 institutionalisiert. Parallel fand das Konzept auch Eingang in Politikkonzepte und Rechtsakte der EG/EU, so dass es im Einzelfall schwierig zu sagen ist, ob es nun zuerst im deutschen Kontext oder zuerst auf der Ebene der EG entstand.

  • Die Auslagerung der Verpackungen aus der kommunalen Entsorgung ins Duale System Deutschland (DSD) erfolgte durch die 1991 verabschiedete Verpackungsverordnung. Die Auslagerung der schadstoffhaltigen Batterien durch eine freiwillige Rücknahmeverpflichtung und die Einrichtung von Sammelsystemen erfolgte zunächst 1988, wurde dann über eine europäische Richtlinie von 1991 Rechtspflicht und 1998 durch eine Verordnung geregelt. Die separate Entsorgung von Altfahrzeugen wurde zunächst durch eine Vereinbarung mit ergänzender Verordnung 1996/1997 und – zur Umsetzung der europäischen Richtlinien von 2000 – 2002 durch eine reine Verordnungslösung geregelt. Während auch beim Elektroschrott die ursprüngliche Initiative für eine kooperative Lösung von der Bundesregierung kam, blieb eine entsprechende deutsche Regelung über die separate Entsorgung von Elektroschrott im föderalen Entscheidungssystem stecken und wurde erst infolge der Rechtspflicht zur Umsetzung der Richtlinie von 2003 im Jahre 2005 realisiert. 2015 kam es zu einer Neuordnung der separaten Sammlung und Entsorgung von Elektroschrott.

  • In allen vier Bereichen kam es zu einem Aufbau von Sammel- und Verwertungssystemen außerhalb der kommunalen Müllentsorgung. Im Fall der Verpackungsverordnung entstand zunächst das DSD, das Verpackungen separat einsammelte und verwertete, heute gibt es mehrere duale Systeme. Die Kombination von individueller Rücknahmepflicht in der Verpackungsverordnung und der Möglichkeit der Wirtschaft, sich hiervon durch den Aufbau eines freiwilligen Rücknahme- und Entsorgungssystems zu befreien, galt zunächst als regulatorischer Geniestreich, der aber spätestens seit 1997 zu Problemen führte. Insbesondere im Laufe der späten 1990er Jahre kam es zu politischen Konflikten um die Entsorgung von Verpackungsabfall.

  • Denn die Verpackungsverordnung hatte für den politisch immer schon umstrittenen Bereich der Getränkeverpackungen die Befreiung des Handels von der individuellen Rücknahmepflicht davon abhängig gemacht, dass ein bestimmter Anteil der Getränke in Mehrweggebinden verkauft werden müsste. Würde die Quote von 72 % dauerhaft unterschritten, dann würde die Befreiung widerrufen und der Handel müsste die Getränkeverpackungen individuell zurücknehmen (Finckh 1998: 54). Dies führte ab 1999 zu erheblichen politischen Konflikten, weil einerseits die Regelungen der Verpackungsverordnungen nicht nur wegen der damit verbundenen Kosten auf den Widerstand des Handels und der Getränkehersteller stießen; zudem waren sie auch höchst unpraktikabel, andererseits wurden aber regulative Alternativen wie das vom Umweltminister Trittin favorisierte „Dosenpfand“ vom Bundesrat blockiert. Schließlich wurde 2005 der Getränkeabfall aus der Ausnahmeregelung herausgenommen und eine Pfandpflicht verhängt

  • Insgesamt sind diese Regulierungen zur „Produktverantwortung“ durchaus ambivalent. Oberflächlich betrachtet erscheint der aus der Auslagerung resultierende Rückgang des Hausmülls als ökologischer Erfolg, weil nun weniger entsorgungspflichtiger Abfall entsteht. Einmal vom Problem der Überkapazitäten kommunaler Verbrennungsanlagen abgesehen ist dies aber nur dann ökologisch sinnvoll, wenn in den nun jedenfalls zum Teil in marktlichen Prozessen erfolgenden Verwertungs- und Entsorgungsverfahren vergleichbare Umwelt- und andere Standards eingehalten werden. Dies allerdings bezweifeln Kritiker

  • Neben den Regelungen zum Produktabfall gibt es eine weitere grundlegende Regelung, die zu einer Auslagerung von Abfällen aus dem Hausmüll und damit zu einer Vermarktlichung geführt hat. Im Abfallgesetz 1986 bestand das Entsorgungsmonopol der damals 440 entsorgungspflichtigen Körperschaften; die besagte, dass Abfallbesitzer Abfälle den entsorgungspflichtigen Körperschaften überlassen mussten, die ihrerseits allerdings private Firmen beauftragen konnten. Das Kreislauf-Abfallwirtschaftsgesetz von 1994 weichte dieses Prinzip auf, indem es den umstrittenen Abfallbegriff neu definierte, wobei der Abfallbegriff der Abfallrahmenrichtlinie der EG (91/156) fast wörtlich übernommen wurde. Unterschieden wurde nun zwischen Abfall zur Beseitigung und Abfall zur Verwertung. Abfall zur Beseitigung (im Kern Hausmüll und hausmüllartige Gewerbeabfälle) muss auch weiterhin den entsorgungspflichtigen Körperschaften überlassen werden, während Abfall zur Verwertung (im Kern Gewerbeabfall, der verwertet werden kann) letztlich ein Wirtschaftsgut ist, das in der Verantwortung des Besitzers verwertet werden kann und muss

Vermeidung vor Verwertung vor Verbrennung – im Prinzip

  • Als Verwertung kommt eine stoffliche Verwertung (Recyceln) oder eine energetische Verwertung (Verbrennen) in Frage (SRU 1998: 178ff.). Zu den allgemeinen Anforderungen an die Verwertung gehören u.a. die ökologische Schadlosigkeit, die technische Möglichkeit und die wirtschaftliche Zumutbarkeit der Verwertung. Hier spielt u.a. eine Rolle, ob es Märkte für die Verwertung solcher Güter gibt. In der Regel werden die Abfälle dann von privaten Firmen verwertet. Die Frage, ob, nach welchen Kriterien und wie die Unterscheidung zwischen Abfall zur Beseitigung und Abfall zur Verwertung genau getroffen werden kann bzw. wird, kann hier nicht näher betrachtet werden. Sie ist aber von hoher politischer Relevanz, weil sie den Hebel im „Kampf um den Abfall“ darstellt: Während Firmen ihren Gewerbeabfall nach ökonomischen Kriterien (also möglichst gewinnbringend) verwerten wollen, sind die Kommunen daran interessiert, möglichst viel Müll für die Auslastung der kommunalen Anlagen zur Verfügung zu haben. Die Auslagerung von Abfall zur Verwertung und von bestimmten Produktabfällen aus dem Hausmüll führte teils zu einer Reduzierung der Abfallmengen (Webersinn 2018: 2), zugleich aber zur Entstehung großer Entsorgungsmärkte und damit auch zu Marktversagen; denn hier besteht besonders die Gefahr, dass „Abfälle auf der Suche nach der billigsten Entsorgung vagabundieren könnten“. Solcher “Mülltourismus“ führt wahrscheinlich zu Öko-Dumping, also zur Unterschreitung ökologischer Standards, um im Wettbewerb einen Vorteil zu erlagen

  • Eine der Folgen der Neuerung war, dass Gewerbeabfälle verstärkt energetisch (z.B. als Ersatzbrennstoff in Zementwerken) verwertet oder in Deponien entsorgt wurden. Dies erfolgte nach den Logiken des Marktes vorzugsweise dort, wo es günstig ist. Wenn Abfall zum Wirtschaftsgut wird, wird er zwangsläufig nicht nur innerhalb Deutschlands dorthin transportiert, wo Verwertung kostengünstig ist, sondern auch außerhalb Deutschlands. Auch hier können komparative Kostenvorteile u.a. auf niedrigere Umweltstandards zurückzuführen sein. Während also diese Art der Privatisierung des Abfalls zu einer Umgehung hoher Umweltstandards führen kann (z.B. auch Przybilla 2002: 20), argumentieren manche Autoren, dass es zudem mit dem Verzicht auf den abfallrechtlichen Anschlusszwang auch zu einem deutlichen Kontrollverlust der Kommunen komme, der illegale Entsorgungspraktiken begünstige. Die öffentlich-rechtlichen Entsorger, die die Abfallwirtschaft traditionell als Aufgabenfeld kommunaler Daseinsvorsorge betrachteten, sahen in der Auslagerung des Gewerbeabfalls aus ihrer Entsorgungsverantwortung einen massiven Angriff auf ihre abfallwirtschaftlichen Handlungsmöglichkeiten und befürchteten zudem Fehlentwicklungen bei der Steuerung der Abfallströme

  • Hatten seit den 1990er Jahren viele Kommunen auch die Durchführung verbleibender kommunaler Entsorgungsaufgaben, etwa die Müllabfuhr und die Betreibung von Verbrennungsanlagen, auf Private übertragen, so sind in den vergangenen Jahren insbesondere im Bereich der Müllabfuhr Tendenzen einer Rekommunalisierung (i.e. der Rückübertragung ehemals privatisierter kommunaler Dienstleistungen) zu beobachten. Nach einer Studie von Demuth et al. (2018) haben mehr als 1.000 lokale Gebietskörperschaften (8,5 % der untersuchten Städte und Gemeinden) bis 2009 und weitere ca. 500 (4,7 %) bis 2015 die kommunalen Abfallentsorgung rekommunalisiert. Sack schließt aus diesem und anderen Befunden, dass in der Abfallentsorgung inzwischen ein relevanter Trend zur Rekommunalisierung zu identifizieren ist. Zu den Triebkräften dieser Entwicklung gehört neben Kosten- und Qualitätserwägungen offenbar auch die Hoffnung, dass kommunale Unternehmen es mit sozialpolitischen Aspekten ihres Tuns sowie mit den Umweltauflagen genauer nehmen als private

  • Eine seit Sommer 2010 diskutierte umfassende Revision des Kreislaufwirtschaftsgesetzes zur Umsetzung der 2008 grundlegend überarbeiteten europäischen Abfallrahmenrichtlinie in deutsches Recht gelang erst im Oktober 2011. Das Gesetz beinhaltete die Etablierung der aus der EU stammenden neuen fünfstufigen Abfallhierarchie8 , die Einführung einer sogenannten Wertstofftonne (die bisherigen privaten Verpackungstonnen und die sonstige Wertstofferfassung zusammengeführt), die Einführung von Abfallvermeidungsprogrammen sowie ab 2020 einzuhaltende Verwertungs- und Recyclingquoten. Im November 2011 legte jedoch der Bundesrat ein Veto ein. Obwohl die gefundene Lösung bereits einen Kompromiss darstellte, dem die Kommunen zugestimmt hatten und den Teile der privaten Entsorgungswirtschaft sehr kritisch sahen, war nun die Länderkammer (insbesondere auf Initiative des Baden-Württembergischen Landkreistages, EUWID 44/2011: 1) der Auffassung, durch das Gesetz würden private Entsorger gegenüber kommunalen Betrieben bevorzugt. Die im Gesetz vorgesehene „ökologische Gleichwertigkeitsprüfung“, wonach private Entsorger dann den Zuschlag erhalten, falls sie eine „höherwertige“ Sammlung von Abfällen anbieten können, sollte aus dem Gesetz gestrichen werden. Befürchtet wurde eine Begünstigung des „Rosinenpickens“ durch gewerbliche Sammler. Während die SPD-geführten Länder hier als Fürsprecher der Kommunen auftraten, drohten privaten Entsorger nun, mit Hilfe des europäischen Rechts gegen eine mögliche Verschärfung der Regelung vorzugehen. Erst im Februar 2012 einigte man sich im Vermittlungsausschuss: die Kommunen setzten sich im Wesentlichen durch.


    Das Scheitern des Wertstoffgesetzes

  • Der Kampf um den Müll als Grundmuster der deutschen Abfallpolitik prägte auch die Auseinandersetzung um das sogenannte Wertstoffgesetz über einen Zeitraum von mehr als 10 Jahren. Ausgangspunkt dieses Prozesses war der Umstand, dass in Deutschland zwar schon verschiedenste Wertstoffe getrennt vom Hausmüll gesammelt wurden. Gleichwohl enthielt der in den Haushalten erfasste Restmüll noch immer Wertstoffe, welche stofflich verwertet werden könnten

  • 1). Eine Verbesserung der getrennten Sammlung galt als Voraussetzung, um die in Deutschland stagnierenden Recyclingquoten weiter zu steigern. Bereits 2007 war die Verpackungsverordnung mit § 6 Abs. 4 so geändert worden, dass die öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträger verlangen können, dass sogenannte stoffgleiche Nicht-Verpackungen gegen ein angemessenes Entgelt erfasst werden. 2009 hatte eine Arbeitsgruppe aus VertreterInnen der betroffenen Verbände ein „Positionspapier zu einer Neuordnung der Verpackungsentsorgung“ vorgelegt, welches eine Weiterentwicklung von der Verpackungs- zur Wertstoffentsorgung sowie die Einrichtung einer zentralen Stelle zur Wahrnehmung von Vollzugsaufgaben vorsah. Das 2012 verabschiedete Kreislaufwirtschaftsgesetz enthielt in § 14 Abs. 1 die Anforderung, „zum Zweck des ordnungsgemäßen, schadlosen und hochwertigen Recyclings […] Papier-, Metall-, Kunststoff- und Glasabfälle spätestens ab dem 1. Januar 2015 getrennt zu sammeln, soweit dies technisch möglich und wirtschaftlich zumutbar ist“. Das Mittel zu diesem Zweck stellt die „haushaltsnahe, umfassende Wertstofferfassung“ dar, zu welcher sich bemerkenswerterweise drei Bundesregierungen in den jeweiligen Koalitionsvereinbarungen bekannten, ohne diese legislativ realisieren zu können

  • Die Auseinandersetzung fand über mehrere Etappen statt, im Kern ging es immer wieder um die Kontroverse, ob bei der Ausdehnung der Produktverantwortung von Herstellern und Handel die Gesamtverantwortung in privater Hand (duale Systeme) oder im Wesentlichen in Verantwortung der öffentlich-rechtlichen Entsorger (mit verschiedensten Mischmodellen) wahrgenommen werden sollte – dies vor dem Hintergrund, dass jedenfalls die stoffgleiche Nichtverpackung – im Gegensatz zu den Verpackungen – bislang in die Obhut kommunaler Entsorger gehörte. Die Wirtschaft ebenso wie mehrere Bundesländer legten unterschiedliche Modelle vor. Vor allem private Entsorger und öffentlich-rechtliche Entsorger (und damit die Kommunen) standen sich mit ihren unvereinbaren Interessen an einem jeweils möglichst großen Einfluss auf den Müll diametral gegenüber. Beteiligt waren an diesen Prozessen aber auch die Länder (in verschiedenen Konstellationen), Industrie und Handel mit ihren Verbänden sowie auch das Bundeskartellamt und die Monopolkommission

  • 2015 legte das BMU einen ersten Entwurf für ein Wertstoffgesetz vor. Dieses sah einerseits eine Ausweitung der Aufgaben der dualen Systeme vor, andererseits aber (gegenüber der Verpackungsverordnung) eine verstärkte Mitsprache der öffentlich-rechtlichen Entsorger bei der Abstimmung der Sammlung. Trotz Bedenken der Monopolkommission sah der Entwurf eine zentrale Stelle für die Vergabe der Sammelleitungen vor, die jedoch über eine elektronische Vergabeplattform Transparenz gewährleisten sollte. Zudem war erstmals eine Kennzeichnungspflicht von Einwegverpackungen (am Regal) vorgesehen. Als sich im Januar 2016 der Bundesrat für ein Modell aussprach, das auf eine Rekommunalisierung der bisher privatwirtschaftlich organisierten Wertstofferfassung einschließlich Abschaffung der dualen Systeme hinauslief, wurde deutlich, dass die (für die Gesetzgebung notwendige) Zustimmung des Bundesrates nicht in Sicht war. Verschiedene Kompromissmodelle erwiesen sich ebenfalls als nicht mehrheitsfähig

  • Schließlich legte das BMU im Sommer 2016 einen Entwurf für ein Gesetz „über das Inverkehrbringen, die Rücknahme und die hochwertige Verwertung von Verpackungen“ (Verpackungsgesetz) vor, welches vor dem Hintergrund der zurückliegenden Konflikte nur eine „kleine Lösung“ auf der Basis des „kleinsten gemeinsamen Nenners“ darstellte und auch als Scheitern des Bundesumweltministeriums gedeutet wurde. Der Verzicht auf eine Regulierung der „stoffgleichen Nichtverpackung“ erschien als Voraussetzung, um in der 18. Wahlperiode zumindest für den Bereich der Verpackungen zu einer Neuregelung zu gelangen. Im Mai 2017 konnte das Gesetz verabschiedet werden, das zum 1.1.2019 in Kraft trat (und damit die Verpackungsverordnung ablöste) – eine Zustimmung des Bundesrats war nicht erforderlich.

  • Der Kern der Regelung ist, dass öffentlich-rechtliche Entsorger und duale Systeme Vereinbarungen treffen können, Nichtverpackungsabfälle aus Kunststoffen oder Metallen, die bei privaten Endverbrauchern anfallen, gemeinsam mit den Verpackungsabfällen durch eine einheitliche Wertstoffsammlung zu erfassen – dies war allerdings auch zuvor schon möglich. Außerdem wurden die zu erreichenden Recyclingquoten angehoben, für Kunststoffverpackungen von 36 % auf 58,5 % der lizenzierten Mengen ab 2019 und 63 % ab 2022. Zudem sollte von den Wirtschaftsbeteiligten eine zentrale Stelle eingerichtet werden, die wesentliche Aspekte des Vollzugs der Regelungen übernehmen wird. Zwar enthält das Gesetz auch eine Regelung, dass das Verpackungsvolumen auf ein Mindestmaß zu begrenzen ist. Diese Norm ist jedoch nicht bußgeldbewehrt. In § 21 sieht das Gesetz schließlich vor, dass die dualen Systeme bei der Festlegung der Lizenzentgelte auch ökologische Kriterien zu berücksichtigen haben. Die so gestalteten Entgelte sollen Hersteller dazu motivieren, bei der Herstellung von Verpackungen Materialen zu verwenden, die (teilweise) aus Rezyclaten oder nachwachsenden Rohstoffen bestehen oder zu einem hohen Prozentsatz recycelt werden können.

Plastikabfall als neues Thema

  • Ein relativ neues Thema der abfallpolitischen Diskussion und Regulierung stellt Plastikabfall dar, der in den letzten Jahren zunehmend als Problem erkannt wurde. Seit 1960 hat sich die weltweite Kunststoffproduktion verzwanzigfacht. 2015 wurden weltweit 332 Mio. t Kunststoff produziert, in den nächsten 20 Jahren ist mit einer Verdopplung zu rechnen (Europäische Kommission 2018a: 4). Allein auf dem deutschen Markt wurden 2017 21 Mio. t Kunststoffe verarbeitet, 3,5 Mio. t davon im Verpackungssektor. Neben dem Umstand, dass Kunststoffe überwiegend aus fossilen Rohstoffen hergestellt werden und ihre Herstellung Energie verbraucht, stellt uns vor allem die Entsorgung dieser Produkte vor soziale und ökologische Probleme, die zum Teil irreversibel sind und deren Größenordnung noch ungewiss ist. Die ökologischen Probleme wurden in den vergangenen Jahren zunehmend intensiv diskutiert (z.B. OECD 2018: 6ff.) und führten in Deutschland und der Europäischen Union zu einer erheblichen Dynamik in der Regulierung. Seit Anfang 2018 führte der chinesische Importstopp für deutschen (und anderen) Kunststoffabfall dazu, dass deutsche Entsorgungsfirmen den Kunststoffabfall – aus den dualen Systemen ebenso wie aus dem Gewerbeabfall – zunehmend in die kommunalen Müllverbrennungsanlagen geben. Diese sind bereits überausgelastet, und es droht eine „Müll-Krise“ (EUWID 2019a). Die zunehmende Verbrennung („thermische Verwertung“) rezyklierbarer Kunststoffe ist weder unter Klima- noch unter Ressourcengesichtspunkten sinnvoll

  • Aktionen der Umweltverbände und eine wachsende Medienberichterstattung lenkten die öffentliche Aufmerksamkeit insbesondere auf die ökologischen Folgen der Verschmutzung der Meere mit Plastikabfall. Dies war ein Aufhänger der Anfang 2018 vorgelegten europäischen Plastikstrategie, die gleichwohl noch einen starken Wirtschaftsfokus aufweist und vor allem eine Steigerung des Recyclings anstrebte, während das Ziel der Abfallvermeidung recht vage blieb (Europäische Kommission 2018a). Einen deutlich stärkeren Umweltfokus hatte die im Juni 2019 beschlossene EU-Richtlinie „über die Verringerung der Auswirkungen bestimmter Kunststoffprodukte auf die Umwelt“, die insbesondere für eine Reihe von Einwegprodukten aus Plastik sowie für Getränkebecher aus Styropor ein Verbot ab Juli 2021 und für Getränkebecher und bestimmte Lebensmittelverpackungen aus Plastik bis 2026 eine „ehrgeizige und dauerhafte“ Verbrauchsminderung vorschreibt.

  • Plastikverpackungen ebenso wie andere Einweg-Produkte werden direkt nach Gebrauch entsorgt. Damit erscheint das Verhältnis von besonders kurzem Nutzen zu den hunderten von Jahren, die das Produkt benötigen würde, um zu verrotten, besonders ungünstig . 2016 fielen in Deutschland im Durchschnitt 220,5 kg Verpackungsmüll pro Verbraucher an (UBA 2018). Geht es beim individuellen Konsum vor allem um Produktverpackungen (z. B. Dierks 2019) und To-go-Verpackungen (Istel 2018), so fällt umfangreicher Verpackungsabfall auch beim Gewerbe, z. B. dem Handwerk, an

  • Für die deutsche Abfallpolitik entsteht damit erheblicher Handlungsbedarf im Bereich der Vermeidung von Plastikabfall. Abfallvermeidung steht zwar theoretisch an oberster Stelle der „Abfallhierarchie“, weil sie sowohl ressourcenökonomisch als auch umweltpolitisch die sinnvollste Option darstellt. Aber seit der Etablierung des Vermeidungsgebots im Kreislaufabfallwirtschaftsgesetz von 1996 sind in Deutschland – auch im Vergleich zu anderen EU-Mitgliedstaaten (EEA 2019) – Politiken zur Vermeidung nur sehr langsam vorangekommen , was sich mit dem oben erwähnten Verpackungsgesetz nicht gravierend ändern dürfte. Das liegt zum einen daran, dass sowohl öffentliche als auch private Entsorger ein Interesse daran haben, dass genügend Müll anfällt, um Verbrennungsanlagen auszulasten und Geschäftsmodelle (wie den Export nach Asien) zu sichern (z. B. Der Spiegel 18.01.2019). Zum anderen ist Vermeidung, insbesondere in der immer noch technikorientierten deutschen Umwelt- und Abfallpolitik, schwierig zu instrumentieren. Das Bundesumweltministerium legte im November 2018 einen „Fünf-Punkte-Plan zur Reduzierung von Plastikmüll“ vor, in dem die Vermeidung von „überflüssigen Produkten und Verpackungen“ als erstes Ziel genannt wird

  • Alles in allem weist die Abfallpolitik gewisse Besonderheiten auf, sie hat aber auch bestimmte Merkmale, die für Umweltpolitik allgemein zu identifizieren sind: Die Wahrnehmung, was eigentlich das Problem ist, hat sich in den vergangenen 50 Jahren enorm gewandelt. Dabei haben manche abfallpolitischen Diskussionen einen Zündstoff entwickelt, der alleine mit den damit verbundenen wirtschaftlichen Interessen und ökologischen Problemen nicht vollständig zu erklären ist – man denke an die Regulierung der Getränkeverpackung. Der politische Regelungsansatz hat sich entsprechend dieser gewandelten Problemwahrnehmung von technikorientierten End-of-the-pipe-Regulierungen hin zu umfassenden Ansätzen verlagert, die bereits beim Produktdesign ansetzen sollen. Bis zu einer ernsthaften Politik der Abfallvermeidung ist es aber immer noch ein weiter Weg.

  • Seit den 1980er Jahren ist die Abfallpolitik zudem einer enormen Europäisierung unterworfen. Heutzutage gibt es keine Abfallbereiche mehr, die nicht europäisch reguliert sind. Im Zuge dieser Entwicklung hat sich die Zuständigkeit für den Abfall aufgeteilt, für viele Abfallsorten sind jetzt Private und nicht mehr die kommunalen Entsorger zuständig, womit die Entsorgungsbranche heute zu einer wichtigen Wirtschaftsbranche geworden ist. Litt man in den Kommunen in den 1970er Jahren noch unter dem Müllnotstand (i.e. zu viel Abfall), so kam es später zu einem „Kampf um den Müll“ (i.e. zu wenig Abfall, um teure Verbrennungsanlagen wirtschaftlich betreiben zu können). Inzwischen sind viele Müllverbrennungsanlagen wieder gut ausgelastet (s.o.), was an der ökologisch nicht idealen Verbrennung von Kunststoffen liegt


Klimapolitik


  • Klimapolitik umfasst Maßnahmen, deren Ziel es ist, den Klimawandel aufzuhalten oder abzumildern (Klimaschutz oder Mitigation), und solche Maßnahmen, deren Ziel es ist, Anpassungsprozesse an die als unausweichlich angesehenen Klimaänderungen zu unterstützen (Anpassung oder Adaptation).9 Das Klima beeinflusst die Lebensbedingungen und Ökosysteme auf der Erde und ist dabei von einer Vielzahl von Faktoren und ihrem Zusammenwirken bestimmt, die noch nicht alle hinreichend erforscht sind bzw. deren Erforschung nach wie vor mit wissenschaftlicher Unsicherheit einhergeht. Generell muss zunächst zwischen dem Begriff des Wetters und des Klimas unterschieden werden: während es beim Wetter um physikalische Zustände der Atmosphäre zu einem bestimmten Zeitpunkt und in einem bestimmten Gebiet geht, geht es beim Klima um längere Zeiträume von mindestens 30 Jahren und die in diesem Zeitraum auftretenden Wettererscheinungen, die durch statistische Gesamteigenschaften repräsentiert werden (Simonis 2017: 37).

  • Klimawandel bedeutet dabei zunächst eine Änderung des Zustandes des Klimas, welche über längere Zeiträume hinweg Bestand hat und statistisch erfasst werden kann. Diese Änderung kann auf natürliche Ursachen zurückzuführen sein oder durch menschliche Aktivitäten hervorgerufen werden. Der Klimawandel stellt dabei einen kontinuierlichen Prozess dar, den es schon immer gab. Allerdings haben menschliche Einflüsse in einem von den meisten Wissenschaftlern als bedrohlich eingeschätzten Maß auf das Klima zugenommen. Dabei wurde bereits in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erkannt, dass eine Erhöhung der CO2-Konzentration in der Erdatmosphäre vermutlich zu einer Erhöhung der globalen Temperatur führt. Spätestens seit den 1980er Jahren schließlich hat sich die These eines anthropogen erzeugten (menschengemachten) Klimawandels weitgehend durchgesetzt (Simonis 2017: 52 ff.). 2019 gab die WMO (Weltorganisation für Meteorologie) bekannt, dass die letzten vier Jahre (2015-2018) die wärmsten Jahre seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1850 waren. Sie wertet dies als klares Zeichen für die Folgen des anthropogen erzeugten Klimawandels und der mit ihm einhergehenden gestiegenen Konzentration an Treibhausgasen in der Erdatmosphäre

  • Kernproblem des anthropogen erzeugten Klimawandels ist der sogenannte Treibhauseffekt. Dabei verändert sich die Zusammensetzung der Erdatmosphäre in Bezug auf die Mengen und jeweiligen Anteile der relevanten Treibhausgase (THG) Wasserdampf, Kohlenstoffdioxid (CO2), Methan (CH4), Ozon (03) und Distickstoffmonoxid (Lachgas) (N2O) entscheidend. Während eine Erde völlig ohne Treibhauseffekt für den Menschen unbewohnbar wäre, führt ein Anstieg der verschiedenen THG in der Erdatmosphäre zu einem stärkeren Treibhauseffekt mit der Folge einer globalen Erwärmung. Als Hauptgrund für die globale Erwärmung und die Zunahme des Treibhauseffektes wird gesehen, dass mit der Industrialisierung der menschliche Verbrauch fossiler Brennstoffe anstieg, so dass es zu einer gesteigerten Emission von treibhausrelevanten Gasen in die Erdatmosphäre kam. Als direkte Folgen des Klimawandels gelten die globale Erwärmung, mit der größere Temperaturschwankungen und häufiger auftretende Wetterextreme einhergehen. Weitere Folgen sind dann Änderungen der Meeresströmungen, Rückgang des polaren Meereises und Tauen des Permafrostes sowie starke Niederschläge und das Ansteigen des Meeresspiegels. Solche klimawandelbedingten Änderungen wirken sich auf die Ökosysteme aus, haben Konsequenzen für die landwirtschaftliche Produktion und die Sicherung der Ernährung der Menschheit und können zudem die Ausbreitung von Krankheiten beeinflussen

  • Prognosen des IPCC gehen z.B. davon aus, dass in den nächsten 100 Jahren der Meeresspiegel im Mittel um ca. 50 cm ansteigen wird (IPCC 2001; Latif 2008: 164; Rahmstorf/Schellnhuber 2018: 61 ff.). Als Folge aus den Erkenntnissen über den Klimawandel und seine Folgen entstand schrittweise die Klimapolitik. Mittlerweile stellt für manche Beobachter der Klimawandel sogar „das politische Hauptthema schlechthin“ dar. Aufgrund der vielgestaltigen Auswirkungen des Klimawandels auf verschiedene Sektoren geht Klimapolitik über Umweltpolitik deutlich hinaus. Klimaschutzaspekte werden in verschiedenen Politikfeldern und politischen Ressorts diskutiert, so auch in der Agrar-, Forst-, Verkehrs-, Bau- und Wirtschaftspolitik. Des Weiteren ist der Klimawandel ein globales Problem, das durch nationale oder regionale Maßnahmen alleine nicht in den Griff zu bekommen ist. Daher ist die deutsche Klimapolitik (mehr noch als andere Sub-Politiken der Umweltpolitik) eingebettet in die internationale Politik.

Internationale Klimapolitik: Vom Kyoto-Protokoll zum Pariser Abkommen

  • Mit der ersten Weltklimakonferenz 1979 in Genf begann die internationale Klimapolitik. Auf der Torontokonferenz 1988 kamen erstmals WissenschaftlerInnen mit RegierungsvertreterInnen aus aller Welt zusammen, um über den Klimaschutz zu diskutieren. Dabei verpflichteten sich bereits einige Industrieländer, ihren Kohlendioxidausstoß auf freiwilliger Basis um 20 % bis 2005 zu senken. 1988 wurde zudem von der Weltorganisation für Meteorologie (WMO) in Kooperation mit dem Umweltprogramm der Vereinten Nationen (UNEP) ein Weltklimarat als internationales Beratungsgremium gegründet: der IPCC (Intergovernmental Panel of Climate Change), der „Zwischenstaatliche Ausschuss für Klimaänderungen“.

  • Der IPCC soll den Stand der Forschung zum Treibhauseffekt, zu seinen beobachteten und projizierten Auswirkungen und zu den politischen Reaktionsmöglichkeiten (Anpassungs- und Minderungsoptionen) umfassend, objektiv, offen und transparent zusammentragen und bewerten. Der IPCC legte seinen ersten Bericht 1990 und seitdem vier weitere Berichte, den neuesten „fünften Sachstandsbericht“ 2014, vor. Der sechste Sachstandsbericht soll bis 2022 fertiggestellt sein. Dazu kommen verschiedene Sonderberichte, der jüngste 2019 galt dem Thema „Klimawandel und Landsysteme“ (IPCC 2019). Auch wenn der IPCC vielfach für seine Aussagen und Prognosen sowohl von politischen Akteuren als auch von WissenschaftlerInnen kritisiert wurde ), stellen seine Berichte eine der wichtigsten Informationsquellen dar, um sich über den aktuellen wissenschaftlichen Stand zum Klimawandel und dessen Folgen zu informieren

  • Auf Grundlage des ersten IPCC-Berichtes wurde seit 1990 über eine UN-Klimarahmenkonvention verhandelt. Diese lag auf der UN-Konferenz für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro („Erdgipfel“) zur Zeichnung aus und trat 1994 in Kraft (Wesel 2012: 277). Die erste sogenannte Vertragsstaatenkonferenz (Conference of the Parties – COP) 1995 in Berlin erachtete die Klimarahmenkonvention als nicht ausreichend und forderte die Aushandlung eines Protokolls mit Verpflichtungen der Industrieländer zur Minderung ihrer Treibhausgasemissionen. Nach dem zweiten Bericht des IPCC und der zweiten Vertragsstaatenkonferenz 1996 in Wien wurde 1997 in Kyoto (Japan) das Kyoto-Protokoll beschlossen. Die folgenden Vertragsstaatenkonferenzen dienten der weiteren Ausgestaltung und Konkretisierung des Kyoto-Protokolls. Insbesondere durch eine deutsche Initiative konnte Russland 2004 dazu bewegt werden, das Protokoll zu ratifizieren, so dass das Kyoto-Protokoll 2005 völkerrechtlich in Kraft trat. Dabei sollte das Kyoto-Protokoll bis 2012 gelten

  • Die Konditionen der Ratifizierung besagten, dass das Protokoll zum einen von mindestens 55 Staaten unterzeichnet werden muss, zum anderen müssen die Industrie- und Schwellenländer unter den unterzeichnenden Staaten für mindestens 55 % der Emissionen von 1990 verantwortlich sein. Formal stellt das Kyoto-Protokoll ein Zusatzprotokoll zur Ausgestaltung der Klimarahmenkonvention dar, mit dem sich zunächst 38 Industrie- und Transformationsstaaten verpflichteten, die Emissionen von sechs anthropogenen Treibhausgasen von 2008 bis 2012 auf durchschnittlich 5,2 % unter das Niveau von 1990 zu senken. Das Kyoto-Protokoll legte also konkrete Emissionsminderungsziele fest. Das Kyoto-Protokoll stellt einen wichtigen Schritt in Richtung einer globalen Klimapolitik dar, da erstmals völkerrechtlich verbindliche Zielwerte für den Ausstoß von Treibhausgasen in den Industrieländern festgelegt wurden. Es enthält aber keinen Sanktionsmechanismus für den Fall der Nichteinhaltung der Reduktionsziele. Zudem galt es zunächst nur bis 2012, und die USA ratifizierten als einziges Industrieland und als größter Emittent von Treibhausgasen das Protokoll nicht. Außerdem wurden weder Entwicklungs- noch Schwellenländer wie China als zweitgrößter Emittent nach den USA einbezogen. Überdies konnten die meisten Vertragsstaaten ihre Reduktionspflichten nicht erfüllen. Aus Sicht der KlimaforscherInnen stellte das Kyoto-Protokoll vor allem einen Vertrag mit symbolischem Wert bzw. einen ersten „Grundstein in einer Gesamtarchitektur für den Klimaschutz unter dem Dach der VN (Vereinten Nationen, MB/AET)“ dar.

  • Ein wichtiger Meilenstein der internationalen Klimadiplomatie war, dass auf der Weltklimakonferenz 2010 in Cancun, Mexiko, mehr als 190 Staaten erklärten, dass es anzustreben sei, die globale Erwärmung auf maximal zwei Grad zu begrenzen. Dieses politisch gesetzte, stark symbolträchtige „Zwei-Grad-Ziel“ besagt, dass die Erderwärmung langfristig auf maximal „zwei Grad Celsius (2 °C) über der globalen Mitteltemperatur vor der Industrialisierung beschränkt werden soll“ . Über dieses klimapolitische Ziel, dessen wachsende internationale Akzeptanz maßgeblich von der Europäischen Union und auch von Deutschland (durch Kanzlerin Merkel im Rahmen der G8-Gipfel in Heiligendamm 2007 und in L'Aquila 2009) vorangetrieben wurde, herrscht zwischen Politik und vielen Wissenschaftlern weitgehend Einigkeit.

  • „Die 2-Grad-Grenze ist seither immer wieder durch verschiedene Gremien bestätigt worden und liefert somit den Fluchtpunkt aller europäischen Klimaschutzstrategien schlechthin.“ Es muss aber betont werden, dass es sich bei diesem Ziel nicht um eine wissenschaftlich bestätigte Größe handelt. Vielmehr sind die zwei Grad normativ im Sinne einer Leitplanke, eines politischen Ziels, gesetzt worden, während wissenschaftliche Studien davon ausgehen, dass es bereits zwischen 1,5 und zwei Grad Erderwärmung bestimmte Kipppunkte überschritten würden. Deshalb ist heute auch vielfach vom 1,5-Grad-Ziel die Rede, wenn es um die globale Klimapolitik geht. So hat z.B. der IPCC 2018 einen Sonderbericht zum 1,5-Grad-Ziel vorgelegt, in dem das Beratungsgremium darauf aufmerksam macht, dass eine Begrenzung der Erderwärmung auf maximal 1,5 Grad aufgrund möglicher Gefahren notwendig sei und dass dieses Ziel auch tatsächlich erreicht werden könne, sofern entsprechende politische Anstrengungen bei Klimaschutz und Klimaanpassung unternommen würden

  • Um das Zwei-Grad-Ziel zu erreichen, müssten laut verschiedenen Studien bis 2050 die globalen Treibhausgasemissionen um 50 % gesenkt werden (Meinshausen et al. 2009). Die Industrieländer hätten ihre Emissionen sogar bis 2050 um 80 % zu senken (Gabriel 2009). Obwohl die wachsende Anzahl der Staaten, die sich zum Zwei-Grad-Ziel bekennen, als aus klimapolitisch symbolischer Sicht bemerkenswert angesehen werden muss, konnten jedoch lange keine völkerrechtlich verbindlichen klimapolitischen Maßnahmen als Post-Kyoto-Regelungen verabschiedet werden. Man einigte sich zunächst auf einen Zeitplan für einen weltweiten Klimavertrag als Kyoto-Nachfolge (Ehrenfeld 2012: 3). Auf der 18. Vertragsstaatenkonferenz (COP 18) 2012 in Katar wurde schließlich das Kyoto-Protokoll bis 2020 verlängert. Die zweite Verpflichtungsrunde 2013-2020 sah u.a. vor, dass die Europäische Union ihre Emissionen um 20 % gegenüber 1990 senken sollte (BMU 2017), und sicherstellen sollte, dass trotz einer ausbleibenden Einigung auf eine Post-Kyoto Klimaschutzarchitektur wenigstens die existierende Klimapolitik Bestand hat. Allerdings hatte bereits 2011 Kanada einen Tag nach der Klimakonferenz in Durban seinen Austritt aus dem Kyoto-Protokoll erklärt (FR online vom 12.12.2011) und mit Russland und Japan hatten wichtige Industrieländer eine Teilnahme an der zweiten Verpflichtungsrunde abgelehnt

  • Kritiker verweisen deshalb zu Recht darauf, dass aufgrund der ablehnenden Haltung wichtiger Industrieländer das Kyoto2-Abkommen nur noch ca. 15 % des weltweiten CO2-Ausstoßes mit Reduktionspflichten belegte (Wille 2011), was angesichts der Dramatik des Klimawandels mit seinen verheerenden ökologischen und auch ökonomischen Folgen enttäuschend sei. Immerhin jedoch einigten sich die Vertragsstaaten überhaupt darauf, das Kyoto-Protokoll weiterzuführen, solange keine Nachfolgeregelung in Sicht ist

  • Diese jahrelang verhandelte, notwendige Nachfolgeregelung zum Kyoto-Protokoll wurde dann 2015 auf der Pariser Klimakonferenz (COP 21) Wirklichkeit. Mit dem „Pariser Klimaabkommen“ einigte sich die Gemeinschaft der 197 Staaten der UN-Klimarahmenkonvention darauf, Maßnahmen zu ergreifen, damit die Erderwärmung auf weniger als 2 Grad als Mindestziel gegenüber dem vorindustriellen Zeitalter begrenzt wird (UNFCC 2015). Es soll darüber hinaus sogar das 1,5-Gradziel angestrebt werden (Berger et al. 2016). Die „Leitplanke“ von zwei Grad, die lange zuvor von vielen Wissenschaftlern und Politikern als Ziel vertreten wurde, ist seit dem Pariser Klimaabkommen nun Bestandteil der verbindlichen globalen Klimaarchitektur und „völkerrechtlich bestätigt“ . Das Pariser Klimaabkommen trat am 4. November 2016 in Kraft, nachdem von den 197 Vertragsstaaten mindestens 55 Länder, die für mindestens 55 % der globalen Emissionen verantwortlich sind, den Vertrag ratifiziert hatten (BMUB 2016a). 11 Die vereinbarten Maßnahmen im Rahmen des Pariser Abkommens gelten ab 2020.

  • Allerdings gibt es zwischen dem Kyoto-Protokoll und dem Pariser Abkommen, das sogar von China und zunächst auch von den USA ratifiziert wurde und welches sowohl die entwickelten als auch die Schwellen- und Entwicklungsländer einbezieht, sehr große Unterschiede. War das Kyoto-Protokoll noch von der Vorstellung konkreter global verbindlicher multilateraler Emissionsminderungsziele „unter einem Dach“, denen sich die Nationalstaaten unterordnen, geprägt, wählt das Pariser Klimaabkommen, nicht zuletzt wegen der enttäuschenden Erfolgsbilanz des Kyoto-Protokolls, einen völlig anderen Ansatz: Hier verpflichten sich die Vertragsstaaten nicht mehr auf konkret einzuhaltende vertraglich fixierte Emissionsminderungsziele, sondern darauf, jeweils eigene Anstrengungen zu unternehmen, die einen Beitrag zur Erreichung des Zwei- bzw. 1,5-Gradziels der UN leisten.12 Die im Pariser Klimaabkommen zentralen konkreten nationalen Maßnahmen und Emissionsminderungen erfolgen aber auf freiwilliger Basis und werden in den sogenannten NDCs (nationally determined contributions) festgeschrieben, die als jeweilige Beiträge zur Erfüllung der Vorgaben des Pariser Klimaabkommens gelten. Rahmstorf und Schellnhuber fassen die Philosophie der neuen Klimapolitikarchitektur zutreffend einprägsam zusammen: „Wir beschließen alle gemeinsam, dass jeder selbst beschließt, welchen Beitrag er zum Vorhaben Weltrettung beitragen möchte“ . Deutschland z.B. hat dafür seinen nationalen Klimaschutzplan 2050 erstellt, der entsprechend des Pariser Abkommens als Deutschlands NDC gilt. Insgesamt heißt das, dass es ein unveränderliches Kernprotokoll gibt, das von den Staaten jeweils ratifiziert wurde, und zudem einen Anhang, in dem die verschiedenen klimapolitischen Beiträge der einzelnen Vertragspartner, eingebracht werden (s. Abb. 2). Diese NDCs verstehen sich als flexibel und sollen alle fünf Jahre durch strengere Ziele ersetzt werden. Zudem wurden Monitoring-Maßnahmen vereinbart, die ab 2023 alle fünf Jahre wiederholt werden sollen. Das Pariser Klimaabkommen stellt also eine Kombination zwischen nationalen Selbstverpflichtungen und internationalen Berichtspflichten dar

  • Die folgenden Klimakonferenzen seit 2016 (COP 22 in Marrakesch, Marokko; COP 23 in Bonn – ausgerichtet von den Fidschi-Inseln – und COP 24 in Katowice, Polen) widmeten sich dann vor allem der technisch-praktischen Umsetzung und vielen weiteren Details der im Pariser Klimaabkommen vereinbarten Maßnahmen, u.a. der weiteren Ausgestaltung des Grünen Klimafonds (Green Climate Fund), der bereits als Ergebnis der Klimakonferenz in Cancun 2010 gegründet wurde, um Klimaprojekte in Entwicklungsländern zu finanzieren.13 Ziel ist hier, dass der Fonds mit jährlich 100 Mrd. US-Dollar wieder befüllt wird (Der Tagesspiegel v. 16.06.2019). Deutschland hat sich hier 2018 dazu verpflichtet, 1,5 Mrd. Euro für die Wiederbefüllung bereitzustellen. Dennoch war der Fonds mit einem Volumen von – laut Bundesregierung – 7,3 Mrd. US-Dollar 2018 noch weit von den Zielen der UN entfernt.

  • In der Bewertung des Pariser Klimaabkommens wird u.a. betont, dass die im Protokollanhang enthaltenen einzelnen Beiträge der Staaten „wenig ambitioniert und rechtlich wenig verbindlich“ seien, während das im Protokoll selbst festgelegte 2-Grad-Ziel hingegen als ambitioniert und rechtlich verbindlich gelten kann. Rahmstorf und Schellnhuber sind der Auffassung, dass man nicht ernsthaft annehmen könne, dass eine „notwendige Dekarbonisierung der Weltwirtschaft“ mit den im Pariser Klimaabkommen vereinbarten freiwilligen Maßnahmen erreicht werden könne. Weimann (2016) vertritt die Auffassung, dass nur eine einheitliche globale CO2-Bepreisung für einen erfolgreichen Klimaschutz sorgen könne und dass dies so ziemlich das „genaue Gegenteil einer nationalen Klimapolitik, bei der jedes einzelne Land seine eigenen Reduktionsziele definiert und selbstständig umsetzt“ sei – „und genau solch eine Politik ist in Paris festgeschrieben worden.“ (Weimann 2016: 3). Harnisch und Tosun weisen darauf hin, dass mit dem Pariser Klimaabkommen ein „horizontaler Koordinierungsmechanismus“ etabliert worden sei, der zu einer variantenreichen Vielzahl an klimapolitischen Alternativen führen könne und dabei „klimapolitische Innovationen“ sowie „Politiklernen zwischen den Staaten“ entstehen könnte . Unabhängig, ob man eher einer positiven oder kritischen Einschätzung folgt: Entscheidend für den Erfolg des Pariser Klimaabkommens ist, dass dessen eher unverbindlichen und wenig konkretisierten Beschlüsse sukzessive konkretisiert werden und die Umsetzung der NDC durch einheitliche Standards evaluiert und begleitet wird

  • Das Pariser Klimaabkommen ist letztendlich Spiegel der Probleme, eine international abgestimmte globale Klimapolitik zu etablieren. Das Kyoto-Protokoll hat gezeigt, dass es aufgrund nationaler Interessen (noch) unmöglich zu sein scheint, auf der Basis globaler Kollektivgutprobleme eine einheitliche politische Lösung zu finden, die tief in nationale Souveränitäten eingreift und diese zugunsten übergreifender Probleme und Lösungen in Frage stellt . Auch notwendige Sanktionsmechanismen konnten nicht vereinbart werden. So waren es insbesondere die „Interessengegensätze zwischen Staatengruppen und der mangelnde politische Wille in den Staaten mit den höchsten Emissionen“ wie den USA entscheidend dafür, dass die Bilanz des Kyoto-Protokolls ernüchternd war. Aufgrund dessen wurde mit dem Pariser Abkommen von der Vorstellung Abschied genommen, es könnte eine einheitliche globale Klimapolitik mit konkreten und für alle Staaten verbindlichen Emissionsminderungszielen für die Zeit nach 2020 einvernehmlich auf Zustimmung stoßen – vielmehr wurde der internationalen klimapolitischen Realität Tribut gezollt, indem der unbestreitbare politische Erfolg, überhaupt ein neues Klimaregime etablieren zu können, damit erkauft wurde, dass die konkreten Maßnahmen der einzelnen Staaten und Staatengruppen auf freiwilliger Basis erfolgen.

  • Entscheidend für die Zukunft des Pariser Abkommens wird also sein, wie ernst es die Staaten mit ihren klimapolitischen Maßnahmen meinen und wie diese nach gemeinsam beschlossenen und akzeptierten Standards unabhängig evaluiert und fortgeschrieben werden. Für die deutsche Klimapolitik erfordert dies, dass die in den NDC gegenüber der UN gemachten klimapolitischen Versprechungen auch mit entsprechenden wirksamen klima- und umweltpolitischen Instrumenten und Maßnahmen in die Praxis umgesetzt werden.


Entwicklung der europäischen und deutschen Klimapolitik bis zu Beginn der 2000er Jahre


  • Die Europäische Union galt innerhalb des internationalen Klimaregimes lange als Vorreiterin (Weber 2008: 74). Im Rahmen der Erfüllung des Kyoto-Protokolls wurde innerhalb der EU 2002 ein 8 %-Reduktionsziel für die Emissionen der sechs wichtigsten Treibhausgase vereinbart, allerdings wurde dabei EU-intern das sogenannte „Burden-Sharing“ mit national unterschiedlichen Reduktionszielen beschlossen. Gemäß EU-Ratsentscheidung 2002/358/EG wurde für jeden der Mitgliedsstaaten ein eigenes Reduktionsziel festgelegt (Weber 2008: 74). Deutschland hatte sich damals z.B. dazu verpflichtet, seine Emissionen gegenüber 1990 um 21 % zu verringern, Großbritannien um 12,5 %. Im Rahmen des Pariser Klimaabkommens beabsichtigt die EU, bis 2030 ihre Treibhausgasemissionen um 40 % gegenüber 1990 zu senken (Deutscher Bundestag 2018: 7). Die EU ratifizierte das Pariser Klimaprotokoll am 5. Oktober 2016

  • Der Beginn der deutschen Klimapolitik ist bereits Mitte/Ende der 1980er Jahre zu verorten. 1990 war Deutschland für immerhin 33 % der in der EG anfallenden CO2-Emissionen verantwortlich. Bereits seit Ende der 1980er Jahre dachte man in Deutschland daher über Strategien zur Minderung der CO2-Emissionen nach. 1987 wurde im Deutschen Bundestag die Enquete-Kommission „Vorsorge zum Schutz der Erdatmosphäre“ eingesetzt, die bis 1990 ihren dritten Bericht vorlegte, der u. a. Handlungsempfehlungen zur Emissionsminderung von treibhausrelevanten Gasen formulierte. In der 12. Wahlperiode wurde diese Enquete-Kommission unter dem Namen „Schutz der Erdatmosphäre“ fortgeführt. Diese übergab 1992 ihren ersten Bericht und 1994 ihren Schlussbericht, der den damaligen wissenschaftlichen Sachstand zur anthropogenen Beeinflussung des Klimas, die Möglichkeiten zur Minderung von Treibhausgasen in der Bundesrepublik sowie Instrumente und Strategien der Klimaschutzpolitik beschreibt. Die Berichte der Enquete-Kommissionen halfen damals mit, das Wissen über Klimaveränderungen und Klimapolitik in der deutschen Politik und der interessierten Öffentlichkeit zu steigern. Die Arbeiten und Berichte dieser Enquete-Kommissionen gelten heute als Meilensteine der deutschen Klimapolitik, die die weiteren klimapolitischen Diskussionen nachhaltig beeinflussten und für einen parteiübergreifenden im Prinzip bis heute (abgesehen von der AfD) gültigen Grundkonsens in der Klimapolitik sorgten. Die Einzelmaßnahmen des auf der Basis der Empfehlungen der Enquete-Kommission beschlossenen Klimaschutzprogramms wurden damals nahezu alle einvernehmlich von den Bundestagsfraktionen beschlossen

  • Zunächst unabhängig von der europäischen und internationalen Politikentwicklung formulierte die Bundesregierung 1990 das politische Ziel, den CO2-Ausstoß bis 2005 gegenüber 1987 um 25 % zu senken . Diese mit einem hohen Anspruch verbundene nationale Verpflichtung und die international sehr beachteten Auftritte deutscher Umweltminister und Bundeskanzler im Rahmen internationaler Verhandlungen sorgten dafür, dass für viele Beobachter Deutschland in der internationalen Klimapolitik „von Beginn an eine stimulierende, vorwärts treibende Rolle“ spielte und heute als klimapolitischer Pionier gilt

  • Zu dem Reduktionsziel gehörte zunächst ein umfassendes Gesamtkonzept zur Verminderung der energiebedingten CO2-Emissionen, in dem, so der damalige Umweltminister Töpfer, ökonomische Instrumente Vorrang haben sollten. Bereits Anfang der 1990er Jahre wurde eine CO2-Abgabe diskutiert, deren Einführung jedoch angesichts der angespannten wirtschaftlichen Situation und aufgrund des Widerstands der Industrie scheiterte. Auch eine sogenannte Wärmenutzungsverordnung, die die Nutzung „entstehender Wärme“ zu einer Grundpflicht für Betreiber genehmigungsbedürftiger Anlagen machen sollte, scheiterte schließlich am Widerstand der Industrie.

  • Im Vorfeld der in Berlin stattfindenden ersten Vertragsstaatenkonferenz der Klimarahmenkonvention im Frühjahr 1995 verpflichtete sich die Bundesregierung unter Helmut Kohl Anfang 1995 sehr ehrgeizig zu einer Reduzierung der CO2-Emissionen um 25 % gegenüber 1990 (SRU 2002: 334), kündigte einen ganzen Katalog von Maßnahmen zum Klimaschutz an und forderte von den Wirtschaftsverbänden eine Selbstverpflichtung zur Reduktion der CO2-Emissionen. Für die Bundesregierung als Gastgeberin der Vertragsstaatenkonferenz bestand großer Bedarf an öffentlichkeitswirksamen nationalen Maßnahmen zur CO2-Reduktion. Im März 1995, kurz vor der internationalen Klimakonferenz in Berlin, legten der BDI und weitere Wirtschaftsverbände ein Angebot für eine Selbstverpflichtung vor. Demnach erklärten diese sich für ihre Mitglieder bereit, den spezifischen Ausstoß von CO2 bis 2005 gegenüber 1987 um bis zu 20 % zu verringern. Die „bis zu“ 20 %-Reduktion solle durch „besondere Anstrengungen“ der Wirtschaft erreicht werden. Die Bundesregierung erklärte sich in Reaktion auf dieses Angebot bereit, „ordnungsrechtliche Maßnahmen, wie beispielsweise die Wärmenutzungsverordnung, einstweilen zurückzustellen und Privatinitiativen den Vorrang zu geben“. Die damalige Umweltministerin Merkel betonte aber, dass die Bundesregierung ihre weiteren Verordnungspläne von der Zielerreichung abhängig mache.

  • In der Presse wurde die Vereinbarung als Niederlage der Klimapolitik kritisiert. Die Regierung sei auf ein „leeres Versprechen der Industrie“ hereingefallen (Die Zeit 17.03.1995). Im März 1996 wurde eine „aktualisierte Version“ der Erklärung vorgelegt, die die erste Version nach Bekunden des BDI „erheblich verbessert“. Tatsächlich wurde die 1995er Erklärung in einigen Punkten präzisiert, das Basisjahr für die meisten Branchen auf 1990 umgestellt, und vier weitere BDI-Verbände waren nun beteiligt. Auch war nun ein jährliches Monitoring durch das RWI vorgesehen

  • In der wissenschaftlichen Analyse überwog weiterhin Skepsis in der Bewertung der Klimaerklärung. Die Kritik galt einerseits der mit der Handlungsform verbundenen fehlenden Rechtsverbindlichkeit und dem Fehlen von Sanktionsmechanismen für den Fall der Zielverfehlung (SRU 2002: 349). Andererseits wurden die substanziellen Ziele der Vereinbarung kritisiert, insbesondere, dass sich die Reduktionsziele lediglich an den spezifischen Emissionen orientierten), so dass die erreichten Emissionsminderungen im Fall wirtschaftlichen Wachstums weitgehend oder vollständig kompensiert und die absoluten Emissionen damit konstant bleiben würden, was für den Klimaschutz kein Gewinn sei

  • Tatsächlich seien die Ziele in einigen Bereichen schon bei der Abgabe der Erklärung erfüllt gewesen, und zwar vor allem durch die Rationalisierungsprozesse in Folge der deutschen Einheit. Daher dränge sich die Vermutung auf, dass der Bundesregierung im Rahmen der Klimaschutzvereinbarung von der Industrie nur solche Emissionsreduktionen zugesagt wurden, die sich ohnehin aus den längerfristigen Investitionsplanungen bzw. aus den vereinigungsbedingten Stilllegungen von Anlagen ergäben. Die Klimaerklärung leiste daher „keinen wesentlichen Beitrag zur Erreichung des Klimaschutzziels“. Trotz der Kritik wurde die Vereinbarung 2000 angepasst und erneuert.

  • 1992 veröffentlichte die EG-Kommission einen Vorschlag für eine kombinierte Energie- und Kohlendioxidsteuer (Hey 1994: 73 f.), mit deren Hilfe der Energiegehalt und die CO2-Emissionen zu besteuernder Stoffe mit europaweit einheitlichen Steuersätzen belegt werden sollten, um Anreize zu schaffen, CO2 einzusparen und das Klimaschutzziel der EU zu erreichen. Diese Vorschläge für eine EU-weite CO2-/Energiesteuer konnten damals nicht verwirklicht werden, da für eine Verabschiedung eine einstimmige Ministerratsentscheidung nötig war, einige Länder jedoch versuchten, Abschwächungen der Richtlinie durchzusetzen oder die Steuer ganz zu verhindern. Ein im Frühjahr 1995 vorgelegter, geänderter Vorschlag für eine europäische CO2-/Energiesteuerrichtlinie sah vor, dass Mitgliedsländer bis zum Jahr 2000 auf freiwilliger Basis die entsprechende Steuer einführen können, bevor im nächsten Jahrtausend die Steuern für alle EU-Länder verbindlich wären. Die Umweltsteuerdiskussion auf EU-Ebene scheiterte in den 1990er Jahren durch unterschiedliche Interessen der Mitgliedsländer und den Einfluss wichtiger Industrielobbies. Erst 2003 gelang es durch die Verabschiedung einer europäischen Energiesteuerrichtlinie, eine Harmonisierung der EU-Energiesteuern durchzusetzen. Diese Richtlinie schreibt vor, dass grundsätzlich auf alle Energieträger Mindeststeuersätze erhoben werden müssen. Neu dabei ist die Festlegung von Mindeststeuersätzen auf Strom, Erdgas und Kohle

  • Im Zuge der europäischen Diskussion intensivierte sich in Deutschland die Diskussion um die Einführung einer solchen „Ökosteuer“ seit Beginn der 1990er Jahre. Nachdem der erste Anlauf zu einer CO2-Abgabe mit der Selbstverpflichtungserklärung der deutschen Wirtschaft gescheitert war und insbesondere Umweltverbände, die Partei der Grünen und einzelne Befürworter sich für die Einführung einer „Ökologischen Steuerreform“ stark machten, entbrannte eine der intensivsten und kontroversesten umweltpolitischen Debatten der 1990er Jahre. Entgegen früheren Ideen einer CO2-Abgabe hat eine ökologische Steuerreform das Ziel, durch die Erhebung ökologisch motivierter Steuern ein Aufkommen zu erzielen, das es ermöglicht, Abgaben, die in Verbindung mit menschlicher Arbeitskraft erhoben werden, zu senken. Dies soll positive Auswirkungen sowohl auf die Beschäftigungspolitik als auch auf den Umweltschutz haben (Krebs/Reiche/Rocholl 1998). Mit dieser „doppelten Dividende“ sollten mögliche Widerstände der deutschen Industrie antizipiert werden, da diese ja von der Senkung der Lohnnebenkosten profitieren würde. Nach Erscheinen einer DIW-Studie (DIW 1994), die einer ökologischen Steuerreform gesamtwirtschaftlich positive Folgen bescheinigte, jedoch energieintensive Branchen als „Verlierer“ einer solchen Reform ausmachte, begann ein intensives Lobbying der deutschen Wirtschaftsverbände gegen die Ökosteuer

  • Aufgrund der gestiegenen Arbeitslosenzahlen einerseits und der Selbstverpflichtungserklärung der deutschen Wirtschaft andererseits sah die konservativ-liberale Bundesregierung von der Einführung einer Ökosteuer ab. Erst mit dem Regierungswechsel 1998, nachdem auch die SPD und die Gewerkschaften eine Ökosteuer aufgrund ihrer möglichen Arbeitsplatzwirkungen befürworteten und die Grünen ohnehin eine Ökosteuer als wichtigen Bestandteil ihres Wahlprogramms führten, verabschiedete die rot-grüne Bundesregierung eine ökologische Steuerreform, die einen Beitrag zur Klimapolitik Deutschlands (Minderung der CO2-Emissionen) leisten sowie Impulse für den Arbeitsmarkt liefern sollte. Das deutsche Ökosteuergesetz, das am 1. April 1999 in Kraft trat, schuf eine neue Steuer auf

  • Strom und hob die Mineralölsteuer (Benzin und Diesel) sowie die Steuern auf Erdgas und leichtes Heizöl an. Kohle und Kernbrennstoffe wurden nicht besteuert. Das Gesetz zur Fortführung der ökologischen Steuerreform konkretisierte Ende 1999 dann die vier weiteren Stufen der deutschen Ökosteuer, die in den Jahren 2000-2003 jeweils zum 1. Januar in Kraft traten. Die Stufen 2 bis 5 beinhalteten u.a. die Anhebung der Mineralölsteuer analog zur 1. Stufe um jeweils weitere 3,07 Cent/Liter Benzin oder Diesel und die Anhebung des Steuersatzes auf Strom von jeweils 0,26 Cent. Das 3. deutsche Ökosteuergesetz zur Fortentwicklung der ökologischen Steuerreform (Dezember 2002) enthielt neben der bereits früher geplanten stufenweisen Erhöhung von Mineralöl- und Stromsteuer zusätzliche Einzelmaßnahmen: So wurden die Mineralölsteuer auf Schweres Heizöl sowie Erdgas angehoben und Ausnahmeregelungen für die Industrie verringert

  • Zahlreiche Ausnahmeregelungen für die Industrie, zu niedrige Steuersätze und die seit 2003 nicht erfolgte Fortführung der Ökosteuer (mit der Ausnahme, dass als Reaktion auf die oben erwähnte Energiesteuerrichtlinie der EU seit 2006 auch der Einsatz von Kohlen für Heizzwecke besteuert wird), führten zu starker Kritik am deutschen Ökosteuergesetz, insbesondere von wissenschaftlicher Seite. Insgesamt gingen Evaluationen auf der Basis ökonomischer Modellrechnungen davon aus, dass die Ökosteuer nur in der Lage sei, einen geringen Beitrag zur Senkung von CO2-Emissionen zu leisten, dass damit aber ambitionierte Klimaschutzziele nicht erreicht würden. Zudem hätten die seit Einführung deutlich gestiegenen Energiepreise sowie das allgemeine Teuerungsniveau die Wirkung der Ökosteuer an sich vermindert. In der Gesamtbeurteilung reicht daher die Einschätzung der ökologischen Steuerreform als „eine bleibende umwelt- und finanzpolitische Innovation der rot-grünen Bundesregierung“ (Bach 2009: 42) bis „aus Umweltsicht ist die Ökosteuer ein Flop“

  • In einer neuen Bewertung des deutschen Ökosteuergesetzes anlässlich dessen 20-jährigen „Geburtstages“ 2019 machen die Autoren darauf aufmerksam, dass trotz der eher kritischen umweltpolitischen Bewertung die Ökosteuer mit dem durch sie erzielten Einkommen im Bundeshaushalt zumindest einen Beitrag zu niedrigeren Rentenbeiträgen und höheren Renten leiste. Die Kosten des Faktors Arbeit konnten mit ihrem Steueraufkommen gesenkt werden.

  • Auch wenn die ökologische Steuerreform auf den ersten Blick ein scheinbar „altes“ und mittlerweile sogar politisch „beerdigtes“ klimapolitisches Projekt der rot-grünen Bundesregierung zu sein scheint – im Zuge der 2019 aufgeflammten Debatte über eine stärkere CO2-Bepreisung und die mögliche Einführung einer CO2-Steuer steht sie erneut im Mittelpunkt einiger Reformvorschläge: So schlägt das DIW vor, die Ökosteuer weiterzuentwickeln, zum einen, indem Energiesteuern in Bereichen erhöht werden, die nicht dem europäischen Emissionshandel unterliegen (Raumwärme und Verkehr) und indem Strom aus erneuerbaren Energiequellen weniger belastet wird als Strom, der aus fossilen Ressourcen gewonnen wird. Zum anderen sollte die Ökosteuer stärker anhand der tatsächlichen CO2-Bilanz der verschiedenen Energieträger ausdifferenziert werden und ein Ökobonusmodell eingeführt werden, mit dessen Hilfe sozial unerwünschte Verteilungswirkungen durch Pro-Kopfrückzahlungen abgemildert werden. Die Ökosteuer ist also nach wie vor ein aktuelles klimapolitisches Instrument, das derzeit vor einer Wiederbelebung bzw. gar einer Wiederauferstehung zu stehen scheint.

  • Allerdings stellten sich durchgehend insbesondere der Widerstand der Industrie, aber auch die geringe Akzeptanz in der deutschen Bevölkerung als Rahmenbedingungen heraus, die eine Weiterentwicklung der ökologischen Steuerreform politisch schwer durchsetzbar machen (Seiche 2009). Diese grundsätzlichen Interessenkonflikte zeigen sich nahezu deckungsgleich bei der aktuellen Diskussion über die Einführung bzw. Weiterentwicklung der Ökosteuer in Richtung einer CO2-Steuer (Stöcker 2019). Auch hier wird, z.B. von der FDP, vor nationalen Alleingängen gewarnt (SZ v. 26. April 2019), und die Industrie versucht, die Einführung einer CO2-Bepreisung zu verhindern (Stöcker 2019). Nimmt man die Erfahrungen und Ergebnisse des politischen Ökosteuerkonflikts der 1990er Jahre zum Maßstab, kann man angesichts der aktuellen Wiederbelebung der Ökosteuerdiskussion mit nahezu gleichen Konfliktlinien nicht unbedingt damit rechnen, dass nun eine stark an klimaschutzpolitischen Zielen orientierte CO2-Bepreisung größere Erfolgsaussichten hat

  • Eine weitere klimapolitische Strategie der Bundesregierung stellt die Steigerung der Energieproduktion aus erneuerbaren Energien dar (BMU 1992). 2007 legte das Bundeskabinett das Ziel fest, bis 2020 den Anteil der erneuerbaren Energien an der Stromversorgung auf 25 bis 30 %, an der Wärmeversorgung auf 14 % und an der Treibstoffversorgung auf 17 % zu steigern. Diese Ziele wurden im Rahmen der beabsichtigten „Energiewende“ fortgeschrieben: So soll der Anteil erneuerbarer Energien am Bruttoendenergieverbrauch bis 2020 auf 18 %, bis 2030 auf 30 %, bis 2040 auf 45 % und bis 2050 auf 60 % steigen. Der Anteil erneuerbarer Energien am Bruttostromverbrauch soll auf 35 % bis 2020, auf 50 % bis 2030, auf 65 % bis 2040 und auf 80 % bis 2050 gesteigert werden (BMWi 2015: 7). Der Schwerpunkt der deutschen Energiewende lag bisher stark auf dem Stromsektor, was sich sowohl durch die definierten Ziele als auch an der Anzahl und Länge der Gesetze erkennen lässt, in denen erneuerbare Energien reguliert werden.

  • Mit der Einführung des Stromeinspeisungsgesetzes (StromEinspG) im Jahr 1990 begann Deutschland bereits zu Beginn der 1990er Jahre, die Produktion von Strom aus erneuerbaren Energiequellen zu fördern (Reichenbach/Requate 2008: 91). 2000 wurde dieses Gesetz unter Rot-Grün durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) ersetzt. Mit dem darin enthaltenen Instrument der Einspeisevergütung sollte Betreibern von regenerativen Energieanlagen die Abnahme des von ihnen produzierten Stroms zu einem gesetzlich fixierten Abnahmepreis, der über dem Marktpreis für Strom lag, garantiert werden. Damit sollte die Wettbewerbsfähigkeit der regenerativen Energien „künstlich“ gesichert werden. Bis heute gab es insgesamt fünf Novellierungen des EEG (EEG 2004, EEG 2009, EEG 2012, EEG 2014, EEG 2017), die die Förderung erneuerbarer Energien im Stromsektor fortschrieben und zugleich auf die zuvor gemachten Erfahrungen in verschiedener Hinsicht reagierten. Das EEG führte dazu, dass der Anteil erneuerbarer Energien an der Stromversorgung in Deutschland ab 2000 stark anstieg. So hatte sich die Einspeisung von 13.800 GWh (6,3 %) in 2000 auf 68.500 GWh (14,3 %) in 2007 erhöht (Reichenbach/Requate 2008: 92). Im Jahr 2009 betrug der Anteil erneuerbarer Energien am Bruttostromverbrauch bereits über 16 %. Der Anteil erneuerbarer Energien am gesamten Endenergieverbrauch (alle Sektoren) hatte sich seit 1998 von 3,2 % auf 10,3 % im Jahre 2009 mehr als verdoppelt (BMU 2010b: 9). Im Jahr 2009 kam es zu einer umfassenden Neujustierung der Energiepolitik im Bereich erneuerbarer Energien.

  • Als Teil des Klima- und Energieprogramms der Großen Koalition trat eine Novelle des EEG (EEG 2009) in Kraft, mit deren Hilfe bis 2020 die erneuerbaren Energien einen Anteil von mindestens 30 % an der Strombereitstellung haben sollen. Parallel dazu trat das Erneuerbare-Energien-Wärmegesetz (EEWärmeG) in Kraft, nach dem der Anteil der erneuerbaren Energien an der Wärmebereitstellung bis 2020 auf 14 % ansteigen soll. Bis 2018 stieg der Anteil der erneuerbaren Energien am Bruttoendenergieverbrauch auf 16,6 %, der Anteil beim Bruttostromverbrauch auf 37,8 % (Abb. 3) und der Anteil am Endenergieverbrauch für Wärme und Kälte auf 13,9 %

  • Die deutsche Erneuerbare-Energien-Politik stand im Zusammenhang mit dem Beschluss des Europäischen Rates 2007, bis zum Jahr 2020 den Anteil erneuerbarer Energien auf 20 % am Endenergieverbrauch der EU zu erhöhen. Die entsprechende Richtlinie der EU-Kommission (2009/ 28/EG, RED 2009) sieht – ähnlich wie beim Klimaschutz – ein Target Sharing vor, das die unterschiedlichen Ausgangsbedingungen der EU-Mitgliedsstaaten berücksichtigt

  • Der Europäische Rat formulierte 2009 das Ziel der EU, „bis 2050 ihre Treibhausgasemissionen im Rahmen der notwendigen Reduktionen der Industrieländer als Gruppe um 80- 95 % unter den Stand von 1990 zu senken“ (Europäische Kommission 2011: 2). 2014 bestätigte der Europäische Rat dieses Ziel im Rahmen seiner Beschlüsse zum europäischen Energie- und Klimarahmen 2030. Danach sollen die Treibhausgasemissionen in der EU bis 2030 um mindestens 40 % gesenkt werden, die erneuerbaren Energien einen Anteil am Endenergieverbrauch von mindestens 27 % aufweisen und zudem 27 % Energieeinsparung erreicht werden (Europäischer Rat 2014). In Deutschland soll bis 2020 laut Energiekonzept der Anteil der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien am Bruttostromverbrauch 35 % betragen (BMWi/BMU 2010: 5). Dieses Ziel wurde erreicht. Im Rahmen des Target Sharing der EU will Deutschland bis 2020 einen Anteil von 18 % erneuerbarer Energien am Bruttoendenergieverbrauch erreichen. Allerdings wird dieses Ziel laut einer Berechnung des Bundesverbandes Erneuerbare Energie wohl nicht erreicht. Im Rahmen der Berechnung von 2018 wird ein Trend von ca. 16,2-16,4 % ermittelt, was knapp 2 Prozentpunkte unter dem im Rahmen der EU-Energiepolitik eigentlich einzuhaltenden Ziel liegt

  • Das EEG wurde von vielen Staaten nachgeahmt: Laut Mez und Brunnengräber (2008: 226) setzten 18 von 27 EU-Staaten ein modifiziertes Einspeisemodell ein, weltweit haben 40 Staaten die Erfahrungen des EEG zum Anlass genommen, entsprechende eigene Gesetze auf den Weg zu bringen (BMU 2007: 46). Prinzipiell gilt das EEG mit dem Instrument der Einspeisevergütung als Erfolgsgeschichte der rot-grünen Bundesregierung, die auch über Parteigrenzen hinweg vielerlei Zustimmung fand. Wie aufgezeigt wurde, hat sich der Anteil der erneuerbaren Energien beim Energieverbrauch und beim Stromverbrauch seit den 2000er Jahren massiv erhöht. Der SRU hat diese herausragende Bedeutung des EEG in seinem Sondergutachten 2011 herausgestellt, wenngleich er einen deutlich zu hohen Fördersatz für Photovoltaik identifizierte, und vorschlug, diese Förderung „in den nächsten Jahren drastisch zu drosseln“ (SRU 2011: 446). Anfang 2012 begann deswegen eine intensive politische Debatte darüber, ob das EEG in seiner bis dahin bestehenden Form zu teuer und ineffizient sei. Insbesondere die Kosten für die Solarenergie seien viel zu hoch und lägen deutlich über dem Strommarktpreis, sodass durch das EEG für einen durchschnittlichen Haushalt Kosten von ca. 130 €/Jahr entstünden (FR v. 19.01.2012: 16-17).

  • Ein Ergebnis dieser Debatte war die EEG-Novelle 2012, die u.a. ein Absenken der Einspeisevergütung für Photovoltaikanlagen (PV-Novelle) vorsah.19 Auch in den darauffolgenden Jahren war es ein Hauptziel der Energiepolitik, den angestiegenen Kosten im Stromsektor entgegenzuwirken. Der massive Ausbau der Anlagen und die damit einhergehende steigenden Umlage, die von 2008 bis 2014 um ca. 5 Ct/kWh gestiegen war20, bedingten einen steigenden Strompreis für alle Verbraucher und damit auch für die energieintensiven Industrien.

  • Im EEG 2014 wurden so aus wirtschaftlichen Gründen konkrete Mengenziele für die einzelnen Technologien (Ausbaukorridore) festgelegt. Dies bedeutet u.a., dass die Fördersätze für weitere Anlagen automatisch sinken, wenn bei Photovoltaik, Windenergie an Land und Biomasse mehr neue Anlagen zur Erneuerbare-Energie-Erzeugung gebaut werden als nach dem Ausbaukorridor vorgesehen sind.Die Novelle von 2014 wurde von umweltpolitischen Akteuren sehr kritisch gesehen und als starkes „Abbremsen“ der Energiewende kritisiert (z.B. Mahnke 2014). Zudem wurden einzelne Erneuerbare-Energien-Technologien besonders getroffen: Für Biogasanlagen war nur ein Zubau von 100 Megawatt/pro Jahr vorgesehen (Mahnke 2014). Dies wurde von Bioenergieerzeugern als politisch gewolltes Ende der Bioenergie-Förderung angesehen und vor dem Hintergrund der Ziele von Energiewende und Klimaschutz unter anderem aufgrund von Benachteiligungen im Vergleich zu fossiler Energieerzeugung kritisiert. „Das EEG 2014 wird von der Bundesregierung als wichtiger Schritt für den Erfolg der Energiewende angesehen. Zentral war hier die Begrenzung der Kosten für die Energiewende, was nach Meinung der Befürworter mit der Reform erfolgreich gelungen ist“.

  • Die EEG-Novelle 2017 brachte eine grundlegende Veränderung. Die Höhe der Vergütungssätze der Förderung der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien wird seit dem EEG 2017 nicht mehr staatlich festgelegt, sondern in Form von Ausschreibungsverfahren am Markt ermittelt, „um eine höhere Kosteneffizienz durch Wettbewerb zu erreichen“ ). Ausgenommen von der Ausschreibungspflicht sind nur kleinere Solaranlagen von unter 750 kW Leistung. Auch hier gab es Kritik von umweltpolitischen Akteuren. Der BUND z.B. sieht in der Novelle kleinere Anlagen und Bürgerprojekte benachteiligt. Die bereits mit der EEG-Novelle 2014 begonnene Deckelung des Zubaus aus Anlagen sei zudem aus klimapolitischer Sicht falsch



Der europäische Emissionshandel als wichtigstes klimapolitisches Instrument auf EU-Ebene


  • Ein weiteres ökonomisches Instrument der Klimapolitik stellt der Emissionshandel dar, der in der EU mit Beginn des Jahres 2005 eingeführt wurde, um die ehrgeizigen klimapolitischen Ziele der EU zu erreichen, ihre CO2-Emissionen auch unabhängig vom Kyoto-Protokoll und dessen Nachfolge in mehreren Stufen radikal zu senken. In der Theorie soll 1. durch einen Handel mit Zertifikaten erreicht werden, dass eine bestimmte Höchstmenge an Emissionen nicht überschritten werden kann. Dieses Prinzip wird auch als „Cap and Trade“ bezeichnet, also begrenzen und handeln. Der Staat setzt die Emissionsmenge („Cap“) fest und gibt Emissionszertifikate aus, über deren Verteilung sich ein Handel („Trade“) zwischen Unternehmen einstellt: Ein Unternehmen, das mehr Emissionen verursacht, kann sich in der Theorie 2. dieses Recht durch Zertifikatskauf von einem anderen Unternehmen sichern, das in der Lage ist, mit weniger Emissionen zu wirtschaften (z.B. durch Produktionsumstellungen).

  • Abbildung 4 zeigt in einem Modell mit zwei Unternehmen das Prinzip des Emissionshandels. Dabei legt der Staat zunächst einen Cap von 9.000 t CO2 fest. Die Unternehmen können nun entweder versuchen, durch technische Verbesserungen Emissionsminderungen zu erzielen, oder, falls das nicht möglich ist, Emissionsrechte miteinander handeln. In diesem Beispiel wird das Gesamtemissionsziel von 9.000 t CO2 erreicht, indem Anlage 1 Emissionsrechte für 500 t an Anlage 2 verkauft

  • Diese sogenannte „Mengenlösung“ sorgt theoretisch für ein sicheres Erreichen des Gesamtreduktionsziels („Cap“), da ja über dieses hinaus keine Zertifikate mehr zur Verfügung stehen. Theoretisch kann die Menge an Zertifikaten im Laufe der Zeit oder unter bestimmten Bedingungen immer weiter gesenkt werden, um so größere Emissionsminderungen zu erreichen und technische Innovationen zur Emissionsminderung anzustoßen. Das europäische Emissionshandelssystem (ETS) soll nach diesen Prinzipien funktionieren. Langfristiges Klimaschutzziel der EU ist eine 80-95 %ige Senkung der Treibhausgase bis 2050 im Vergleich zu 1990.

  • EU-rechtlich verbindlich wurden dabei folgende Zwischenziele vereinbart: Bis 2020 sollen die Emissionen um 20 %, bis 2030 um mindestens 40 % gesenkt werden. Innerhalb der vom Emissionshandelssystem erfassten Sektoren sollen die Emissionen mit Hilfe des ETS um 43 % sinken. Der europäische Emissionshandel ist dabei in mehrjährige Handelsphasen aufgeteilt, von denen bislang zwei stattgefunden haben (2005-2007, 2008-2012), eine läuft gerade (2013- 2020) und eine weitere (2021-2030) ist festgelegt. Der Emissionshandel umfasste zunächst nur die CO2-Emissionen und lediglich einen Teil der emissionsintensiven Industrien und Sektoren, die für etwa 40 % dieser Emissionen verantwortlich sind. Dies sind derzeit ca. 11.000 Industrie- und Energieanlagen in 31 europäischen Ländern. Seit 2012 ist auch der europäische Luftverkehr in den ETS integriert. Der ETS funktioniert prinzipiell nach dem „Cap and Trade“-Prinzip, d.h. zunächst werden Mengen an Treibhausgasemissionen festgelegt, während die EU-Mitgliedsstaaten und drei weitere am ETS teilnehmende Länder (Liechtenstein, Norwegen und Island) Emissionsberechtigungen ausgeben; diese werden teilweise gratis verteilt und teilweise versteigert. Ein Unternehmen muss dann für jede Tonne CO2, die es ausstößt, eine Emissionsberechtigung abgeben. Falls diese nicht ausreichend sind, muss es am Markt Emissionsberechtigungen kaufen („Trade“). Allerdings wurde bis 2013 kein zentraler, von der EU bestimmter, „Cap“ vorgegeben

  • In den ersten beiden Handelsphasen 2005-2007 (Pilotphase) und 2008-2012 mussten die teilnehmenden Staaten nationale Allokationspläne vorlegen, in denen sie die Gesamtanzahl der zu vergebenden Zertifikate und den Modus der Zertifikatsverteilung auf die einzelnen Anlagen darlegen und erläutern, wie sie Emissionen, die nicht vom Emissionshandel erfasst werden, regulieren . Der erste Allokationsplan der rot-grünen Bundesregierung sah nur eine bescheidene CO2-Emissionsreduktion vor und war von einer hohen Überallokation mit Emissionsrechten geprägt. Zudem profitierte die Stromwirtschaft von dieser Zuteilung, da sie den Emissionshandel zum Anlass nahm, drastisch die Endverbraucherpreise zu erhöhen, obwohl sie Emissionszertifikate kostenlos erhalten hatte

  • Die Bilanz für die erste Handelsphase 2005-2007 fällt daher ernüchternd aus: Kritisiert wird, dass Zertifikate an die Industrien kostenlos ausgegeben und nicht versteigert wurden (sog. „grandfathering“) (und die Unternehmen EU-weit mehr Zertifikate besaßen, als sie benötigten. Dadurch gab es kaum Anreize für Emissionsminderungen, und die Preise für Zertifikate brachen ein (DEHst 2015: 12). Neben der großzügigen kostenlosen Verteilung von Emissionszertifikaten wird kritisiert, dass nicht alle Sektoren einbezogen wurden

  • Diese Kritik nahm die EU-Kommission zum Anlass, die EU-Staaten für die zweite Handelsphase auf eine knappere Verteilung und Versteigerung der Zertifikate zu verpflichten. Dies bedeutete, dass die nationalen „Caps“, von denen die Mitgliedsstaaten 10 % als Emissionsberechtigungen versteigern konnten, durch die EU strenger geprüft und reduziert wurden. Nach wie vor jedoch konnten die Mitgliedsstaaten über ihre Allokationspläne eigene Zuteilungsregeln gestalten (DEHSt 2015: 12). Der zweite Allokationsplan der deutschen Bundesregierung sah dabei vor, das Emissionsbudget in der zweiten Handelsperiode um 57 Mio. t zu reduzieren. Zudem sollen zwischen 2008 und 2012 40 Mio. Emissionszertifikate pro Jahr verkauft oder versteigert werden. Wichtig an der zweiten Handelsperiode ist zudem die Einbeziehung des europäischen Luftverkehrs, d.h. aller Flüge, die in der EU bzw. den drei weiteren am ETS beteiligten Staaten starten oder landen (DEHSt 2015: 8). Zwar war die zweite Handelsphase etwas strenger ausgestaltet als die Pilotphase des ETS.

  • Nichtsdestotrotz wurde auch hier kritisiert, dass noch zu viele und zu preisgünstige Emissionsrechte auf den Markt gelangten und insbesondere noch zu wenig Sektoren in den europäischen Emissionshandel integriert seien (Böhringer/Lange 2012; Uken 2012). Ein wichtiger Grund für die schwache Ausgestaltung der ersten beiden Allokationsphasen war der Einfluss wichtiger Industrielobbys. U.a. versuchte die deutsche Industrie – im Zeichen der Wirtschaftskrise Ende 2008 – auch hier, mit intensivem Lobbying gegenüber der in Brüssel verhandelnden Bundesregierung an der Versteigerung der Zertifikate vorbeizukommen – mit unterschiedlichem Erfolg (Howarth 2009). Während der Finanz-und Wirtschaftskrise kam es dabei auf der europäischen Ebene zu einer Einigung auf erneute Ausnahmen für diejenigen Unternehmen, die im internationalen Wettbewerb stehen und deren Kosten durch die Versteigerung steigen würden (ca. 90 % der Unternehmen, SRU 2008b: 12).

  • Laut dem Verein LobbyControl gelang es dem „Europäischem Rat der Chemieindustrie Cefic“, eine Versteigerung der Emissionsrechte für Chemische Industrie zu verhindern. Für die deutsche Umsetzung des ETS im Rahmen der nationalen Allokationspläne zeigt Gründinger (2012) auf, dass die Industrie sehr großen Einfluss auf die jeweilige Ausgestaltung ausüben konnte – Industrieverbände wurden hier in Entscheidungen unmittelbar eingebunden, während Umweltverbände unterrepräsentiert waren. Weiter weist der Autor nach, dass der Nationale Allokationsplan für die zweite Handelsphase erst einmal von der EU zurückgewiesen wurde, weil er zu industriefreundlich ausgestaltet war

  • Mit der aktuellen Handelsperiode (2013-2020) wurden substanzielle Änderungen im europäischen Emissionshandelssystem eingeführt: Zum einen werden von nun an alle grundlegenden Entscheidungen auf EU-Ebene getroffen, es gibt eine gemeinsame Obergrenze für die Menge an Treibhausgasemissionen (ein EU-weites „Cap“), und in allen EU-Staaten gelten dieselben Regeln für die kostenlose Zuteilung von Emissionsberechtigungen. Zugleich hat die EU einheitliche Regeln für die Überwachung von Treibhausgasemissionen festgelegt und ein gemeinsames Emissionshandelsregister geschaffen (vgl. DEHSt. 2015: 13). Im Vergleich zu den Emissionen 2005 wird die Höchstmenge an Emissionen bis 2020 um 21 % gesenkt: „Waren für das Jahr 2013 noch etwa 2,08 Milliarden Zertifikate im EU-Budget, werden es in den folgenden Jahren jedes Jahr jeweils etwa 38 Millionen weniger sein.“ (DEHSt. 2015: 13).

  • Außerdem sind seit dem Beginn der dritten Handelsperiode bisher noch nicht in den ETS integrierte Treibhausgase (Lachgas – N2O und perfluorierte Kohlenwasserstoffe (PFC) der Chemie- und Aluminiumindustrie Bestandteil des Emissionshandels. Der Anteil kostenlos zugeteilter Emissionsberechtigungen soll gegenüber 80 % in 2013 bis 2020 auf 30 % sinken. Allerdings bestehen hier nach wie vor Ausnahmen für Industriezweige, die stark im internationalen Wettbewerb stehen (DEHSt. 2015: 13). Laut Agora Energiewende hat die jüngste Reform des Emissionshandels diesen „wiederbelebt“, d.h. dass die Preise für Zertifikate wieder steigen. Aktuelle Berechnungen des Instituts der deutschen Wirtschaft bestätigen dies

  • Zudem setzen nationale Klimaschutzmaßnahmen wie ein Kohleausstieg nicht für eine Wiederfreisetzung zuvor gebundener und nun nicht mehr benötigter Zertifikate, da hier Regelungen zur Löschung von Zertifikaten in Fällen solcher politischen Maßnahmen eingeführt wurden

  • Das europäische Emissionshandelssystem hat sich sukzessive gewandelt und orientiert sich heute stärker an klimapolitischen Zielen. Am Emissionshandel wird deutlich, wie schwierig es ist, umweltökonomische Lehrbuchinstrumente in der politischen Wirklichkeit umzusetzen. Durchgängig lässt sich ein großer Einfluss starker Industrielobbys beobachten, auf den die europäischen und nationalen Politiken aufgrund politischer Machtkonstellationen meist Rücksicht nehmen. Und dennoch: Mit der dritten Handelsperiode und der nun geplanten schrittweisen Begrenzung des europäischen Cap nähert sich der EU ETS stärker konzeptionellen Idealvorstellungen an.

  • Insgesamt wird der europäische Emissionshandel trotz vielerlei Kritik daher durchaus als sinnvolles „Erfolgsmodell“ und als „Meilenstein ökonomisch fundierter Umweltpolitik“ angesehen. Mit der geänderten Emissionshandelsrichtlinie vom 14. März 2018 wurde die vierte Handelsperiode 2021-2030 konkretisiert. Unter anderem ist dabei vorgesehen, die kostenlose Zuteilung von Emissionsrechten bis auf wenige Ausnahmen bis 2030 auf 0 % zu senken. Zudem wird ein linearer Kürzungsfaktor von 2,2 % gegenüber 1,74 % in der laufenden Periode eingeführt (UBA23). Es bleibt allerdings abzuwarten, inwieweit eine weitere schrittweise Senkung der Emissionshöchstmenge in den nächsten Jahren politisch durchsetzbar ist, ob weitere Sektoren in den Emissionshandel integriert werden können und ob damit die anspruchsvollen Klimaziele der EU erreicht werden können. Zudem ist nicht klar, ob nicht aufgrund des europaweiten Ausbaus der erneuerbaren Energien und eines Trends von Steinkohle zu Erdgas nicht dennoch am Ende weiterhin ein Überangebot an Emissionsrechten auf dem Markt bestehen bleibt

  • In Deutschland wurde für den nationalen Vollzug des Emissionshandels 2004 die Deutsche Emissionshandelsstelle (DEHSt) gegründet, sie ist gegenwärtig Teil des Fachbereichs V des Umweltbundesamtes (UBA). Die DEHSt ist beim Emissionshandel für die Zuteilung und Ausgabe der Emissionsberechtigungen sowie für die Steuerung der deutschen Versteigerungen zuständig, prüft Emissionsberichte der Unternehmen und verhängt gegebenenfalls Sanktionen


Deutsche Klimapolitik im Zuge des Pariser Abkommens


  • Um ihre eigenen ambitionierten Klimaschutzziele noch einmal zu bekräftigen, hat die Große Koalition 2014 das „Aktionsprogramm Klimaschutz 2020“ vorgelegt (BMUB 2014). Deutschland verstand sich hierbei als klimapolitischer „Vorreiter“, der gemeinsam mit der EU vorangehe, bekannte sich zum Zwei-Grad-Ziel und zu dem ambitionierten Klimaschutzziel, bis 2020 die Emissionen um 40 % zu senken. Um dieses Ziel zu erreichen, wurden zahlreiche Maßnahmen im Aktionsprogramm gebündelt.24 Im Zusammenhang mit den internationalen Verhandlungen über eine Kyoto-Nachfolge und dem schließlich beschlossenen Pariser Klimaschutzabkommen sind die deutschen Anstrengungen zu sehen, das Aktionsprogramm Klimaschutz 2020 zum deutschen Klimaschutzplan 2050 weiterzuentwickeln. Der deutsche Klimaschutzplan 2050 stellt das NDC Deutschlands im Rahmen der Pariser Klimaschutzarchitektur dar und wurde nach einem längeren Konsultationsprozess im November 2016 beschlossen. Allerdings musste die Bundesregierung 2017 einräumen, dass sie ihre eigenen Klimaschutzziele trotz Klimaaktionsprogramm nicht erreichen wird. Laut BMU ist „mit allen bisher beschlossenen und eingeleiteten Maßnahmen voraussichtlich nur eine Minderung um 31,7 bis 32,5 Prozent bis 2020“ möglich

  • Der Klimaschutzplan formuliert bis 2030 stattdessen das noch ambitioniertere Ziel, die Treibhausgasemissionen um 55 % zu senken. Bis 2050 soll Deutschland gar treibhausgasneutral wirtschaften. Vorausgegangen war der Verabschiedung des Klimaschutzplans 2050 ein langer Konsultationsprozess unter Einbezug von Bund, Ländern, Kommunen, Wirtschafts- und Umweltverbänden sowie Bürgerinnen und Bürgern. Konflikte gab es hier insbesondere über die verbindliche Festlegung von sektorbezogenen Klimaschutzzielen, die von den entsprechenden Bundesministerien, aber auch den entsprechenden Wirtschaftsverbänden kritisiert wurden (Töller 2019a). Zudem war in einer Zwischenfassung noch ein klareres Bekenntnis zum Kohleausstieg enthalten, der so am Ende nicht mehr Gegenstand des Klimaschutzplans war – hier hatte sich die Position des Bundeswirtschaftsministeriums gegenüber derjenigen des BMUB durchgesetzt.

  • Am Ende war nur noch die Rede von einer schrittweisen Verringerung des Niveaus der Kohleverstromung und notwendigen Strukturhilfen für entsprechend betroffene Regionen. Erst die zur Konsensfindung 2018 eingerichtete Kommission „Wachstum, Beschäftigung und Strukturwandel“ führte dann schließlich zum Kompromiss, den Kohleausstieg schrittweise bis 2038 zu vollziehen – ein Ergebnis des Einflusses von Industrie, Branchengewerkschaften und der betroffenen Länder. Durch Milliardenhilfen sollte es ihnen ermöglicht werden, den Strukturwandel zu bewältigen. In ihrem Koalitionsvertrag hat sich die Große Koalition 2018 dazu verpflichtet, den Klimaschutzplan 2050 umzusetzen. Hier heißt es dazu „Wir setzen (…) den Klimaschutzplan 2050 mit den für alle Sektoren vereinbarten Maßnahmenpaketen und Zielen vollständig um. (…) Das Minderungsziel 2030 wollen wir auf jeden Fall erreichen“

  • Um die deutschen klimapolitischen Maßnahmen interministeriell auf der Ebene der Bundesregierung abzustimmen und klimapolitische Lösungen und Instrumente zu entwickeln, die den Klimaschutzplan verwirklichen können, wurde im März 2019 das sogenannte „Klimakabinett“ eingerichtet. Das Klimakabinett kann als Ausschuss verschiedener klimapolitikrelevanter Bundesministerien verstanden werden. Vorsitzende ist Bundeskanzlerin Merkel (CDU), ihr Stellvertreter Bundesfinanzminister Olaf Scholz (SPD), Bundesumweltministerin Svenja Schulze (SPD) ist „beauftragte Vorsitzende“. Weitere Mitglieder sind das Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI), das Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi), das Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL) und das Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur (BMVI), jeweils vertreten durch die entsprechenden MinisterInnen. Laut Bundesregierung hat das Klimakabinett die Aufgabe „die rechtlich verbindliche Umsetzung des Klimaschutzplans 2050 sowie der darin enthaltenen Klimaschutzziele für das Jahr 2030“ vorzubereiten, damit die Bundesregierung 2019 entsprechende Gesetze auf den Weg bringen kann. Dafür sollen ein Klimaschutzgesetz oder mehrere gesetzliche Regelungen verabschiedet werden

  • Die Einrichtung des Klimakabinetts ist auch im Zusammenhang mit einer Re-Politisierung der Klimapolitik spätestens seit 2018 zu sehen. Zum einen sind hier die Demonstrationen und der Widerstand von AktivistInnen gegen die Rodung des „Hambacher Forsts“ in NRW zugunsten des Braunkohletage baus zu nennen, zum anderen die seit 2018 regelmäßig für Klimaschutz demonstrierenden SchülerInnen im Rahmen der mittlerweile globalen Fridays-for-Future-Bewegung, die insbesondere das Nicht-erreichen der deutschen Klimaschutzziele ins öffentliche Bewusstsein rückten. Zudem sorgten neue Stellungnahmen des IPCC für eine erhöhte öffentliche Debatte um Klimapolitik, nach denen die nächsten Jahre entscheidend seien, um die erforderlichen und einschneidenden Maßnahmen endlich anzugehen, damit das 1,5-Gradziel noch erreichen werden kann. Parteipolitisch übten die Wahlergebnisse von Bündnis 90/Die Grünen, die bei der Europawahl 2019 mit 20,5 % der Stimmen26 zweitstärkste Kraft in Deutschland wurden, im Vorfeld wichtiger Landtagswahlen großen politischen Druck auf die Bundesregierung aus, eigene klimapolitische Aktivitäten zu demonstrieren

  • Das Klimakabinett hat sich unter anderem mit Konzepten für eine Bepreisung von CO2 (CO2-Steuer) auseinandergesetzt und am 20. September 2019 die getroffenen Entscheidungen bekanntgeben. An diesem Datum fand zugleich der nächste große Klimastreik von Fridays-for-Future statt. Zudem folgte unmittelbar danach ein UN-Sondergipfel zum Klima in New York. Die „Eckpunkte für das Klimaschutzprogramm 2030“ stellen das Ergebnis der Verhandlungen im Klimakabinett dar und umfassen insgesamt 66 „Maßnahmen zur Erreichung der Klimaschutzziele 2030“(Bundesregierung 2019: 3), darunter die Einführung einer CO2-Bepreisung mit Einstiegspreis 10 €/t CO2 für den Sektor Verkehr und Wärme ab 2021 in Form eines nationalen Emissionshandels, Entlastungen für Bürgerinnen und Bürger, z.B. eine „Anhebung der Entfernungspauschale für Fernpendler“ (Bundesregierung 2019: 5) sowie zahlreiche sektorbezogene Maßnahmen für den Bereich Gebäude und Verkehr (Bundesregierung 2019: 5 ff.).

  • Darunter finden sich z.B. die steuerliche Förderung energetischer Sanierung, Fördermaßnahmen für den Umstieg auf E-Autos oder den Ausbau von Radwegen (Bundesregierung 2019). Daneben enthalten die Eckpunkte Maßnahmen für die Sektoren Land- und Forstwirtschaft, die Industrie, die Energiewirtschaft, die Abfallwirtschaft sowie weitere Einzelmaßnahmen, z.B. für den Forschungsbereich. Das Klimakabinett soll dauerhaft eingerichtet bleiben und soll „jährlich die Wirksamkeit, Effizienz und Zielgenauigkeit der eingeleiteten Maßnahmen“ überprüfen

  • Das Klimapaket der Bundesregierung erntete scharfe Kritik, u.a. von Bündnis ‘90/Die Grünen, den anderen Oppositionsparteien, den Umweltverbänden und der Fridays-for-Future-Bewegung sowie aus Kreisen der Wissenschaft. So wurden z.B. die noch nicht ausreichend hohe CO2-Bepreisung kritisiert, die widersprüchliche Wirkung einer Anhebung der Entfernungspauschale und generell die Mutlosigkeit der Bundesregierung in Sachen Klimaschutz (Zeit online v. 20.09.2019). Es bleibt abzuwarten, welche Maßnahmen tatsächlich politisch umgesetzt werden und inwieweit sie mithelfen, das deutsche Klimaschutzziel 2030 erreichen zu können.


    Fazit Deutsche Klimapolitik

  • Die Klimapolitik der Bundesrepublik begann gegen Ende der 1980er Jahre und ist insgesamt dadurch gekennzeichnet, dass sich Deutschland ambitionierten Klimaschutzzielen verschrieben hat – nicht zuletzt, um auf der internationalen Verhandlungsbühne entsprechende Signale an andere Staaten auszusenden. Dabei standen in den 1990er Jahren zunächst ökonomische und regulative Instrumente im Mittelpunkt, bevor die Selbstverpflichtungserklärung der deutschen Wirtschaft und ihre Akzeptanz bei der damaligen Bundesregierung diesen Plänen ein Ende bereitete. Bis zum Ende der 1990er Jahre war es vor allem die Diskussion um eine ökologische Steuerreform, die die umwelt- und klimapolitische Debatte in Deutschland prägte

  • Nach Verabschiedung des Kyoto-Protokolls und ambitionierter CO2-Minderungsziele der EU kam Deutschland im Rahmen des Burden-Sharing der EU- Klimapolitik eine Schlüsselrolle zu. Durch das EEG, den Emissionshandel und das „Integrierte Klima- und Energieprogramm“ versuchten die deutschen Bundesregierungen weiterhin, durch nationale Maßnahmen internationale Entwicklungen zu stimulieren und klimapolitische Vorreiterin zu sein. Seit Mitte der 2000er Jahre werden neben den Klimaschutzmaßnahmen auch verstärkt Maßnahmen zur Klimaanpassung verfolgt.

  • Mit der Einrichtung des Kompetenzzentrums Klimafolgen und Anpassung im Umweltbundesamt sowie der Verabschiedung der Deutschen Anpassungsstrategie an den Klimawandel können hier neuartige institutionelle Entwicklungen beobachtet werden, die deutlich machen, dass das Thema Adaptation in der deutschen Klimapolitik an Bedeutung gewinnt. Heute wird Klimaschutz und -anpassungspolitik von der lokalen bis nationalen Ebene betrieben, wobei in den letzten Jahren, insbesondere aufgrund der ernüchternden Erfahrungen der internationalen Klimapolitik, die regionale und kommunale Ebene als vielversprechende Umsetzungskulisse für klimapolitische Veränderungen angesehen wird. Da jedoch auch hier Konflikte zwischen verschiedenen Akteuren (z.B. zwischen Naturschutzinteressen und Biomasseproduktion zur energetischen Verwertung) und Umsetzungsschwierigkeiten vorgezeichnet sind, ist der Verlauf solcher Strategien offen.

  • Solche Interessenkonflikte insbesondere auf der übergeordneten nationalen Ebene konnte die Gesamtbetrachtung der deutschen Klimapolitik deutlich machen: Hier waren es häufig mächtige Industrieinteressen, die ihren Einfluss auf die verschiedenen Programme und Instrumente erfolgreich geltend machen konnten. Nichtsdestotrotz konnte die deutsche Klimapolitik auch deshalb durchgesetzt werden, weil sie auch ökonomische Vorteile für manche Branchen mit sich brachte, die zu einer Unterstützung der Klimapolitik durch Teile der Industrie führten (Jänicke 2011: 142). Jänicke weist daraufhin, dass die deutsche Klimapolitik technologische Innovationen in der Klimaschutzindustrie angestoßen habe und dieser Industriezweig als Wachstumsbranche einen größer werdenden Anteil am Bruttoinlandsprodukt ausmache, was zu internationalen Wettbewerbsvorteilen führe (Jänicke 2011: 139). Bilanziert werden kann, dass Deutschland zwar zunächst seine Verpflichtungen gegenüber dem Kyoto-Protokoll erfüllt hat, da die Treibhausgasemissionen 2008 gegenüber dem Jahr 1990 um 22,2 % zurückgegangen sind (UBA 2010).

  • Was die weiteren Ziele angeht, insbesondere das ambitionierte Ziel, bis 2020 die Treibhausgasemissionen um 30 % gegenüber 1990 zu senken, muss konstatiert werden, dass hier die deutsche Klimapolitik versagt hat. Früher galt Deutschland als klimapolitisches Pionierland, es bleibt jedoch abzuwarten, inwieweit es der deutschen Bundesregierung im Zuge der Umsetzung des Pariser Klimaabkommens, des Klimaschutzplans 2050 und der 2019 geplanten weiteren klimapolitischen Maßnahmen gelingt, die eigenen Ziele zu erreichen und wieder glaubwürdiger als „Schrittmacherin“ bzw. Pionierin der internationalen Klimapolitik auftreten zu können.
























Klimaanpassungspolitik


  • Im Gegensatz zur deutschen Klimaschutzpolitik ist die Klimaanpassungspolitik wesentlich jünger, noch wenig konkret und erfordert andere Herangehensweisen. Sie setzt nicht nur die Anerkennung eines anthropogenen, einzudämmenden Klimawandels voraus, sondern enthält auch das Eingeständnis, dass man einen solchen nicht mehr gänzlich abwenden kann und sich an die Folgen des Klimawandels anpassen muss.

  • Auf europäischer Ebene wurde 2007 das Grünbuch „Anpassung an den Klimawandel in Europa – Optionen für Maßnahmen der EU“ von der Europäischen Kommission veröffentlicht, am 6. April 2009 folgte das Weißbuch “Anpassung an den Klimawandel: Ein europäischer Aktionsrahmen“, in dem vorgeschlagen wird, bis 2012 Grundlagen für eine europaweite Anpassungsstrategie zu schaffen. Diese wurde nach einigen Diskussionen 2013 von der Europäischen Kommission verabschiedet und enthält Maßnahmen zur Förderung von Anpassungsmaßnahmen der Mitgliedsstaaten, Maßnahmen auf EU-Ebene sowie zur Schaffung einer besseren Wissensbasis (Europäische Kommission 2013). Im November 2018 veröffentlichte die EU-Kommission die erste Evaluierung der Anpassungsstrategie

  • In Deutschland wurde unter Bundesumweltminister Gabriel (SPD) das Kompetenzzentrum Klimafolgen und Anpassung (KomPass) im Umweltbundesamt eingerichtet, das zur Aufgabe hat, Fachwissen zu bündeln und Akteure aus Politik, Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft zu beraten und zu vernetzen. Am 17. Dezember 2008 verabschiedete die Bundesregierung dann die „Deutsche Anpassungsstrategie an den Klimawandel“ (DAS) und stellt darin zu Anfang klar, dass beide Wege (Klimaschutz und Anpassung) untrennbar miteinander verbunden seien und die Verminderung von Treibhausgasen zentrale Voraussetzung sei, Anpassungsnotwendigkeiten und -kosten gering zu halten (Bundesregierung 2008: 5). KomPass hat seitdem die Aufgabe, die deutsche Anpassungsstrategie weiterzuentwickeln und ihre Umsetzung zu fördern. Die Aufgaben umfassen Risikobewertung, Entwicklung von Entscheidungsgrundlagen, Umsetzung von Anpassungsmaßnahmen und Sensibilisierung für Klimawandelfolgen

  • Ein Beispiel für durchgeführte Maßnahmen ist die Fördermaßnahme „KLIMZUG – Klimawandel in Regionen zukunftsfähig gestalten“, in deren Rahmen von 2008-2014 sieben deutsche Regionen im Rahmen von inter- und transdisziplinären Verbundprojekten gefördert wurden. Hier sollten konkrete Anpassungsstrategien im Rahmen von Regional-Governance-Netzwerken aus Wissenschaft, Politik, Verwaltung, Wirtschaft und Gesellschaft entwickelt werden

  • Klimaanpassungspolitik bezieht sich auf die Bereiche Gesundheit, Land-, Forst-, Wasserwirtschaft, Biodiversität, Verkehr, Tourismus und andere. Während die Anpassungsstrategien auf europäischer, Bundes- und auch Länderebene einen Rahmen vorgeben können, findet Anpassung letztendlich vor allem auf lokaler und regionaler Ebene statt, wo je nach ökologischen und räumlich-infrastrukturellen Bedingungen und Entwicklung des regionalen Klimas verschiedenen Herausforderungen begegnet werden muss. Daneben geht es aber auch um die Anpassung verschiedener Sektoren oder Branchen, wie z.B. des Obstbaus, des Schienennetzes oder der Gebäudetechnik u.v.m

Regionale und kommunale Klimapolitik


  • Aufgrund der regional mitunter sehr unterschiedlichen Auswirkungen der Klimaveränderung und der beschriebenen Klimaanpassungserfordernisse, die insbesondere durch lokale und regionale Aktivitäten bewältigt werden müssen, hat sich mittlerweile eine eigenständige kommunale und regionale Klimapolitik herausgebildet. Dabei finden sich sowohl Maßnahmen der Mitigation als auch der Adaptation. Hakelberg weist daraufhin, dass sich insbesondere seit 2006 die Anzahl der Kommunen mit einer eigenen Klimapolitik deutlich vergrößert hat. Allerdings sind es gerade innerhalb von Regional-Governance-Strategien häufig nach wie vor Impulse „von oben“, z.B. in Form von Ausschreibungen durch Ministerien für Regionenwettbewerbe, mit denen im Falle einer entsprechenden Strategiebildung auf regionaler Ebene die Erlangung von Fördermitteln verknüpft ist, die solche regionalen und kommunalen Klimapolitiken initiieren.

  • Als Beispiele hierfür sei der vom BMELV durchgeführte Wettbewerb „Bioenergieregionen“ genannt, der mit Fördermitteln den Aufbau von regionalen Bioenergienetzwerken in 25 deutschen Regionen förderte (www.bioenergie-regionen.de). Weitere Beispiele für eine Unterstützung regionaler und kommunaler Klimapolitik ist die seit 2008 bestehende (jährlich überarbeitete) sogenannte Nationale Klimaschutzinitiative (NKI), mit der der Bund spezifisch Kommunen, Kirchen, Hochschulen und kulturelle Einrichtungen bei Klimaschutzmaßnahmen, z.B. im Rahmen energetischer Sanierung oder bei der Einstellung von sogenannten KlimaschutzmanagerInnen unterstützt. Im Rahmen der NKI wurden bislang „mehr als 28.750 Projekte mit einem Fördervolumen von rund 905 Millionen Euro“ durchgeführt


Umweltpolitikintegration


  • Im Kapitel zur Klimapolitik wurde angesichts der Darstellung der Einrichtung eines „Klimakabinetts“ 2019 deutlich, dass umweltpolitische Aufgaben über einzelne Politikfelder hinaus viele gesellschaftliche Bereiche, Sektoren und politische Ressorts betreffen. Deshalb wird in der umweltpolitischen Diskussion häufig die Forderung nach einer Integration von Umwelt- oder Nachhaltigkeitsaspekten in andere Politikbereiche erhoben. Die politikwissenschaftliche Forschung verwendet hier den allgemeinen Begriff der Politikintegration, der für die Analyse von Umweltpolitik eine zunehmend wichtige Rolle spielt. Politikintegration bedeutet, dass in bestimmte (sektorale) Politikfelder vormals durch andere Politiken bearbeitete politische Ziele integriert werden (Gießen 2012). Ziel der Politikintegration ist es, miteinander in Verbindung stehende politische Probleme über Sektoren und Ressorts hinaus kohärenter und besser lösen zu können. Damit sollen u.a. eine größere Konsistenz in der politischen Aufgabenerfüllung hergestellt und durch Synergieeffekte mögliche Win-win-Potenziale genutzt werden

  • Speziell in der transnationalen Umwelt- und Nachhaltigkeitspolitik wurden Forderungen nach einer Integration umweltpolitischer Ziele in andere Politiken erhoben: So wurde auf dem UN-Gipfel in Rio de Janeiro mit der Agenda 21 der Gedanke der Umweltpolitikintegration zentral verankert. Die auch von Deutschland umzusetzende am 1. Januar 2016 in Kraft getretene „Agenda 2030“ der UN, mit der bis 2030 17 Ziele einer nachhaltigen Entwicklung erreicht werden sollen, schreibt diese Idee einer umfassenden Politikintegration vor dem Hintergrund des übergeordneten Ziels der Erreichung einer Nachhaltigen Entwicklung fort

  • Auch die EU hat sich auf die Fahnen geschrieben, Umweltbelange in unterschiedlichen Politikfeldern einzubeziehen. Als Beispiel kann die sukzessive Einbeziehung ökologischer Aspekte in die gemeinsame Agrarpolitik (GAP) dienen. In einer Untersuchung zu 30 OECD-Staaten haben Jacob und Volkery existierende Instrumente und Strategien zur Umweltpolitikintegration untersucht. Sie nennen unter anderem die Formulierung und Verabschiedung sektorübergreifender „Nationaler Umweltpläne“ und „Nachhaltigkeitsstrategien“, die Einführung von entsprechenden Verfassungsprinzipien oder die Ausweitung der Kompetenzen von Umweltministerien als typische Instrumente und Maßnahmen für Umweltpolitikintegration. In einer neueren vergleichenden Studie über Umweltpolitikintegration in 171 Staaten zeigen Schmidt und Fleig, dass es innerhalb der Klimapolitik insbesondere Energie und Verwaltungsstrukturen sind, in denen Anstrengungen zu Politikintegration unternommen wurden

  • Obwohl Politikintegration als Reaktion auf den Querschnittscharakter als typische Problemstruktur von Umweltpolitik naheliegt, ist ihre Verwirklichung ausgesprochen schwierig. Insbesondere folgende Gründe hierfür werden diskutiert: Erstens läuft die Idee der Politikintegration der Eigenlogik der Staatsorganisation mit ihren hochgradig spezialisierten Ressorts und Verwaltungen zuwider. Diese entwickelten sich nach dem Modell der rationalen und effektiven öffentlichen Verwaltung zu relativ autonomen Verwaltungssektoren, die funktionale (= sektorale) und vertikal organisierte Politik liefern. Zweitens entspricht das Prinzip der Politikintegration nicht dem wirtschaftlichen Interessenumfeld dieser Sektoralverwaltungen . Politikintegration betrifft regelmäßig die Interessenlagen deren „industrieller Klientel“. Wenn Integrationsforderungen auch Eingriffe in die Substanz der Sektoren, ihrer Märkte, aber auch ihrer gesellschaftlichen Funktionen bedürfen, ergeben sich deutliche Hemmnisse durch den Widerstand dieser Sektoralinteressen

  • In der Diskussion über Politikintegration werden drei unterschiedliche Konzepte diskutiert: horizontale, vertikale und punktuelle Politikintegration. Horizontale Politikintegration bedeutet zunächst, dass Politikfeldgrenzen überschreitende Querschnittsaufgaben über die Zuständigkeiten einzelner Institutionen oder Ressorts hinaus auf einer territorialen Ebene behandelt werden. Jänicke spricht davon, dass Umweltpolitik zunächst „additiv“ in andere Ressorts integriert wurde, indem umweltpolitisch als negativ erachteten Effekten anderer Politiken (z.B. Verkehr, Landwirtschaft) Entlastungsmaßnahmen hinzugefügt wurden. Nach dieser Sichtweise musste ein relativ schwaches Umweltministerium versuchen, horizontal gegenüber anderen mächtigeren Ressorts Umweltaspekte in anderen Politiken zu verankern (Jänicke 2008: 158). Vertikale Politikintegration beschreibt allgemein die Behandlung von Politikfeldgrenzen überschreitenden Querschnittsaufgaben über mehrere territoriale Ebenen hinweg (im Sinne von integrierter Mehrebenenpolitik). Für Jänicke bedeutet vertikale Politikintegration insbesondere, dass höhere politische Ebenen eine Führungsrolle übernehmen und damit in der Lage sind, Politikintegration hierarchisch durchzusetzen. Dabei muss nicht mehr das Umweltministerium versuchen, seine Anliegen gegenüber einzelnen anderen Ressorts einzubringen, sondern auf Initiative von Regierungschef, Kabinett oder Parlament werden umweltpolitische Ziele und Maßnahmen „von oben“ in die einzelnen Ressorts vertikal integriert

  • Allerdings ist bei der so verstandenen vertikalen Politikintegration zu beachten, dass es bei der Abstimmung zwischen verschiedenen staatlichen Ressorts und Ebenen eher selten zu der sogenannten „positiven Koordination“ kommt. Positive Koordination meint, dass zwei oder mehrere politische Bereiche oder Programme auch ressortübergreifend zu einer „optimalen“ Kombination verbessert werden, um Synergieeffekte zu nutzen. Solche Verfahren sind jedoch aufwändig und nicht kurzfristig zu verwirklichen, weil sie zumeist die Verantwortung mehrerer politischer Ressorts mit ihren jeweiligen Eigenlogiken und Eigeninteressen betreffen und lange Verhandlungen zwischen diesen benötigen. Typischer sind Verfahren negativer Koordination.

  • Diese bedeuten, dass ein staatliches Ressort, z.B. das Bundesumweltministerium, eigene Programme und Verfahren so lange verbessert, wie für andere Ressorts keine negativen Konsequenzen entstehen bzw. in einem Rahmen, in welchem größere Verhandlungen mit anderen Ministerien (z.B. BMEL) nicht notwendig sind. Negative Integration bedeutet, dass Programme im eigenen Verantwortungsbereich so verbessert werden, dass kein neuer langwieriger Abstimmungsbedarf über eingespielte Verfahren hinaus notwendig ist. Da staatliche Ressorts eher nach der Logik der negativen Koordination agieren, ist Politikintegration nicht unbedingt erwartbar, da diese der Logik der positiven Koordination entspricht

  • Bei der Definition von Jänicke schwingt ein normatives Verständnis mit: Er spricht in diesem Zusammenhang von der Möglichkeit der Durchsetzung eines „Umweltstaats“ (Jänicke 2007) und davon, dass sich das für Umweltpolitikintegration „zu bewerkstelligende Pensum“ als „Wandel von der horizontalen zur vertikalen Politikintegration“ beschreiben lässt

  • Deutlich wird, dass Politikintegration keineswegs ein einheitlich verstandenes Konzept darstellt. Vielmehr reflektiert Politikintegration die Tatsache, dass viele politische Probleme einen Querschnittscharakter aufweisen und Politikintegration ganz allgemein die Behandlung von Querschnittsaufgaben in der Politikgestaltung, die die Grenzen von etablierten Politikfeldern überschreiten, meint . Briassoulis versteht daher Politikintegration auch nicht als eine Entwicklung von horizontaler zu vertikaler Integration. Vielmehr begreift sie Politikintegration als Koordination verschiedener Policies, die immer sowohl horizontal als auch vertikal erfolgen kann: „Construed as integration of policies', policy integration refers to a process of sewing together and coordinating various policies, both over (horizontally) and across (vertically) levels of governance [

  • Aufgrund der z.B. durch Sektor- und Ressortinteressen bedingten praktischen Schwierigkeiten, eine dauerhafte sektorübergreifende Politikintegration zu verwirklichen, schlagen Hubo und Krott einen dritten Ansatz vor, den sie als punktuelle Politikintegration bezeichnen. Danach sollte auf die unrealistische Vorstellung eines Konsenses zwischen Sektoren und Ressorts hinsichtlich einer umfassenden Politikintegration verzichtet und Politikintegration vielmehr realistischerweise als „dauerhaft konfliktreiche Aufgabe“ verstanden werden. Es kommt dann darauf an, für die zu integrierenden umweltpolitischen Belange entsprechende „windows of opportunity“ zu nutzen und somit eine „punktuelle Integration“ zu leisten. Das Modell der „punktuellen Integration“ reflektiert somit die tatsächlichen Macht- und Interessenkonstellationen in Politikfeldern, die eine dauerhafte horizontale und vertikale Politikintegration erschweren

  • Mit dem Konzept der punktuellen Politikintegration wird den Schwierigkeiten Rechnung getragen, dauerhaft und wirksam umweltpolitische Aspekte in anderen Ressorts zu verankern und gegen Sektoralinteressen durchzusetzen. Vielmehr könnte das Erkennen von Policy-Windows zu bestimmten Zeitpunkten Möglichkeiten schaffen, umweltpolitische Anliegen punktuell in andere Politiken einzubringen. Ein Beispiel für ein solches Policy-Window stellt die Agrarpolitik dar. Im Zuge landwirtschaftlicher Skandale und der BSE-Katastrophe in den 1990er Jahren, die das Vertrauen der Bürger in die herrschende Agrarpolitik massiv erschütterten, öffnete sich ein Policy-Window für einen Wandel in der Landwirtschaftspolitik: Dieser wurde 2001 durch die Ernennung der Grünen-Politikerin Renate Künast zur Bundeslandwirtschaftsministerin untermauert. In der Agrarpolitik wurden dann verstärkt ökologische Aspekte diskutiert und unter dem Banner der „Agrarwende“ politisch gefordert und zumindest teilweise umgesetzt. Ohne Skandale und BSE hätte dieser punktuelle (und temporäre) Wandel (obwohl zahlreiche Faktoren diesen nahe legten) damals sicherlich nicht stattgefunden. Abbildung 7 zeigt das Zusammenspiel zwischen vertikaler und horizontaler Politikintegration nach Jänicke und die dabei zu beachtenden politischen Ebenen, Politikfelder und staatlichen Ebenen. Diese „Dimensionen der Umweltpolitik“ stellen ein wichtiges Element der Problemstruktur der Umweltpolitik dar


Umweltpolitische Instrumente


  • Politische Instrumente dienen dazu, politische Ziele durch die Beeinflussung des Handelns gesellschaftlicher Akteure zu erreichen. Ohne politische Steuerungsinstrumente ist politische Zielerreichung nicht möglich. Politikinstrumente stellen gewissermaßen das „Werkzeug“ des Staates dar, um politische Probleme zu lösen und das Verhalten von Bürgerinnen und Bürgern oder der Unternehmen zu beeinflussen. Gerade in der Umweltpolitik sind Instrumente in besonderem Maße Diskussionsgegenstand; für die Umweltpolitik sind traditionelle, regulative Instrumente beispielhaft in Zweifel gezogen worden, ökonomische Instrumente entwickelt und viele andere Instrumente als neuartig gepriesen worden. Deshalb gilt die Umweltpolitik manchen Autoren, was die verwendeten Instrumente angeht, als „Motor politischer Modernisierung“ und wurde gar als „Regelungslaboratorium der gesamten Rechtsordnung“ (Kloepfer 1991: 737) angesehen, mit Modellcharakter für andere Bereiche

  • Zur Unterscheidung (umwelt-)politischer Instrumente existieren verschiedene Typologien . Dabei werden politische Instrumente zunächst nach den ihnen jeweils zugrundeliegenden Koordinationsmechanismen, mit denen sie versuchen, das Handeln gesellschaftlicher Akteure zu steuern, unterschieden. Weil politische Instrumente unterschiedlich stark in individuelle Freiheiten und das Verhalten der Adressaten eingreifen, werden sie auch anhand des ihnen innewohnenden Ausmaßes staatlicher Intervention, des jeweils mit ihnen verbundenen „Zwangs“, unterschieden. Wir unterscheiden für die Umweltpolitik dabei fünf instrumentelle Hauptgruppen: Regulative, ökonomische, prozedurale, kooperative und informationelle Instrumente. In neuerer Zeit kommen auch die verhaltenswissenschaftlich informierten Instrumente hinzu (Loer 2019). Die folgende Abbildung 8 zeigt die verschiedenen Instrumententypen und ausgewählte Beispiele der Umweltpolitik: Persuasive Instrumente, Kooperative Instrumente, Prozedurale Instrumente, marktwirtschaftliche und regulative Instrumente

  • Die verschiedenen umweltpolitischen Instrumente können dabei nach unterschiedlichen Kriterien beurteilt werden:

    • Effektivität: Aus ökologischer Sicht stellt sich die grundlegende Frage, inwieweit eingesetzte Instrumente effektiv sind, das heißt, ob sie die mit ihnen verbundenen umweltpolitischen Ziele tatsächlich erreichen können. So gibt es z.B. viele Evaluationsstudien, die untersuchen, ob umweltpolitische Ziele durch den Einsatz bestimmter Instrumente erreicht wurden bzw. welchen Anteil ein Instrument zur Erreichung bestimmter Ziele hatte

    • Effizienz: Insbesondere die Umweltökonomie fragt danach, welche umweltpolitischen Instrumententypen die vorgegebenen umweltpolitischen Ziele mit den geringsten volkswirtschaftlichen Kosten erreichen. Bei der statischen Effizienz steht daher eine Betrachtung nach dem gegenwärtigen Ziel-Mittel-Verhältnis im Mittelpunkt. Besonders die lange dominierende regulative Umweltpolitik stand hier im Mittelpunkt ökonomischer Kritik, aus der viele Vorschläge für einen verstärkten Einsatz ökonomischer Instrumente in der Umweltpolitik resultierten, da ökonomische Instrumente effizienter als regulative seien. Die dynamische Effizienz ist dann gegeben, wenn ein Instrument nicht nur punktuell, sondern dauerhaft Anreize zu weiterem Umweltschutz gibt.

    • Politische Durchsetzbarkeit: Eine dezidiert politikwissenschaftliche Perspektive fragt danach, ob überhaupt und warum welche der verschiedenen Instrumentenalternativen sich im politischen Prozess durchsetzen oder inwieweit es institutionelle Bedingungen gibt, unter denen bestimmte Instrumente eher zur Anwendung gelangen als Alternativen (z.B. bestehende Gesetze oder Pfadabhängigkeiten, die als Filter Optionen für den Einsatz bestimmter Instrumententypen erweitern oder verringern, s.u. Kap. 6.4). Zudem könnten bestimmte Instrumentenalternativen schwierig politisch durchsetzbar sein, weil mächtige Interessen sich gegen ihren Einsatz aussprechen und ihre Interessen im politischen Prozess besser durchsetzen können als andere. Mit der Hilfe solcher Überlegungen kann dann besser erklärt werden, warum sich im politischen Prozess auch Instrumentenalternativen durchsetzen, die scheinbar weniger effektiv oder effizient als andere sind, aber den Vorteil aufweisen, politisch leichter durchsetzbar zu sein

    • Beziehen sich die ersten beiden Kriterien auf rein „technische“ Eigenschaften der Instrumente, erweitert das dritte Kriterium die Beurteilungsdimensionen von umweltpolitischen Instrumenten entscheidend. Denn es fragt nach ihrer tatsächlichen politischen Anwendungsmöglichkeit und dem Einfluss politischer Prozesse (politics) und geht damit über die Illusion einer rein technokratisch-sachrationalen Problemlösung nach Abwägung technischer Eigenschaften hinaus. Damit verbunden ist auch die Vorstellung, die für uns besonders wichtig ist (und dieser Gedanke wird in den folgen Ausführungen sowie in Kap. 6 wieder aufgegriffen): dass Instrumente eben keine wertfreien „Techniken“ sind, um politische Ziele zu erreichen, sondern dass Instrumente im Kern bestimmte Weltbilder, etwa von der Natur des Menschen, der Rolle des Staates oder zugrunde liegender Vorstellungen von Demokratie enthalten. Diese Weltbilder und die damit verbundene unterschiedliche Perzeption umweltpolitischer Instrumente bei den verschiedenen gesellschaftlichen Akteuren führen dazu, dass über den politischen Einsatz eben nicht (nur) deren technische Eigenschaften wie Effektivität und Effizienz entscheiden



Regulative Instrumente


  • Regulative Instrumente sind die traditionellen Handlungsformen in der Umweltpolitik. Sie zielen auf die Beeinflussung von Wirtschaft und Gesellschaft auf formaler Ebene durch Regeln mit Anspruch auf Verbindlichkeit (Ge- und Verbote) und nutzen als Koordinationsmechanismus die Hierarchie des Staates, der die Einhaltung verbindlicher Anweisungen und Gesetze durch Zwang und Sanktionen durchsetzen kann. Dahinter steckt auch normativ die Vorstellung, dass dem Staat eine zentrale Rolle für die Regelung gesellschaftlicher Angelegenheiten zukomme. Die regulativen Instrumente repräsentieren den höchsten Grad staatlicher Intervention durch direkte hierarchische Steuerung mit hohem Verbindlichkeitsanspruch und werden in der englischsprachigen Literatur auch einprägsam als „Command and Control“ bezeichnet. Sie treffen in der Regel klare Verhaltensvorgaben, drohen bei Nichtbeachtung entsprechende Sanktionen (ggf. auch staatlichen Zwang) an und greifen so stark in die Freiheit der Adressaten ein. Diese Instrumente wirken, indem sie darauf abzielen, für die Steuerungsadressaten die zulässigen Alternativen zu reduzieren. Zugleich haben sie auch eine wichtige symbolische Funktion, indem sie signalisieren, welches Verhalten sozial erwünscht ist und welches nicht

  • Waren schon die Vorgängerregelungen heutiger Umweltpolitik, wie etwa die preußische Dampfkesselverordnung von 1831, regulative Instrumente, so ist die deutsche Umweltpolitik seit ihrer Entstehung zu Beginn der 1970er Jahre vor allem vom Einsatz regulativer Instrumente geprägt. Man spricht hier auch vom umweltpolitischen Ordnungsrecht, das vor allem durch Gebote und Verbote umweltrelevantes Verhalten bei Bürgerinnen und Bürgern sowie Unternehmen initiieren will. Diese Instrumente haben den Charakter von Zwangsmaßnahmen und sind in der Umweltpolitik besonders deshalb so beliebt, weil sie eine stringente Steuerung suggerieren, einen hohen symbolischen Gehalt besitzen (Gefahr erkannt – Gefahr gebannt) und in der staatlichen Tradition des Polizeirechts gut verankert sind. Regulative Instrumente in der Umweltpolitik kommen vor allem dort zum Einsatz, wo unmittelbare Umweltbeeinträchtigungen und Umweltgefahren abzuwehren sind.

  • Durch die Festlegung von Grenzwerten, Produkt- und Prozessstandards, Ge- und Verboten im Umgang mit umweltrelevanten Stoffen, Genehmigungsverfahren für umweltbeeinträchtigende Industrieanlagen oder das Umweltstrafrecht wirken regulative Instrumente (Beispiele nach Jänicke et al. 1999: 100). Umweltbezogene Auflagen sollen Betroffene anhalten, ihre umweltrelevanten Tätigkeiten auf ein gewisses Maß zu reduzieren (Gebot) bzw. ganz zu unterlassen (Verbot) (Altmann 1997: 123). Wichtige Ansatzpunkte für regulative Instrumente sind beispielsweise Emissionswerte: So regelt die Technische Anleitung „Luft“ (TA Luft), welche Emissionsgrenzwerte beim Ausstoß von Schadstoffen industrieller Anlagen einzuhalten sind . Es gilt als Markenzeichen deutscher regulativer Umweltpolitik, dass sie sehr technikbezogen ist. Maßstab für den anzustrebenden Umweltschutz ist oft die Beste Verfügbare Technik (BVT). Beispiele für regulative Instrumente in der Umweltpolitik sind das Verbot von Asbest im Rahmen der Novelle der Gefahrstoff-Verordnung 1990 und der Asbestverbotsverordnung 1991 (UBA 2014: 122) oder das schrittweise Verbot von Glühbirnen in der EU seit 2009 ebenso wie das nun geplante Verbot von Plastiktüten.

  • Zu den Vorteilen regulativer Instrumente gehören ihre rasche Wirkung und prinzipiell hohe Treffsicherheit, vor allem, wenn es um eine akute Gefahrenabwehr und besonders gesundheitsschädliche Stoffe geht, deren Emissionen möglichst rasch eingedämmt werden sollen (Rogall 2002: 219). Regulative Instrumente waren daher in der Entwicklung der deutschen Umweltpolitik zunächst die erste Wahl, da möglichst rasch umweltpolitische Erfolge erzielt und sichtbare Umweltschäden im Sinne einer Gefahrenabwehr behoben werden sollten (Reinigung der Flüsse, Smog etc.). In den 1970er Jahren gab es hier eindrucksvolle Erfolge, die auf regulative Instrumente zurückzuführen sind. Allerdings werden ebenso die Nachteile regulativer Umweltpolitik diskutiert: Aus ökonomischer Sicht sind regulative Instrumente mit Effizienzproblemen behaftet.

  • So müssen bei Grenzwerten, Verboten und Geboten alle Emittenten (= die industriellen Verursacher) gleichermaßen die Regulierung erfüllen, und das unabhängig davon, welche Kosten sie jeweils individuell dafür aufbringen müssen. „Komparative Kostenvorteile“ in der Emissionsvermeidung werden nicht genutzt, wenn alle Unternehmen starr den Grenzwert erfüllen müssen, wodurch zusätzliche volkswirtschaftliche Kosten entstehen (statische Ineffizienz). Es besteht daneben kein Anreiz, ständig die Vermeidung von Emissionen zu suchen, da Grenzwerte relativ langlebig sind und die Emissionen bis zum Grenzwert hin frei sind: Vom Ordnungsrecht gehen nicht genügend Anreize aus, ständig nach technologischen Innovationen zu suchen (dynamische Ineffizienz). Sie sind reaktiv und zementieren tendenziell den herrschenden Stand der Technik für eine lange Zeit. Rechtssoziologen bemängelten, für die rasant fortschreitende, zunehmend komplexe Technik, über die zum Regelungszeitraum teilweise nur unzureichendes Wissen vorliege, sei die einfache Struktur des Ordnungsrechts nicht ausreichend komplex

  • Zu diesen Nachteilen gesellen sich noch praktisch-politische Defizite: Im Laufe der Zeit wurde das Umweltrecht immer komplizierter und schwieriger zu vollziehen. Zudem führt der diskretionäre Spielraum, der den Vollzugsbehörden in der Umweltpolitik eingeräumt wurde, dazu, dass immer mehr bestehende Vorschriften gar nicht angewendet wurden. Vollzugsbehörden konnten Ausnahmen einräumen und den Vollzug der Umweltpolitik direkt mit dem Emittenten verhandeln. Das Ausmaß der Rechtsdurchsetzung hin auch von der Ressourcenausstattung der Vollzugsverwaltungen ab. Ergebnis war (und ist weiterhin) das gegen Ende der siebziger Jahre zuerst von Verwaltungs- und Politikwissenschaftlern beklagte Vollzugsdefizit in der Umweltpolitik

  • Die Durchsetzung regulativer Instrumente ist meist mit Konflikten zwischen Staat und Adressaten verbunden: So fuhren regulative Instrumente zu Abwehrreaktionen der Betroffenen, in der Umweltpolitik vor allem der mächtigen Industrie. Im Naturschutz stoßen regulative Instrumente (z.B. die Ausweisung von Naturschutzgebieten oder Nationalparks) auf hohe Widerstände bei der betroffenen Bevölkerung oder sektoralen Interessen (vor allem Landwirtschaft). Gerade in der Auseinandersetzung mit den Vor- und Nachteilen der regulativen Instrumente wurden Alternativen diskutiert: Vor allem Ökonomen weisen seit Ende der 1970er Jahre immer wieder auf die potenziellen Vorteile ökonomischer umweltpolitischer Instrumente hin.


Ökonomische Instrumente


  • Als ökonomische Instrumente gelten solche politischen Regelungseingriffe, die auf formaler Ebene durch den Austausch von „ökonomischen Werten“ (z.B. durch das Medium „Geld“) die Handlungen von Gesellschaft und Wirtschaft beeinflussen. Bei den ökonomischen Instrumenten ist der Koordinationsmechanismus der Preis, der sich durch die ökonomische Anreizsetzung des Staates u.a. in Form von Steuern oder Subventionen hinsichtlich erwünschter oder unerwünschter Tatbestände für die Adressaten ändert und diese zu entsprechenden Verhaltensänderungen bewegen soll

  • Der Staat setzt entsprechende finanzielle Anreize, die Reaktionen auf ökonomische Anreize verbleiben hier relativ flexibel und dezentral bei den gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Akteuren. Die symbolische Funktion ist gerade nicht, erwünschtes Verhalten zu normieren, sondern rationales Kalkül zu legitimieren und den Spielraum für individuelle Entscheidungen so weit wie möglich zu fassen. Das Instrument zielt darauf ab, Nutzen bzw. Kosten einzelner Optionen der Adressaten und damit deren Handeln indirekt zu beeinflussen. Dennoch sind ökonomische Instrumente ebenfalls durch ein relativ hohes Maß an Autoritativität gekennzeichnet

  • Bei ökonomischen umweltpolitischen Instrumenten soll die Funktionslogik des Marktes angewendet werden, um umweltpolitisch erwünschte Verhaltensänderungen bei den Adressaten (Wirtschaft, Bürgerinnen und Bürger) herbeizuführen: Hier stehen vor allem Umweltabgaben (z.B. Ökosteuern) und handelbare Emissionsrechte (Emissionshandel) im Mittelpunkt der politischen und wissenschaftlichen Diskussion. Die theoretischen Grundlagen einer Umweltabgabe gehen dabei bereits auf den britischen Wohlfahrtsökonom Pigou zurück, der in den 1920er Jahren argumentierte, dass im Falle negativer externer Effekte wirtschaftlicher Tätigkeit eine Steuererhebung zu einer „Internalisierung externer Kosten“ führen kann, indem dieses unerwünschte Verhalten durch die Wirkungen der Steuer auf die steuerpflichtigen Akteure verringert wird („Pigou-Steuer“, Pigou 1920: 129). Dieses ökonomische Instrument wird auch als „Preislösung“ bezeichnet, während die alternativ diskutierten handelbaren Emissionsrechte, welche theoretisch auf den Ökonomie-Nobelpreisträger Coase zurückgehen (Coase 1960), als „Mengenlösung“ bezeichnet werden, da hier nicht staatlich Preise für Umweltnutzungen gesetzt werden, sondern eine Höchstmenge an Emissionen („Cap“) festgelegt wird, deren Preis sich erst auf dem Markt durch Handel von Zertifikaten („Trade“) bildet. Ein Beispiel hierfür ist der seit 2005 bestehende europäische Emissionshandel

  • Grundlage einer Umweltabgabe ist, dass der Staat einen zu erreichenden Umweltstandard festlegt (z.B. ein Emissionsminderungsziel, etwa die Reduktion von CO2-Emissionen um 20 % innerhalb von 10 Jahren), der dann mit Hilfe einer Abgabe auf umweltbelastende Tatbestände sukzessive erreicht werden soll (Baumol/Oates 1971). In der Umweltpolitik könnten z.B. CO2-Emissionen oder allgemeiner der Energieverbrauch mit einer Abgabe belegt werden, die dann dafür sorgt, dass Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen einen permanenten Anreiz haben, diese Tätigkeiten angesichts steigender Preise einzuschränken. „Dann wird jeder einzelne Abgabenpflichtige die Kosten der Verringerung einer Umweltbelastung mit der dadurch ersparten Abgabenlast vergleichen und die Belastung so lange reduzieren, wie ihm dadurch ein finanzieller Vorteil entsteht.“

  • Das Lenkungsprinzip von Umweltabgaben besteht darin, dass jeder einen Anreiz hat, seine umweltbelastende Tätigkeit einzuschränken, da ihm dies erlaubt, Steuern zu sparen. Es beruht auf der möglichen individuellen Kosten-/Nutzenabwägung zwischen einzuschränkender Umweltbelastung und Steuerersparnis anhand preislicher Signale. Unternehmen schränken ihre umweltschädigende Tätigkeit ein, solange die Kosten ihrer Bemühungen geringer sind als die zu entrichtende Abgabe. Wird der dazu nötige technische Aufwand teurer als die einzusparenden Abgaben, ist der Punkt erreicht, an dem sie eher die Abgabe zahlen. Im Vergleich zum Ordnungsrecht enthält die Abgabe eine dynamischere Wirkung, da sie Anreize bietet, Umweltbelastungen unabhängig von Grenzwerten angesichts individueller komparativer Kostenvorteile zusätzlich einzuschränken.

  • Ein wichtiger Nachteil ökonomischer Instrumente ist, dass deren Einsatz häufig mit hohen politischen Widerständen und Konflikten verknüpft ist – gerade, weil sie sehr frühzeitig transparent machen, auf wen welche Kosten zukommen. Die Diskussion um die ökologische Steuerreform oder jünger, die CO2-Abgabe in Deutschland hat gezeigt, dass zum einen die Industrie versucht, Ausnahmeregelungen und niedrige Abgabensätze durchzusetzen, die der eigentlichen Lehrbuchwirkung des Instrumentes zuwiderlaufen. Zum anderen stoßen Umweltabgaben nicht unbedingt auf hohe Akzeptanz in der Bevölkerung, beispielsweise, wenn höhere Mineralölsteuern zu höheren Benzinpreisen führen. Die regelmäßig durchgeführten repräsentativen Umweltbewusstseinsstudien des BMU zeigen, dass höhere Abgaben und Steuern nicht mit einer breiten gesellschaftlichen Zustimmung rechnen können

  • So können sich die aus ökonomischer Sicht bestehenden Vorteile von ökonomischen Instrumenten aus einer politikwissenschaftlichen Perspektive, die die mit diesem Instrument verbundenen Konflikte einbezieht, relativier


Prozedurale Instrumente


  • Prozedurale Instrumente sind aus der (u.a. systemtheoretischen) Überlegung entwickelt worden, dass es durch politische Intervention immer nur bedingt gelingen kann, mit Erfolg in die Funktionslogik komplexer, eigenwilliger Systeme einzugreifen. Ausgehend von dem Ansatz der „dezentralen Kontextsteuerung“ (Teubner/Willke 1984) wurden Ansätze entwickelt, um etwa Firmen, Planungsverfahren etc. mit ihren eigenen Umwelteffekten zu konfrontieren und sie zu einer Auseinandersetzung damit zu zwingen, ohne diese im Ergebnis zu normieren. Weil dies insbesondere durch die Vorgabe von Verfahren geschieht, nennt man diese auch prozedurale Instrumente. Ein wichtiges Beispiel ist die

    aufgrund einer europäischen Richtlinie 1987 eingeführte Umweltverträglichkeitsprüfung, die vorschreibt, dass für bestimmte Planungsvorhaben (z.B. Flussvertiefungen, Ferienanlagen, Rennstrecken etc.) eine obligatorische Ermittlung der Umweltauswirkungen stattfinden muss. Genannt werden kann auch das ebenfalls aufgrund europäischer Vorgaben 1995 eingeführte Umweltmanagementsystem EMAS, mit dem Firmen und andere Organisationen ihre Umweltauswirkungen systematisch ermitteln und reduzieren können

  • Diese Instrumente zwingen eigenwillige Systeme wie Industrieunternehmen oder Planungsprozesse für Infrastrukturprojekte dazu, sich mit ihren schon bestehenden oder noch erwartbaren Umweltauswirkungen auseinanderzusetzen, ohne dabei inhaltliche Vorgaben für die Ergebnisse zu machen. Die rechtliche Umsetzung dieser Instrumente in Deutschland traf zunächst auf deutliche Schwierigkeiten, weil der sektorübergreifende Ansatz mit dem stark sektoralisierten deutschen Umweltrecht zunächst nur schwer kompatibel war


Kooperative Instrumente


  • Bei kooperativen Instrumenten kommen politische Regelungseingriffe durch Verhandlungen zwischen Staat und wirtschaftlichen sowie gesellschaftlichen Akteuren zustande. Durch den Koordinationsmechanismus der Verhandlungen zwischen Staat und gesellschaftlichen Akteuren soll eine einvernehmliche Lösung gefunden werden, die Grundlage des beabsichtigten kollektiven Handelns wird. Kooperative Instrumente beinhalten auf den ersten Blick ebenfalls wenig direkte Hierarchie und Kontrolle des Staates, da sie auf gleichberechtigten Verhandlungen zwischen den verschiedenen Akteuren, unter Umständen sogar ganz ohne staatlichen Einfluss, beruhen. Kooperative Instrumente zeichnen sich durch Freiwilligkeit, eine geringe Regelungsdichte, ein großes Maß an Freiheit des Adressaten bei der Umsetzung und das Fehlen rechtlicher Kontroll- und Sanktionsmechanismen aus (Töller 2012: 43ff.). Dabei darf man aber aus der fehlenden rechtlichen Durchsetzbarkeit nicht schließen, der Staat interveniere hier nicht. Er tut dies vielmehr durch die Verhandlung von Vereinbarungen, und diese finden „im Schatten der Hierarchie“, also unter der Androhung staatlicher Intervention, statt. Charakteristisch für kooperative Instrumente ist, dass sie sich pragmatisch in der politischen Praxis entwickelten und überhaupt erst relativ spät als staatliche Handlungsform in das Bewusstsein politischer wie wissenschaftlicher Akteure geraten sind

  • Neben kooperativen Arrangements in der Normung oder der Setzung anderer technischer Regeln sind Umweltvereinbarungen, die auch als Selbstverpflichtungen bezeichnet werden, die wichtigsten Fälle kooperativer Instrumente. In ihnen vereinbaren die Regierung und Wirtschaftsverbände (im Ausnahmefall einzelne Konzerne) die Erreichung umweltpolitischer Ziele ohne gesetzlichen Zwang. Beispiele sind die Vereinbarung zur Nutzungsbeendigung von FCKW in Spraydosen 1977 und 1987, von Asbest im Hochbau aus dem Jahr 1982, die Vereinbarung zur Entsorgung von Altautos von 1996, die Klimaerklärung der deutschen Wirtschaft von 1995/96 oder der Atomkonsens von 2000. Als Vorteile kooperativer Instrumente gelten das (gegenüber Gesetzen) schnellere Zustandekommen, die größere Flexibilität sowie die Zustimmung der Regulierten, die die Implementationsbereitschaft verbessern sollen. Deutliche Nachteile liegen in den Schwierigkeiten der Umsetzung, die sowohl in den Problemen der Verbände, ihre Mitglieder in Fällen von Trittbrettfahrertum (s.u.) zu disziplinieren, als auch in der mangelnden staatlichen Sanktionsfähigkeit liegen


Informationelle Instrumente


  • Informationelle Instrumente sind politische Regelungen, die auf formaler Ebene ausschließlich über Information die Handlungen von Gesellschaft und Wirtschaft zu beeinflussen versuchen

  • Informationelle Instrumente sollen das Wissen der Adressaten erhöhen, diese von bestimmten Zusammenhängen überzeugen oder in Bezug auf umweltrelevantes Verhalten moralische Appelle formulieren (Vedung 2007: 48). Die Adressaten sollen zu verändertem Verhalten aktiviert, nicht jedoch sanktioniert werden (Pollex 2019: 37). Die informationellen Instrumente30 stellen in unserer Typologie diejenigen Instrumente dar, die den geringsten Grad an staatlicher Intervention beinhalten: Informationen sollen ohne Zwang oder mit ihnen verbundenen finanziellen Anreizen versuchen, Gesellschaft und Wirtschaft zu beeinflussen.

  • Informationen dienen in der Umweltpolitik insbesondere der Aufklärung der Bürgerinnen und Bürger, Verbände oder Unternehmen. In Bezug auf viele Umweltprobleme benötigen Bürgerinnen und Bürger zunächst Informationen, damit sie potenzielle Gefahren erkennen und ihre Interessen wahrnehmen können. Informationelle Instrumente in der Umweltpolitik dienen also zur Vermittlung umweltpolitisch relevanter Informationen. Zu den wichtigsten informationellen Instrumenten in der Umweltpolitik gehören die staatliche Umweltberichterstattung und die Informationsrechte des Bürgers/der Bürgerin. Umweltberichterstattung umfasst die Veröffentlichung aller umweltrelevanten Daten eines Unternehmens oder des Staates. Für die Umweltberichterstattung über den Zustand der Umwelt in Deutschland gelten der 1979 veröffentlichte Umweltqualitätsbericht Baden-Württembergs (Zieschank 1992) und der 1983 veröffentlichte Umweltatlas von Koch und Vahrenholt (1983) als wichtige historische Marksteine, die wichtige Umweltdaten dokumentierten und den Zustand der Umwelt bewerteten.

  • Seit 1984 veröffentlicht das Umweltbundesamt regelmäßig die „Daten zur Umwelt“31, seit 1996 das Bundesamt für Naturschutz die „Daten zur Natur“. Die Daten zur Umwelt können als erster umfassender bundesweiter Umweltbericht angesehen werden. Solche Umweltberichte sollen zugleich der Aufklärung der BürgerInnen sowie der Frühwarnung dienen (Krott 1998: 78).

    Wichtige bundesländerbezogene Daten zur Umweltpolitik und Nachhaltigkeit werden inzwischen im Rahmen der „Länderinitiative Kernindikatoren“ (LiKi) bereitgestellt.33 Zudem existiert im Rahmen der Umsetzung der Sustainable Development Goals der UN (SDG) eine regelmäßige Berichtslegung der Bundesrepublik in Bezug auf den Umsetzungsstand der 17 einzelnen Nachhaltigkeitsziele, die über umweltpolitische Aspekte hinausgehen. Ein weiteres wichtiges informationelles Instrument stellt das Umweltinformationsgesetz dar, das seit 1994 den Behörden vorschreibt, Daten über den Zustand der Umweltmedien Boden, Wasser, Luft, Flora und Fauna sowie umweltrelevante Daten über öffentliche und private Projekte auf Anfrage der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dieses Gesetz setzte eine seit 1990 bestehende EU-Richtlinie zum freien Zugang auf Umweltinformationen in nationales Recht um

  • Für Unternehmen bestehen bestimmte Umweltberichtspflichten, so z.B. seit 1992 die Pflicht zur Vorlage von Emissionsberichten für alle genehmigungspflichtigen Anlagen nach dem BImschG oder die Pflicht zur Erstellung von Abfallbilanzen für bestimmte Betriebe nach dem Kreislaufwirtschaftsgesetz (Rogall 2000: 198). Zudem legen Unternehmen regelmäßig Umweltberichte vor, deren Qualität aufgrund fehlender Normen jedoch sehr unterschiedlich ist

  • Eines der bekanntesten informationellen Instrumente stellt der schon seit 1978 bestehende „Blaue Engel“ dar, der für die Analyse und Veröffentlichung der ökologischen Eigenschaften von Produkten (und inzwischen auch Dienstleistungen) steht; hiermit soll Verbrauchern eine Informationsgrundlage für ihre Kaufentscheidung gegeben werden. Der Blaue Engel gilt als erstes Umweltzeichen Deutschlands und soll „Orientierungshilfe und Innovationstreiber“ sein. Er wurde zum Vorbild für vergleichbare Labels, z.B. die 1992 eingeführte „Europäische Blume“ oder jüngst der 2019 eingeführte „Grüne Knopf“ zur Kennzeichnung von fair und ökologisch produzierter Kleidung

  • Vorteile informationeller Instrumente sind deren vergleichsweise leichte Umsetzung, Nachteile stellen deren unsichere (in der Regel geringe) Steuerungswirkung dar, die vor allem dadurch bedingt ist, dass informationelle Instrumente nicht an Sanktionen gekoppelt sind. Kooperative und informationelle Instrumente werden mitunter auch gemeinsam als „weiche“ Instrumente („soft instruments“) bezeichnet



Verhaltenswissenschaftliche Instrumente


  • Neben den bereits beschriebenen Instrumentenformen, die in der klassischen Instrumententypologie gut abgebildet werden, wird seit einigen Jahren über eine weitere Form von politischen Instrumenten diskutiert, die sich nicht so ohne Weiteres in der vorgestellten Typologie verorten lässt und aufgrund ihrer wachsenden Bedeutung an dieser Stelle eine eigenständige Betrachtung rechtfertigt. Die Rede ist von den sogenannten verhaltenswissenschaftlichen Instrumenten. Dabei sollen neuere verhaltensökonomische und psychologische Erkenntnisse genutzt werden, um über eine entsprechende Ausgestaltung politischer Instrumente das Verhalten der Adressaten zu steuern. Solche Instrumente werden für verschiedene Politikfelder diskutiert, u.a. in der Gesundheits-, Konsum- oder eben auch in der Umweltpolitik.

  • Ausgangspunkt sind neuere ökonomische und psychologische Erkenntnisse über das menschliche Verhalten in Entscheidungssituationen, nach denen Akteure keineswegs rational verschiedene Alternativen miteinander vergleichen und abwägen. Vielmehr agieren sie mindestens im Sinne des auch unserem Akteursverständnis entsprechenden Modells der begrenzten Rationalität nach Simon, das in den verhaltensökonomischen Ansätzen oft als Ausgangspunkt dient. Jedoch werden noch stärker weniger berechenbare Anomalien vom nutzenorientierten Verhalten betrachtet. Danach sind Entscheidungen häufig von Urteilsverzerrungen und Fehlern geprägt. Weber und Schäfer fassen einige solcher Anomalien in Entscheidungssituationen zusammen (Weber/Schäfer 2017: 10 f.), unter anderem die sogenannte „Framinganomalie“, nach der es auch auf die Präsentation von Alternativen, also deren Framing, ankommt, welche Entscheidungen Akteure treffen (z.B. „das Glas ist halbvoll“ vs. „das Glas ist halbleer“). Der „Status quo bias“ besagt, dass Individuen den Status quo gegenüber Abweichungen von diesem präferieren.

  • Auch wird oft der kurzfristige Genuss gegenüber langfristigen negativen Folgen höher wertgeschätzt – ein Beispiel sind die kurzfristigen Präferenzen bzgl. Alkoholgenuss vs. dessen langfristigen Folgen. Akteure sind häufig phlegmatisch und treffen suboptimale Entscheidungen, weil „sie unaufmerksam sind, keine Lust haben sich zu informieren oder einfach Besseres vorhaben“. Aufgrund dieser (und weiterer) vermeintlicher Entscheidungsanomalien gehen verhaltensökonomische Ansätze davon aus, dass sich Individuen in bestimmten Situationen auf ihr eigenes Wohl bezogen nicht rational verhalten. Sie treffen aufgrund solcher Anomalien fehlerhafte Entscheidungen, die ihnen eigentlich mittel-und langfristig schaden. Eine seit einigen Jahren breit diskutierte Lösung, mit solchen Verhaltensanomalien umzugehen, ist der Ansatz des sogenannten „Nudging“ (Anstupsens). Dabei geht es darum, die Rahmenbedingungen menschlicher Entscheidungen in vorhersehbarer Weise so zu beeinflussen, dass Individuen sich dann unbewusst rationaler verhalten.

  • Das Ganze geht zurück auf den US-amerikanischen Ökonom Richard Thaler und den amerikanischen Rechtswissenschaftler Cass Sunstein, die solche „Nudges“ in ihrem mittlerweile berühmt geworden Buch „Nudge. Improving Decisions About Health, Wealth, and Happiness“ beschrieben haben. Für diese geht es darum, die “Choice Architecture”, also die Entscheidungsarchitekturen so zu verändern, dass Akteure für sie selbst weniger schädliche bzw. bessere Entscheidungen treffen. Es geht um die aktive Veränderung von Entscheidungssituationen, „that alters people’s behavior in a predictable way without forbidding any option or significantly changing their income incentives”

  • Nudging macht sich das unbewusste Reagieren auf bestimmte kognitive und emotionale Anreize zunutze (Pollex 2019: 37). Im Gegensatz zu den „konventionellen“ politischen Instrumenten wirken Nudges also unbewusst, d.h., ohne dass diese als verhaltenssteuernde Maßnahmen wahrgenommen werden – letztendlich geht es um eine Form der Manipulation menschlichen Verhaltens. Das Ganze wird international unter dem Stichwort „libertärer Paternalismus“ diskutiert, d.h. bei aller möglicher gezielter (staatlicher) Manipulation von Entscheidungssituationen sollen die Individuen dennoch immer nach wie vor die Freiheit besitzen, sich auch anders entscheiden zu können. Laut Thaler und Sunstein können Regierungen sich diese Prinzipien zunutze machen und demokratisch-legitimiert zu „choice architects“ werden, um „people‘s choices in directions that will improve their lives“ zu steuern

  • Ein Beispiel ist die Ernährung: so könnte man durch Nudging versuchen, vegetarische oder besonders gesunde Speisen in Kantinen prominenter zu präsentieren (z.B. gleich am Eingang auf Augenhöhe), sodass diese eher in das Blickfeld der Konsumenten gelangen. Dadurch könnte sich der Absatz von solchen Speisen zuungunsten weniger gesunder Alternativen vergrößern, ohne dass die Besucher diese gezielte Beeinflussung überhaupt bemerken. Allerdings besteht weiterhin durchaus die Möglichkeit, fleischhaltige, fettige Gerichte oder Süßigkeiten zu wählen. Bei Sunstein und Thaler heißt es dazu: „Putting fruit at eye level counts as a nudge. Banning junk food does not“. Solche Nudging-Techniken sind in den 2010er Jahren politisch relevanter geworden. Z.B. wurden entsprechende Nudging-Stäbe bei den Regierungen in den USA, in Großbritannien und schließlich 2014 auch in Deutschland beim Bundeskanzleramt eingerichtet

  • Die Nutzung verhaltenswissenschaftlicher Instrumente ist auch für die Umweltpolitik relevant: hier geht es ja oft darum, dass sich Menschen kurzfristig in einem Sinne verhalten, der ihnen (oder anderen) langfristig Schaden zufügt. Beim Wasser- und Energieverbrauch beispielsweise werden Nudges erprobt, die darin bestehen, dass auf den Rechnungen für die VerbraucherInnen deren Verbrauch mit dem der NachbarInnen verglichen wird. Angenommen wird ein Anreiz, besser als andere zu sein, wodurch ein starker Wille entstehen sollte, Wasser und Strom zu sparen, was letztendlich positive ökologische Folgen hat.

  • Für den Bereich des nachhaltigen Konsums ermittelte ein Forschungsprojekt im Auftrag des Umweltbundesamtes konkrete Ansätze für den Einsatz von Nudges in der verbraucherbezogenen deutschen Umweltpolitik. Darunter finden sich Vorschläge wie eine „Smartphone-App für spritsparendes Fahren“, „Dusch-Tools“ zur Einsparung von Wasser im Sanitärbereich oder die Einführung von unterteilten Einkaufswagen, mit deren Hilfe Signale gesetzt werden, mehr Obst und Gemüse einzukaufen. Danach sollten die Fächer von Einkaufswagen größenmäßig unterschiedlich aufgeteilt werden, z.B. in größere Fächer für Obst, Gemüse oder regionale und Bioprodukte und kleinere Fächer für Fleisch und Milchprodukte

  • Allerdings ruft der Nudging-Ansatz auch verschiedene Kritik hervor: so wird u.a. kritisiert, dass Nudging die Autonomie des Individuums beschneide und Akteure in die manipulativen Hände paternalistischer Planer gerieten, ohne dies selbst erkennen zu können. Aus urteilsfähigen Bürgern könnten so „verhaltenstechnisch gelenkte Versuchsobjekte“ werden. Aus demokratietheoretischer Sicht kann im Gegensatz zu anderen Instrumenten kritisiert werden, dass die Auswirkungen politischer Entscheidungen zum Nudging gar nicht mehr als solche erkannt werden und eine demokratische Kontrolle durch den Souverän erschwert wird. Zumal Nudges besonders dann erfolgreich zu sein scheinen, wenn ihre Absicht und ihr Einsatz geheim gehalten werden.

  • Auch ist die missbräuchliche Verwendung von Nudges eine mögliche Gefahr, insbesondere, wenn sich Regierungen Nudging-Techniken zunutze machen und dabei nicht nur vermeintlich „gute Dinge“ im Sinn haben. Diese Techniken könnten von autoritativen Systemen entsprechend missbraucht werden, insbesondere im Zusammenhang mit neuen Technologien wie Big Data. Das in China eingeführte umfassende Social Scoring System, mit dessen Hilfe Aktivitäten von BürgerInnen erfasst, bewertet und bei entsprechender „Malus“-Bewertung auch sanktioniert werden soll, weist in eine solche Richtung. Ein prominenter Kritiker der verhaltenswissenschaftlichen Steuerung ist Gigerenzer, der u.a. die Evidenz einer systematischen Irrationalität von Entscheidungen bestreitet und zum anderen argumentiert, dass Akteure durchaus auf der Basis empirischer Fakten lernen könnten: man müsste Menschen nicht täuschen und „nudgen“, damit diese sich besser verhalten, man müsste dafür sorgen, dass sie auf der Basis besserer Informationen risikobewusster agieren können

  • Ein weiteres, aus politikwissenschaftlicher Sicht gewichtiges Argument ist, dass die Vorstellung der Rolle staatlicher Entscheidungsarchitekten davon ausgehe, dass diejenigen, die Nudges entwickeln und einsetzen, also versuchen, Menschen zu „rationaleren“ Entscheidungen zu bringen, im Gegensatz zu diesen Steuerungsobjekten nicht den gleichen Irrationalitäten unterlägen und frei vom Einfluss politischer Interessen seien . Denn wenn man theoretisch davon ausgeht, dass Akteure keine rationalen Entscheidungen treffen, dann muss das natürlich in der Konsequenz für alle betrachteten Akteure gelten, auch für die „Choice Architects“ selbst. Die Annahme, dass die politischen „Nudger“ bessere Menschen seien als die zu „nudgenden“, erscheint fragwürdig. Eine weitere offene Frage ist gerade bei umweltrelevanten Problemen, wie mit Unsicherheiten umgegangen wird: wie können verhaltenswissenschaftliche Instrumente designt und das Verhalten von Individuen in eine bestimmte Richtung gelenkt werden, wenn man gar nicht genau weiß, was die richtige Richtung und welche die richtige Entscheidung ist?


Die Verwendung und die Bedeutung von Instrumenten


  • Die Diskussion über die sogenannten neuen Instrumente (oder Steuerungskonzepte) in der Umweltpolitik lässt manchmal den Eindruck entstehen, in der Umweltpolitik würde heute überwiegend mit neuen Instrumenten gearbeitet. Abgesehen davon, dass insbesondere die kooperativen Instrumente gar nicht neu sind, sondern eine lange Tradition haben, besteht der wesentliche Teil der umweltpolitischen Gesetze immer noch aus ordnungsrechtlichen Ge- und Verboten, Grenzwerten und Genehmigungsverfahren, und die Möglichkeit des Staates, autoritativ zu intervenieren, steht immer noch im Mittelpunkt. Das gilt auch und besonders für die Umweltpolitik der EU (Rittberger/Richardson 2003). Informationsbasierte und kooperative Instrumente gibt es in der deutschen Umweltpolitik schon seit den 1970er Jahren ergänzend, wobei es hier auch bestimmte Moden gibt: Mitte der 1990er Jahre wurden Umweltvereinbarungen geradezu exzessiv verwendet, um danach weitgehend in der Versenkung zu verschwinden (Töller 2012). Tatsächlich zugenommen hat seit den 1990er Jahren die Verwendung ökonomischer Instrumente, man denke nur an die bereits erwähnte Öko-Steuer, die Einspeisevergütung für erneuerbare Energien oder den Emissionshandel

  • . Innerhalb der „Familie“ ökonomischer Instrumente gibt es allerdings selbst auch Konjunkturen – waren Ökosteuern aufgrund ihrer schwierigen politischen Durchsetzung lange politisch „tot“ und lag der Fokus insbesondere auf dem europäischen Emissionshandel und dessen Weiterentwicklung, kamen seit 2018 Umweltabgaben wie eine CO2-Abgabe wieder stärker auf die politische Agenda der deutschen und europäischen Umweltpolitik. So unternahm die EU-Kommission 2019 einen neuen Anlauf, die seit 2003 unveränderte Energiesteuerrichtlinie der EU (2003/96/EG), die Mindeststeuersätze z.B. für Benzin festlegt, hinsichtlich aktueller Erfordernisse des Klimaschutzes zu reformieren

  • Für die Aufrechterhaltung des ordnungsrechtlichen Instrumentariums gibt es neben dem Argument der Pfadabhängigkeit (siehe Kap. 5.1) auch gute umweltpolitische Gründe. Nicht nur sind die „neuen“ Instrumente in ihrer tatsächlichen Wirkung häufig nicht a priori bekannt. Weil es die Logik ökonomischer Instrumente ist, dass Umweltschutz vorrangig dort betrieben wird, wo er am günstigsten ist, könnte überdies eine vollständige Ablösung ordnungsrechtlicher Instrumente durch ökonomische zu einer Bildung von „Hot Spots“ führen, in denen die Umweltqualität deutlich schlechter ist als anderswo, was die Lebensqualität der Bürgerinnen und Bürger ungleichmäßig beeinträchtigen würde

  • In der Realität treten zudem politische Instrumente selten in ihrer Reinform auf. Vielmehr ist gerade in der Umweltpolitik die Verwendung von Hybriden, also Mischformen verschiedener Instrumente, sowie die Kombination mehrerer Instrumente zur Lösung eines umweltpolitischen Problems die Regel . Neue Instrumente werden häufig „on top“ auf bestehende Regelungen aufgesetzt, ohne dass dabei die bereits existierenden Instrumente abgeschafft werden. Das führt mitunter dazu, dass sich die Instrumente eher gegenseitig behindern als verstärken oder zu umweltpolitisch widersprüchlichen Effekten führen können

  • Bei der gerade in der Umweltpolitik manchmal sehr ideologisch geführten Diskussion über Instrumente wird allgemein die Bedeutung von Instrumenten für die ökologischen Ergebnisse überschätzt. Inzwischen haben viele Autoren darauf hingewiesen, dass Instrumente alleine umweltpolitischen Erfolg nicht determinieren. Vielmehr sind es u.a. das Gesamtgefüge der Instrumente und der politische Kontext, die den Erfolg bestimmen. Dies stellte Majone schon 1976 fest: „The performance of policy instruments depends more on the institutional framework within they are used than on their characteristics



Umweltpolitische Vorreiterrolle Deutschlands


  • Als abhängige Variable der Umweltpolitikforschung werden neben der inhaltlichen Veränderung oder dem Wandel einzelner Umweltpolitiken auch umweltpolitische Gesamtbilanzen (meist im Ländervergleich) untersucht. Daher gehen wir diesem Abschnitt auf zwei Forschungsrichtungen ein, die die deutsche Umweltpolitik in einem vergleichenden Kontext bewerten. Die eine zielt auf die Ermittlung des Policy-Outputs, genauer der umweltpolitischen Performanz, die andere auf die Ermittlung des Policy-Outcomes (im weitesten Sinne), genauer der Umweltqualität (oder Umweltperformanz)

  • Die Bezeichnung von Staaten als Vorreiter („Leader“) oder Nachzügler („Laggards“) hat eine gewisse Tradition in der Umweltpolitikforschung und der Policy-Forschung insgesamt. Im Feld der Umweltpolitik geht sie vor allem auf die Arbeiten von Jänicke und anderen zurück. Liefferink et al. griffen diesen Ansatz Mitte der 1990er Jahre auf, um die umweltpolitische Positionierung der EU-Staaten zu untersuchen (Andersen/Liefferink 1997) – hier geht es um Umweltpolitik (also Output) und nicht um Umweltqualität (das wäre Outcome). Hintergrund dieser Studien ist nicht nur das Anliegen einer (immer auch implizit lobenden oder tadelnden) Klassifizierung der Länder, sondern auch die Annahme, dass im internationalen Kontext über verschiedene Mechanismen eine gewisse Dynamik entsteht, so dass Vorreiter Nachzügler animieren, ihre Umweltpolitik zu verstärken. In den frühen Studien waren allerdings die Kriterien für die Einstufung einzelner Länder als „Leader“ oder „Laggards“ nicht immer ganz klar.

  • In der Studie von Liefferink et al. werden 24 Staaten (21 europäische Staaten plus USA, Mexico und Japan) hinsichtlich der Stärke ihrer Umweltpolitiken untersucht, wobei die Autoren betonen, dass sie die Begriffe „Leader“ und „Laggards“ als analytische Konstrukte und nicht mit einer normativen Tendenz verwenden. Ziel der Studie ist nach der so gestalteten Ermittlung der umweltpolitischen Leistung eine Erklärung der Varianz mit Hilfe verschiedener Erklärungsfaktoren. Liefferink et al. haben für jeden Staat die Regulierung von 40 Umweltproblemen („environmental policy issues“, Liefferink et al. 2009: 677) zu vier Zeitpunkten (1970, 1980, 1990 und 2000) gemessen. Dabei werden die Länder über ihren Abstand zu dem Land mit der besten umweltpolitischen Leistungsbilanz eingestuft. Im Hinblick auf die uns hier interessierende Umweltpolitik Deutschlands wird damit die Annahme überprüft, Deutschland gehöre (neben den Niederlanden, Dänemark und Schweden) zu den umweltpolitischen Vorreiterstaaten. Und in der Tat bestätigt sich diese Annahme: Während Deutschland hinsichtlich der Frage, ob überhaupt Umweltpolitiken verabschiedet wurden, noch 1970 und 1980 eher mittlere Plätze einnimmt, aber schon 1990 das Ranking anführt und 2000 seinen „Gap“-Wert drastisch verbessert, holt es hinsichtlich der Strenge der vorhandenen umweltpolitischen Regelungen schon 1980 deutlich auf und ist auch hier 1990 und 2000 ein unangefochtener Vorreiter, und zwar vor den Niederlanden, Österreich, Schweden und Italien (Liefferink et al. 2009: 685ff.). Auch in einer Studie von Sommerer bestätigt sich der umweltpolitische Vorreiterstatus Deutschlands

Umweltperformanz Deutschlands

  • Allerdings hat schon die Implementationsforschung der 1970er Jahre gezeigt, dass strenge Gesetze (Output) noch lange nicht zwingend eine Verbesserung der Umweltqualität (Outcome) hervorbringen. Daher setzen verschiedene Studien bei der vergleichenden Erhebung ökologischer Qualitätsparameter an und untersuchen teilweise auch, mit welchen Faktoren (institutioneller oder akteursbezogener Art) diese zusammenhängen. Hier interessieren wir uns in erster Linie für die Konstruktion und Resultate dieser „Rankings“

  • Martin Jänicke und seine Kollegen an der Forschungsstelle für Umweltpolitik der Freien Universität Berlin untersuchten bereits Ende der 1980er Jahre die Erfolgsbedingungen von Umweltpolitik im internationalen Vergleich (z. B. Jänicke 1990) und setzten dabei zunächst bei der Umweltqualität an. Untersucht wurde, wie sich in 32 Ländern zwischen 1970 und 1985 die Umweltqualität entwickelte, wobei die durchschnittlichen Veränderungsraten der Emissionen von Schwefeldioxid, Stickoxiden, Kohlenmonoxid und Kohlenwasserstoffen, die Fließgewässerqualität und der Kläranlagenbau betrachtet wurden. Weiter wurde untersucht, wie diese Resultate mit anderen ökonomischen Bedingungen (z.B. der Erwerbsquote) im Zeitverlauf korrelieren. Ein wichtiges Ergebnis dieser Studien war, dass diejenigen Länder, die den ökonomischen Strukturwandel seit der Ölkrise der 1970er Jahre beschäftigungspolitisch bewältigen konnten, im Umweltschutz erfolgreicher sind als diejenigen, denen dies nicht gelungen ist. Interessant aus heutiger Sicht ist dabei, dass in diesen frühen Vergleichsstudien umweltpolitischer Performanz Deutschland (damals die „alte“ Bundesrepublik) in der Umweltqualität nur den 10. Platz belegte. Die Staaten, in denen sich die erwähnten Umweltqualitätsindikatoren bis 1985 am positivsten entwickelten, waren Japan, die Niederlande, Luxemburg und Schweden

  • Jahn betrachtete 1998 die umweltpolitische Performanz von 18 OECD-Ländern zwischen 1980 und 1990 (anhand von OECD-Daten über Luft-, Wasser- und Bodenverschmutzung sowie die Abfallproduktion) sowie den Energieverbrauch und gruppiert Deutschland (gemeinsam mit den Niederlanden, Österreich und Dänemark) in die Gruppe der Länder mit einer positiven Umweltperformanz (Jahn 1998). In einer weiteren Studie nehmen Jahn und Wälti eine neue Berechnung der Umweltperformanz in 21 OECD-Ländern vor, bei der Deutschland direkt nach der Schweiz und noch vor Österreich, den Niederlanden und Schweden an zweiter Stelle steht

  • Zu ähnlichen Ergebnissen kommt auch Scruggs, der 1999 die Umweltperformanz in 17 westlichen Demokratien anhand eines Indexes aus Schwefeldioxid- und Stickoxidemissionen, Bodenbelastung durch Düngemittel, Abfallmengen, Glasrecycling und der Versorgung mit Abwasseraufbereitung zwischen 1970 und 1990 erfasst. Er sieht Deutschland sogar an erster Stelle noch vor den Niederlanden, Schweden und Japan

  • Vor dem Hintergrund vielfältiger Diagnosen einer abnehmenden Effektivität des Regierens einerseits und der empirisch eher wackeligen These des Demokratieforschers Arendt Lijphart, Konsensdemokratien seien im Hinblick auf ihre Policies ‚kinder and gentler‘ als Mehrheitsdemokratien, interessiert sich Roller in ihrer Untersuchung dafür, inwiefern Elemente des Regierungssystems dessen Effektivität („effectiveness“, Roller 2005: 2ff., in der deutschen Diskussion würde man vermutlich von Problemlösungsfähigkeit sprechen) beeinflussen. Statt politischer Maßnahmen nimmt auch sie (für den Zeitraum von 1974 bis 1995) „Performanz“ in den Blick (Roller 2005: 2f). Dabei betrachtet sie ökologische Performanz (neben der Performanz in der inneren Sicherheit, der Wirtschaftspolitik und der Sozialpolitik) als ein Kriterium für Effektivität.

  • Als Indikatoren für die ökologische Performanz wählt Roller die Emissionen von Schwefeloxid, Stickstoffoxid und CO2 in die Luft, kommunale Abfallproduktion, die Nutzung von Düngemitteln sowie den Verbrauch von Wasser. Für diese Auswahl spielt zum einen die Verfügbarkeit von Daten eine Rolle, zum anderen handelt es sich durchweg um Bereiche, in denen staatliche Interventionen erfolgen. Alle fünf Indikatoren werden schließlich zu einem Umweltqualitätsindex aggregiert. Im Vergleich mit 15 weiteren europäischen Staaten, Japan, den USA, Kanada, Australien und Neuseeland rangiert Deutschland hier eher im mittleren Feld und weist zwischen 1974 und 1990 knapp unterdurchschnittliche Werte auf, während es sich zwischen 1990 und 1995 auf leicht überdurchschnittliche Performanzwerte steigert. Beim Environmental Policy Index, mit dem Roller neben dem gerade erwähnten Umweltqualitätsindex auch Menge und Zustand natürlicher Ressourcen bemisst, schneidet Deutschland zunächst ebenfalls leicht unterdurchschnittlich und seit den 1990er Jahren leicht überdurchschnittlich ab, während die Schweiz und Japan, Norwegen, Schweden und Finnland, Österreich, aber auch Griechenland, Portugal und Spanien überdurchschnittliche Performanzwerte aufweisen

  • Wurster (2010) betrachtet die „Zukunftsvorsorge“ in Deutschland und konstruiert für die Umweltpolitik (als eines von vier Politikfeldern) den wohl komplexesten umweltpolitischen Leistungsindex, der selektive Aspekte der Umweltpolitik (z.B. Umweltausgaben, öffentlich und privat, Umweltsteuern, Ausgaben für Umweltforschung etc.) sowie Indikatoren der Umweltqualität (z.B. Emissionslevel, Abfallmengen, etc.) kombiniert (Wurster 2010: 230fF.). Bei ihm landet Deutschland wiederum auf einem vergleichsweise guten dritten Platz, hinter Dänemark und Österreich. Jahn legte 2016 (Paperback 2018) eine umfangreiche Studie vor, deren Ziel es ist, die Rolle politischer Faktoren für die Umweltperformanz von 21 hochindustrialisierten OECD-Staaten zwischen den 1970er Jahren und 2012 näher zu bestimmen

  • Neben mehreren sehr differenzierten Leistungsparametern (Jahn 2018: 149) unterscheidet Jahn grundlegend vier Leistungskategorien: Staaten mit schwacher Umweltperformanz (Muster I) sind Australien, Kanada, die USA, Griechenland, Neuseeland und Portugal; Staaten mit Verbesserungen bei der Umweltperformanz bei fortbestehenden Defiziten bei der CO2-Reduzierung (Muster II) sind Österreich, Finnland, Irland, Italien, Japan, Norwegen und Spanien; Deutschland gehört zu den Staaten mit starker Umweltperformanz einschließlich der CO2-Emissionen, jedoch mit Defiziten bei der Entsorgung von radioaktivem Abfall (Muster III), dabei sind zudem Belgien, Frankreich, Schweden, die Schweiz und das Vereinigte Königreich. Muster IV schließlich erfasst Staaten mit einer starken Umweltperformanz einschließlich der CO2-Emissionen und Entsorgung von radioaktivem Abfall, dazu gehören lediglich Dänemark und die Niederlande

  • Den sowohl hinsichtlich der Ländermenge und Bandbreite als auch hinsichtlich der abgefragten Indikatoren am breitesten angelegten Versuch in dieser Reihe stellt der Environmental Performance Index (EPI) der von den Universitäten Yale und Columbia in Zusammenarbeit mit dem Weltwirtschaftsforum entwickelt wurde und regelmäßig erhoben wird. Der Index erfasste 2018 180 Länder nach 24 Leistungs-Indikatoren in 10 Kategorien (von Klimawandel über Landwirtschaft, Fischerei, Wald, Wasser, Luftverschmutzung bis zur Biodiversität, und zwar im Hinblick auf die Vitalität der Ökosysteme und die Auswirkung auf die menschliche Gesundheit). In diesem Ranking, das maximal 100 Punkte vergibt, nimmt Deutschland mit 78,37 Punkten Platz 13 ein, weit hinter der Schweiz (Platz 1), Frankreich (Platz 2), Dänemark (Platz 3), Malta (Platz 4) und Schweden (Platz 5), aber noch vor Norwegen (Platz 14), Belgien (Platz 15) und Italien (Platz 16). Die USA rangieren hier auf Platz 27

  • Die Probleme solcher Daten sind offensichtlich: Grundsätzlich erscheint es schwierig, komplexe Zusammenhänge in simplen Zahlen auszudrücken; die Auswahl der Indikatoren (auch zwischen Belastungsniveau einerseits und Veränderungsrate andererseits) birgt immer ein gewisses Maß an Willkür und wirkt sich auf die Ergebnisse aus. Auch ergeben sich Fragen hinsichtlich der gleichen Messung und Erhebung der Daten (Scruggs 1999: 12). Vor allem aber reflektieren solche Umweltdaten nicht verzerrungsfrei die umweltpolitische Regulierungsleistung, sondern auch das Maß ökonomischer Entwicklung, das in vieler Hinsicht umweltpolitische Regulierung erst erforderlich macht – dies zeigen die bis 1995 noch deutlich überdurchschnittlichen Umweltwerte Portugals, Spaniens und Griechenlands in Rollers Untersuchung. Warum die USA als umweltpolitischer Vorreiter in allen Untersuchungen vergleichsweise schlechte bis sehr schlechte Werte haben, bleibt dabei eher unklar Gleichermaßen unklar bleibt, warum Deutschland in der Roller-Studie sowie auch im EPI-Ranking eine insgesamt nur durchschnittliche Umweltperformanz aufweist, während es in den anderen Studien zu den Spitzenreitern gehört. Selbst wenn, wie Jahn und Wälti zu Recht argumentieren, den unterschiedlichen Operationalisierungen von Umweltleistung unterschiedliche Erkenntnisinteressen zugrunde liegen, darf eine derart unterschiedliche Leistungsbilanz eines Landes überraschen und gibt unseres Erachtens auch Anlass zu gewisser Skepsis gegenüber der Aussagekraft solcher Analysen.



Die Problemstruktur der Umweltpolitik


  • Wie bereits eingangs erwähnt, steht in der Politikfeldanalyse als Teilbereich der Politikwissenschaft das Zustandekommen von Politikinhalten in einzelnen Politikbereichen („Politikfeldern“) im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses. Als Politikfelder gelten langfristige Konstellationen, die neben einem spezifischen Problem auch Akteure, Institutionen sowie Instrumente aufweisen (Loer et al. 2015). Die Umweltpolitik hat dabei vielleicht die steilste Karriere „von einer weitgehend belächelten Nischenexistenz über ein wichtiges Mobilisierungsthema bis hin zum anerkannten Politikfeld“ hinter sich (Roose 2009: 109). Dazu trugen wesentlich die Diskussion über das Waldsterben in den frühen 1980er Jahren sowie die Post-Tschernobyl-Diskussion bei, erst später gewann der Umweltschutz auch wirtschaftlich an Bedeutung

  • Innerhalb der Politikfeldanalyse haben verschiedene Autoren Überlegungen angestellt, ob und inwiefern die Beschaffenheit der in einem Politikfeld behandelten Probleme neben anderen Faktoren, wie z.B. Akteuren und Institutionen (s.u.), die politischen Ergebnisse beeinflussen. Dabei hat sich zur Beschreibung und Identifizierung solcher politikfeldspezifischen Unterschiede der Begriff der „Problemstruktur“ etabliert. Unter Problemstruktur wird allgemein verstanden, wie sichtbar und eindeutig z.B. das Problem ist, welche Bedeutung es für die Ökonomie hat, welche Anzahl, Vielfalt und gesellschaftliche Bedeutung die Problemverursacher aufweisen, ob es möglich ist, bestimmte Akteure eindeutig als Verursacher auszumachen, wie die Informationslage aussieht oder welche Lösungsansätze verfügbar sind (Tils 2001:311) und ob das Problem für Menschen wahrnehmbar oder von der Vermittlung durch Technik oder Wissenschaft abhängig ist.

  • Theodore Lowi argumentierte in einer berühmt gewordenen Analyse, dass die Struktur politischer Probleme maßgeblich den Verlauf politischer Prozesse, ihre Konflikte und jedenfalls indirekt auch ihre Ergebnisse beeinflusst („policies determine politics“). Daran anschließend betonten viele Autoren, dass politische Problemstrukturen bestimmte Betroffenheiten und Interessenlagen hervorbrächten, die den politischen Prozess in bestimmter Weise beeinflussten. Insbesondere wurden distributive von redistributiven Policies unterschieden. Bei redistributiven Policies geht es um die Umverteilung von Kosten und Nutzen zwischen gesellschaftlichen Gruppen im Sinne einer Besserstellung einer Gruppe auf Kosten einer jeweils anderen, während distributive Politik bestimmte gesellschaftliche Gruppen besserstellt, ohne dass dies sichtbar zu Lasten bestimmter anderer geht. Allerdings ist die Problematik der Verteilung von Kosten und Nutzen in der Umweltpolitik in diesen Arbeiten nie eine zentrale Frage gewesen

  • Was unterscheidet die Umweltpolitik von anderen Politikfeldern? Auf einer analytischen Ebene fallen zunächst Gemeinsamkeiten ins Auge, die für alle Politikfelder gleichermaßen gelten: Auch in der Umweltpolitik sorgen die gleichen politischen Akteure, ihre unterschiedlichen Interessen, die relevanten Institutionen und institutionellen Rahmenbedingungen, die einzusetzenden politischen Instrumente usw. für das Zustandekommen politischer Entscheidungen und Inhalte. Hierin gibt es keine großen Unterschiede: in der Umweltpolitik haben Parteien ebenso unterschiedliche Programme und Auffassungen wie in der Sozialpolitik, ebenso gibt es unterschiedliche Interessen zwischen den relevanten Verbänden. Dennoch existieren auf der materiell-inhaltlichen Ebene der Umweltpolitik Besonderheiten, die sie von manch anderen Politikfeldern strukturell unterscheidet und die bei der politikfeldanalytischen Betrachtung beachtet werden müssen, u.a. auch deshalb, weil sie Konsequenzen sowohl für umweltpolitische Ergebnisse haben

  • Die Umweltpolitik unterscheidet sich in ihrer Problemstruktur von anderen Politikfeldern insbesondere durch die Eigenschaft ihres zentralen Gegenstands – eine intakte Umwelt ist ein öffentliches oder Allmendegut –, durch die Problematik der Langfristigkeit und der Unsicherheit im Hinblick auf die erwarteten Policy-Wirkungen und durch die Persistenz von bestimmten Umweltproblemen. Hinzu kommt der Querschnittscharakter von Umweltpolitik. Aufgrund der Besonderheiten der Umweltpolitik spricht man hier auch von sogenannten „wicked“ bzw. „superwicked“ problems. Diese Aspekte werden im Folgenden behandelt.


Umwelt als öffentliches oder Allmendegut


  • Grundlegend für die Umweltpolitik ist ihr Medium: „Umwelt“ oder z.B. „Klima“ besitzen Eigenschaften, die sie als öffentliches oder Allmendegut charakterisieren. Bei öffentlichen Gütern können Individuen weder von der Nutzung ausgeschlossen werden (Nicht-Ausschlussprinzip), noch verringert sich der Nutzen eines Individuums, wenn ein anderes Individuum das Gut konsumiert (keine Rivalität im Konsum). Beim Weltklima kann im Prinzip kein Mensch von dessen Nutzung ausgeschlossen werden; bis zur Überschreitung globaler Belastungsgrenzen besitzt das Klima typische Eigenschaften eines öffentlichen Gutes. Der Umweltökonom Nordhaus bringt diese grundlegende Problemstruktur der Umweltpolitik einprägsam auf den Punkt: „The greenhouse effect ist the granddaddy of public goods problems.“ (Nordhaus 1993: 18).

  • Umweltgüter weisen aber häufiger den Charakter eines „Allmendegutes“ auf – erst ab einer bestimmten Nutzungsintensität entsteht Rivalität im Konsum und Übernutzung tritt ein. Das berühmteste Beispiel stellt Weideland dar: erst ab einer bestimmten Anzahl von Vieh wird dieses übernutzt. Ähnlich verhält es sich beim Fischfang – bis zu einem bestimmten Grad kann in einem Gewässer Fischfang betrieben werden, ohne dass es zu starke Konkurrenzen zwischen den einzelnen Fischern und Rivalität im Konsum gibt. Tritt jedoch Überfischung ein, d.h. es werden Fische in einem größeren Umfang gefangen als sich die Fischbestände erholen können, entstehen starke Rivalitäten im Konsum und die Ressourcen können am Ende komplett erschöpft sein. Auch das Weltklima nimmt daher schrittweise den Gutscharakter einer Allmende an. Das Problem bei öffentlichen ebenso wie bei Allmendegütern ist, dass niemand für die Schäden bzw. Schadensbeseitigung die Kosten tragen will, obwohl im Falle einer Übernutzung alle verlieren. Diese „Tragödie der Allmende“ hat Hardin in einem berühmt gewordenen Artikel dargestellt

  • Aufgrund solcher zentralen Gütereigenschaften führen umweltpolitische Maßnahmen häufig zu Konflikten, weil bestimmten abgrenzbaren Gruppen Einschränkungen auferlegt werden (z.B. der Industrie mit verschärften Grenzwerten), die jedoch zu einem Nutzen für alle gesellschaftlichen Akteure führen sollen. Zudem wehrt sich die Industrie häufig gegen umweltpolitische Maßnahmen im nationalen Rahmen, da in anderen Ländern diese Industriezweige nicht davon betroffen sind und es so zu Wettbewerbsnachteilen kommen kann. Daher argumentieren Industrievertreter regelmäßig, dass umweltpolitische Einschränkungen nur international abgestimmt zu positiven Wirkungen führen können. James Q. Wilson hat diese gerade erwähnten wichtigen Aspekte aufgenommen und argumentiert, dass Umweltpolitik eine redistributive Politik mit der Besonderheit darstelle, dass allgemein Kosten- und Nutzenverteilungen sowie die Anzahl der Belasteten und Nutznießer einer bestimmten Policy bzw. Politikentscheidung bestimmen, ob und wie intensiv im politischen Prozess Verteilungskonflikte entstehen.

  • Umweltpolitik ist demnach eine Politik, die einen diffusen Nutzen und Vorteil für die gesamte Gesellschaft erzeugt, jedoch für klar abgrenzbare Gruppen Kosten und Nachteile bedeutet. Er nennt das Beispiel Luftreinhaltung, die für bestimmte Industriezweige zu höheren Kosten führt, jedoch in Form von saubererer Luft zu einem Nutzen für die gesamte Gesellschaft. Solch eine Form regulativ-redistributiver Politik führt zu harten politischen Konflikten, da es sich bei den Gegnern solcher Maßnahmen in der Regel um sehr organisations- und konfliktfähige Akteure handelt (Industrieverbände), während die Befürworter aufgrund der Kollektivgutproblematik als organisierte Einheit oder Gruppe in der Regel eher diffus sind und häufig nicht als handlungsstarke Organisation auftreten können (siehe Kap. 4.5.1). Umweltpolitik ist daher ein Politikfeld, das – in seiner Problemstruktur als regulativ-redistributive Politik angelegt – zu starken politischen Konflikten zwischen klar abgrenzbaren Verursacherinteressen und eher diffusen Befürworterinteressen führt. Mit dem schönen Zitat „it may be astonishing that regulatory legislation of this sort is ever passed“ drückt Wilson (1980: 370) aus, dass umweltpolitische Erfolge vor dem Hintergrund der beschriebenen Überlegungen nicht selbstverständlich sind

  • Allerdings spielt für die Intensität der Konflikte auch die Wahl des Policy-Instruments eine Rolle. Während z.B. bei regulativen oder kooperativen Instrumenten die konkrete Kostenverteilung häufig unklar ist und die wahren Kosten von Umweltschäden bzw. ihrer Behebung verschleiert werden, gehört es zu den Kerneigenschaften ökonomischer Instrumente, dass sie nach dem Internalisierungsprinzip Kosten von Anfang an individuell sichtbar machen. Da diese je nach umweltbelastenden Tätigkeiten einzelner Unternehmen oder Bürgerinnen und Bürger unterschiedlich hoch ausfallen, gibt es beim Einsatz ökonomischer Instrumente in der Umweltpolitik Gewinner oder Verlierer, die klar benannt werden können, was zu politischen Konflikten führt.

  • Ein gutes Beispiel hierfür ist die Diskussion um die Ökosteuer in den 1990er Jahren. Hier kam es im Anschluss an ein Gutachten des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, in dem die potenziellen Gewinner- und Verliererbranchen der einzuführenden Ökosteuer erstmals konkret und mit Zahlen untermauert benannt wurden, zu erheblichen Interessenkonflikten. Diese waren zuvor, als die Diskussion noch von allgemeinen Auseinandersetzungen um die grundlegenden Ideen der Ökosteuer dominiert war, nicht so offenkundig gewesen

  • Die Besonderheit des Mediums „Umwelt“ als öffentliches bzw. Allmende-Gut mit den erwähnten Verteilungskonflikten zwischen Verursacherinteressen und Umweltschutzinteressen bringt es mit sich, dass häufig umweltpolitische Anliegen im politischen Prozess an Bedeutung gegenüber anderen Aspekten (z.B. Wirtschaftswachstum) verlieren, da es insbesondere die Wirtschaft mit ihren recht homogenen grundsätzlichen Interessen versteht, ihre Ziele durch ihre Machtressource als Arbeitgeber gegenüber diffuseren Umweltschutzinteressen mit weniger starken Machtressourcen durchzusetzen.

  • Im Ergebnis kommt es dann häufig zu Abschwächungen umweltpolitischer Ziele und Maßnahmen bzw. zu einer Umweltpolitik, die als unzureichend gelten kann. Mit dem ihr eigenen Ungleichgewicht zwischen den zentralen Interessengruppen unterscheidet sich die Umweltpolitik z.B. von der Tarifpolitik grundlegend. Hier stehen den Interessen der Wirtschaftsverbände, die aufgrund ihrer Möglichkeit zum Arbeitsplatzabbau und zu Entlassungen über erhebliches Drohpotenzial verfügen, die Interessen der Gewerkschaften, die aufgrund des Streikrechts ein prinzipiell vergleichbares Drohpotenzial verfügen, gegenüber; in der politischen Auseinandersetzung bedingt diese Konstellation ein Begegnen beider Interessenakteure auf Augenhöhe'. In der Umweltpolitik unterliegen Umweltinteressen häufig den Wirtschaftsinteressen.


Umwelt als Langfristproblem unter Bedingungen der Unsicherheit


  • Zu den den Umweltmedien innewohnenden zentralen Gütereigenschaften, die Konsequenzen für den Verlauf umweltpolitischer Prozesse haben, kommen bei der Umweltpolitik Langfristigkeit und Unsicherheit als zusätzliche, die umweltpolitische Problemstruktur prägende Aspekte hinzu. Langfristigkeit betrifft die Wirkungen umweltpolitischer Entscheidungen. Diese werden oft erst Jahre und Jahrzehnte später sichtbar, so dass die Versuchung zum Aufschub von entsprechenden Entscheidungen und zum Abwälzen des betreffenden Problems auf nachfolgende Generationen von vornherein groß ist. Die Umweltökonomie spricht hier von der „Diskontierung“ zukünftiger Umweltschäden zuungunsten nachfolgender Generationen. Dies bedeutet, dass umweltpolitische Maßnahmen, deren Nutzen erst nachfolgenden Generationen zu Gute kommt, jedoch zu gegenwärtigen Kosten führen, unterlassen werden, da es prinzipiell keine Repräsentation von Zukunftsinteressen im heutigen politischen Prozess gibt.

  • Hier verstehen sich Umweltverbände oder aktuell die Fridays-for-Future-Bewegung auch als „Anwälte“ zukünftiger Generationen, denn sie versuchen, solchen Langfristinteressen im politischen Prozess Gehör zu verschaffen. Das parlamentarisch-repräsentativdemokratische System mit Vier- bzw. Fünfjahreszyklen sorgt als institutionelle Rahmenbedingung zusätzlich dafür, dass PolitikerInnen und politische Parteien auf kurzfristigen Wahlerfolg hin orientiert agieren, woraus schon strukturell in Demokratien eine Vernachlässigung der Zukunft zugunsten der Gegenwart resultiert. In den 1990er Jahren wurden aufgrund der besonderen Problemstruktur der Umweltpolitik solche Fragen hinsichtlich einer möglicherweise notwendigen „Modernisierung der Demokratie“ diskutiert. Jänicke beispielsweise gab zu Bedenken, „daß langfristiger Umweltschutz nicht nur eine ökologische Modernisierung und Umstrukturierung der Industriegesellschaften, sondern auch eine Modernisierung des politischen Handlungssystems (...) impliziert“ (Jänicke 1993: 17).

  • Zu solch einer Modernisierung der Demokratie sollte z.B. die Schaffung von politischen Institutionen gehören, die auch langfristige Interessen wie den Umweltschutz dauerhaft auf die politische Tagesordnung bringen bzw. die Möglichkeit haben, Vetorechte gegenüber Kurzfristentscheidungen auszubilden (Zilleßen 1993: 88-91). Angesichts des weltweiten Klimaproblems und weiterer ökologischer Bedrohungsszenarien wird heutzutage nicht mehr „nur“ die Modernisierung der Demokratie diskutiert, sondern sogar die Abschaffung demokratischer Prinzipien zur autoritativen Durchsetzung umwelt- und klimapolitischer Maßnahmen, nicht zuletzt vor dem Hintergrund umweltpolitischer Erfolge in autoritären politischen Systemen wie z.B. China

  • Das Langfristproblem führt in umweltpolitischen Prozessen und bei umweltpolitischen Maßnahmen dazu, dass langfristig erforderliche Weichenstellungen „auf die lange Bank geschoben werden“ oder gegenüber politischen Kurzfristaspekten ins Hintertreffen geraten: So spielte bei den Diskussionen über das Klimaschutzziel der Bundesregierung oder den Kohleausstieg der gegenwartsbezogene Einwand, dass (eigentlich erforderliche) Weichenstellungen für den langfristigen Klimaschutz nicht kurzfristig negative Wirkungen für die deutsche Wirtschaft und den Arbeitsmarkt entfalten dürften, immer wieder eine wichtige Rolle

  • Dass umweltpolitische Ziele mitunter schwierig durchzusetzen sind, liegt neben deren langfristigem Horizont jedoch auch an einem weiteren Aspekt der umweltpolitischen Problemstruktur, nämlich der Unsicherheit. Umweltpolitik besteht meist in der Regulierung von potenziell schädlichen Verfahren oder Produkten und ist daher sehr stark abhängig von wissenschaftlichen Erkenntnissen ): von naturwissenschaftlichen Erkenntnissen über Ursachen und Wirkungen von Umweltproblemen, ökonomischen Erkenntnissen über Kosten und Nutzen von möglichen Umweltpolitiken, technischen Erkenntnissen über die Entwicklung und Auswirkungen bestimmter Verfahren sowie sozialwissenschaftlichen Erkenntnissen über z.B. Bedingungen und Akzeptanz für umweltpolitische Handlungen in der Gesellschaft.

  • Zunächst ist die Definition von Umweltproblemen stark wissensabhängig (aber auch davon, wie man die Welt sieht). So ist beispielsweise im Hinblick auf die Freisetzung genetisch veränderter Pflanzen lange Zeit darüber gerungen worden, was überhaupt ein Problem darstellt: nur erkennbare Gesundheitsschäden bei Menschen durch die Genpflanzen oder auch bereits Empfindlichkeiten bestimmter Insekten, die zur Irritation biologischer Gleichgewichte führen, oder etwa der Umstand, dass die Gen-Pflanzen langfristig Resistenzen erzeugen und bestimmte biologische Pflanzenschutzmittel in der Öko-Landwirtschaft nicht mehr einsetzbar sind. Auch hinsichtlich der Maßnahmen zu bestimmten Umweltproblemen gibt es, wie im Abschnitt über wissenschaftliche Beratungsakteure noch ausgeführt wird, meist mehrere unterschiedliche wissenschaftlich begründbare Annahmen. Da eine lineare Anwendung des besten verfügbaren Wissens für eine „sachrationale“ Umweltpolitik daher nicht erwartet werden kann (Böcher 2007a), handeln politische Akteure in der Umweltpolitik unter Bedingungen hoher Abhängigkeit von z.B. naturwissenschaftlichen Erkenntnissen und unter hoher Unsicherheit. Hierfür gibt es viele Beispiele, etwa in der Klimapolitik. Im Ozonregime erlaubte der wissenschaftliche Nachweis der ozonzerstörenden Eigenschaft von FCKW auch politisch den Durchbruch. Hinsichtlich des anthropogenen (i.e. menschgemachten) Treibhauseffektes blieb lange Zeit der Zusammenhang zwischen menschlich verursachten CO2-Emissionen und dem Klimawandel umstritten, bis der 2007er IPCC-Bericht hier Zweifel weitgehend ausräumte (IPCC 2007).

  • Auch kann die Frage, welchem der vom IPCC diskutierten Klimawandelszenarien man folgt, zu unterschiedlichen politischen Maßnahmen und Konsequenzen führen, ohne dass dabei Sicherheit darüber besteht, welches dieser Szenarien tatsächlich eintritt. Weil für viele umweltpolitische Fragen unterschiedliche wissenschaftlich begründbare Antworten vorliegen, muss Expertise eben nicht zu mehr Entscheidungssicherheit führen. Sie kann im Gegenteil dazu beitragen, dass umweltpolitische Entscheidungen unter hoher Unsicherheit getroffen werden müssen, ohne dass dabei klar ist, ob prognostizierte Wirkungen überhaupt eintreffen

  • Das Dilemma der Umweltpolitik ist also, dass politische Entscheidungen häufig getroffen werden müssen, ohne dass die genaue Natur der Probleme und die Folgen des Handelns klar sind. Unsicherheit über Probleme ebenso wie über Lösungen stellt somit eine weitere Besonderheit der umweltpolitischen Problemstruktur dar. Daher gibt es häufig nicht die eine „richtige“ Umweltpolitik.

  • Die umweltpolitische Unsicherheit bringt unterschiedliche Konsequenzen für den politischen Prozess mit sich. Einerseits können umweltpolitische Konflikte u. U. nicht durch wissenschaftliche Expertise gelöst werden, da es häufig verschiedene wissenschaftliche Rezepte gibt, die unterschiedliche Akteure zur Untermauerung ihrer Interessen instrumentell einsetzen, ohne dass wissenschaftliche Inhalte tatsächlich eine Rolle spielen. Andererseits führen Unsicherheiten oft zu politischem Nicht-Handeln oder zum Aufschub bzw. zur Unterlassung umweltpolitischer Maßnahmen, die eigentlich notwendig wären


Persistente Umweltprobleme


  • Umweltpolitik war in der Vergangenheit besonders bei solchen Problemen erfolgreich, die eine gute Wahrnehmbarkeit, breite Betroffenheit und hohe Politisierbarkeit bei klaren Verursacherstrukturen aufweisen und mit technischen Maßnahmen in den Griff zu bekommen sind. Als hilfreich erwiesen sich auch Win-win-Situationen. So konnten sich aufgrund der Smog-Probleme der 1970er und 1980er Jahre technische Umweltschutzlösungen entwickeln, die selbst bei der entstehenden Umweltschutzindustrie als Helferinteressen zu Arbeitsplätzen und wirtschaftlichen Gewinnen führten, ohne dass die Verursacherindustrie nennenswert in ihrem Bestand gefährdet

  • Umweltpolitische Erfolge gestalten sich jedoch schwieriger in Bereichen, in denen es keine klar abgrenzbaren (kleinen) Gruppen von Verursachern, sondern eine diffuse große Verursacheranzahl gibt und einfache technische Lösungen nicht bereitstehen. Biodiversität, Flächeninanspruchnahme oder Klimawandel stellen beispielsweise solche Probleme dar, die aufgrund ihrer politisch besonders schwer zu bearbeitenden Struktur als „persistente Umweltprobleme“ bezeichnet werden. Dabei sorgt die Sektoralisierung der Politik u.U. dafür, dass sich diese Probleme noch verschärfen. Deshalb bedarf es politischer Maßnahmen, die intersektoral und integrativ wirken, um diesen Problemen langfristig zu begegnen. Das Problem der Flächeninanspruchnahme ist ein einschlägiges Beispiel. Das Ausmaß der zusätzlichen Flächeninanspruchnahme betrug zwischen 2003 und 2006 im Durchschnitt pro Tag 113 ha (BfN 2008: 83), d.h., dass z.B. natürliche bzw. naturnahe Flächen in Bauland oder Grundstücke für Industrieansiedlungen umgewandelt und versiegelt wurden.

  • Verursacher des Flächenverbrauchs sind Unternehmen und Gewerbe, aber auch BürgerInnen, die Eigenheime neu bauen. Flächenversiegelung hat Auswirkungen auf andere persistente Umweltprobleme, z.B. auf die Biodiversität, die Grundwasserqualität, das Entstehen von Hochwasserproblemen etc., und kann nicht auf einzelne Sektoren und klar abgrenzbare Verursacher zurückgeführt werden: Ursache- und Wirkungszusammenhänge sind also diffus. Daher ist es hier besonders schwer, wirkungsvolle politische Maßnahmen zu ergreifen

  • Die besondere Struktur persistenter Umweltprobleme hat für den umweltpolitischen Prozess spezifische Konsequenzen. Da häufig mehrere Sektoren als Verursacher von entsprechenden politischen Maßnahmen betroffen sind, liegt die Verantwortung für diese Art umweltpolitischer Probleme bei mehreren Sektoralpolitiken, die häufig widersprüchlich agieren: So betrifft der Verlust der Biodiversität die Umwelt- und Naturschutzpolitik, die Agrarpolitik, aber auch die Wirtschafts- und Verkehrspolitik, z.B., wenn geplante oder neue Infrastrukturen die Lebensräume von Tieren und Pflanzen gefährden. Hier wären wirkungsvolle politische Maßnahmen nur bei einer erfolgreichen Abstimmung zwischen diesen Sektoren und einer entsprechend abgestimmten Querschnittspolitik möglich. Da jedoch die verschiedenen Ressorts selbst bestimmte Interessen haben, in ihrem Handeln jeweils einer eigenen Logik folgen und eine nicht notwendig primär am Umweltschutz interessierte Klientel vertreten (s.u.), ist eine solche „Politikintegration“ kaum zu erwarten

  • Die hat Zieschank 1999 in einer Studie zur Bodenschutzpolitik gezeigt: Boden als privates Gut stellt eine zentrale Basis wirtschaftlicher Aktivitäten dar, dessen Wert mit einer bestimmten Nutzung oder Umwidmung steigt oder fällt: . Böden werden im Rahmen gewinnorientierter Tätigkeiten überbaut, was zu nur schwer lösbaren Konflikten führen kann (Zieschank 1999: 7). Ein wirksamer Bodenschutz stellt innerhalb der Umweltpolitik daher ein besonderes persistentes Problem dar, das zudem erst vergleichsweise spät in Angriff genommen worden ist. Die umweltpolitischen Ziele des Bodenschutzes bestehen darin, die vielfaltigen Belastungen von Böden auf ein ökologisch tragbares Maß zu senken und dem weiteren Flächenverbrauch wirksam entgegenzuwirken (Zieschank 1999: 1).

    Das Problem besteht jedoch darin, dass der Schutz von Böden eine äußerst komplexe ökologische, ökonomische und politische Aufgabe darstellt. Der Zustand von Böden ist schwerer zu erfassen und ihre Reaktion auf Belastungen ist schwerer zu ermitteln als bei den weitgehend homogenen Umweltmedien Luft und Wasser (Zieschank 1999: 7). Zudem sind Probleme im Bereich Bodenschutz häufig schleichend und z.T. irreversibel

  • Aus dieser beschriebenen Problemstruktur folgt, dass die Steuerung des Bodenschutzes die Politik schon materiell vor eine schwierige Aufgabe stellt. Denn Bodenbelastungen sind nicht nur langfristige Folgen von Ursachen, deren Problemhaftigkeit auf den ersten Blick nicht leicht zu erkennen ist. Hinzu kommt außerdem, dass Böden ökologische Funktionen verlieren und dennoch eine nutzungsorientierte Funktion wahrnehmen können (Zieschank 1999: 25). Die BodeneigentümerInnen haben ein Interesse an Wertsteigerung durch Umwidmung oder eine intensivere Nutzung (Zieschank 1999: 25). Das Beispiel Bodenschutz als persistentes Umweltproblem zeigt, dass solche typischen „Querschnittsprobleme“ kaum durch die etablierte sektorale Umweltpolitik gelöst werden können. „Ähnlich dem Aufgabenfeld der nachhaltigen Entwicklung tendiert auch das komplexe Aufgabenfeld Bodenschutz zu einer Überforderung bestehender Problemlösungsmöglichkeiten.“ (Zieschank 1999: 56)

  • Zwar wurde im deutschen Klimaschutzplan 2050 das Ziel festgeschrieben, den Flächenverbrauch bis 2020 auf 30 ha pro Tag zu verringern. Die deutsche Nachhaltigkeitsstrategie und das integrierte Umweltprogramm der Bundesregierung sehen hier bis 2030 sogar mit weniger als 30 bzw. 20 ha pro Tag noch anspruchsvollere Ziele vor. Abbildung 9 zeigt jedoch deutlich, dass dieses Ziel trotz seit 2004 abnehmender Neuversiegelung immer noch sehr ambitioniert scheint. Die Schwierigkeit, dieses persistente Umweltproblem anzugehen, liegt darin, dass das umweltpolitische Ziel eines geringeren Anstieges des Flächenverbrauchs den flächenpolitischen Zielen anderer Politiken zuwiderläuft und hier eine Politikintegration (vgl. Kap. 2.3.3) nur in Ansätzen vorhanden ist. „Um die Flächennutzung konkurrieren z. B. Land- und Forstwirtschaft, Siedlung und Verkehr, Naturschutz, Rohstoffabbau und Energieerzeugung, wobei sich insbesondere die Siedlungs- und Verkehrsflächen stetig ausdehnen“ (Statistisches Bundesamt 2011: 8).

  • Infolgedessen kommt es trotz ambitionierter umweltpolitischer Ziele dazu, dass zahlreiche politische Fördermittel und Maßnahmen anderer Fachpolitiken auf eine zunehmende Siedlungsausdehnung und den Flächenverbrauch ausgerichtet und damit kontraproduktiv für das Erreichen des 30 ha-Ziels sind (LABO 2010: 14). Zum Beispiel hat die „Gemeinschaftsaufgabe Verbesserung der regionalen Wirtschaftsstruktur“ (Art. 91a Abs. 1 GG) zwischen 1998 und 2002 die Neuinaspruchnahme von Flächen für Gewerbeansiedlungen auf der „Grünen Wiese“ in einem Umfang von 2,7 ha pro Tag gefördert. Dies macht deutlich, wie bei persistenten Umweltproblemen unterschiedliche Interessenlagen zu widersprüchlicher Politik und aus umweltpolitischer Sicht zu unbefriedigenden Ergebnissen führen.


Querschnittscharakter der Umweltpolitik


  • Schließlich hat Umweltpolitik einen ausgeprägten Querschnittscharakter. Das bedeutet, dass Umweltpolitik einerseits mit Entscheidungen in vielen anderen Politikfeldern zusammenhängt und andererseits durch Entscheidungen vieler Ressorts beeinflusst wird. So haben wirtschafts-, verkehrs-, energie- und agrarpolitische Entscheidungen zum Beispiel allesamt Wirkungen auf die Umweltpolitik. Seit die Umweltpolitikforschung diesen Umstand thematisiert, wird auf der Ebene politischer Maßnahmen zunehmend gefordert, die bislang stark sektoralisierte Umweltpolitik müsse überwunden werden. Das Stichwort lautet hier „Politikintegration“ oder Politikkoordination

  • Vor allem beim Klimaschutz wird der Querschnittscharakter der Umweltpolitik deutlich. Politische Entscheidungen, die das Verhalten der Bürgerinnen und der Bürger sowie der Unternehmen klimapolitisch beeinflussen, werden in vielen verschiedenen politischen Ressorts getroffen – relevant sind z.B. die Energiepolitik oder die Verkehrspolitik. Auch Formen der Landnutzung und Landwirtschaft erzeugen klimabezogene Wirkungen – diese werden aber am stärksten von der Agrarpolitik beeinflusst. Ob klimaschutzrelevante energetische Maßnahmen zur Sanierung von Wohnraum sozial schwächere stärker finanziell belastet als die besser Verdienenden, ist wiederum Gegenstand der Sozialpolitik, die hier u. U. mit flankierenden Maßnahmen gegensteuern kann.

  • Diese wenigen Beispiele zeigen, dass die Umweltpolitik ein Querschnittsthema „par excellence“ ist, das jedoch aufgrund dieser Problemstruktur die Konsequenz hat, dass politische Entscheidungen mit hohen Integrations- und Koordinationserfordernissen einhergehen, wenn sie wirklich wirksam ausgestaltet werden sollen. Typischer als umfassende Abstimmung einzelner jeweils umweltrelevanter Politiken ist oft ein „Flickenteppich“ an isolierten und wenig aufeinander abgestimmter Maßnahmen verschiedener Ressorts.

Natürliche und räumliche Dimension der Umweltpolitik

  • In der Umweltpolitik der letzten Jahre ist – insbesondere im Kontext der Diskussion über die Realisierung der Carbon-Capture and Storage (CCS) (zwischen 2009 und 2012, Bopp 2019) sowie über konventionelles und unkonventionelles Fracking (seit 2013) – ein weiterer Aspekt der Problemstruktur umweltpolitischer Probleme deutlich geworden, der für ihre politische Regulierung von Bedeutung sein kann: ihre räumliche Dimension, die sich bei manchen Themen in unterschiedlich starken lokalen und regionalen Betroffenheiten zeigt.

  • Während einige Umweltprobleme wie der Klimawandel globaler Natur sind, aber dennoch regional unterschiedliche Effekte haben, treten andere, wie die Problematik der Luftverschmutzung in Ballungsgebieten, lokal auf. In dem einen Fall (Klimawandel) sind die Ursachen des Problems jedoch weit verteilt, während in dem anderen Fall (Luftverschmutzung) die Ursachen vor Ort zu identifizieren und damit auch zu regulieren sind. In Deutschland aber treten die Probleme in Folge des Klimawandels deutschlandweit und die Probleme in Folge der Luftverschmutzung in einer Vielzahl von Ballungsgebieten ebenfalls deutschlandweit auf – wenn auch mit einer Häufung in Nordrhein-Westfalen, Hessen und Baden-Württemberg (Töller 2019c).

  • Anders verhält es sich mit (potenziellen) Umweltproblemen, welche in Deutschland geographisch ungleich verteilt sind. Einen solchen Fall konnten wir bei der Fracking-Technologie identifizieren. Schiefergasvorkommen, die mit Hilfe dieser Technik gefördert werden können, treten in Deutschland aufgrund natürlicher Unterschiede in verschiedenen Gegenden auf, in anderen überhaupt nicht: Sie werden in Norddeutschland vermutet, insbesondere im Norddeutschen Becken (Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen) sowie im Molassebecken (Bayern und Baden-Württemberg) sowie im Oberrheingrabe

  • Da aus dieser Technologie potentiell resultierende Umweltprobleme (insbesondere die Verunreinigung von Wasser, ggf. auch Erdbeben) lokal (und nicht anderswo) zu erwarten wären, wäre auch die Betroffenheit im Wesentlichen lokal. Diese unterschiedliche Verteilung der Vorkommen führte in der politischen Diskussion zur Ausprägung sehr unterschiedlicher Positionen, sogar innerhalb einer Partei. So spaltete sich im Laufe der Diskussion über die Regulierung von Fracking seit 2013 in der sogenannten „Erdgas-Gruppe“ rund 100 Abgeordnete der CDU/CSU-Bundestagsfraktion ab: Abgeordnete, die in ihren Wahlkreisen mit Schiefergasvorkommen und entsprechenden Protesten der Bevölkerung umgehen müssen, waren für ein Verbot der Technologe, während andere Abgeordnete, im Einklang mit dem Wirtschaftsflügel der Partei, für eine Ermöglichung des Frackings durch mäßige Regulierung waren. Dadurch wurde die Entwicklung einer einheitlichen Position innerhalb der CDU/CSU-Fraktion deutlich erschwert und das Zustandekommen einer restriktiven Regelung eher befördert

Fazit: Umweltpolitik als „Wicked Problem“

  • Der Charakter der Umwelt als öffentliches bzw. Allmendegut, die Langfristigkeit der Wirkungen von umweltpolitischen Entscheidungen, die zudem mit Unsicherheiten über Ursache-Wirkungszusammenhänge behaftetet sind, die Problematik persistenter Umweltgefahren, der Querschnittscharakter der Policy insgesamt sowie die oft mit politischen Konsequenzen einhergehende unterschiedlich starke räumliche Betroffenheit stellen Aspekte der umweltpolitischen Problemstruktur dar, die sich in jeweils spezifischer Weise auf den Verlauf des politischen Prozesses und damit auf die Ergebnisse (sowohl Output als auch Outcome) niederschlagen können.

  • Um diese komplexe Problemstruktur der Umweltpolitik analytisch zu erfassen, hat sich seit längerer Zeit der aus der Planungswissenschaft stammende Begriff der „wicked problems“, der „vertrackten Probleme“ etabliert. Ausgangspunkt ist dabei eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten von Problemen und entsprechend mehr oder weniger umstrittenen Lösungen. Roberts (2000) entwickelte dazu eine Typologie, nach der es einfache Probleme gibt – hier herrschen jeweils Konsens über die Problemdefinition und über die geeigneten Lösungen. Komplexe Probleme zeichnen sich danach aus, dass es zwar einen Konsens über die Problemdefinition gibt, es jedoch unterschiedliche Interessen in Bezug auf mögliche Lösungen gibt (Umstrittenheit der Lösung). Im Falle der „Wicked Problems“ gibt es weder einen Konsens über das Problem selbst, noch im Hinblick auf entsprechende Lösungsmöglichkeiten

  • Wicked Problems besitzen im Einzelnen folgende Eigenschaften: es gibt eine unklare Problemdefinition, woraus Kontroversen über mögliche Lösungen entstehen, insbesondere, da die verschiedenen politischen Akteure das Problem selbst unterschiedlich wahrnehmen und interpretieren (Roberts 2000). In Bezug auf den Klimawandel ist sogar von „superwicked“ problems die Rede. Im Unterschied zu den „wicked problems“ läuft hier die Zeit davon – d.h. der Zeitraum, um die Probleme zu lösen, wird immer knapper, und gleichzeitig werden solche Probleme aufgrund mangelnder politischer Autorität gerne in die Zukunft verschoben. Es erscheint naheliegend, dass die Umweltpolitik aufgrund der genannten Spezifika so gut wie nie „einfache“ Probleme zu lösen hat. Meist hat man es bei der Umweltpolitik mit komplexen oder gar „wicked“ Problems zu tun, was insbesondere bei der sehr stark auf die Zukunft gerichteten Klimapolitik der Fall ist.


Was sind Akteure und was treibt sie an?


  • Wenn wir uns mit der Rolle und dem Einfluss von Akteuren für bzw. auf die Umweltpolitik befassen, dann sind unsere Annahmen darüber, wie Akteure handeln und was ihr Handeln antreibt, von grundsätzlicher Bedeutung. Es gibt Ansätze, insbesondere in der Tradition der Neuen Politischen Ökonomie, in denen Akteure zweckrational, also ausschließlich macht- und interessenorientiert, handeln, und solche, in denen Akteure auch wertrational, d.h., auch getrieben von Werten, Normen und Ideen agieren.

  • Macht- und interessenorientierte Ansätze gehen davon aus, dass Akteure in Entscheidungssituationen primär zweckorientiert handeln, nachdem sie alle möglichen Entscheidungsalternativen im Hinblick auf die Realisierung ihrer Interessen bewertet haben. Akteuren wird ein Nutzenkalkül unterstellt, sie agieren im Sinne des „homo oeconomicus“. Demnach sind alle sozialen Situationen letztlich auf individuelle Handlungen zurückzuführen, die immer auf rationalen Entscheidungen basieren. Die Neue Politische Ökonomie formuliert ganz bestimmte Annahmen über diese Wahl: Akteure versuchen ihren Eigennutz zu maximieren. Dabei bedeutet eine rationale Entscheidung, dass jedes Individuum über die Kosten, den Nutzen und die Ergebnisse seiner Entscheidung und potenzieller Handlungsalternativen vollständig informiert und in der Lage ist, den Nutzen jeder möglichen Alternative zu bewerten und in eine Rangfolge zu bringen (Präferenzordnung). In diesem Sinne wählt das Individuum schließlich diejenige Handlung aus, die seinen Nutzen maximiert

  • In den Analysen der Neuen Politischen Ökonomie (NPÖ) wird dieses grundlegende Eigennutzaxiom auf alle politischen Akteure (WählerInnen ebenso wie PolitikerInnen, Verbände oder die Bürokratie) gleichermaßen angewendet. Auch politische Akteure dienen demnach nicht dem Gemeinwohl, sondern handeln ihren Eigeninteressen entsprechend; mögliche positive Rückwirkungen auf das Gemeinwohl sind dabei ein Nebenprodukt. Man spricht dabei auch von einer engen Version der „Rational-Choice-Theorie“ (Opp 1999; siehe auch Braun 1999), die insbesondere in der Neuen Politischen Ökonomie zur Erklärung sozialer und politischer Prozesse Anwendung findet. Mit Hilfe von Annahmen der Neuen Politischen Ökonomie konnten für die Analyse der Umweltpolitik interessante Einsichten gewonnen werden: PolitikerInnen bevorzugen danach diejenigen umweltpolitischen Instrumente, die einen Anschein von hoher Wirksamkeit verbreiten, Aktivität der Regierung demonstrieren (Holzinger 1987: 99) und ihre Wiederwahl nicht gefährden. Zum Beispiel wurde argumentiert, dass in diesem Sinne regulative Instrumente und das umweltpolitische Ordnungsrecht besonders den Interessen von WählerInnen und damit auch PolitikerInnen dienen und daher alternative Instrumente wie Ökosteuern oder andere ökonomische Instrumente nicht leicht durchsetzbar sind

  • Denn Ökosteuern führen zur Sichtbarmachung und Erhöhung individueller Kosten für den Umweltschutz (z.B. erhöhte Benzinpreise), während PolitikerInnen ein Interesse daran haben, politische Maßnahmen zu beschließen, die ihre Wiederwahlchancen erhöhen oder zumindest nicht beeinträchtigen. In einer solchen Betrachtung hat das umweltpolitische Ordnungsrecht mit Grenzwerten, Geboten und Verboten den Vorteil, dass es die wahren Kosten der Umweltpolitik verschleiert und unmittelbarer wirkt, also auch symbolisch gut den WählerInnen als umweltpolitische Maßnahme vermittelbar ist. Ökonomische Instrumente hingegen erhöhen kurzfristig die individuellen Umweltschutzkosten und wirken zudem nur mittel- bis langfristig.

  • Für PolitikerInnen rational ist es daher nach den Annahmen der NPÖ, ordnungsrechtliche Instrumente in der Umweltpolitik zu bevorzugen. Gebote und Verbote sind als „politischer Handlungsnachweis“ sofort sichtbar, wirken unmittelbar und können im politischen Wettstreit als Erfolg verbucht werden, weil sie die umweltpolitische Kompetenz einer Regierung auch symbolisch stark vermitteln. Mit Umweltabgaben hingegen delegieren PolitikerInnen umweltpolitische Aufgaben von der Sphäre des politischen Systems in die Sphäre des Preissystems – es besteht die Gefahr, dass die WählerInnen Verbesserungen der Umweltqualität nicht mehr den PolitikerInnen zugutehalten, weshalb solche Instrumente nicht im Interesse der PolitikerInnen sind.

  • Auch den WählerInnen unterstellt die NPÖ, dass sie sich eigennutzorientiert verhalten. Sie präferieren demnach politische Maßnahmen, die ihnen unmittelbaren Vorteil versprechen. Das umweltpolitische Ordnungsrecht dient der Finanzierungsillusion der WählerInnen: Sie glauben, eine höhere unmittelbare Umweltqualität sei ohne Kosten zu erhalten, weil das Gemeinlastprinzip ja keine individuellen Kostenanteile sichtbar werden lässt (Benkert 1993). Umweltpolitische Kosten werden individuell unsichtbar auf die Allgemeinheit abgewälzt und erzeugen gleichzeitig die Illusion eines wirksamen Umweltschutzes

  • Solche grundlegenden Annahmen über die politischen Interessen von Politikerinnen und WählerInnen leisten einen wichtigen Beitrag, um zu verstehen, warum umweltpolitisch wirksame und konsequente Maßnahmen im politischen Prozess selten durchgesetzt werden. Allerdings müssen Umweltpolitik-Analysen auf Basis von NPÖ-Ansätzen mit einer zentralen Herausforderung umgehen, nämlich dem Problem, dass mit Hilfe der engen axiomatischen Vorstellungen der NPÖ und ihrer auf die Eigennutzmaximierung fixierten Wahrnehmung der Akteure politische Beharrung besser erklärt werden kann als politischer Wandel. Um beim Beispiel zu bleiben: Dass Ökosteuern sich nach und nach als umweltpolitisches Instrument durchsetzen konnten und auch in Deutschland 1999 eine ökologische Steuerreform eingeführt wurde, lässt sich nicht befriedigend mit der Neuen Politischen Ökonomie und ihren engen Annahmen über das Verhalten politischer Akteure erklären

  • Aber auch einige Grundannahmen der NPÖ sind zu kritisieren. Eine wichtige (und problematische) Annahme dieser engen Version der Rational-Choice- Theorie ist das Vorhandensein vollständiger Informationen in Entscheidungssituationen. Diese Annahme wird im Rahmen der Kritik der Rational-Choice-Theorie intensiv diskutiert. Denn derartige vollständige Rationalität erfordert unendliche kognitive Kapazitäten auf Seiten der Akteure: Akteure müssten alle denkbaren Handlungsalternativen kennen und in der Lage sein, sie vollständig gegeneinander abzuwägen, um so eine wirklich rationale Entscheidung treffen zu können (Opp 1999: 174). In Bezug auf umweltpolitische Instrumente stellt sich zum Beispiel die Frage, ob politische Akteure überhaupt über alle Vor- und Nachteile der Instrumentenalternativen vollständig informiert sind, so dass sie eine rationale, interessenbasierte Präferenz im Sinne der NPÖ-Annahmen ausbilden können. Zum Beispiel lässt sich zeigen, dass selbst Firmen, denen in der Regel klare umweltpolitische Interessen an möglichst geringen Kosten für umweltpolitisch zu betreibende Maßnahmen unterstellt werden, oft gar nicht wissen, was eine geplante Regelung für sie bedeutet und mit welchen finanziellen Konsequenzen diese für sie behaftet ist.

  • Daher erscheint es wirklichkeitsnäher, von einer begrenzten Rationalität auszugehen. Der Nobelpreisträger Herbert A. Simon hat diese als „Bounded Rationality“ bezeichnet (Simon 2000). Nach der „Bounded Rationality“-Idee ist es für den Menschen unmöglich, alle vorhandenen Alternativen in seine Handlungswahl einzubeziehen, dabei die Zukunft vorherzusehen und immer die gleiche unveränderliche Nutzenfunktion anzuwenden. Statt Nutzen zu maximieren, suchen Akteure möglicherweise lediglich nach Alternativen, die ihnen als gut genug erscheinen („good enough“, Simon 1957: 205) oder verbessern die bekannten Möglichkeiten (sog. „Satisficing“, Simon 1987). Darüber hinaus werden Entscheidungen auch durch das vorhandene Wissen und die Fähigkeit der Akteure, dieses Wissen zu nutzen, beeinflusst. Außerdem spielen die Transaktionskosten eine Rolle, die entstehen, wenn eine adäquate Entscheidung getroffen werden soll. Diese können je nach der Güte des bereits vorhandenen Wissens über Entscheidungsalternativen, dem Aufwand, der notwendig ist, neue Informationen zu beschaffen (Kosten der Informationssuche, Zeitaufwand usw.) variieren und beeinflussen daher ebenfalls menschliche Handlungen und die Auswahl von Alternativen in einer bestimmten Entscheidungssituation.

  • Akteure betreiben folglich keine Nutzenmaximierung, sondern sie versuchen, in einer gegebenen Entscheidungssituation auf der Basis des ihnen zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung stehenden Wissens adäquat zu entscheiden: „Die Suche nach den optimalen Lösungen hört also viel früher auf als es die ökonomische Theorie der Politik erwartet.“ Des Weiteren muss man feststellen, dass Akteurshandeln auch durch andere Motive als Nutzenmaximierung z.B. im Sinne von Machtgewinn/-erhalt oder individueller Interessendurchsetzung bedingt sein kann (Böcher 2007b: 251). Gerade das Aufkommen der Umweltbewegung, das Engagement in Umweltverbänden, aber auch die unterschiedlichen Positionen der Parteien zu Umweltthemen lassen sich besser erklären, wenn man berücksichtigt, dass das Handeln von Akteuren (in unterschiedlichem Maße) auch von normativen Werthaltungen, Ideen und Überzeugungen angetrieben wird und diese Handlungsmotive die Bewertung politischer Alternativen beeinflussen können. Bereits Max Weber sprach neben zweckrationalem Handeln (das dem Handeln in der NPÖ entspricht) von der Möglichkeit wertrationalen, affektiven und traditionalen Handelns. Dies gilt auch für politische Akteure.

  • Geht man im Sinne der Bounded Rationality davon aus, dass politische Akteure nicht über vollständiges Wissen verfügen können, dann stellt sich auch die Frage, wie politische Akteure diese begrenzten kognitiven Fähigkeiten steigern können: Eine Antwort lautet dabei, dass politische Akteure lernen können. In diesem Zusammenhang gilt der Satz des amerikanischen Politologen Hugh Heclo als grundlegend, der 1974 feststellte, dass „governments not only power, they also puzzle“. In der Politikfeldanalyse haben sich in der Folge verschiedene lernbasierte Ansätze entwickelt, die Policies (und Policy-Wandel) auch als ein Resultat von Akteurslernen verstehen. Dabei bedeutet Politiklernen zunächst einmal ganz allgemein, dass Erfahrungen von politischen Akteuren zu Konsequenzen für ihr gegenwärtiges oder zukünftiges Handeln führen können. Lernen kann Lernen über politische Präferenzen, über politische Instrumente oder erstrebenswerte politische Ziele selbst sein (Böcher 2007b: 251). Politische Akteure können aus der Vergangenheit, aus anderen Politikfeldern oder aus Erfahrungen anderer Länder im Umgang mit ähnlichen Problemen lernen. Zudem kann gesteigertes politisches Wissen zum Beispiel durch den Einfluss wissenschaftlicher Politikberatung Quelle von Politiklernen sein

  • In der Umweltpolitik gibt es zahlreiche Beispiele dafür: So wurden politische Regelungen häufig erst dann getroffen, wenn überhaupt bekannt wurde (etwas darüber gelernt und die Wissensbasis erweitert wurde), dass bestimmte Stoffe schädlich für die Umwelt sind. Dass FCKW die Ozonschicht zerstören, war z.B. lange Zeit nicht bekannt. Erst das Lernen über Stofffolgen anhand gesicherter bzw. homogener wissenschaftlicher Erkenntnisse darüber war eine notwendige (aber keine hinreichende) Bedingung für politische Maßnahmen

  • Stellvertretend für die zahlreichen Ansätze des Politiklernens (siehe Überblicke bei Biegelbauer 2007 oder Bandelow 2008) sollen zwei wichtige im Folgenden etwas näher beschrieben werden: der Ansatz des „Lesson-Drawing“ und der „Advocacy-Coalitions-Ansatz”

  • Nach dem Konzept des Lesson-Drawing von Richard Rose (1991) können politische Akteure aus Erfahrungen der Vergangenheit oder aus denen, die in anderen Ländern bei der Bearbeitung gleicher oder ähnlicher politischer Herausforderungen gemacht wurden, lernen. Dabei suchen politische Akteure sogar aktiv nach solchen Erfahrungen, um aus ihnen zu lernen. Politische Veränderungen sind nach diesem Ansatz das Resultat der von PolitikerInnen gelernten Lektionen. Solche Lektionen „können aus eigenen Politiken, Politiken anderer Akteurinnen, aus dem gleichen und aus anderen Politikfeldern, aus der Vergangenheit, aber auch (...) aus anderen Ländern gezogen werden.“ (Biegelbauer 2013: 31). PolitikerInnen lernen sowohl aus positiven als auch aus negativen Erfahrungen mit dem Ziel, die Entscheidungsfindung und die Inhalte ihrer Entscheidungen (Policies) zu verbessern.

  • Das Konzept des Lesson-Drawing kann zum Beispiel Licht auf Transfers umweltpolitischer Konzepte werfen: Die Ausbreitung bestimmter Instrumente wie Energiesteuern, die, zunächst von wenigen Staaten angewendet, sich immer weiter über mehr Länder ausbreiteten, oder der deutsche „Exportschlager“ einer Einspeisevergütung für erneuerbare Energien illustrieren raumübergreifendes „Lesson-Drawing“. Der Ansatz des Lesson-Drawing stellt laut Biegelbauer (2013: 31) aber weniger einen politikfeldanalytischen, sondern eher einen beratungsorientierten Ansatz dar, der sich auch direkt an PolitikerInnen wendet, die versuchen wollen, die ‚richtigen‘ Lektionen zum Lernen zu erhalten. So hat Rose 2005 ein Buch veröffentlicht, das auch als aktive Politikberatung zum Lesson-Drawing zu verstehen ist. Darin wird anhand von 10 Schritten („ten steps in lesson-drawing“, S. 8) eine Anleitung zum Politiklernen gegeben.

  • Im Gegensatz zum Lesson-Drawing stellt der Advocacy-Coalitions-Ansatz explizit einen Ansatz zur Analyse politischer Prozesse dar. Der Advocacy- Coalitions-Ansatz (ACF) von Sabatier und Jenkins-Smith geht davon aus, dass Akteure zwar zweckrational handeln und ihre Interessen im politischen Prozess durchsetzen wollen, dass sie jedoch auch durch bestimmte kognitive Vorprägungen, politische Überzeugungen und gegenstandsbezogene sowie grundlegende Vorstellungen getrieben werden, die sich durch ihre „Belief Systeme“ manifestieren. Diese Belief Systeme bestehen aus verschiedenen Schichten unterschiedlich stark veränderbarer Grundüberzeugungen (deep core, policy core, secondary beliefs; Weible/Sabatier 2007: 127 f.).

  • Im politischen Prozess bildet sich zu bestimmten Politikinhalten über lange Zeiträume ein Policy Subsystem, das aus mindestens zwei verschiedenen und miteinander konkurrierenden „Advocacy-Koalitionen“ besteht, die Netzwerke privater und öffentlicher individueller und kollektiver Akteure darstellen (Sabatier 1988). Akteure eines solchen Netzwerkes verbindet ein gemeinsames Belief System

  • Der ACF betont die Möglichkeit von Politiklernen, das grundlegend für politischen Wandel ist. Dabei ist Lernen innerhalb einer Advocacy-Koalition möglich. Die Mitglieder einer Koalition verändern ihre Strategie aufgrund von Lerneffekten, die durch Erfahrungen, Kontakte unter den Mitgliedern oder den Zutritt neuer Akteure in die Koalition entstehen (Bandelow 2003: 317). Lernen stellt im ACF eine Modifikation des Belief-Systems der Akteurinnen einer Koalition dar, die durch technische und wissenschaftliche Informationen, Problemanalysen o.ä. hervorgerufen wird (Roberts 1998, 114). Allerdings ist Lernen nur im Hinblick auf die äußeren „Schichten“ von Überzeugungen wahrscheinlich.

  • Tiefgreifender politischer Wandel wird im ACF eher nicht durch Politiklernen, sondern durch externe Systemereignisse ausgelöst, welche den Akteuren Handlungsfenster eröffnen, z.B. die Veränderung einer Regierungszusammensetzung oder eine Naturkatastrophe. Solche Ereignisse können dazu führen, dass sich die Macht zwischen den Koalitionen verschiebt. Nils Bandelow hat bei spielsweise in einer Studie den langfristigen und gravierenden Wandel in der Gentechnik-Politik zwischen 1973 und 1997 mit Hilfe des ACF untersucht. Er kam zu dem Ergebnis, dass dieser Wandel zum einen durch individuelles Lernen bei bestimmten Akteuren, zum anderen durch den Wandel in der Zusammensetzung der Koalitionen zu erklären sei

  • Bei der Anwendung des ACF ist zu bedenken, dass dieser Ansatz grundsätzlich langfristige Wandlungsprozesse betrachtet und zudem relativ stark durch die Analyse des amerikanischen Regierungssystems geprägt ist, in dem wechselnde Lagerbildung unterschiedlicher gesellschaftlicher Kräfte zu unterschiedlichen politischen und sozialen Fragen eine wichtigere Rolle spielt als im deutschen Regierungssystem, in dem die Beziehungen zwischen Staat und Gesellschaft dauerhafter etabliert sind und staatliche Akteure eine wichtigere und eigenständigere Rolle spielen.

  • Für die Politikfeldanalyse und ihre Ergebnisse ist wichtig, welche Vorstellung man darüber zugrunde legt, wie Akteure handeln. Dabei können mindestens zweck- und wertrationale Handlungsmotive in die Betrachtung einbezogen werden. Dazu kommt die Möglichkeit, dass Akteure im Sinne der Bounded Rationality nur über beschränkte kognitive Kapazitäten verfügen und zudem lernen können. Ansätze des Politiklernens gehen daher der Frage nach, welche Rolle kognitive und ideenbasierte Aspekte in politischen Prozessen spielen. Dabei gehen sie davon aus, dass politische Veränderungen unter Berücksichtigung dieser Aspekte mit politischen Lerneffekten erklärt werden können


Akteure in der Umweltpolitik


  • Von Prittwitz unterscheidet verschiedene Akteursarten (1994: 14; 2007: 99 ff.), die wir in der folgenden Tabelle darstellen und mit Beispielen ergänzen:


    Akteursform

    Akteurstyp

    Beispiele

    Ministerien

    Korporative Akteure

    Bundesumweltministerium Bundesverkehrsministerium

    Behörden

    Korporative Akteure

    Umweltbundesamt, Bundesamt für Naturschutz, Bundesamt für Strahlenschut

    Politische Funktionsträger

    Individuelle Akteure

    Minister, Abgeordnete

    Politische Parteien

    Korporative Akteure

    CDU, CSU, SPD, FDP, Bündnis 90/Die Grünen, Die Linke

    Verbände

    Korporative Akteure

    Industrieverbände (z.B. BDI) Gewerkschaften (z.B. DGB) Umweltverbände (z.B. BUND)

    Bürgerinitiativen

    Kollektive Akteure

    Bürgerinitiative gegen Flughafenerweiterung

    JournalistInnen, PublizistInnen, wissenschaftliche und andere ExpertInnen

    Individuelle Akteure

    Sachverständige, Sachbuchautore

    Andere Individuen mit Einfluss auf die Politik

    Individuelle Akteure

    Papst

  • Für die Politikfeldanalyse stellen diese verschiedenen Akteure wichtige Untersuchungseinheiten dar. Denn sie versuchen, ihre Interessen im politischen Prozess durchzusetzen und Entscheidungen und Ergebnisse in einem Politikfeld auf der Basis ihrer Präferenzen, Ziele und Wertorientierungen zu beeinflussen (Schubert 2003). Umweltpolitische Entscheidungen und Prozesse werden durch das Zusammenspiel der unterschiedlichen Akteure geprägt, sie sind aber nicht, wie dies z.B. die NPÖ (s.u.) annimmt, das direkte Ergebnis dieser Interessen.

  • Wichtige Akteure im umweltpolitischen Entscheidungsprozess sind: Umweltministerium und Umweltbundesamt als staatlich-administrative Akteure, die politischen Parteien, die mit umweltpolitischen Programminhalten um die Gunst der WählerInnen konkurrieren, und Interessengruppen, die versuchen, durch politische Einflussnahme umweltpolitische Entscheidungen zu beeinflussen. Hier sind insbesondere Wirtschaftsverbände und Gewerkschaften wichtig, die im Rahmen des umweltpolitischen Grundkonflikts „Wirtschaft contra Umweltschutz“ umweltpolitische Interessen ausbilden. Für die Umweltpolitik wichtig sind des Weiteren die Umweltverbände, die sich in vielen Fällen parallel zur Entstehung der Umweltpolitik gegründet haben und die versuchen, umweltpolitische Ziele im politischen Prozess durchzusetzen.

  • BürgerInnen stellen ebenfalls relevante Akteure in der Umweltpolitik dar, weil sie die umweltpolitischen Programme der Parteien als WählerInnen bewerten und damit Einfluss auf die Regierungszusammensetzung und umweltpolitische Entscheidungen ausüben. BürgerInnen haben zudem die Möglichkeit, sich umweltpolitisch zu engagieren: in Bürgerinitiativen, wenn z.B. Naturschutz- oder Umweltinteressen bei Planungsvorhaben vertreten werden, oder auf regionaler und nationaler Ebene über die Mitgliedschaft in Umweltverbänden. Bürgerprotest und die Gründung von Bürgerinitiativen als Protestbewegungen führten in der deutschen Umweltpolitik zum einen dazu, dass sich die etablierten Parteien des Umweltthemas in den 1970er Jahren verstärkt annahmen. So bildete sich die Partei der Grünen aus verschiedenen Zusammenhängen außerparlamentarischen Protests


Akteure des deutschen Regierungssystems


  • Wir verstehen hier Organisationen des Regierungssystems wie das Umweltministerium oder das Umweltbundesamt als Akteure, die jedoch in hohem Maße institutionell konstruiert sind, und zwar insbesondere durch die Merkmale des deutschen Regierungssystems (siehe z.B. Marschall 2018). Die Bundesrepublik hat ein parlamentarisches Regierungssystem und ist durch einen föderalen Staatsaufbau mit entsprechender verwaltungsföderaler Kompetenzordnung gekennzeichnet. Ersteres bedeutet, dass die Regierung (anders als im präsidentiellen Regierungssystem) vom Parlament gewählt und von diesem im Amt gehalten wird. Daraus ergibt sich eine politische Einheit von Regierungsmehrheit im Parlament und Regierungspersonal. Deshalb kommt auch den Parteien im Parlament (Fraktionen) eine besonders wichtige Rolle zu (s.u.). Die Vorstellung einer Gewaltenteilung (Parlament hier, Regierung dort) ist in parlamentarischen Regierungssystemen weniger wichtig – als Kontrollinstanz fungiert insbesondere die politische Opposition.

  • Des Weiteren gilt im deutschen Regierungssystem das Ressortprinzip, d.h., die einzelnen Minister können in ihrem Kompetenzbereich relativ autonom entscheiden, sowie das Kanzlerprinzip, das besagt, dass die Kanzlerin die Richtlinien der Politik vorgibt, also im Zweifelsfalle das letzte Wort haben kann. Dies wird allerdings durch die Allgegenwart von Koalitionsregierungen deutlich relativiert . Eine wichtige Rolle als Vetospieler hat der Bundesrat bei der Abstimmung über zustimmungspflichtige Gesetze, aber auch bei den Rechtsverordnungen der Bundesregierung, die in der Umweltpolitik bedeutsam sind. Der Bundesrat (auf den wir hier nicht gesondert eingehen können) entscheidet meist nach parteipolitischen, manchmal aber auch nach anderen Logiken (z.B. danach, welche wichtigen Wirtschaftszweige oder Konzerne es in einem Bundesland gibt).

  • Die föderale Kompetenzordnung bedeutet, dass die Gesetzgebungskompetenzen in den verschiedenen Politikfeldern (und z.T. innerhalb der Politikfelder) unterschiedlich zwischen Bund und den Ländern verteilt sind (siehe Kap. 5.1). Deutschland hat ein verwaltungs- oder verbundföderales System, das heißt, dass die Kompetenz der Durchführung von Gesetzen – auch von Bundesgesetzen – in der Regel bei den Ländern liegt; der Bund verfügt (von wenigen Ausnahmen abgesehen) über keine eigenen Verwaltungsstrukturen in der Fläche. Daher sind die Verwaltungsstrukturreformen der Länder in den vergangenen Jahren gerade für die Umweltpolitik von großer Bedeutung

  • Schließlich hat Deutschland als Mitglied der Europäischen Union dieser supranationalen Organisation in vielen Bereichen Kompetenzen übertragen und kann hier nicht mehr autonom entscheiden. Vielmehr sind die Organisationen des deutschen Regierungssystems (und übrigens auch die Verbände) Spieler im komplexen europäischen Mehrebenensystem, was für die Umweltpolitik in besonderem Maße gilt. Im Folgenden befassen wir uns mit drei für die Umweltpolitik zentralen Akteuren des deutschen Regierungssystems: dem Bundestag, dem Bundesumweltministerium und dem Umweltbundesamt.

Bundestag

  • Der Deutsche Bundestag wählt nicht nur den Bundeskanzler oder die Bundeskanzlerin, sondern er debattiert öffentlich über Gesetzesvorhaben und beschließt die Gesetze. Der Bundestag ist ein hochspezialisiertes Arbeitsparlament (im Gegensatz zu einem sogenannten Redeparlament wie dem Britischen House of Commons). Weil hier die Fachausschüsse immer spiegelbildlich zu den Ministerien organisiert sind, gibt es seit der Gründung des BMU im Jahre 1986 (s.u.) auch einen Umweltausschuss. Hier beraten die UmweltexpertInnen im Parlament die Entwürfe, die meist aus dem Ministerium kommen, und dann im Kabinett abgestimmt werden, im Detail und verändern sie häufig. Der Ausschuss gibt dann eine Beschlussempfehlung an das Plenum. Zu aktuellen Themen und wichtigen Gesetzgebungsprojekten veranstaltet der Ausschuss öffentliche Anhörungen und sogenannte öffentliche „Fachgespräche“, bei denen VerbandsvertreterInnen und ExpertInnen ihre Positionen darlegen können. Wichtig sind auch die Parlamentsdebatten, die der politischen Öffentlichkeit (und beim Studium von Parlamentsprotokollen als Datenquelle auch dem/der PolitikfeldanalytikerIn) sehr gut deutlich machen, welche Fraktion welche politischen Positionen vertritt und wo die politischen Konflikte liegen. Das ist allerdings erst seit etwa Mitte der 1980er Jahre der Fall, was auch mit dem Einzug der Grünen in den Bundestag im Jahr 1983 zusammenhängt. Die Zeit davor kann man als „präideologische Phase“ bezeichnen, in der umweltpolitische Fragen kaum Gegenstand der parteipolitischen Auseinandersetzung waren

  • Zudem setzt der Bundestag Enquete-Kommissionen ein, die wichtige, übergeordnete Themen jenseits des politischen Tagesgeschäfts – und oft auch jenseits von Parteikonflikten – gründlicher bearbeiten. In der Umweltpolitik gab es bisher zwei zentrale Enquete-Kommissionen: die Enquete-Kommission zum „Schutz der Erdatmosphäre“ von 1987-1994, die u.a. für die Regulierung ozonschädigender Stoffe wichtige Impulse gegeben hat (BT-Drs. 12/8600), und die Enquete-Kommission „Schutz des Menschen und der Umwelt“ von 1994-1998, in der es um die Umsetzung des Nachhaltigkeitsparadigmas in konkrete umweltpolitische Strategien ging. Seit 2004 setzt der Bundestag in jeder Wahlperiode auch einen Parlamentarischen Beirat für nachhaltige Entwicklung ein, „um die Nachhaltigkeitspolitik der Bundesregierung […] auf parlamentarischer Ebene in geeigneter Weise fachübergreifend zu begleiten“

  • Allerdings ist die umweltpolitische Rolle des Bundestages insgesamt nicht losgelöst von der Rolle und den Positionen der Bundesregierung einerseits und der Mehrheitsfraktionen im Parlament andererseits zu sehen, denn im parlamentarischen Regierungssystem bilden die Mehrheitsfraktionen und das Regierungspersonal, wie bereits erwähnt, eine politische Einheit, die in der Regel von der Opposition öffentlich kritisiert wird. Kontroversen innerhalb der Regierungsmehrheit werden normalerweise durch „parlamentarische Mitsteuerung“ geklärt, von der die Öffentlichkeit allenfalls aus der Zeitung erfährt. Dieser prinzipielle Zusammenhalt von Regierungsmehrheit im Parlament und Regierungspersonal findet seinen Ausdruck auch darin, dass auch in der Umweltpolitik die große Mehrheit der Gesetzesvorschläge aus dem Ministerium kommt, was nicht bedeutet, dass im Ausschuss nicht noch wichtige Einzelheiten dieser Vorschläge verändert werden. Dass in einer Umweltfrage eine große Regierungsfraktion gespalten ist, wie 2015/2016 die CDU/CSU-Fraktion im Hinblick auf die Regulierung des unkonventionellen Frackings, und sich dies auch beispielsweise in Bundestagsdebatten niederschlägt, ist die seltene Ausnahme. Da die Umweltpolitik in besonderem Maße europäischen Vorgaben unterliegt (Töller 2019b), befasst sich der Umweltausschuss auch häufig mit europäischen Regelungsprojekten

Das Bundesumweltministerium

  • In der Umweltpolitikforschung gilt die institutionelle Spezialisierung, insbesondere die Herausbildung von Umweltministerien und Umweltbehörden, als wichtige Voraussetzung für erfolgreiche Umweltpolitik. Im ersten Grundlagenband zur deutschen Umweltpolitik von Hartkopf und Bohne aus dem Jahr 1983 werden die Bundesministerien (und auch die Länder und die Gerichte) unter „Akteure“ gefasst. Wenn man, wie wir dies hier ebenfalls tun, Ministerien und Behörden als (korporative) Akteure fasst, dann muss der institutionelle Kontext klar sein: Die Erkenntnis der Institutionentheorie, dass verschiedene Organisationen unterschiedliche Sichtweisen hervorbringen und reproduzieren, kann mit dem Begriff der „selektiven Perzeption“ auf den Punkt gebracht werden. Innerhalb der und zwischen den verschiedenen, an der Umweltpolitik beteiligten staatlichen Akteuren spielen die institutionell geprägten Perzeptionen einerseits und institutionell begründeten Aufgabenzuschreibungen und Machtasymmetrien andererseits eine wichtige Rolle.

  • Dieser Umstand der selektiven Perzeption gilt in besonderem Maße für die Sicht auf Umweltpolitik, die sich vermutlich in allen Ländern mit einer entsprechenden Ressortorganisation vor allem zwischen Umweltministerium und Wirtschaftsministerium (u.U. auch anderen Ministerien wie dem Landwirtschafts- oder dem Verkehrsministerium) unterscheidet, da die Umweltpolitik in der Regel systematisch Zielkonflikte zu anderen Ressorts produziert. Aus institutionentheoretischer Sicht ist es daher wenig überraschend, dass eine Einrichtung, deren „Mission“ die Wirtschaft und ihr Wohlergehen ist, eine andere Sicht auf Umweltpolitik hat, als ein Ministerium, dessen „Mission“ die Umweltpolitik ist, deren Inhalt ja jedenfalls häufig die Regulierung von Wirtschaftsunternehmen ist

  • Diese unterschiedliche Sicht der Dinge beginnt bei der Frage, was eigentlich ein politisches Problem ist und endet nicht bei der Frage, welches geeignete staatliche Handlungsformen sind. Wichtige Unterschiede gibt es aber auch im Hinblick auf die interessenpolitische Klientel der jeweiligen Ministerien (Müller 1986). So fungiert jedenfalls in Deutschland das Wirtschaftsministerium tendenziell als „Sprachrohr der Wirtschaft“, das Landwirtschaftsministerium als Repräsentant der Bauern und das Verkehrsministerium nicht zuletzt als Interessenvertretung der Automobilindustrie

  • Durch ihre unterschiedliche institutionelle Verankerung und interessenpolitische Einbindung sind diese beiden Ministerien (und ihre vorherrschenden Sichtweisen oder selektiven Perzeptionen) in unterschiedlichem Maße mit Machtressourcen ausgestattet, womit die institutionellen Fundamente für umweltpolitische Gestaltung gelegt werden. Konkret betrifft dies etwa die Ausstattung der Ministerien mit personellen und finanziellen Ressourcen, Vetorechten im Kabinett41 und die definierten Zuständigkeiten, die in Form der Federführung festgelegt und durch die Geschäftsordnung konkretisiert werden. Das BMU ist gegenüber anderen Ministerien personell eher bescheiden ausgestattet , verfügt über keine Vetorechte, und neben dem BMU haben auch weitere Ministerien für umweltpolitisch relevante Teilaspekte die Federführung.

  • Die Federführung ist nicht nur eine abstrakte formale Ressource. Vielmehr stellte schon Edda Müller in ihrer 1986er Studie zur „Innenwelt der Umweltpolitik“ fest, dass, wer die Federführung hat, über die Macht zur Problemdefinition verfügt. Auch entscheidet das federführende Ressort, zu welchem Zeitpunkt ein Referentenentwurf vorgelegt werden sollte: „Im Rahmen der Entscheidungsvorbereitung politischer Maßnahmen in der Ministerialverwaltung ist nur das federführende Ressort berechtigt, bindende Regelungen mit Außenwirkung für den jeweiligen Bereich zu konzipieren und in den ministeriellen Verhandlungsprozess einzubringen. Es geht um das Recht des 'Agenda Setting'. Was das federführende Ressort nicht auf die Tagesordnung der interministeriellen Abstimmung setzt [...], kann nicht beraten werden.“

  • Ende der 1970er Jahre musste sich das damals für Umweltpolitik zuständige Innenministerium die Kompetenzen für die Chemikalienregulierung mit zwei weiteren Ressorts (dem Bundesministerium für Arbeit und dem Bundesministerium für Jugend, Familie und Gesundheit) teilen. Zwar erhielt das BMU 1990 die Federführung für die Klimapolitik, aber das Wirtschaftsministerium blieb zuständig für die Energiepolitik, und auch einige andere Ministerien behielten relevante Kompetenzen. Neben dem Wirtschaftsministerium sind auch das Verkehrs- und das Landwirtschaftsministerium verantwortlich für die Sektoren mit erheblichen Umweltauswirkungen. Alle UmweltministerInnen haben häufig erfolglos gegen die Positionen dieser Ressorts gekämpft, deren Anliegen es beinahe immer war, effektive umweltpolitische Maßnahmen in ihren Bereichen zu verhindern (Pehle 1998: 60ff.). Allerdings wurde der Konflikt zwischen den Ressorts meist durch parteipolitische Konflikte (etwa Töpfer [CDU] gegen Möllemann [FDP], Trittin [Grüne] gegen Clement [SPD], Altmaier [CDU] gegen Rösler [FDP]) überlagert

  • In der dritten Regierung Merkel wurden erstmals die Umweltministerin und der Wirtschaftsminister von der SPD gestellt. Dies führte zwar dazu, dass Konflikte eher intern ausgetragen wurden, aber keinesfalls dazu, dass sich Hendricks gegen Gabriel durchgesetzt hätte – ebenso wenig wie gegen den Verkehrsminister Dobrindt. Die Konfliktlinie zwischen Wirtschafts- und Umweltministerium einerseits und die Machtasymmetrien zwischen beiden andererseits bestimmen die deutsche Umweltpolitik wie kein anderer Faktor. Wenn es nicht die anderen Ressorts tun, interveniert auch das Kanzleramt gerne zum Schutze der jeweiligen deutschen Wirtschaft (wie etwa beim Klimaschutz und beim Fracking)

  • In letzter Zeit sind verschiedene Vorschläge gemacht worden, um die Rolle des BMU im Kabinettsgefüge zu stärken. Das BMUB selber forderte im Integrierten Umweltprogramm von 2016 (siehe Kap. 2) die Einführung eines Initiativrechts für das Umweltressort. 2019 schlug der Sachverständigenrat für Umweltfragen in seinem Gutachten zur Legitimation der Umweltpolitik vor, das Bundesumweltministerium innerhalb der Bundesregierung zu stärken, indem ihm ein Initiativrecht außerhalb des eigenen Geschäftsbereichs eingeräumt wird. Vorbilder sind die Initiativrechte des Ministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (§ 15a Abs. 2 der Geschäftsordnung der Bundesregierung) sowie des für Verbraucherschutz zuständigen Ministeriums (§ 15a Abs. 3 der Geschäftsordnung der Bundesregierung) (SRU 2019: 5.2.4).

  • Überdies schlug der SRU auch ein suspensives Vetorecht des Umweltministeriums bei Fragen von erheblicher ökologischer Bedeutung (analog zum Vetorecht des Finanzministeriums, § 26 Geschäftsordnung der Bundesregierung) (SRU 2019: 5.2.4) von Gesetzentwürfen vor. Auch dies entspricht dem Gedanken des integrierten Umweltschutzes. Denkbar wäre zudem ein Agendasetzungsrecht für das BMU in Analogie zu § 21 (4), wonach das BMU die Absetzung von der Tagesordnung verlangen könnte, wenn es sich um eine umweltpolitische Angelegenheit von besonderer Tragweite handelt und sie bei der Vorbereitung der Kabinettsvorlage nicht hinreichend beteiligt worden ist. Vorläufig scheint aber eine Umsetzung derartiger Forderungen noch nicht in Sicht.

  • Das Umweltministerium spielt – wie in parlamentarischen Regierungssystemen üblich – im umweltpolitischen Gesetzgebungsverfahren eine wichtige Rolle, denn es erarbeitet die überwiegende Mehrheit der Gesetzesvorschläge und ist selbst bei den wenigen Initiativen aus dem Parlament häufig beratend involviert. Innerhalb des Umweltministeriums (wie auch innerhalb anderer Ministerien) spielt die Ministerialverwaltung aufgrund ihrer Sachkompetenz hierbei eine sehr wichtige Rolle, nicht nur bei der Ausarbeitung politisch initiierter Ideen, sondern auch bei der eigenständigen Initiierung von Gesetzesvorschlägen. In welchem Ausmaß die Ministerialverwaltung das legislative Ergebnis bestimmt, hängt allerdings stark von Art und Inhalt der Gesetze und dem Ausmaß der Politisierung im Gesetzgebungsprozess ab

Das Umweltbundesamt

  • Dem Bundesumweltministerium als oberste Bundesbehörde nachgeordnet sind vier Bundesoberbehörden: das Umweltbundesamt, das Bundesamt für Naturschutz das Bundesamt für Strahlenschutz sowie das Bundesamt für kerntechnische Entsorgungssicherheit. Diese stellen nach Art. 87 Abs. 3 Satz 1 GG „selbständige Bundesoberbehörden“ und somit staatliche Organe unmittelbarer bundeseigener Verwaltung dar (Bruns 1998: 133). Sie besitzen als nachgeordnete Bundesbehörden keine eigenständigen Entscheidungs-, Weisungs- oder Kontrollbefugnisse. Ihre PräsidentInnen sind keine politischen Beamten, was ihnen ein relativ hohes Maß an politischer Unabhängigkeit sichert. Als Einrichtungen der Ressortforschung im Geschäftsbereich des BMU nehmen sie Aufgaben der wissenschaftsbasierten Politikberatung, insbesondere für das BMU, wahr. Darüber hinaus erfüllen sie Vollzugsaufgaben bei Gesetzen, für deren Vollzug wissenschaftlicher Sachverstand notwendig ist, und nehmen Aufgaben in der Information und Aufklärung der BürgerInnen sowie der politischen Akteure wahr. Spezifische Errichtungsgesetze definieren die Aufgaben der vier dem BMU nachgeordneten Bundesoberbehörden

  • Das Umweltbundesamt, das sich selbst als „zentrale Fachbehörde des Bundes auf dem Gebiet des Umweltschutzes“ (UBA 2014: 46) beschreibt, wurde 1974 gegründet und stellt heute mit ca. 1.600 MitarbeiterInnen die größte der vier Bundesoberbehörden im Geschäftsbereich des BMU dar (UBA 2014). Die Aufgaben des Umweltbundesamtes bestehen laut Errichtungsgesetz in der wissenschaftsbasierten Politikberatung des BMU und anderer Ressorts in Bezug auf Umweltschutzfragen, Aufgaben beim Vollzug von Umweltgesetzen, für die wissenschaftlicher Sachverstand notwendig ist, und Information der Öffentlichkeit mit umweltrelevanten Informationen (§ 2, Errichtungsgesetz UBA).

  • Um diese Aufgaben zu erfüllen, betreibt das Umweltbundesamt Eigenforschung oder beauftragt externe Forschungseinrichtungen wie Universitäten oder private Institute mit der Durchführung von Forschungsprojekten („Extramurale Ressortforschung“). Die Aufgabe des Umweltbundesamtes besteht darin, die eigene und beauftragte Forschung hinsichtlich der auf bestimmte umweltpolitische Themen bezogenen Nachfrage des BMU auszuwerten und in Bezug auf die verschiedenen Zielgruppen (Akteure in der Ministerialverwaltung des BMU oder anderer Ministerien, die Öffentlichkeit, Umweltverbände, Industrie, Medien, BürgerInnen usw.) als Politikberatungsprodukte aufzubereiten. Hinsichtlich der Anforderungen des BMU leistet das Umweltbundesamt wissenschaftliche Politikberatung „auf Abruf“, d.h. dass BMU kann per Erlass das Umweltbundesamt verpflichten, zu bestimmten Themen in einer bestimmten Zeit wissenschaftsbasierte Informationen zu liefern

  • Die Politikberatungsprodukte des UBA sind vielgestaltig und können interne Stellungnahmen für das Ministerium oder verschiedene Formen von Publikationen (Broschüren, Pressemitteilungen, Informationen im Internet, wissenschaftliche Publikationen) sein. Alle administrativen und wissenschaftlichen Tätigkeiten des UBA dienen zweckbestimmt den durch den Gesetzgeber oder die Ministerialverwaltung definierten Aufgaben: das UBA betreibt Forschung nur, insoweit sie der Erfüllung seiner Aufgaben (wissenschaftliche Unterstützung von Ministerien, Vollzug oder Vollzugsvorbereitung und formation der Öffentlichkeit) dient . Hierin unterscheidet sich das UBA von anderen Forschungseinrichtungen wie Universitäten. Welche Forschungsprojekte tatsächlich durchgeführt werden, wird dabei im jährlichen Ressortforschungsplan des BMU (früher: Umweltforschungsplan - UFOPLAN) festgelegt, der zwischen BMU und UBA koordiniert wird und über den das BMU entscheidet

  • Neben den längerfristigen Forschungsprojekten, die im jährlichen Ressortforschungsplan festgelegt werden, muss das Umweltbundesamt das BMU und andere Ministerien (z.B. in Trinkwasserfragen das Bundesministerium für Gesundheit) mit wissenschaftsbasierten Informationen unterstützen. Dies könnte z.B. der Fall sein, wenn im Deutschen Bundestag eine umweltpolitische Anfrage durch den Umweltminister beantwortet werden muss, deren Bearbeitung durch das BMU aktuelle wissenschaftliche Informationen benötigt

  • Die interne Organisation des Umweltbundesamtes ist anhand umweltpolitischer Fragen und Problemlagen organisiert.46 Im Umweltbundesamt gibt es derzeit fünf Fachbereiche: I Umweltplanung und Nachhaltigkeitsstrategien, II Gesundheitlicher Umweltschutz, Schutz der Ökosysteme, III Nachhaltige Produktion und Produkte, Kreislaufwirtschaft, IV Chemikaliensicherheit und V Klimaschutz, Energie, Deutsche Emissionshandelsstelle (DEHSt). Die Deutsche Emissionshandelsstelle ist für den Vollzug des Emissionshandels zuständig. Die Organisationsstruktur des Umweltbundesamtes ergibt sich aus den wahrzunehmenden Aufgaben und hat sich im Laufe der Zeit aufgrund sich verändernder umweltpolitischer Zielsetzungen und Problemlagen gewandelt: Das Kompetenzzentrum Klimafolgen und Anpassung (KomPass) und die Deutsche Emissionshandelsstelle sind neuere Einrichtungen, die aus veränderten politischen Rahmenbedingungen resultieren

  • Neben der wissenschaftsbasierten Politikberatung nimmt das Umweltbundesamt Vollzugsaufgaben wahr, d.h., es ist an der Umsetzung von Gesetzen beteiligt. Dies betrifft beispielsweise den bereits erwähnten Emissionshandel (Vollzug des Treibhausgas-Emissionshandelsgesetz), die Chemikalienpolitik (REACh), den Vollzug des Elektro- und Elektronikgerätegesetzes, die Prüfung, Bewertung und das Management des Umweltrisikos von Pflanzenschutzmitteln oder Vollzugsaufgaben beim Wasser-, Trinkwasser- und Gewässerschutz. Zudem besteht eine wichtige Aufgabe des Umweltbundesamtes im Monitoring und in der langfristigen Erhebung und Sicherung von umweltrelevanten Daten (z.B. Emissionswerten). Die Aufgaben des UBA können also wie folgt resümiert werden:

    • kurzfristige Beratung des BMU durch Recherche und/oder Forschung (u. U. Eigenforschung) bei zeitlich drängendem Expertisebedarf,

    • • langfristige Monitoringaufgaben (flächendeckende Sammlung von Daten, Sekundäranalysen),

    • • Beauftragung von Forschungsprojekten (FuE-Vorhaben) zur Bereitstellung von Wissen,

    • • Verfügbarmachung und Verbreitung wissenschaftlicher Informationen für gesellschaftliche Akteure und Öffentlichkeit,

    • • Aufgaben im Vollzug der Umweltpolitik.

  • Vor allem in den Anfangstagen der Umweltpolitik, als es noch kein eigenständiges Umweltministerium gab, nahm das UBA eine umweltpolitische Vorreiterrolle wahr und prägte umweltpolitische Maßnahmen in starkem Maße mit. Auch heute noch übernimmt das UBA als Ressortforschungseinrichtung und Vollzugsbehörde wichtige Aufgaben für das BMU Laut dem neuesten Evaluierungsbericht des Wissenschaftsrates zählt das Umweltbundesamt „auf dem Gebiet der Normung und der Umsetzung von Vorgaben in regulatives Handeln zu den führenden Einrichtungen in Europa und unterstützt so die Vorreiterrolle Deutschlands in umweltrelevanten Themenfeldern.“ (WR 2015: 10). Weiter würdigt der Wissenschaftsrat die “zentrale Bedeutung“ des Umweltbundesamtes für die Umweltpolitik (WR 2015: 47).

  • Das UBA ist dabei mitunter immer noch ein wichtiger Mahner, der umweltpolitische Belange thematisiert, die dem BMU (noch) zu weit gehen oder die das BMU aufgrund der Ressortlogik im Verbund mit anderen Ministerien nicht aussprechen kann. In solchen Fällen unterstützt das UBA mit seinen Positionen die Umweltministerin. Das UBA gilt als wichtige „politikstimulierende und wissensvermittelnde Institution weit über Deutschland hinaus“ (Weidner/ Jänicke 1998: 213) und versteht seinen Auftrag dabei durchaus politisch. Sein Tun ist durch ein „ausgeprägtes umweltpolitisches Sendungsbewusstsein“ geprägt (Döhler 2007: 174). Daraus ergeben sich in der praktischen Arbeit des UBA mitunter deutliche Spannungen zwischen der Auftragsarbeit für das BMU und eher eigenständiger Forschungsarbeit, die aber je nach parteipolitischer Führung des BMU deutlich variieren

  • Ähnlich wie das Umweltbundesamt stellen das Bundesamt für Naturschutz, das Bundesamt für Strahlenschutz und das Bundesamt für kerntechnische Entsorgung Einrichtungen der Ressortforschung dar, die bezogen auf die Bereiche Naturschutz, Strahlenschutz sowie Zwischen- und Endlagerung sowie Transport kerntechnischer Altlasten eingerichtet wurd

  • Nicht weiter ausgeführt werden kann der Stand der institutionellen Spezialisierung auf Landesebene, aber es soll zumindest erwähnt werden, dass sich hier die Etablierung eigenständiger Umweltministerien auf dem Rückzug befindet. In vielen Ländern ist der Umweltschutz mit sogenannten „Verursacherinteressen“ (z.B. Landwirtschaft oder Bau) gemeinsam in einem Ressort untergebracht, was als einer starken Vertretung von Umweltinteressen eher abträglich gilt

  • Ein weiterer wichtiger korporativer Akteur ist in diesem Zusammenhang die Umweltministerkonferenz (UMK), die – gleichwohl ohne formal-rechtlichen Status – seit 1973 mit ihren inzwischen acht thematisch angelegten Arbeitsgemeinschaften ein wichtiges Koordinationsgremium der Landesumweltministerien und des Bundesumweltministeriums in politischer wie auch administrativer Hinsicht darstellt. So trat sie 2015 nach dem Dieselskandal in Erscheinung, indem sie die Bundesregierung aufforderte, eine sogenannte Blaue Plakette einzuführen, um Dieselfahrverbote administrativ zu ermöglichen – allerdings vergeblich

  • Auf den Sachverständigenrat für Umweltfragen (SRU) und den Wissenschaftlichen Beirat Globale Umweltveränderungen (WBGU), die ebenfalls eine wichtige Rolle für die Umweltpolitik der Bundesregierung spielen, gehen wir in Kapitel 4.7 über wissenschaftliche Beratung in der Umweltpolitik ein


Politische Parteien


  • Laut Grundgesetz Art. 21 wirken politische Parteien an der politischen Willensbildung der Bürgerinnen und Bürger mit. Parteien sind Zusammenschlüsse von BürgerInnen, die bestimmte politische Grundauffassungen gemeinsam haben und die kontinuierlich auf die politische Willensbildung Einfluss nehmen wollen. Dabei verfolgen sie das Ziel, ParteivertreterInnen in öffentliche Ämter und Parlamente zu wählen und sich an der Regierung auf den verschiedenen politischen Ebenen zu beteiligen (Krott 1998: 38; Parteiengesetz §1 Abs. 2). In Deutschland stellen Parteien Kandidatinnen und Kandidaten für Wahlen zu Kommunal- und Kreisparlamenten, den Landesparlamenten, zum Deutschen Bundestag und für die Wahlen zum Europäischen Parlament auf. Parteien wirken – ähnlich wie Verbände – zwischen Staat und einzelnen Bürgerinnen und Bürgern

  • Eine politikwissenschaftliche Definition bezeichnet Parteien als „auf Dauer angelegte gesellschaftliche Organisationen, die Interessen ihrer Anhänger mobilisieren, artikulieren und bündeln und diese in politische Macht umzusetzen suchen – durch die Übernahme von Ämtern in Parlamenten und Regerungen”

  • Als wichtige Funktionen von Parteien gelten:

    • 1. 1. die politische Zielfindung,

    • 2. 2. die Artikulation und Aggregation gesellschaftlicher Interessen,

    • 3. 3. die Mobilisierung und Sozialisation von Bürgerinnen und Bürgern sowie

    • 4. 4. die Elitenrekrutierung und Regierungsbildung (Kevenhörster 1997: 301ff.).

  • Parteien konkurrieren um die Gunst der WählerInnen mit unterschiedlichen Programmen, die auf Basis grundlegender ideologischer Überzeugungen die parteipolitischen Ziele konkretisieren. Historisch betrachtet haben sich Parteien entlang grundsätzlicher gesellschaftlicher Konfliktlinien entwickelt. Diese werden in der politikwissenschaftlichen Kultur- und Wahlforschung auch als „Cleavages“ bezeichnet. Mit Lösche (1993: 23) können einige dieser grundlegenden Konflikte wie folgt benannt werden: unterworfene gegen dominante Kultur, Kirche gegen Staat (Katholische Zentrumspartei gegen säkularen Staat Preußen), Agrarinteressen gegen Industrieinteressen (Konservative Parteien gegen Liberale), Arbeit gegen Kapital (Entstehung der Sozialdemokratie). Mit dem gewachsenen Bewusstsein der Menschen für Umweltprobleme seit den 1970er Jahren kam zu diesen Konfliktlinien ein neuer, grundsätzlicher gesellschaftlicher Konflikt hinzu: „Umwelt gegen Wirtschaft/Konsum“, infolgedessen sich die Entstehung ökologischer Parteien wie der Grünen erklären lässt

  • Lange Zeit war das deutsche Parteiensystem – nicht zuletzt aufgrund der Fünf-Prozent-Hürde, die kleinen Parteien den Zugang zu den Parlamenten erschwert – durch eine große Stabilität charakterisiert. Das System wies eine „Zweiparteiendominanz“ auf, bei der die CDU/CSU auf der einen und SPD auf der anderen Seite standen und zunächst nur durch die Freien Demokraten (FDP) als dritte Kraft ergänzt wurde, die mal der einen (sozial-liberale Koalition, 1969- 1982) und mal der anderen Seite (schwarz-gelbe Koalition, 1982-1998) zur Regierungsmehrheit verhalf. 1983 zogen die Grünen erstmals in den Bundestag ein, nachdem sie zuvor schon in Landesparlamenten vertreten waren. Seit der Vereinigung beobachten wir einen Wandel zum „Fünfparteiensystem“: So sind seit 1990 Parteien links der SPD (PDS, Die Linke) im Bundestag vertreten, wodurch die SPD nachhaltig geschwächt wurde. Die FDP scheiterte bei der Bundestagswahl 2013 erstmals an der Fünf-Prozent-Hürde, zog aber 2017 erneut in den Bundestag ein. Mit der AfD konnte 2017 erstmals eine politische Partei rechts von CDU/CSU in den Bundestag einziehen. Weil über die Jahre die Parteienbindung der WählerInnen deutlich abgenommen hat, sprach Niedermayer von einem „fluiden Fünfparteiensystem“. Diese Entwicklung des Parteiensystems führte in der Vergangenheit mehrfach dazu, dass eine „Große Koalition“, also eine von CDU/CSU und SPD getragene Regierung zustande kam (2005-2009; 2013-2017), vor allem, weil ideologisch näherliegende Koalitionen (rot-grün oder schwarz-gelb) keine Mehrheit bilden konnten

  • Heute ist Umweltpolitik als solche unter allen Parteien unumstritten. Sämtliche Parteiprogramme enthalten umweltpolitische Positionen, die allerdings vor dem Hintergrund der unterschiedlichen parteispezifischen Grundideologien recht unterschiedlich ausfallen können.

Parteiendifferenzhypothese:

  • Die Parteiendifferenztheorie wurde ursprünglich von Douglas Hibbs (1977) aufgestellt und unter anderem von Edward Tufte (1978) weiterentwickelt und ist nach wie vor eine der wichtigsten Theorien der Policy-Analyse. Sie besagt, dass sich politische Parteien in ihren Policy-Positionen unterscheiden und dass sich diese Unterschiede, wenn die Parteien die Regierung stellen, auch systematisch in unterscheidbarer materieller Politik niederschlagen. Ein Wechsel in der Zusammensetzung der Regierung führt daher auch zu einem Wechsel der verfolgten Policies. Es werden insbesondere zwei kausale Mechanismen diskutiert, welche die Parteizugehörigkeit der Regierung mit spezifischen Policies verbinden: beim von Rational Choice-Theorien unterstellten vote-seeking wird angenommen, dass parteipolitische Akteure an der Regierung sich so an den Präferenzen ihrer Wählerschaft orientieren, dass sie (wieder-)gewählt werden. Beim policy-seeking hingegen wird angenommen, dass parteipolitische Akteure nicht primär an einer Wiederwahl orientiert handeln, sondern deshalb bestimmte Policies verwirklichen, weil Individuen in Parteien ihr Handeln vor allem in komplexen Situationen an Ideologien ausrichten.

  • Alternativ wird auch angenommen, dass sich ParteipolitikerInnen an die in den Parteiprogrammen niedergelegten Konzepte halten, weil sie diese als Mandat der WählerInnen verstehen (Wenzelburger 2015: 87). Allerdings dürften in der Realität häufig Mischungen dieser Mechanismen vorkommen, wobei die Nähe von Wahlen vote-seeking begünstigen sollte, während nach Wahlen eher policy-seeking zu erwarten wäre (Wenzelburger 2015: 90). Zudem beeinflussen institutionelle, sozioökonomische und weitere Kontextfaktoren, ob es tatsächlich Parteieneffekte gibt. Insbesondere unterscheidet sich das Ausmaß der identifizierbaren Parteieffekte zwischen den verschiedenen Politikfeldern. Auch in Politikfeldern, in denen der Parteiendifferenztheorie generell ein hoher Erklärungswert zugesprochen wird, etwa die Sozialpolitik (Allan/Scruggs 2004) oder die Privatisierungspolitik, zeigen sich Variationen im Zeitverlauf.


Parteiendifferenz in der Umweltpolitik


  • In der Umweltpolitikforschung ist die Parteiendifferenztheorie eine wichtige Theorie, die man bei empirischen Studien jedenfalls berücksichtigen muss. Gleichwohl bleibt in der Umweltpolitik, stärker als etwa in der Sozial- oder Privatisierungspolitik, umstritten, ob sich Policies wirklich systematisch danach unterscheiden, welche Parteien die Regierung stellen. Dies liegt zum einen daran, dass viele vorliegende Untersuchungen statt der Umweltpolitik die Umweltqualität als abhängige Variable wählen, womit über den Zusammenhang zwischen Parteipositionen und Umweltpolitik keine Erkenntnisse gewonnen werden können (Knill et al. 2010a: 302). Der Stand der empirischen Erkenntnisse ist also vergleichsweise dünn. Zum anderen passen die Fragen des Umweltschutzes nicht ohne Weiteres in die traditionellen Rechts-links-Cleavages, weshalb a-priori-Annahmen über die umweltpolitischen Positionen bestimmter Parteien nicht ohne Weiteres zu treffen sind. Betrachtet man die christlichen Parteien, so ist es zwar einerseits erwartbar, dass sie sich gegen restriktive Maßnahmen wenden, weil diese nicht im Interesse der Wirtschaft sind. Andererseits ist es aber auch möglich, dass sich diese mit Verweis auf die Bewahrung der Schöpfung für eine restriktive Umweltpolitik einsetzen.

  • Umgekehrt ist es möglich, dass linke Parteien eine restriktive Umweltpolitik mit Verweis auf die Arbeitsplätze ihrer Kernwählerschaft ablehnen (Knill et all. 2010: 304), was letztlich auf der Dimension Materialismus vs. Postmaterialismus abzubilden wäre. Versteht man aber Umweltpolitik als Regulierungs- und damit Interventionsthema, dann wäre zu erwarten, dass liberale Parteien, aber auch konservative Parteien eine strenge Umweltregulierung ablehnen, während Sozialdemokraten eher für solche Regulierung wären und Grüne sowie die Linke diese sogar stark befürworten würden (Töller 2017). Unterschiede dürften sich je nach der sozialen Akzeptanz der zu regulierenden Technik oder Industrie ergeben. Gerade wenn es generelle Zweifel an der Sinnhaftigkeit einer Technik gibt, kann starke Regulierung auch mit einer linken Kapitalismuskritik argumentativ verbunden werden („Profit Einzelner zu Lasten von Umwelt und Gesundheit“). Bei Umweltthemen, die in Zusammenhang mit dem Gewässer- und Gesundheitsschutz stehen, könnten zudem die Frage der Daseinsfürsorge und der Umweltgerechtigkeit (z.B. gleicher Zugang zu sauberem Wasser oder sauberer Luft) für eine strenge Umweltpolitik linker Parteien stehen

  • Umweltpolitische Belange werden heute von allen etablierten Parteien vertreten, jedoch ergeben sich in aller Regel doch deutliche Unterschiede, in welchem Maß Parteien bereit sind, Wirtschaftsbelange zugunsten von Umweltbelangen einzuschränken (Carter 2013: 74). Parteien, die in ihren Wahlprogrammen Umweltfragen eine große Bedeutung einräumen, betreiben jedenfalls auch eine strengere Umweltpolitik. Hier sind zwei weitere Fragen zu betrachten: Die eine Frage ist: unterscheiden sich rechte und linke Parteien in ihren programmatischen Positionen und in der dann beschlossenen Umweltpolitik tatsächlich? In Anlehnung an die oben vorgestellten Ausführungen kann man annehmen, dass sich rechte Parteien, wenn sie an der Regierung beteiligt sind, im Zweifelsfall nicht für restriktive Eingriffe in die Wirtschaft zugunsten der Umwelt entscheiden, während man von linken Parteien generell – und auch in der Umweltpolitik – erwarten würde, dass sie regulierungsfreundliche Positionen einnehmen und entsprechend eine restriktivere Umweltpolitik verfolgen. Es erscheint aber möglich, dass dieses Motiv auch zugunsten des Arbeitsplatzarguments aufgegeben wird. Die andere Frage ist, ob grüne Parteien, wenn sie an der Regierung sind, tatsächlich eine strengere Umweltpolitik verfolgen, wie dies angesichts ihrer Verankerung in der Umweltbewegung und ihrer programmatischen Aussagen zur Umweltpolitik zu erwarten wäre.

  • Empirische Untersuchungen zur Parteiendifferenz in der Umweltpolitik sind insgesamt seltener als zu anderen Politikfeldern . Seeger kommt in seiner Untersuchung der Umweltpolitik der 16 Bundesländer zwischen 1990 und 1996 zu dem Ergebnis, dass sich die Parteiprogramme in ihren umweltpolitischen Positionen durchaus unterscheiden. Dies schlägt sich aber in den untersuchten Bereichen Gewässerschutz, Immissionsschutz sowie Naturschutz nicht in unterschiedlichen Policies nieder (2003: 387). Als Erklärung hierfür führt Seeger zum einen das jeweilige Ausmaß des ökologischen Problemdrucks an und zum anderen das im „exekutivlastigen ‚unitarischen Bundesstaat’ mit hochgradiger Politikverflechtung“ vorherrschende „interföderale, Bund und Länder umfassendes Verflechtungssystem [...], in welchem nahezu alle Fragen der Gesetzgebung, der Regierungspraxis und des Verwaltungshandelns erörtert werden“ (2003: 387 f.).

  • Auch Wurster stellt fest, dass aufgrund der Verankerung des Umweltschutzes in den Programmen aller Parteien „Umweltanliegen bislang regelmäßig Eingang in das Regierungshandeln auf Landes- und Bundesebene gefunden haben und eine hohe Policy-Kontinuität auch nach Regierungswechseln zu verzeichnen blieb. Zwar lassen sich durchaus Schwerpunktverschiebungen je nach Koalitionszusammensetzung feststellen, diese waren aber in aller Regel nicht grundlegender Art.“ In einer Studie zur Verwendung von Vereinbarungen als „weiche“ Instrumente der Umweltpolitik auf Bundesebene fand Töller hingegen heraus, dass es im Hinblick auf präferierte und tatsächlich genutzte umweltpolitische Instrumente durchaus einen Unterschied machte, ob die CDU/CSU oder die SPD regierte: Die verschiedenen schwarz-gelben Koalitionen verwendeten die Vereinbarungen (oft anstelle stärker intervenierender Regelungen) recht häufig, die rot-grüne Koalition verwendete sie hingegen kaum

  • Knill et al. kommen in einer OECD-Länder vergleichenden Studie zu dem Ergebnis, dass Parteien, die sich in ihren Programmen für strenge Umweltpolitik stark machen, tatsächlich auch mehr Umweltpolitik beschließen. Dies ist bei linken Parteien häufiger der Fall als bei rechten Parteien, jedoch erlaubt alleine die Rechts-links-Unterscheidung keine zuverlässigen Aussagen über die umweltpolitische Performanz von Regierungen (Knill u. a. 2010: 327).49 Es ist also nach dieser Untersuchung bei linken Parteien an der Regierung wahrscheinlicher, dass sie strengere Umweltpolitik betreiben als bei rechten Parteien. Die Studie von Bäck et al. fand hingegen ein Verbot gentechnisch veränderten Saatgutes dort, wo Christdemokraten im Kabinett vertreten sind und dort auch das Umweltministerium besetzen. Die Möglichkeiten grüner Parteien, in ihrem Kerngebiet der Umweltpolitik ihre Positionen tatsächlich durchzusetzen, wurde lange Zeit als sehr begrenzt eingeschätzt . Auch die gerade erwähnte Studie zum Gentechnik-Verbot findet keinen positiven Effekt grüner Regierungsbeteiligung (Bäck et al. 2015: 570).

  • Heute herrscht aber insgesamt die Auffassung vor, dass grüne Parteien in ihren Programmen zuverlässiger als alle anderen Parteien Umweltthemen behandeln und demnach auch mehr oder strengere Umweltpolitik betreiben. Der Beitrag von Böcher und Töller zur Naturschutz- und Umweltpolitik der Länder zeigt auf, dass Landesregierungen mit grüner Beteiligung insbesondere in der Klima- und in der Jagdpolitik andere Akzente setzen. Töllers Studie, die die Fracking-Politiken rot-grüner Koalitionen in Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen untersucht, stellt fest, dass sich im Konfliktfall die Grünen mit ihren ökologischen Positionen dann nicht gut durchsetzen können, wenn die SPD wirtschaftsfreundlich auftritt und die Grünen statt dem Wirtschaftsministerium das Umweltministerium leiten. Die systematische Erforschung der Beteiligung der Grünen an 11 Landesregierungen bis Anfang 2017 könnte hier insgesamt belastbare Erkenntnisse liefern. Die Studie von Jungjohann (2019) findet jedenfalls starke umweltpolitische Effekte grüner Regierungspolitik in den Ländern und auf Bundesebene:;

    „…dass Bündnis 90/Die Grünen den Handlungsspielraum ihrer Regierungsbeteiligungen in den Ländern dafür nutzen, um Politiken für die ökologische Modernisierung voranzubringen – sowohl in den Ländern als auch über die Bundespolitik. Koalitionen, an denen die Grünen beteiligt sind, verfolgen mehrheitlich eine ehrgeizigere Politik für eine ökologische Modernisierung als Regierungen ohne ihre Beteiligung. Eine grüne Handschrift der Regierungspolitik ist in den Politikfeldern besonders deutlich, in denen Länder vergleichsweise großen politischen Handlungsspielraum besitzen: in der Energiepolitik (und hier insbesondere die erneuerbaren Energien) und in der Agrarpolitik (und hier am deutlichsten der Tierschutz). Beim Klimaschutz nutzen die Grünen nicht nur den Spielraum aus. Sie sind die treibende Kraft dahinter, dass sich Klimapolitik als eigenes Politikfeld auf Landesebene überhaupt etabliert. […] In anderen Politikfeldern mit ökologischer Relevanz ist der Einfluss einer grünen Regierungsbeteiligung weniger deutlich beziehungsweise aufwendiger zu ermitteln.“

  • Ein (empirisch allerdings wenig belegtes) Gegenargument zur Parteiendifferenzhypothese wird mit der Phrase „Nixon goes to China“ beschrieben, wonach es – angewendet auf Umweltpolitik – gerade konservativen Regierungen leichter falle, strikte umweltpolitische Maßnahmen gegen die Wirtschaft durchzusetzen


Verbandliche Akteure


  • Verbände sind korporative Akteure, die sich am politischen Prozess beteiligen, um die Interessen ihrer Mitglieder zu vertreten und durchzusetzen. In der Demokratie können sich gleichgesinnte BürgerInnen zu Interessenverbänden zusammenschließen und versuchen, ihre gruppenspezifisch übereinstimmenden Partikularinteressen durch Einflussnahme auf den politischen Prozess zu verwirklichen. Von den politischen Parteien unterscheiden sich Interessenverbände u.a. dadurch, dass sie sich nicht an Wahlen beteiligen und für ihre Funktionsträger (die durchaus häufig auch Abgeordnetenfunktionen nen in Parlamenten wahrnehmen) nicht ausdrücklich das Ziel der Übernahme von Mandaten verfolgen. Interessenverbände versuchen auf unterschiedliche Weise, politische Mandatsträger zu beeinflussen

  • Beispielsweise können Verbandsmitglieder als Abgeordnete im Parlament versuchen, umweltpolitische Entscheidungen mitzubestimmen. Über Spenden versuchen Verbände, Einfluss auf die Parteien auszuüben. Zudem repräsentieren Interessenverbände wichtige Wählerklientel und -stimmen, so dass PolitikerInnen den Verbandsinteressen auch im Sinne der Wählerstimmenmaximierung Beachtung schenken müssen. Daneben werden Verbandsvertreter zu Gesetzesanhörungen eingeladen und können als Mitglieder zahlreicher Expertengremien und Beiräte versuchen, ihren Verbandsinteressen im Gesetzgebungsprozess Nachdruck zu verleihen (Loer/Töller 2019). Dabei sind PolitikerInnen und Ministerien ihrerseits auf Informationen aus den Verbänden angewiesen

  • Verbände werden in der Politikwissenschaft auch als Interessengruppen oder organisierte Interessen bezeichnet. Von Alemann definiert Interessengruppen wie folgt: „Organisierte Interessen werden (...) verstanden als freiwillig gebildete, soziale Einheiten mit bestimmten Zielen und arbeitsteiliger Gliederung (Organisationen), die individuelle, materielle und ideelle Interessen ihrer Mitglieder im Sinne von Bedürfnissen, Nutzen und Rechtfertigungen zu verwirklichen suchen. Sie tun das innerhalb der sozialen Einheit und/oder gegenüber anderen Gruppen, Organisationen und Institutionen.

  • Von Winter (1995) bringt das Wirken von Verbänden auf den Punkt, wenn er schreibt, dass Verbände auf das politische System einwirken, „um im Prozess der Transformation von Interessen in Recht den Belangen ihrer Klientel Geltung zu verschaffen“. Allerdings sind Verbände heutzutage gravierenden Veränderungen unterworfen, da sich einerseits die Landschaft der zu vertretenden Interessen ständig verändert und andererseits mit der gesellschaftlichen Modernisierung die Neigung von Individuen und Firmen, sich in Verbänden zu organisieren, abnimmt. Überdies verändern sich auch die Rahmenbedingungen des politischen Systems. Damit verändern sich insgesamt auch die Handlungsformen und Strategien der Interessen (Loer/Töller 2019). Gerade im Zuge dieser Entwicklung erfolgt Interessenvertretung zunehmend nicht nur durch organisierte Verbände, sondern häufig durch einzelne Firmen selbst, insbesondere durch große Konzerne oderspezialisierte Beratungsfirmen


Umweltpolitische Interessen


  • Für die Politikwissenschaft ist der Begriff „Interesse“ von zentraler Bedeutung. Interesse bedeutet, sich für einen politischen Gegenstand einzusetzen, verbunden mit der Erwartung, damit auch persönlichen Nutzen zu mehren. Anhand des englischsprachigen Begriffes „interest“, der im deutschen auch „Zins“ bedeutet, wird der Interessenbegriff klarer: Man investiert politisch etwas (Arbeitszeit, Geld) und erwartet, dass sich dadurch ein persönlicher Vorteil in Bezug auf bestimmte politische Inhalte ergibt, eben ganz wie in der Finanzwelt, wo man Geld investiert und hofft, dass sich dieses mit der Zeit vermehrt.

  • Unterschieden werden können drei Dimensionen des Interessenbegriffes: Die individuelle Dimension bedeutet, menschliche Bedürfnisse zu befriedigen, die materielle verweist auf die Erzielung von Nutzen in der Interaktion mit anderen, und die ideelle bezeichnet jenen immateriellen Nutzen, der auf der Durchsetzung von ideologisch gerechtfertigten ideellen Ansprüchen und Zielen beruht. Für von Prittwitz ist die Wahrnehmung von Interessen von einer „wohlüberlegten Zielverfolgung“ geprägt. Für die Umweltpolitik bedeutet dies, dass ein umweltpolitisches Interesse sowohl gekennzeichnet sein kann durch ein Eintreten politischer Akteure für eine Ausweitung umweltpolitischer Maßnahmen als auch durch Versuche, umweltpolitische Maßnahmen hinauszuzögern, abzuschwächen oder zu verhindern

  • Die Bildung verschiedener Interessengruppen und deren Einfluss auf politische Entscheidungen stellen aus demokratietheoretischer Sicht zunächst kein Problem, sondern gerade ein Potenzial dar, sofern sich alle gesellschaftlichen Interessen gleichermaßen organisieren können und die verschiedenen Verbände über den gleichen Einfluss auf politische Entscheidungen verfügen können. Ein solches Bild zeichnet die Pluralismustheorie, die die Verbände innerhalb des politischen Systems als ein legitimes Kräfteparallelogramm aller in der Gesellschaft vorhandener Interessen begreift (Knill/Tosun 2015: 65). In dieser Theorie steht der Staat den Interessengruppen als Schiedsrichter gegenüber (von Beyme 1974: 210), der die Konfliktaustragung regulierenden Verfahren festzulegen hat und dafür sorgen muss, dass die Konfliktaustragung zwischen den gesellschaftlich relevanten Gruppen zu politischen Kompromissen führt (von Winter 1995: 150). Eine grundlegende Bedingung für das Funktionieren dieses Modells, wie es v.a. von Ernst Fraenkel vertreten wurde, ist das Vorhandensein gleicher Startbedingungen für alle in einer Gesellschaft vorhandenen Interessen

  • Genau an dieser Annahme entzündete sich heftige Kritik an der pluralistischen Theorie, die sowohl aus empirischen Beobachtungen als auch aus theoretischen Überlegungen abgeleitet wurde. Im Mittelpunkt stand die Erkenntnis, dass in der Gesellschaft vorhandene Interessen längst nicht alle im gleichen Maße über eine wirkungsvolle Interessenorganisation verfügen und daher der Zugang zur politischen Arena und die politische Macht ungleich verteilt sind (Knill/Tosun 2015: 65). Einer der prominentesten Kritiker der pluralistischen Annahmen in Deutschland ist Claus Offe: „Konfliktfähigkeit beruht auf der Fähigkeit einer Organisation bzw. der ihr entsprechenden Funktionsgruppe, kollektiv die Leistung zu verweigern bzw. eine systemrelevante Leistungsverweigerung glaubhaft anzudrohen“ (Offe 1969: 169). Über diese Fähigkeit verfügen aber die verschiedenen Organisationen in unterschiedlichem Maße.

  • Im Folgenden wollen wir näher auf Mancur Olsons „Logik des kollektiven Handelns“ eingehen, die neben den pluralistischen zu den einflussreichsten Gruppentheorien gehört (Olson 1968); hieraus lassen sich im Hinblick auf die Analyse umweltpolitischer Prozesse interessante Erkenntnisse gewinnen

  • Olson argumentierte, dass im Gegensatz zu den Annahmen der pluralistischen Gruppentheorie rational handelnde Individuen nicht notwendigerweise ein Interesse daran entwickeln, zum Erreichen kollektiver Ziele eine Gruppe zu bilden. Verbände stellen aus Sicht der ökonomischen Theorie der Politik Produzenten kollektiver Güter dar. Bei kollektiven Gütern gilt jedoch die Nicht-Ausschließbarkeit (niemand kann vom Genuss dieses Gutes ausgeschlossen werden) und die Nicht-Rivalität (was der eine konsumiert, hat der andere nicht weniger zur Verfügung), so dass ein Einzelner kein Interesse daran besitzt, etwas zu ihrer Bereitstellung beizutragen, da er auch im Falle des „Trittbrettfahrens“ von ihrem Konsum nicht ausgeschlossen werden kann.

  • Die Logik des kollektiven Handelns nach Olson besteht darin, dass kleine und homogene Gruppen viel eher organisierbar sind, da der Anteil des kollektiven Gutes, den ein einzelnes Mitglied erntet, so groß ist, dass es auch notfalls bereit wäre, alleine für die Erlangung des Kollektivgutes zu sorgen. Außerdem lassen sich in kleineren Gruppen soziale Kontrollmechanismen besser etablieren, die dem Einzelnen das Trittbrettfahren schwer machen. Mit steigender Gruppengröße sinkt für das einzelne Mitglied der Anreiz, etwas zum Gruppenziel beizutragen, da er in jedem Falle die Früchte des kollektiven Gruppenzweckes erntet, sein „Trittbrettfahrerverhalten“ aber schlichtweg nicht bemerkt wird.

  • Was folgt daraus für die Interessenkonstellationen in der Umweltpolitik? Grundlegend für die Umweltpolitik ist ihr Regelungsgegenstand: „Umwelt“ oder „Klima“ sind, wie oben ausgeführt, öffentliche Güter, die weder auf bestimmte Gruppen abgrenzbar sind noch vor nationalen Grenzen haltmachen. Weil Umwelt diese Eigenschaften hat, ist es aus der Sicht Olsons äußerst unwahrscheinlich, dass sich Individuen zu Umweltgruppen zusammenschließen. Für den Einzelnen erscheint es rationaler, beim Umweltschutz als Trittbrettfahrer das Engagement den anderen zu überlassen, kann doch niemand vom kollektiven Gut „Umweltverbesserung“ ausgeschlossen werden. Problematisch erscheint, dass es sich beim Umweltschutz nicht um ein anhand einer Gruppe abgrenzbares Kollektivgut handelt, das dem Individuum einen individuell spürbaren Anteil beschert. Vielmehr ist gerade das Klima das Kollektivgut mit dem größten Nutzerkreis, dessen individuell spürbarer Anteil nur marginal ist.

  • Bei einer Gewerkschaft wäre der erfolgreiche Ausgang einer Tarifverhandlung das Kollektivgut, welches auf die Arbeitnehmer der Branche beschränkt ist (ob organisiert oder nicht), aber zugleich eine individuell sichtbare Dividende beschert, nämlich das gesteigerte Einkommen. Insbesondere beim globalen Klimaschutz lassen sich die theoretischen Überlegungen Olsons gut anwenden: Länder wie die USA oder Brasilien wollen sich nicht (mehr) an globalen Klimaschutzmaßnahmen beteiligen, würden aber als Trittbrettfahrer dennoch von Klimaverbesserungen profitieren, die durch Anstrengungen anderer Staaten zustande kommen

  • Aufgrund solcher Grundannahmen geht man im Allgemeinen davon aus, dass das Machtpotenzial von Umweltverbänden im Vergleich zu Industrieverbänden deutlich geringer ist und Wirtschaftsinteressen als Verursacherinteressen einen deutlich höheren Einfluss auf die Umweltpolitik haben. Jaeger (1994: 132) fasst diese Logik der Neuen Politischen Ökonomie folgendermaßen zusammen: Interessen lassen sich danach leichter organisieren,

    • • je individueller, homogener und partikularer die zu vertretenden Interessen sind,

    • • je unmittelbarer spürbar die Vorteile sind, die die Interessengruppe ihren Mitgliedern verschafft,

    • • je mehr sichere (private) Gegenwartsgüter eine Gruppe im Vergleich zu

    • • unsicheren Zukunftsgütern sie anbietet

  • Nach diesen Annahmen werden der Organisation umweltpolitischer Interessen zu schlagkräftigen Verbänden schlechte Startchancen bescheinigt, denn:

    • Umweltschutz besitzt Kollektivgutcharakter, stellt also kein partikulares, homogenisierbares Interesse dar,

    • Umweltgruppen stiften ihren Mitgliedern kaum unmittelbare Vorteile, diese sind vielmehr unsichere Zukunftsgüter und keine Gegenwartsgüter,

    • • jedes Nicht-Mitglied partizipiert als Trittbrettfahrer am kollektiven Handeln,

    • • die Gruppe muss also einen Großteil ihrer Ressourcen in die Bereitstellung selektiver Anreize stecken.

  • Für die Analyse der Umweltpolitik heißt das, dass sich eher die gut organisierten Industrieverbände im politischen Prozess durchsetzen, während Umweltverbände schlechter in der Lage sind, ihre Interessen schlagkräftig zu organisieren. Zahlreiche Beispiele aus der deutschen Umweltpolitik, auf die wir an verschiedenen Stellen in diesem Text eingehen, belegen diese privilegierte Stellung der Wirtschafts- gegenüber Umweltinteressen im umweltpolitischen Prozess

  • Allerdings zeigt sich in der Umweltpolitik dieser Unterschied in der Macht von Umwelt- und Wirtschaftsinteressen heute häufig weniger kategorisch bzw. die Interessen müssen weiter ausdifferenziert werden. Dazu kann das bekannte von Prittwitzsche umweltpolitisches „Interessendreieck“ dienen, nach dem man in der Umweltpolitik zwischen Verursacherinteressen, Betroffeneninteressen und Helferinteressen unterscheiden kann

  • Verursacherinteressen streben danach, umweltbelastende Tätigkeiten aufrechtzuerhalten und dabei ihren Nutzen mit möglichst geringen (Umweltschutz-) Kosten zu sichern. Betroffeneninteressen sind darauf gerichtet, Umweltschäden rasch und vollständig zu beseitigen. Diese beiden Interessen scheinen sich innerhalb des umweltpolitischen Grundkonflikts „Wirtschaft contra Umweltschutz“ im Sinne der oben genannten theoretischen Annahmen unvereinbar gegenüber zu stehen. Es gibt jedoch in der Umweltpolitik auch Helferinteressen. Diese profitieren von der umweltpolitischen Problembewältigung, indem sie Nutzen aus der Bewältigung von Umweltschäden durch ihre Hilfe ziehen. In der Umweltpolitik könnten z.B. Branchen, als Helfer bezeichnet werden, die z.B. Technik zur Emissionsminderung (Photovoltaik, Filteranlagen, Windräder) bereitstellen. Solche Industriezweige besitzen ein hohes Interesse an der Verabschiedung von umweltpolitischen Maßnahmen. Für die Analyse des Einflusses von Wirtschaftsverbänden auf die Umweltpolitik ist daher zu beachten, dass in diesen sowohl Verursacher- als auch Helferindustrien vertreten sind und somit eine homogene Interessenposition als Verursacher oder Helfer abgeschwächt werden kann

  • Ein weiterer Ansatz, der hilft, die Interessen der Wirtschaft gegenüber umweltpolitischer Regulierung differenzierter zu betrachten, ist die sogenannte Porter-Hypothese. In seinem Aufsatz „The Wealth of Nations“ (Porter 1990) und in vielen Nachfolge-Publikationen hat der Harvard-Ökonom Michael E. Porter zunächst gegen die Standardbehauptung argumentiert, die einseitige Einführung strenger Umweltschutzvorschriften in einem Land würde die Firmen wegen der mit den Auflagen verbundenen steigenden Produktionskosten im internationalen Wettbewerb schwächen. Porter und seine Kollegen argumentieren vielmehr, dass Nationen im internationalen Konkurrenzkampf durchaus Wettbewerbsvorteile erzielen können, wenn sie einseitig strenge Umweltschutzvorschriften einführen bzw. bestehende Normen verschärfen, sofern die Umweltstandards richtig gesetzt werden.

  • Dann nämlich könne es gelingen, Innovationen auszulösen und die Gesamtkosten eines Produktes zu senken oder deren Wert zu steigern und überdies eine technologische Vorreiterrolle zu übernehmen. Auch andere Studien haben – ähnlich wie Porter und van der Linde – herausgefunden, dass umweltpolitische Regulierung die Innovationsfähigkeit der Firmen und die innerbetriebliche Effizienz steigern können, z.B. indem sie helfen, Ressourcen zu sparen, betriebliche Abläufe zu verbessern und Haftungsrisiken zu reduzieren. Aus einer solchen Sicht sind also Ökologie und Ökonomie weitaus versöhnlicher als weithin angenommen, auch wenn das tatsächliche Ausmaß solcher Win-win-Potenziale von Umweltpolitik und Firmenentwicklung höchst umstritten ist

  • In eine ähnliche Richtung geht das von Jänicke (1984) entwickelte normative Konzept der ökologischen Modernisierung, mit welchem der „Modernisierungszwang“ der kapitalistischen Industriegesellschaft auf umweltgerechte technische Neuerungen ausgerichtet werden soll (vgl. Jänicke et al. 1999: 126). Damit ist gemeint, dass die für Volkswirtschaften im globalen Wettbewerb dauerhaft notwendige Suche nach Innovationen und Modernisierung von Produkten und Produktionsverfahren ökologisch neu ausgerichtet werden soll (vgl. Jänicke et al. 1999: 127). Zum einen sorgt eine so verstandene ökologische Modernisierung für umweltverträglichere Produktionsverfahren und eine nachhaltigere Wirtschaftsweise. Zum anderen lassen sich durch ökologische Innovationen auch Wettbewerbsvorteile gewinnen, wenn z.B. energieeffizientere Produktionsverfahren oder Produkte (z.B. Erneuerbare-Energien-Technik, Elektro-Autos) in andere Länder exportiert werden (Jänicke 2017). Ökologische Modernisierung sorgt also für eine umweltgerechtere Produktionsweise und kann auch dazu dienen, im internationalen Wettbewerb Vorteile zu gewinnen und Lead-Märkte zu besetzen (Jänicke 2017). Durch „Pionierstaaten“, die entsprechende ökologisch modernisierte Produktionsweisen umsetzen, kann sich eine ökologische Modernisierung auf andere Länder und Regionen ausbreiten



Wirtschaftsverbände


  • Wirtschaftsverbände spielten in der Umweltpolitik der Bundesrepublik Deutschland von Anfang an eine herausragende Rolle. Dies liegt vor allem daran, dass Umweltprobleme in erster Linie als Industrialisierungsfolgen auftraten. Gleichzeitig trugen z.B. Mitte der 1980er Jahre gerade diejenigen Branchen zur Arbeitsplatzsicherung bei, die einen hohen Anteil an der Umweltbelastung hatten. Damit wurde die Wahrnehmung von Umweltpolitik durch einen grundsätzlichen Konflikt zwischen Arbeit und Umweltschutz geprägt, wie das folgende Zitat aus den 1980er Jahren zeigt: „Die Interessen der einzelnen Betriebe und Unternehmen sind (...) vorwiegend darauf gerichtet, die Kosten für Umweltschutzinvestitionen und den Betrieb von Umweltschutzanlagen möglichst gering zu halten. Umweltschutzkosten erhöhen nämlich die Produktionskosten und verschlechtern gegebenenfalls die Gewinnsituation der Unternehmen, sofern es nicht gelingt, die erhöhten Kosten über den Preis an die Produktnachfrager weiterzugeben.“

  • Die besondere Interessenlage und politische Bedeutung der Wirtschaftsverbände im Politikfeld Umwelt lässt sich damit durch die grundlegende materielle Besonderheit umweltpolitischer Maßnahmen erklären: Umweltpolitische Maßnahmen führen – zumindest kurzfristig – zu erhöhten Produktionskosten bei den durch Regulierungen betroffenen Unternehmen. Wirtschaftsverbände versuchen daher in der Regel, diese drohenden erhöhten Kosten durch Einflussnahme auf den umweltpolitischen Prozess abzuwenden. Dabei argumentieren sie auch damit, dass Arbeitsplätze durch höhere Umweltschutzkosten gefährdet seien – was Koalitionsmöglichkeiten mit den entsprechenden Branchengewerkschaften bietet – und drohen damit, die Produktion in Länder mit niedrigeren Umweltkosten zu verlagern.

  • Diese grundlegende Konfliktstruktur lässt sich seit der Einführung der deutschen Umweltpolitik in den 1970er Jahren, über die 1980er Jahre und besonders noch einmal nach der deutschen Wiedervereinigung sowie in der Finanz- und Wirtschaftskrise beobachten (s.o.). Allerdings ist die Interessenlage der Wirtschaftsakteure in den vergangenen etwa 30 Jahren erheblich komplexer geworden. Denn inzwischen gibt es gerade in Deutschland viele Wirtschaftszweige, die ihre Existenz erst dem Umweltschutz verdanken oder von ihm deutlich profitieren. Gerade im Zuge umweltpolitischer Regulierungen sind es dann bestimmte Industriezweige, die von einer Ausweitung der Umweltpolitik profitieren und damit auch ein Interesse an „mehr“ Umweltpolitik ausbilden können. Jänicke spricht in diesem Zusammenhang von einer „boomenden“ Klimaschutzindustrie, die sich in Folge der deutschen Klimaschutzbemühungen herausgebildet habe

  • Wir unterscheiden in Anlehnung an Töller und Böcher (2017) sechs Typen von Wirtschaftsverbänden, die in der Umweltpolitik zusammen, arbeitsteilig, konkurrierend oder auch antagonistisch auftreten (Tabelle 1). Dies sind erstens die großen Dachverbände (der Bundesverband der Deutschen Industrie, BDI, und der Deutsche Industrie- und Handelskammertag, DIHK) und zweitens die Branchenverbände, die im BDI organisiert sind. Dazu gehören etwa der Verband der Chemischen Industrie (VCI), der Verband der Automobilindustrie (VDA), der Verband der Maschinen- und Anlagenbauer (VDMA oder auch der Zentralverband der Elektrotechnik- und Elektrizitätsindustrie (ZVEI, um nur die für die Umweltpolitik wichtigsten vier Branchenverbände zu nennen, die zusammen etwa die Hälfte des BDI-Etats aufbringen.

  • Dazu gehört aber auch der an Bedeutung gewinnende Bundesverband Erneuerbare Energie e. V. Hinzu kommen drittens Fachverbände, die – oft innerhalb von oder in Kooperation mit den Branchenverbänden – Spezialinteressen in der Branche vertreten (so etwa der Industrieverband Körperpflege und Waschmittel (IKW innerhalb des VCI). Während Dach-, Branchen- und Fachverbände Umweltschutzpositionen aus der Perspektive ihrer Mitglieder bei Bedarf erarbeiten, haben sich viertens Branchenumweltorganisationen– im Rahmen des Branchenverbandes oder organisatorisch unabhängig – die Vertretung von Brancheninteressen im Bereich der Umweltpolitik oder sogar in speziellen Regelungsbereichen zur Aufgabe gemacht. Beispiele sind die von Firmen der Rohstoff- und Konsumgüterindustrie, der Verpackungsindustrie, dem Handel und Entsorgern. gegründete Arbeitsgemeinschaft Verpackung und Umwelt (AGVU), die Arbeitsgemeinschaft Altauto (ARGE-Altauto) innerhalb des VDA und das Forum Umwelttechnik im VDMA.

  • Alle genannten Arbeitsgemeinschaften stellen spezielle Zusammenschlüsse dar, die Interessen von Firmen hinsichtlich spezifischer umweltpolitischer Bereiche und bestehender Regulierungen, wie z. B. Recycling, und Entsorgung bündeln. Die Helferverbände bezeichnen fünftens die vielfältigen und überwiegend erst seit 2000 gegründeten Verbände, die sich um Industriezweige bilden, die zur Bewältigung von Umweltproblemen notwendig sind – wie z. B. der erneuerbaren Energien (z. B. Bundesverband Solarwirtschaft e.V. [BSW-Solar], der Bundesverband WindEnergie e.V. [BWE] oder der Bundesverband Bio-Energie [BBE], siehe im Einzelnen Seibt 2015: 67ff.) oder der Bundesverband Kraft-Wärme-Kopplung (B.KWK). Diese haben ein originäres ökonomisches Interesse an der Förderung oder Festschreibung bestimmter Umwelttechnologien. Damit lehnen wir uns an v. Prittwitz an, der in der Umweltpolitik zwischen Verursacher-, Betroffenen- und Helferinteressen unterscheidet

  • Schließlich gibt es – sechstens – noch die branchenübergreifenden „alternativen“ Unternehmerorganisationen. Bei diesen nimmt die Versöhnung von Ökonomie und Ökologie im unternehmerischen Handeln eine zentrale Stellung ein. Beispiele sind der Bundesarbeitskreis umweltbewusstes Management e.V. (B.A.U.M.), der Bundesverband der grünen Wirtschaft (Unternehmensgrün) oder Future e.V., ein ökologisch orientierter Zusammenschluss kleiner und mittlerer Unternehmen.

  • Typen von Wirtschaftsverbänden: Dachverbände, Branchenverbände, Fachverbände, Branchenumweltorganisationen, Helferverbände, Alternative Unternehmerorganisationen

  • Der für die Umweltpolitik wichtigste deutsche Wirtschaftsverband ist nach wie vor der BDI. Der BDI ist ein „Verband der Verbände“: Laut seiner Homepage sind aktuell 35 Mitglieder selbst Verbände, und zwar überwiegend Spitzenverbände der Industrie, die also wiederum Verbände vertreten. Rund 100.000 Unternehmen mit 8 Mio. Beschäftigten in der Bundesrepublik werden durch den BDI – so seine Selbstverlautbarung – repräsentiert. Der BDI gilt aufgrund seiner Funktion als oberster und zugleich fast allumfassender Repräsentant der deutschen (Groß-) Industrie allgemein als politisch sehr einflussreich. Von den großen Mitgliedsverbänden des BDI sind drei von zentraler Bedeutung für die Umweltpolitik: der Verband der Chemischen Industrie e.V. (VCI), der Verband der Automobilindustrie e.V. (VDA und der Zentralverband der Elektrotechnik- und Elektronikindustrie e.V. (ZVEI). Neben dem BDI spielt auch der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) als zweiter Spitzenverband der Wirtschaft, der sich vor allem als Vertreter der kleinen und mittleren Unternehmen versteht (Reutter 2001: 84), eine wichtige Rolle in umweltpolitischen Entscheidungsprozessen

  • Angesichts der funktionellen und organisatorischen Ausdifferenzierung der wirtschaftlichen Funktionen einerseits und der umweltpolitischen Regelungsfelder andererseits zeigt sich in vielen umweltpolitischen Entscheidungsprozessen, dass der BDI als Dachverband und die Branchenverbände außerordentlich heterogene und zunehmend auch widerstrebende Interessen integrieren und vertreten müssen. Bei Umweltregulierungen, die – typisch für den deutschen Regelungsansatz – häufig eine bestimmte Umweltschutztechnik vorschreiben, zerfällt die Industrie in die „begünstigte“ Industrie (Anlagenhersteller) einerseits, die „Helferinteressen“ (Prittwitz 1990) wahrnimmt, und die „belastete“ Industrie (z.B. Stahl oder Chemie) andererseits (Mann 1994: 238), die Verursacherinteressen vertritt. Dafür steht in der Klimapolitik der strukturelle Konflikt zwischen den organisierten Maschinenbauern (VDMA, die auch die Umwelttechnik vertreten, und dem Verband der Elektrizitätswirtschaft, BDEW (s.u.), dessen Mitglieder naturgemäß an Energieeffizienz wenig Interesse haben

  • Anhand der Politik zur Förderung erneuerbarer Energien haben verschiedene Untersuchungen in den letzten Jahren aufgezeigt, wie gespalten die Wirtschaftsverbände im Hinblick auf umweltpolitische Maßnahmen sein können: Während die Verbände der erneuerbaren Energien (BEE und weitere, s. u.) sowie der VDMA zu den Befürwortern einer möglichst schnellen und umfassenden Ersetzung konventioneller Energien durch erneuerbare Energien gehören, stellten sich regelmäßig der BDI und der Verband der Industriellen Energie- und Kraftwirtschaft (VKI) dagegen. Der Bundesverband der Energie- und Kraftwirtschaft (BDEW) ist intern gespalten (Seibt 2015: 26). Zwar sind die wenigsten Verbände generell gegen erneuerbare Energien, aber sie lehnen die eingeführten Umlagen ab, insbesondere, wenn sie die Stromverbraucher im Allgemeinen und die energieintensiven Industrien im Besonderen betreffen (Seibt 2015: 25). Daher fordern diese Verbände auch wiederkehrend (wie überhaupt in der Klimapolitik) Sonderregelungen für die energieintensiven Industrien – und bekommen sie bislang auch

  • Während Umweltpolitik in der Regel auf die Regulierung der Wirtschaftstätigkeit mit dem Ziel einer Reduzierung von ökologischen Externalitäten abzielt, beziehen sich die Aktivitäten von Wirtschaftsverbänden meist auf die Beeinflussung dieser Politik mit den Zielen, Einschränkungen und Kosten für die betroffenen Unternehmen zu vermeiden oder so niedrig wie möglich zu halten, Sicherheit in Bezug auf mittelfristige regulative Entwicklungen und damit Investitionssicherheit zu erhalten oder auch Märkte abzuschotten. Dabei lehnen deutsche Wirtschaftsverbände umweltpolitische Anliegen, wie etwa Klimaschutzmaßnahmen, kaum noch per se ab (z. B. Eberlein/Matten 2009: 249f.) und bekennen sich bereits seit den 1980er Jahren zumindest auf der rhetorischen Ebene zum Umweltschutz.

  • Im Detail geht es den Verbänden um die Verhinderung bestimmter umweltpolitischer Instrumente, die Reduzierung des konkreten Regulierungsniveaus oder um die Etablierung von Ausnahmen für ihre Mitgliedsunternehmen. Dabei eröffnen sich immer dann, wenn umweltpolitische Maßnahmen bestimmte Branchen – und die dort bestehenden Arbeitsplätze – zu bedrohen scheinen, Allianzmöglichkeiten mit den Gewerkschaften . So machten in der Diskussion über die Klimaabgabe für Braunkohlekraftwerke im Jahr 2015 die Gewerkschaften und Betriebsräte gemeinsam mit den großen Stromkonzernen durch Demonstrationen gegen das Konzept von Wirtschaftsminister Gabriel mobil und setzten sich durch

  • Grundsätzlich gehört es zur Interessenvertretungsarbeit der Verbände, kontinuierlich Kontakte zu Akteuren in Politik und Verwaltung zu pflegen. Auch wenn in allen Regelungsfeldern Wirtschaftsinteressen effektiv vertreten werden, erfolgt dies nicht in allen Fällen bzw. Gebieten durch Verbände. Es gibt Bereiche, in denen Wirtschaftsverbände kaum eine Rolle spielen, wie etwa in der Kernenergiepolitik, wo traditionell die großen Stromkonzerne ihre Interessen selbst vertreten , und Bereiche, in denen zumindest neben den Branchenverbänden die großen Konzerne eine eigene Rolle spielen, wie in allen Politiken, die die Automobilindustrie oder die mineralölverarbeitende Industrie betreffen. In unserem Beitrag unterscheiden wir als Handlungsformen der Wirtschaftsverbände Lobbying, öffentlichkeitsbezogene Handlungsformen (wie PR-Kampagnen oder Aktivitäten in den sozialen Medien), konfrontative Handlungsform (Protestieren, Drohen und Klagen) sowie argumentative Handlungsformen (Einflussnahme durch Expertise) und schließlich kooperative Handlungsformen (Beteiligung in Netzwerken und Vereinbarungen)



Umweltverbände


  • In Deutschland gibt es eine große Zahl von Umweltverbänden. Nimmt man als einen Anhaltspunkt die Anzahl der gemäß Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz auf Bundes- und Landebene anerkannten Umwelt- und Naturschutzverbände, dann sind dies 295 Verbände. Deren Mitgliederzahlen sind, wie die Abbildungen 12-14 zeigen, seit etwa 2000 durchweg deutlich angestiegen. Mittlerweile haben in Deutschland die Umweltverbände insgesamt mehr Mitglieder als die Parteien

  • Auch wenn sich Umweltverbände grundsätzlich als „Korrektiv“ im umweltpolitischen Prozess verstehen, hat Protest als Handlungsform insgesamt an Bedeutung abgenommen. Hier scheint es allerdings jüngst eine Widerbelebung klassischer Protestformen zu geben, insbesondere in Folge der Klimaschutzdebatte, wie die Auseinandersetzungen um den Hambacher Forst (NRW) und die regelmäßigen Fridays-for-Future Demonstrationen zeigen. Beim Hambacher Forst nutzte der BUND zum einen das Mittel der Klage, um juristisch umweltpolitische Ziele zu erreichen, beteiligte sich jedoch auch an Protestaktionen. Bei den Fridays-for-Future-Demonstrationen ist es insbesondere die Jugendorganisation BUNDJugend, die ihre Mitglieder zur Teilnahme an den Aktionen aufrief.

  • Während der mangelnde Einfluss der Umweltverbände in den 1980er Jahren allgemein bekannt war und in den 1990er Jahren auf der Basis einer Befragung auch empirisch nachgewiesen wurde, haben Umweltverbände heute eine deutlich bessere und einflussreichere Position, weshalb sich ihnen auch andere Handlungsformen und Einflussmöglichkeiten eröffnen. Aus der internationalen Forschung weiß man, dass Umweltverbände umso konfrontativer agieren, je weniger Zugang zu politischen Entscheidungen sie haben, und umgekehrt umso weniger konfrontativ agieren, je mehr Zugang zu politischen Entscheidungen sie haben

  • Mit der Relativierung von Protest als Handlungsform geht ein „Professionalisierungsschub“ in der Arbeit der Umweltverbände einher, der seinerseits durch dauerhaft wachsende Mitgliederzahlen und damit gesicherte Ressourcen ermöglicht wird. Dies führt allerdings zu einer Relativierung des einst konstitutiven Ehrenamtes

  • Die Verbände unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Organisationsform, ihrer Ressourcenbasis, der Bedeutung von und ihrer Autonomie gegenüber Mitgliedern, der Rolle von Professionalität und Ehrenamt, ihrem Image, ihrem bevorzugten thematischen Aktionsfeld und ihren Aktionsformen voneinander. Man kann in Deutschland vier Arten von Umweltverbänden unterscheiden:

    • mitgliederbasierte, international vernetzte Verbände wie der Naturschutzbund Deutschland e. V. (NABU) und der Bund für Umwelt- und Naturschutz Deutschland (BUND)

    • internationale, spenden- und förderbasierte Verbände wie Greenpeace und der World Wide Fund for Nature (WWF);

    • • nationale, nicht mitgliederstarke, spenden- und förderbasierte Verbände, wie die Deutsche Umwelthilfe (DUH);

    • • kleinere themen-/issuebezogene -Verbände oder Verbände mit eher regionalem Profil, wie z.B. Robin Wood oder German Watch und

    • • Dachverbände, deren Mitglieder andere Umweltverbände sind, wie der Deutsche Naturschutzring (DNR)

  • Heutzutage steht prinzipiell allen Umweltverbänden eine große Bandbreite von Handlungsformen zur Verfügung, mit denen sie sich am politischen Prozess beteiligen und versuchen können, politischen Einfluss zu nehmen. Dabei bilden jedoch die verschiedenen Verbände unterschiedliche Profile und Strategien aus. Insbesondere Greenpeace setzt weiterhin auf medienwirksame Proteste, diese werden jedoch in Form von Kampagnen und nicht durch Demonstrationen realisiert. So führte Greenpeace in der Vergangenheit erfolgreich Kampagnen gegen einzelne Unternehmen durch, was deren Position schwächte und sie unter Zugzwang setzte. Ein Beispiel ist der Konflikt um den in der Nordsee schwimmenden Öltank „Brent Spar“, den Greenpeace-Aktivisten 1995 besetzten, um eine Versenkung durch Shell zu verhindern. Im Zusammenspiel mit entsprechenden Medienberichten und Verbraucher-Boykotten von Shell-Tankstellen entschied sich Shell schließlich, die Plattform an Land zu entsorgen (Lietzmann 2001). 2012 begleitete ein Boot von Greenpeace den von Shell gecharterten Eisbrecher „Nordica“: Aktivisten kletterten auf das Schiff, um gegen die Ölförderpläne Shells in der Arktis zu protestieren (Greenpeace 2014: 8). Die Strategie von Greenpeace besteht darin, durch spektakuläre Protestaktionen medienwirksam die Öffentlichkeit für bestimmte Umweltprobleme zu sensibilisieren – die Aktionen finden weltweit statt

  • Jedoch findet sich heute eine Vielzahl von Handlungsformen jenseits des Protests. War der direkte Zugang der Umweltverbände zu staatlichen Institutionen (v.a. Ministerien) noch in den 1990er Jahren die absolute Ausnahme, so ist dieser heute durchaus möglich. Dazu hat auch der Umstand beigetragen, dass von 1998 bis 2005 erstmals die Grünen an einer Bundesregierung beteiligt waren und in dieser Zeit auch den Umweltminister stellten. Zudem waren die Grünen in jüngerer Zeit an einer Reihe von Landesregierungen beteiligt

  • Allerdings erscheint dieser Zugang bislang wenig abgesichert, d.h. er kann mitunter auch schnell beendet werden. Dies zeigte sich etwa bei der Ausarbeitung der Gesetzentwürfe zur nationalen Umsetzung der europäischen Emissionshandelsrichtlinie. In der bereits 2000 eingesetzten „Arbeitsgruppe Emissionshandel zur Bekämpfung des Treibhauseffekts“ (AGE) war unter dem Vorsitz des BMU zunächst ein sehr breites Spektrum an Akteuren beteiligt (Industrieunternehmen, verschiedene Wirtschaftsverbände, Umweltverbände, Gewerkschaften, die Bundestagsfraktionen und einige Bundesländer, Orlowski/Gründinger 2011). Aufgrund des Zeitdrucks und der Schwierigkeit, sich mit derart vielen Teilnehmern (und heterogenen Interessenlagen schon innerhalb der Gruppe der Wirtschaftsvertreter) zu einigen, wurden die Beratungen 2003 in die kleinere Staatssekretärsrunde verlagert, der neben Regierungsvertretern nur noch 13 Wirtschaftsvertreter (vom BDI koordiniert) angehörten. Die Umweltverbände waren damit “draußen”.

  • Neben dem direkten Einfluss in politischen Vorbereitungs- und Entscheidungsgremien ist heute auch das Betreiben von Lobbying, also klassische Interessenvertretung, eine wichtige Strategie der Umweltverbände. Aufgrund der prinzipiellen Anerkennung umweltpolitischer Belange und der Expertise der Umweltverbände ist es heute für diese lohnender, Ressourcen in Lobbying zu stecken Etwa der WWF ist bekannt dafür, dass er insbesondere über die Bereitstellung von Expertise sowie durch Lobbying Einfluss zu nehmen versucht. Weil viele Umweltprobleme so stark abhängig sind von Wissen und wissenschaftlicher Rekonstruktion, ist es eine wichtige Strategie der Umweltverbände, ihre Positionen durch wissenschaftliche Argumente und wissenschaftliche Gutachten zu stützen. So formulierte die ehemalige Hauptgeschäftsführerin von Greenpeace Deutschland in einem Interview: „Früher mussten wir nur zeigen, wo was schiefläuft, heute müssen wir es beweisen“. In vielen Kontexten legen Umweltverbände heute wissenschaftliche Studien vor. Beispiele sind die WWF-Studie zur Auswirkung des Klimawandels auf die Produktion von Lebensmitteln (WWF 2012) oder die Studie von Lahl im Auftrag des NABU zur Bioökonomie

  • Allerdings sind die Umweltverbände heute insgesamt weniger ideologisch ausgerichtet als früher, und es kommt infolge dieser „Auflösung alter Feindbilder“ sogar regelmäßig zu Kooperationen, etwa mit Wirtschaftsakteuren . Zu diesen kooperativen Konstellationen gehören auch die regulativen und selbstregulativen Aufgaben, auf die sich einige Umweltverbände einlassen. So war beispielsweise 1993 das transnationale Zertifizierungssystem für nachhaltige Forstwirtschaft, das Forest Stewardship Council (FSC) gegründet worden, und zwar u.a. auf Initiative von Greenpeace. Das Siegel bindet neben Holzproduzenten und -konsumenten u.a. auch Umweltverbände und Gewerkschaften in seine Entscheidungsstrukturen ein. Die deutsche Umweltgruppe Robin Wood nahm 12 Jahre auf internationaler Ebene an diesem System teil und entschied u.a. mit, welche ökologischen Standards Firmen einhalten müssen, die ihre Produkte mit dem FSC-Siegel schmücken. 2009 aber trat Robin Wood aus den Gremien von FSC International zurück. Ursache war zum einen „die FSC-Politik, Großplantagen zu zertifizieren“. Solche „industrielle Monokulturen in Ländern des globalen Südens […] tragen das FSC-Siegel, obwohl diese nach Auffassung von ROBIN WOOD weder ökologisch verträglich noch sozial gerecht zu bewirtschaften sind.“

  • Zugleich würden die Diskussions- und Entscheidungsprozesse um kritische Aspekte wie die der Plantagenpolitik immer aufwändiger und schwerer durchschaubar. Eine verantwortliche Begleitung sei von ROBIN WOOD „nicht mehr zufriedenstellend zu leisten“ (Robin Wood 2009). Allerding ist Robin Wood – wie auch BUND und NABU – weiterhin Mitglied bei FSC Deutschland, wo es um die Kriterien für nachhaltige Forstpolitik in Deutschland geht. Im Frühjahr 2018 stieg auch Greenpeace International bei FSC aus, weil man sich auf internationaler Ebene nicht gegen die Verletzung von Nachhaltigkeitskriterien durchsetzen konnte. Anhand eines solchen selbstregulativen Arrangements mit verschiedenen Akteuren zeigt sich, dass Umweltverbände, wenn sie versuchen, an Entscheidungen beteiligt zu sein, in einen Konflikt zwischen „voice“ und „exit“55 geraten können: Bleiben sie in den Strukturen, dann können sie ihre Positionen zwar vertreten („voice“), setzen sich aber sich möglicherweise nicht durch und verschaffen dem Siegel dennoch durch ihre Kooperation Legitimität. Entscheiden sie sich hingegen für „exit“, besteht die Option, „das Siegel von innen heraus beeinflussen zu wollen“ (Robin Wood 2018), nicht mehr. Die Verbände gewinnen ihre Glaubwürdigkeit zurück, verlieren aber Einfluss

  • Eine Alternative, bei der Umweltverbände regulativ tätig sind, ohne in eine solche „Zwickmühle“ zu geraten, bietet die Entwicklung eines eigenen Zertifizierungssystems, wie man anhand der Entwicklung von Zertifizierungssystemen im Bereich Tierschutz zeigen kann. Seit 2013 bietet der Tierschutzverband ein Tierschutzlabel an, das zunächst für Mastschweine und Masthühner und später auch für Legehennen und Milchkühe Standards setzte, damit sich trotz Regelungslücken im Tierschutzgesetz „die Rahmenbedingungen für alle Tiere in der deutschen Landwirtschaft spürbar verbessern“ (Tierschutzbund 2018: 3). Dabei können Unternehmen, die das Label führen wollen, für alle vier Bereiche zwischen einer „Einstiegsstufe“ und einer „Premiumstufe“ mit entsprechend strengeren Standards wählen. Im Gegensatz zur 2010 gegründeten holländischen Initiative „Dierenbescherming“, deren Label bereits nach vier Jahren einen Marktanteil von 15 % hatte, sind alledings das Angebot von und die Nachfrage nach z.B. zertifiziertem Fleisch in Deutschland noch übersichtlich. Nach Auskunft des Tierschutzbundes hielten 2018 200 Betriebe ihre Tiere unter den Kriterien des Tierschutzlabels, die Produkte können bei 19 Handelsunternehmen gekauft werden, der Marktanteil ist gering. 2017 entschied der Tierschutzbund, nicht – wie zunächst geplant – am freiwilligen Tierwohl-Programm des Bundeslandwirtschaftsministeriums teilzunehmen

  • In den letzten Jahren hat insbesondere das Klagen vor Gerichten als konfrontative Strategie der Umweltverbände erheblich an Bedeutung gewonnen. Traditionell verfügten Umweltverbände in Deutschland nicht über das Recht, in Fällen, in denen sie etwa bei Verfahren zur immissions- oder wasserschutzrechtlichen Gestaltung oder der Planfeststellung oder -genehmigung Umweltaspekte nicht oder nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt sahen, vor Gericht zu ziehen. Denn im deutschen Recht darf eigentlich nur klagen, wer durch eine Maßnahme in seinem eigenen Recht verletzt sein kann. Dieses Dogma wurde bereits 2002 durch die Einführung eines Klagerechts anerkannter Naturschutzverbände durch das Bundesnaturschutzgesetz aufgeweicht. Eine noch weitergehende Wendung trat mit dem Umwelt-Rechtsbehelfsgesetz 2006 in Kraft, das ein Klagerecht für anerkannte Umweltverbände einführte und so die Aarhus-Konvention („Übereinkommen über den Zugang zu Informationen, die Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten“) von 1998 und die Richtlinie 2003/35/ EG in deutsches Recht umsetzen sollte.

  • Zunächst blieben die Klagerechte der Umweltverbände nach deutschem Recht jedoch eingeschränkt: Es sollte ihnen nur möglich sein, Verstöße gegen Rechtsvorschriften geltend zu machen, die dem Umweltschutz dienen, Rechte Einzelner begründen und für die angegriffene Entscheidung von Bedeutung sind. Diese enge Umsetzung des europäischen Rechts wurde durch das Trianel-Urteil des Europäischen Gerichtshofs von 2011 für europarechtswidrig erklärt. Es folgte 2013 eine Novellierung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes, die die Rügebefugnis allgemein auf Verstöße gegen umweltschutzbezogene Vorschriften erweiterte. Schließlich kam es 2017 zu einer weiteren Ausdehnung der Klagebefugnisse u.a. infolge des EuGH-Urteils Kommission vs. Deutschland (Rs. C-137/14). In dem Urteil hatte der EuGH entschieden, dass die strengen Präklusionsregeln56 des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes gegen das Erfordernis eines umfassenden und effektiven Zugangs zu Gerichten verstießen. Seit der Novelle des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes von 2017 dürfen Umweltverbände auch dann gegen Vorhaben klagen, wenn sie nicht im Vorfeld dagegen Einspruch erhoben haben

  • Erwartet wird u.a., dass das Klagerecht für Umweltverbände dazu führt, Umweltinteressen gegenüber Individual- und Wirtschaftsinteressen (die in der Regel klagebewehrt sind) zu stärken und die grundsätzlich ja prekäre Implementation des Umweltrechts zu verbessern. Da jedoch auch häufig die Sorge geäußert wird, dass die Verbandsklage die Realisierung von Infrastrukturprojekten verzögere, enthält der Koalitionsvertrag von 2018 das Vohaben, die Geschwindigkeit „in den Bereichen Verkehr, Infrastruktur, Energie und Wohnen“ zu steigern. Dazu sollen „für ausgewählte Projekte von überragendem öffentlichen Interesse“ die Planungs- und Genehmigungsverfahren verkürzt und die Verwaltungsgerichtsverfahren auf eine Instanz verkürzt werden. Außerdem beabsichtigt die Regierung, „das Verbandsklagerecht in seiner Reichweite zu überprüfen“ und sich „auf der EU-Ebene für die Wiedereinführung der Präklusion“ einzusetzen

  • Wie wurden die Klagerechte bislang genutzt? Nach einer Auswertung von Schmidt und Zschiesche (2018) im Auftrag des Sachverständigenrats für Umweltfragen (SRU) lag die Anzahl der Fälle (erfasst wurden die Gerichtsentscheidungen) bundesweit schon im Zeitraum 2002 bis 2006 bei 27,6 Fällen pro Jahr und stieg im Zeitraum 2007 bis 2012 auf 28,5 Fälle pro Jahr. Erst im Zeitraum 2013 bis 2016 nahmen die Fälle deutlich zu und lagen bei 35 pro Jahr. Bemerkenswert daran ist zunächst die vergleichsweise hohe Zahl der Verfahren schon vor Einführung des Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes 2006, die auf die 2002 eingeführten Klagemöglichkeiten durch das Bundesnaturschutzgesetz sowie die daraus resultierende Einführung von Verbandsklagerechten in einigen Bundesländern, insbesondere in Bayern,58 zurückzuführen ist. Dass danach die Anzahl der Fälle kaum anstieg, führen die Autoren darauf zurück, dass bis zum Trianel-Urteil von 2011 und dessen Umsetzung 2013 das Klagerecht der Umweltverbände auf umweltrechtliche Vorschriften, die Rechte Einzelner begründen, beschränkt blieb. Erst mit diesem Urteil wurde klar, dass z.B. bei Verbandsklagen gegen Industrieanlagen auch die Verletzung von naturschutz- oder wasserrechtlichen Vorschriften gerügt werden kann. Dies ist vor allem bei Klagen gegen Windenergie- und Tierhaltungsanlagen wichtig, die zwischen 2013 und 2016 stark zugenommen haben. Hinzu kommt ab 2013 auch die Möglichkeit, gegen Luftreinhaltepläne zu klagen. Betrachtet man die Klagehäufigkeit in den Bundesländern, dann wird in Bayern, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Brandenburg am meisten geklagt – auch hier mit zunehmender Tendenz

  • Untersucht man, welche der knapp 300 anerkannten Umwelt- und Naturschutzverbände59 in Deutschland das Klagerecht nutzen, dann ergibt sich ein interessantes Muster einer sich auch wandelnden Spezialisierung: zwischen 2002 und 2006 waren es vor allem der BUND und der NABU sowie in Brandenburg und Sachsen die Grüne Liga, die in 89 % aller Fällen geklagt hatten. Ab 2011 begann die Deutsche Umwelthilfe (DUH, siehe unten) mit ihren Klagen gegen Kohlekraftwerke und Luftreinhaltepläne, und ab 2013 wendete sich das Osnabrücker Umweltforum mit Klagen gegen Tierhaltungsanlagen (Schmidt/Zschiesche 2018: 17). Quantifiziert man die Klagegegenstände im Zeitverlauf, dann sind Klagen gegen Infrastrukturprojekte (Planfeststellungen) von 44 % (2002-2006) auf knapp 25 % (2013-2016) zurückgegangen, während seit 2006 Klagen gegen immissionsschutzrechtliche Genehmigungen (insbesondere für Windkraft- und Tierhaltungsanlagen) zugenommen haben und bei 35 % aller Fälle liegen

  • Die Klagen der Umweltverbände erweisen sich insgesamt als überdurchschnittlich erfolgreich: von den Verfahren zwischen 2012 und 2016 waren 36,5 % erfolgreich, 12,1 % teilweise erfolgreiche und etwas mehr als die Hälfte (51,5 %) nicht erfolgreich, womit die Erfolgsquote deutlich über denen anderer Klagen vor Verwaltungsgerichten liegt, die bei etwa 12 % anzusiedeln ist. Dabei unterscheiden sich die Erfolgsaussichten der Klagen auch nach Klagegegenständen. Während Klagen gegen Luftreinhaltepläne immer und gegen Tierhaltungsanlagen häufig erfolgreich sind, halten sich Erfolg und Misserfolg bei Klagen gegen Windenergieanlagen und Bebauungspläne die Waage. Klagen gegen wasserrechtliche Erlaubnisse sind hingegen kaum zu gewinnen

  • Ein besonders gutes Beispiel für die Macht, die die Umwelt- und Naturschutzverbände mit dem Klagerecht bekommen haben, ist das Verfahren zur Elbvertiefung. Damit der Hamburger Hafen zukünftig auch von großen Containerschiffen mit einem Tiefgang bis 13,5 Metern tideunabhängig und bis 14,5 Metern tideabhängig angelaufen werden und somit weiter seine Position in der europäischen Konkurrenz behaupten kann, initiierte die Freie und Hansestadt Hamburg ab 2002 die neunte Elbvertiefung. Nach umfangreichen Vorbereitungen wurde 2012 der Planfeststellungsbeschluss zur Fahrrinnenanpassung der Unter- und Außenelbe erlassen, die sowohl Maßnahmen der Vertiefung als auch der Verbreiterung enthält. Das aus BUND, NABU und WWF bestehende Aktionsbündnis „Lebendige Tideelbe“ reichte daraufhin im Juli 2012 Klage gegen den Beschluss beim Bundesverwaltungsgericht in Leipzig ein und stellte gleichzeitig einen Eilantrag (WWF 2016). Das Gericht gab dem Eilantrag der Kläger statt und verhängte einen Baustopp bis zur endgültigen Entscheidung. Im Februar 2017 gab das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig den Klagen teilweise statt. Die Planfeststellungsbeschlüsse für den Fahrrinnenausbau von Unter- und Außenelbe seien wegen Verstößen gegen das Habitatschutzrecht rechtswidrig und daher nicht vollziehbar, die Behörden könnten die rechtlichen Mängel jedoch beheben (Bundesverwaltungsgericht 2017).

  • Wie oben bereits erwähnt, setzt die Deutsche Umwelthilfe (DUH) seit 20011 verstärkt auf Klageverfahren. Die Umwelthilfe ist mit nicht einmal 300 Mitgliedern ein eher untypischer Umweltverband, eine „Öko-Firma“, die sich zu großen Teilen aus Spenden finanziert (SZ 07.08.2017). Ein Schwerpunkt ihrer Interessenvertretung liegt – mit Unterstützung von der EU – auf „Klagen für Saubere Luft“, um die Durchsetzung der Luftqualitätsrichtlinie der EU zu erstreiten (DUH 2019). Weil in vielen deutschen Großstädten die Luft eine über den Grenzwerten liegende Belastung u.a. mit dem gesundheitsschädlichen Stickstoffdioxid-Immissionen aufweist, klagte die DUH seit 2011 in 46 Fällen gegen die für die Luftreinhalteplanung zuständig Landesregierungen. Sie argumentierte, der jeweilige Luftreinhalteplan enthalte nicht die erforderlichen Maßnahmen, um die Überschreitungen des Immissionsgrenzwerts für NO2 von 40 μg/m³ so kurz wie möglich zu halten. Dies schreibe aber Art. 23 der Europäische Luftqualitätsrichtlinie vor

  • 2013 kam es zunächst zu einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, nachdem das Land Hessen Revision gegen die Entscheidung des Verwaltungsgerichts Wiesbaden einlegte. Das Land stellte in Frage, ob die DUH überhaupt berechtigt sei, gegen einen Luftreinhalteplan zu klagen. Das Bundesverwaltungsgericht bejahte dies entschieden und bezog sich in seinem Urteil auf das EuGH-Urteil Slowakischer Braunbär (EuGH Rs. C-240/09 von März 2011). Demnach müssen nationale Gerichte ihr innerstaatliches Recht im Hinblick auf die Gewährung eines effektiven gerichtlichen Rechtsschutzes so weit wie möglich im Einklang mit Art. 9 Abs. 3 des Aaarhus-Übereinkommens auszulegen haben (Bundesverwaltungsgericht 2013). In allen 19 bis Oktober 2019 entschiedenen Fällen (darunter ein Fall, in dem nicht die DUH, sondern der BUND geklagt hatte) befand das jeweilige Gericht, dass der von der DUH beklagte Luftreinhalteplan unrechtmäßig sei, weil er nicht die erforderlichen Maßnahmen enthalte, um die Überschreitungen des Immissionsgrenzwerts für NO2 von 40 μg/m³ so kurz wie möglich zu halten.

  • Während die Gerichte anfangs eher vorsichtig andeuteten, dass Dieselfahrverbote zumindest in Betracht gezogen werden müssten, wurden spätere Urteile deutlicher und verhängten streckenbezogene Fahrverbote oder Fahrverbotszonen. Z.B. entscheid das Verwaltungsgericht Düsseldorf im September 2016, das Land Nordrhein-Westfalen müsse den Luftreinhalteplan für Düsseldorf so ändern, dass dieser die erforderlichen Maßnahmen zur schnellstmöglichen Einhaltung des Grenzwertes im Stadtgebiet Düsseldorf enthält. Dazu seien beschränkte Fahrverbote für bestimmte Dieselfahrzeuge nicht von vornherein ausgeschlossen (Verwaltungsgericht Düsseldorf 2016). Das Verwaltungsgericht Stuttgart verpflichtete das Land Baden-Württemberg im Juli 2017, den Luftreinhalteplan für Stuttgart so fortzuschreiben bzw. zu ergänzen, dass dieser die erforderlichen Maßnahmen zur schnellstmöglichen Einhaltung des Immissionsgrenzwertes für NO2 bei maximal 18 zugelassenen Überschreitungen im Kalenderjahr in der Umweltzone Stuttgart enthält.

  • Dabei sei auch ein „ganzjähriges Verkehrsverbot für alle Kraftfahrzeuge mit benzin- oder gasgetriebenen Ottomotoren unterhalb der Schadstoffklasse Euro 3 sowie für alle Kraftfahrzeuge mit Dieselmotoren unterhalb der Schadstoffklasse Euro 6 in der Umweltzone Stuttgart in Betracht zu ziehen“ (Verwaltungsgericht Stuttgart 2017). Die Länder Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg hielten jedoch Fahrverbote für Diesel-Fahrzeuge für unzulässig und wendeten sich in vom Verwaltungsgericht Düsseldorf sowie vom Verwaltungsgericht Stuttgart jeweils zugelassenen „Sprungrevisionen“ direkt an das Bundesverwaltungsgericht. Im Februar 2018 wies das Bundesverwaltungsgericht die beiden Sprungrevisionen überwiegend zurück. Verkehrsverbote für Diesel-Kraftfahrzeuge sind demnach nicht unzulässig, allerdings müsse die Verhältnismäßigkeit gewahrt werden (Bundesverwaltungsgericht 2018a und 2018b). Für den Luftreinhalteplan Düsseldorf stellte das Verwaltungsgericht fest, dass Maßnahmen zur Begrenzung der von Dieselfahrzeugen ausgehenden Emissionen nicht ernsthaft geprüft worden seien.

  • Sofern sich Verkehrsverbote für Diesel-Kraftfahrzeuge als die einzig geeigneten Maßnahmen zur schnellstmöglichen Einhaltung überschrittener NO2-Grenzwerte erwiesen, müssten diese – unter Wahrung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit – in Betracht gezogen werden (Bundesverwaltungsgericht 2018a). Für Stuttgart entschied das Gericht, dass nur ein Verkehrsverbot für alle Dieselfahrzeuge unterhalb der Schadstoffklasse Euro 6 sowie für alle Kraftfahrzeuge mit Ottomotoren unterhalb der Schadstoffklasse Euro 3 „in der Umweltzone Stuttgart eine geeignete Luftreinhaltemaßnahme darstellt“. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit könne etwa durch eine phasenweise Einführung von Verkehrsverboten, die in einer ersten Stufe nur ältere Fahrzeuge betrifft, gewahrt werden. Auch dürften Euro-5-Fahrzeuge nicht vor dem 1. September 2019 mit Verkehrsverboten belegt werden. Überdies müsse es Ausnahmen, z.B. für Handwerker oder bestimmte Anwohnergruppen, geben

  • Mit diesen beiden Urteilen wurden Fahrverbote 2018 zu realen Optionen, während sie 2017 noch als eine Art unrealistisches Drohszenario erschienen waren. Obwohl bereits eine Reihe von Urteilen zu den insgesamt 37 Städten letztinstanzliche Gerichtsurteilen ergangen sind, die die Einführung von Fahrverboten für Dieselfahrzeuge der Schadstoffklassen 5 bzw. 4 verlangen, verläuft die Umsetzung der Rechtspflichten insgesamt schleppend. Bis Sommer 2019 wurden für Hamburg (6/2018), Stuttgart (1/2019), und Darmstadt (6/2019) Diesel-Fahrverbote verhängt, im letztgenannten Fall allerdings als Ergebnis eines Vergleichs zwischen der DUH und dem Land Hessen. In Berlin scheiterte die Umsetzung des beschlossenen Fahrverbots auf 8 Strecken bislang an der Anfertigung von entsprechenden Verkehrsschildern (der Tagesspiegel 20.09.2019). Obwohl gegen die bayrische Landesregierung schon mehrere Zwangsgelder verhängt wurden, weigert sich diese, Fahrverboten für München zu verhängen. Der bayrische Verwaltungsgerichtshof soll inzwischen dem EuGH die Frage vorgelegt haben, ob in diesem Fall Erzwingungshaft von Amtsträgern in Betracht zu ziehen ist

  • Natürlich stellt die Verhängung von Fahrverboten für die Luftreinhaltung nur eine Notlösung dar, nachdem Kommunen, Länder und letztlich auch der Bund daran gescheitert sind, die seit 2010 geltende Immissionsgrenzwerte mit anderen, weniger invasiven Maßnahmen zu erreichen (Töller 2019c). Die Stadt Wiesbaden stellt den paradigmatischen Fall einer Stadt dar, zu deren Luftreinhalteplan die DUH die Klage zurückgezogen hat, weil es ihr zu gelingen scheint, die Luftqualität ohne Fahrverbote in ausreichendem Maße zu verbessern


Gewerkschaften


  • Die Rolle der Gewerkschaften in der Umweltpolitik ist ambivalent. Da innerhalb des DGB durch die in ihm zusammengeschlossenen Einzelgewerkschaften verschiedene Branchen vertreten werden, sind unterschiedliche gewerkschaftliche umweltpolitische Interessen zu erwarten, die nicht immer zu einer homogenen Umweltpolitik der Gewerkschaften führen müssen. Zwar gab es bereits in den 1970er Jahren innerhalb der Gewerkschaften Diskussionen über die generelle Sicherung der Lebensqualität der ArbeiterInnen (Klitzke 2011: 724), innerhalb welcher der gerade in der öffentlichen Diskussion stärker werdende Umweltschutz durchaus Thema war, wirkte sich dies auf die konkrete Interessenwahrnehmung der Gewerkschaften indes wenig aus.

  • Geradezu klassischer Beleg dafür sind die Gymnicher Gespräche, in welchen unter dem Eindruck einer schweren wirtschaftlichen Konjunkturkrise 1975 Gewerkschaften, Industrieverbände und die Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Schmidt in einer Form konzertierter Aktion verabredeten, innovationshemmende Wirkungen umweltpolitischer Maßnahmen abzubauen; de facto führte dies zu einem umweltpolitischen Stillstand. Dabei nahmen Gewerkschaften eine härtere Anti-Umweltschutz-Haltung ein als die Industrie, da sie um jeden Preis Arbeitsplätze erhalten wollten, während die Industrie immerhin auf das Wachstum in der Umweltschutzindustrie hoffen konnte

  • Die Gewerkschaften stehen grundsätzlich vor dem Problem, als Interessenvertretung der ArbeitnehmerInnen vor allem in wirtschaftlichen Krisenperioden die Sicherung von Arbeitsplätzen zu verteidigen, was dann mitunter zu einer Annäherung an umweltpolitische Positionen der Arbeitgeberverbände führt. Diese Tendenz war – wie aufgezeigt – zunächst in den 1970er Jahren zu beobachten. Damals sahen die Gewerkschaften ihre Aufgaben in erster Linie darin, ihrer Klientel Einkommen und Arbeit zu sichern, was die Unterstützung der herrschenden ökonomischen Produktionsbedingungen auch gegenüber aufkommender Kritik durch die Umweltbewegung beinhaltete (Krüger 2000: 7).

  • Erst in den 1980er Jahren begann innerhalb der Gewerkschaften eine ökologische Debatte. Dabei setzten sich die Gewerkschaften mit den umweltpolitischen Folgen der herrschenden Produktionsweise auseinander und erweiterten ihre Vorstellungen von Arbeitnehmerschutz auch hinsichtlich einer intakten Umwelt (Krüger 2000: 7). Seitdem besteht die Ambivalenz der gewerkschaftlichen Umweltpolitik in der gleichzeitig vorhandenen sozialen Verantwortung für die Arbeitnehmer, denen neben ihren Arbeitsplätzen auch eine möglichst hohe Lebensqualität und Schutz vor Umweltbelastungen, besonders in belastenden Industrien, gesichert werden soll

  • In umweltpolitischen „Verliererbranchen“, z.B. in den energieintensiven Industriezweigen, in welchen aufgrund steigender Kosten infolge umweltpolitischer Maßnahmen Arbeitsplatzverluste eintreten könnten, werden die Arbeitnehmervertretungen umweltpolitischen Maßnahmen skeptischer gegenüberstehen, als in denjenigen Branchen, die als Gewinner der Umweltpolitik bezeichnet werden können (z.B. Umwelttechnikindustrie). Diese heterogene Struktur der Gewerkschaften führte mitunter zu widersprüchlicher Interessenwahrnehmung: So setzte sich in der größten deutschen Einzelgewerkschaft IG Metall in den 2000er Jahren eine Position gegen die Kernkraft und für erneuerbaren Energien durch, zugleich jedoch auch für eine Fortsetzung der Kohlenutzung. Aufgrund ihres primären Interesses am Erhalt und Ausbau von Arbeitsplätzen bildeten Gewerkschaften daher oft eine informelle Koalition mit den ihnen entsprechenden branchenspezifischen Industrieverbänden, um umweltpolitische Maßnahmen als Arbeitsplatzgefährdung zu verhindern.

  • Entscheidend für die gewerkschaftliche Umweltpolitik und deren Wandel in den 1980er/90er Jahren war die Bewertung des Zusammenhanges zwischen Umweltpolitik und Beschäftigung. In den siebziger Jahren galt Umweltpolitik noch als Beschäftigungskiller, wodurch Gewerkschaften bei umweltpolitischen Fragen, wie oben beschrieben, entsprechende Koalitionen mit Industrieverbänden eingingen. Seit Mitte der 1980er Jahre hat diese Maximal-Position allerdings keinen programmatischen Bestand mehr: Durch die gesellschaftliche Diskussion um Ökologieprobleme, ein höheres Umweltbewusstsein und eine Skepsis bezüglich der Frage, ob das Wirtschaftssystem Beschäftigungs- und Ökologieprobleme auf herkömmlichem Wege lösen kann, angestoßen, entstand innerhalb des DGB der Begriff des „Qualitativen Wachstums“.

  • Durch das Begreifen einer gewerkschaftlichen Fürsorgepflicht für Gesundheit und Lebensqualität der Arbeitnehmer, durchaus an die Diskussionen über Lebensqualität der 1970er Jahre anknüpfend, wurde mit dem DGB-Grundsatzprogramm 1981 Umweltschutz in den Katalog gewerkschaftlicher Ziele aufgenommen. 1985 startete der DGB eine Kampagne mit dem Titel „Umweltschutz schafft Arbeitsplätze“ (Arlt et al. 2007: 24). Entscheidend durch Lerneffekte und den Einfluss wissenschaftlicher Erkenntnisse über die beschäftigungspolitischen Folgen umweltpolitischer Programme geprägt, entstand in diesem Zusammenhang das 1985er Umweltprogramm des DGB, welches erstmals konkrete inhaltliche Vorschläge für die Umweltpolitik formulierte. 1988 richtete die IG Metall eine Tagung mit dem Titel „Die andere Zukunft: Solidarität und Freiheit. Umweltschutz zwischen Reparatur und realer Utopie. Wege aus der Bedrohung“ aus (Klitzke 2011: 729) und führte 1990 mit dem Deutschen Naturschutzring eine verkehrspolitische Konferenz durch (Klitzke 2011: 729).

  • Die reine Interessenvertretung für beschäftigungspolitische Ziele transformierte sich zumindest programmatisch zugunsten einer Einbeziehung ökologischer Aspekte, durch welche sich die bereits angesprochene umweltpolitische Interessenambivalenz ausbildete. Der 15. DGB-Bundeskongress im Juni 1994 beschäftigte sich mit konkreten umweltpolitischen Instrumenten. Ergebnis einer eingesetzten Arbeitsgruppe war eine Forderung des DGB-Bundesvorstandes nach einer allgemeinen Energiesteuer und später einer ökologisch-sozialen Steuerreform, wie sie in den 1990er Jahren in der Diskussion war. Diese war zugleich verbunden mit Forderungen nach einer EU-weiten Abstimmung, Ausnahmen für energieintensive Industrien und der Anrechnung von – allerdings zu überprüfenden – industriellen Selbstverpflichtungen. Hieran kann man erneut die Interessenambivalenz der Gewerkschaften erkennen. Der DGB hatte zwar mittlerweile den Stellenwert der Umweltpolitik und besonders die generelle Notwendigkeit neuer umweltpolitischer Instrumente erkannt, diese sollten jedoch positive volkswirtschaftliche Beschäftigungseffekte ohne sektorale Beschäftigungseinbrüche und ohne negative Verteilungswirkungen für relevante Bevölkerungsgruppen zur Folge haben

  • Im nach wie vor gültigen, 1996 beschlossenen DGB-Grundsatzprogramm bekennen sich die Gewerkschaften zu ihren beschäftigungspolitischen Zielen, die untrennbar mit „einer weltweiten nachhaltigen Entwicklung“ verbunden seien, „die qualitatives Wachstum und eine sozial gerechte Weltwirtschaftsordnung umfasst“ (DGB 1996: 14). In Kooperation mit dem Deutschen Naturschutzring rief der DGB 1999 zu einem „Bündnis für Arbeit und Umwelt“ auf, das die gewerkschaftliche Linie, beschäftigungs- mit umweltpolitischen Fragen zu verknüpfen, bekräftigte. Hier ging es der Gewerkschaft darum, dass die Bundesregierung durch Maßnahmen wie die Förderung des Exports von „Umwelttechnologien/Innovationen/regenerativen Energien“ zugleich umweltpolitisch als auch beschäftigungspolitisch aktiv wird (Arlt et al. 2007: 24).

  • Nichtsdestotrotz gab es weiterhin Aktivitäten zugunsten des Erhalts von Arbeitsplätzen, die sich aktiv gegen umwelt- bzw. klimapolitische Maßnahmen richtete: Im Zuge der Einführung des europäischen Emissionshandels forderte der DGB in einer gemeinsamen Stellungnahme mit dem BDI, dass der Emissionshandel keine Arbeitsplätze gefährden dürfe, während IG BCE und ver.di gemeinsam mit vier großen Energieversorgern 2005 eine Erklärung veröffentlichte, nach der der CO2-Preis sinken solle und langfristig die kostenfreie Zuteilung von Emissionsrechten für Kohle- und Gaskraftwerke erforderlich sei (Gründinger 2012: 58). Dies zeigt die innere Zerrissenheit der Umweltpolitik der Gewerkschaften, die sich langfristig durchaus an umweltpolitischen Erwägungen und insbesondere der Abwehr von umweltbedingten Beeinträchtigungen der Beschäftigten orientiert. Hier geht es z.B. um die Arbeitssicherheit betreffende Aktivitäten zum Schutz der Beschäftigten vor dem Einsatz umwelt- und gesundheitsschädlicher Stoffe (z.B. Lösemittel) bzw. die Substitution umweltschädlicher durch weniger gefährliche Stoffe in Betrieben (Arlt et al. 2007: 27). Die Gewerkschaften erreichten, dass 2001 der betriebliche Umweltschutz in das Betriebsverfassungsgesetz aufgenommen wurde (§88, §,89, BetrVG), allerdings warf die „Wirtschaftskrise 2007/2008 (…) die Gewerkschaften dann aber wieder auf ihr ‘soziales Kerngeschäft‘ zurück“ (Brand 2019: 81).

  • Geht es um konkrete Gesetzgebungsverfahren oder umweltpolitischen Maßnahmen, verfolgen Gewerkschaften in Koalition mit der Wirtschaft bis heute nach wie vor häufig die Absicht, diese zu verhindern oder abzuschwächen. Das hängt sicherlich auch mit der Mitgliederentwicklung zusammen: Waren es in der alten Bundesrepublik zu Beginn der 1980er Jahre noch knapp 8 Mio. gewerkschaftlich organisierte ArbeitnehmerInnen, sind es aktuell – in der größeren wiedervereinigten Bundesrepublik, nur noch knapp 6 Millionen DGB-Mitglieder. Bei sinkenden Mitgliederzahlen beschäftigen sich Gewerkschaften eher mit ihrem Kerngeschäft und nicht mit solchen politischen Themen, bei denen die Gefahr besteht, Mitglieder zu verprellen.

  • Gewerkschaften stehen insgesamt einer Umweltpolitik im Sinne einer technologischen „ökologischen Modernisierung“ (siehe Kap. 2.2.8) aufgeschlossener gegenüber, da diese neben positiven Effekten für die Umwelt auch beschäftigungspolitische Dividenden durch neu entstehende Märkte und Wirtschaftszweige verspricht, die letztendlich auch den Interessen der Gewerkschaftsmitglieder dient. In diesem Sinne können neuere Positionen des DGB verstanden werden, nach denen sich die Gewerkschaften gemeinsam mit dem BUND für einen „sozial-ökologischen Umbau unserer Gesellschaft“ einsetzen und fordern, das „Wirtschaftssystem so auszurichten, dass es gute Arbeit für alle zu gleichen Löhnen und überall in der EU schafft und dabei die planetaren Grenzen nicht überschreitet“.

  • In einem aktuellen Papier, das der DGB gemeinsam mit dem BUND 2019 verfasst hat, wird zugleich auch das Interesse an neuen bzw. gesicherten Arbeitsplätzen deutlich: „Massive Investitionen in energetische Gebäudesanierung, in das Schienennetz, alternative Energien und den Naturschutz können einen erheblichen Beitrag zum Klimaschutz leisten“, wodurch auch neue Arbeitsplätze entstehen könnten. Allerdings wird in der aktuellen Debatte um eine CO2-Bepreisung nach wie vor die bereits mehrfach aufgezeigte interessenpolitische Ambivalenz der Gewerkschaften deutlich. So fordert der DGB eine sozialverträgliche Ausgestaltung der CO2-Steuer

  • Ein aktueller Beleg dieser interessenpolitischen Ambivalenz der Gewerkschaften, die sich nach wie vor zwischen den Polen „Ökologie“ und „Ökonomie“ verorten lässt, stellt der Aufruf der Gewerkschaft Verdi dar, die im August 2019 ihre Mitglieder zur Teilnahme an den Demonstrationen der „Fridays-for-Future“-Bewegung aufgefordert hat. Im Gegensatz dazu hat sich die Gewerkschaft IG BCE gegen den schnellen Ausstieg aus der Kohle positioniert, 2016 den Klimaschutzplan 2050 der Bundesregierung kritisch kommentiert und mögliche über die Beschlüsse im Pariser Klimaschutzabkommen „weitergehende einseitige Verpflichtungen Deutschlands“ ablehnt (IGBCE 2016). Zudem hat die IGBCE das Abrücken von SPD und CDU von den deutschen Klimaschutzzielen ausdrücklich 2018 begrüßt (Süddeutsche Zeitung v. 10. Januar 2018). Auch die IG Metall fordert neuerdings, dass Deutschland klimapolitischer Pionier sein soll, da sie sich durch neue Technologien im Klimaschutz beschäftigungspolitisch positive Effekte erhofft

  • Die umweltpolitische Interessenwahrnehmung der Gewerkschaften variiert seit den 1970er Jahren nach wie vor zwischen den einzelnen Branchengewerkschaften. Dabei werden umweltpolitische Positionen vertreten, wenn diese auch den Mitgliedern in Form einer gesteigerten Lebensqualität und verbesserten Arbeitsbedingungen (als Folge betrieblicher Umweltpolitik) zugutekommt oder neue Arbeitsplätze durch neue Umwelttechniken versprechen. Gegen konkrete umweltpolitische Maßnahmen sprechen sich insbesondere besonders betroffene Branchengewerkschaften aus, wenn sie (vermeintliche) negative Effekte umweltpolitischer Maßnahmen auf bestimmte Branchen und die mit ihnen verbundenen Arbeitsplätze ausmachen.

  • Im Unterschied zu frühen Positionen lässt sich jedoch heute ein stärkeres Engagement in Richtung „ökologische Modernisierung“ feststellen, d.h. die Gewerkschaften begrüßen umweltpolitische Aktivitäten, die mit Innovationen verbunden sind und neue „grüne“ Arbeitsplätze schaffen (z.B. erneuerbare Energien, neue Umwelttechnik) bzw. in etablierten Branchen durch wirtschaftliche Transformationsprozesse Arbeitsplätze sichern können (z.B. Elektromobilität). Eine von eher linken bzw. marxistisch argumentierenden Autoren geäußerte Vermutung bzw. Hoffnung, dass Gewerkschaften die Umweltkrise zum Anlass nehmen, auch die in den Augen solcher Autoren wichtigen „kapitalistischen Produktions-, Klassen- und Geschlechterverhältnisse, mit internationalen Ausbeutungsstrukturen“ oder die „kapitalistische Gesellschaft des 21. Jahrhundert“ in den Blick zu nehmen und an deren Überwindung mitzuarbeiten, kann indes angesichts der aufgezeigten konkreten Interessenwahrnehmung, zumindest der deutschen Gewerkschaften, nicht empirisch beobachtet werden.


BürgerInnen


  • BürgerInnen kommen in politikfeldanalytischen Erklärungsansätzen meist nur implizit vor. Sie werden als Akteure verstanden, deren umweltpolitische Einstellungen und Interessen den umweltpolitischen Prozess beeinflussen können, zum Beispiel, indem umweltpolitische Positionen von Parteien zu Wählerstimmengewinnen oder -verlusten führen. Ein wichtiges Beispiel dafür stellt der Aufstieg grüner Parteien in den 1970er Jahren dar, als ein zunehmendes Umweltbewusstsein in Teilen der Bevölkerung dazu führte, dass eine Partei, die zuvorderst ökologische Ziele vertrat, Wählerstimmen gewann. Insbesondere Ansätze zur Analyse der Umweltpolitik in der Tradition der Neuen Politischen Ökonomie unterstellen, dass WählerInnen ganz bestimmte umweltpolitische Interessen ausbilden, die wiederum von PolitikerInnen und Parteien hinsichtlich ihres Interesses an einer Wiederwahl beachtet werden. Dabei wird häufig angenommen, dass WählerInnen Interessen an einer intakten Umwelt haben, dabei jedoch solche umweltpolitische Maßnahmen und Instrumente bevorzugen, deren individuell spürbare Kosten möglichst gering ausfallen (s.o.). Das Verhalten von PolitikerInnen kann dann auch als eine Reaktion auf die (unterstellte) Interessenlage in der Bevölkerung interpretiert werden: Grad und Ausprägung umweltbezogener Einstellungen der BürgerInnen bestimmen, inwieweit umweltpolitische Maßnahmen von WählerInnen nachgefragt werden und beeinflussen so die Wertschätzung umweltpolitischer Maßnahmen unter PolitikerInnen und in politischen Parteien ebenso wie sie die spezifische Auswahl umweltpolitischer Maßnahmen und Instrumente mitbestimmen

  • Allerdings treten BürgerInnen nicht nur als WählerInnen in Erscheinung, sie können auch im Rahmen von Beteiligungsverfahren an Planungs- und Entscheidungsprozessen partizipieren oder durch Protest in Erscheinung treten. Außerdem schlagen sich die umweltbezogenen Einstellungen von Bürgerinnen eher diffus in einem öffentlichen Meinungsklima nieder, „und man kann davon ausgehen, dass dieses Meinungsbild die politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsträger beeinflusst und so die Voraussetzungen für eine Durchsetzung von Maßnahmen und Aktivitäten zum Schutz der Umwelt schafft“ (Preisendörfer 1999: 20). So darf man annehmen, dass das nach der Atomkatastrophe von Fukushima 2011 besonders atomkritische Meinungsklima im Vorfeld zweier wichtiger Landtagswahlen die Bundesregierung unter Angela Merkel dazu veranlasste, das sogenannte Moratorium zu verkünden. Prinzipiell kann die Durchsetzung, Dauerhaftigkeit und Stabilität umweltpolitischer Entscheidungen sowie deren zieladäquate Implementation auf die Akzeptanz bei BürgerInnen angewiesen sein – man denke nur an die Wichtigkeit der Folgebereitschaft gegenüber vielfältigen Abfallsortierungs-Regimen oder daran, dass Umwelt-Siegel wie der Umweltengel oder das FSC-Zeichen wenig Sinn machen würden, wenn VerbraucherInnen diese Produkte nicht bevorzugt kaufen würden.

Umweltrelevante Einstellungen in der Bevölkerung

  • Einstellungen werden als kognitive und normative Basis von Akteurshandeln verstanden. Daher betrachten wir im Folgenden die Ausprägung umweltrelevanter Einstellungen in Deutschland, über die seit 1991 die Umfragen „Umweltbewusstsein in Deutschland“ Auskunft geben, welche vom BMU beauftragt werden (siehe Abb. 18). Nach den Ergebnissen dieser Befragungen ist die Zahl derjenigen BürgerInnen, die den Umweltschutz als eines der wichtigsten aktuellen politischen Probleme in Deutschland ansehen, zwischen dem Beginn der 1990er Jahre und heute insgesamt deutlich gesunken. Unmittelbar nach der Tschernobyl-Katastrophe 1986 erlebte das umweltpolitische Problembewusstsein der BürgerInnen in Deutschland einen Höhepunkt, von dem es seither mehr oder weniger steil bergab ging. 2002 – der bisherige Tiefpunkt – sahen nur noch 14 % der Deutschen den Umweltschutz als eines der wichtigsten politischen Probleme an (BMU 2002: 18). Ein erneutes Hoch gab es 2012 nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima mit 35 %.

  • In den vergangenen Jahren ist zudem die Bereitschaft gestiegen, für eine intakte Umwelt auch ein geringeres ökonomisches Wachstum zu akzeptieren. Während diese Haltung in den späten 1990er-Jahren noch eine Minderheitenposition in der deutschen Bevölkerung darstellte, räumten 2016 48 % der befragten Deutschen dem Schutz der Umwelt Priorität gegenüber Wirtschaftswachstum und der Schaffung von Arbeitsplätzen ein (SRU 2019). 81 % aller Deutschen glauben, dass die heutigen Umweltprobleme nur mit einem grundlegenden Wandel unserer Wirtschafts- und Lebensweise gelöst werden können

  • Die vorgestellte Betrachtung der umweltpolitischen Einstellungen der Deutschen ist für eine Politikfeldanalyse der Umweltpolitik wichtig, da sie mit der Bevölkerungseinstellung zum Umweltschutz den Blick auf grundsätzliche Rahmenbedingungen für Umweltpolitik lenkt. Diese steht nicht im luftleeren Raum. Vielmehr steht Umweltschutz als Ziel häufig in Konkurrenz zu anderen, vor allem ökonomischen Zielen. PolitikerInnen stehen vor einem Abwägungsprozess, welche politischen Ziele mit welcher Priorität und Maßnahmenschärfe bearbeitet werden, insbesondere, da die BürgerInnen anderen Zielen ebenfalls eine hohe Priorität beimessen und mit der lokalen und nationalen Umweltqualität oft durchaus zufrieden sind. Eine Betrachtung des Stellenwertes, den die deutsche Bevölkerung der Umweltpolitik in Beziehung zu anderen Politikfeldern beimisst, illustriert dies.

  • Der Wert der Umwelt und die Notwendigkeit ihres Schutzes sind bei den Menschen in Deutschland tief verankert, was für eine solide Unterstützung umweltpolitischer Maßnahmen durch die Bevölkerung spricht. Allerdings werden andere politische Probleme als noch wichtiger angesehen. Dies waren in der Vergangenheit die Arbeitsmarkt- und die Wirtschafts-/ Finanzpolitik, während es in der Befragung von 2016 „Zuwanderung, Migration“ sowie „Kriminalität, Frieden, Sicherheit“ waren, die vor „Umwelt- und Klimaschutz“ rangierten (BMUB/UBA 2017: 15). 2018 waren es insbesondere „Zustand des Bildungswesens“ und „Soziale Gerechtigkeit“, die als politische Problemfelder vor der Umwelt- und Klimapolitik genannt wurden.

  • Die Betrachtung der Bevölkerungseinstellung als umweltpolitische Rahmenbeding kann helfen, die Wertschätzung umweltpolitischer Ziele durch die BürgerInnen im Verhältnis zu anderen politischen Zielen realistisch einzuordnen. Grundsätzlich stößt Umweltpolitik bei den BürgerInnen auf eine hohe Resonanz. In Abwägung mit anderen Politikfeldern jedoch sinkt diese oft zugunsten anderer Prioritäten.

Die Low-Cost-Hypothese

  • Im Zusammenhang mit den empirischen Studien zum Umweltbewusstsein der Deutschen haben Umweltsoziologen die „Low-Cost-Hypothese“ entwickelt, die auch hinsichtlich der Betrachtung umweltpolitischer Entscheidungen eine Rolle spielt. Danach beeinflusst ein grundsätzliches Umweltbewusstsein tatsächliches individuelles Umweltverhalten nur dann, wenn dies mit geringen persönlichen Kosten bzw. Einschränkungen verbunden ist. Umgekehrt sinkt die Bereitschaft, sich tatsächlich auch umweltgerecht zu verhalten, wenn dies mit persönlichen Zumutungen und Einschränkungen verbunden ist (Diekmann/Preisendörfer 2001: 117f.). Zahlreiche Studien zum Umweltbewusstsein haben in diesem Zusammenhang festgestellt, dass zwischen gemessenem Umweltbewusstsein der BürgerInnen und tatsächlichem persönlichem Umwelthandeln ausgeprägte Diskrepanzen bestehen (hierzu im Überblick Diekmann/Preisendörfer 2001: 114 ff.; ausführlich Kuckartz 1998). Im Zusammenhang mit der Umweltpolitik lässt sich daraus folgern, dass ein grundsätzlich hoch ausgeprägtes Umweltbewusstsein in der Bevölkerung dann eher zu einer Unterstützung umweltpolitischer Maßnahmen führt, wenn damit für den/die Einzelne(n) eher niedrige Kosten oder vergleichbar geringe Handlungseinschränkungen verbunden sind. Mit Hilfe der Low-Cost-Hypothese lässt sich z.B. erklären, dass trotz eines grundsätzlich hohen Umweltbewusstseins der Deutschen umweltpolitische Instrumente, die persönliche Einschränkungen oder erhöhte Kosten verursachen (z.B. Erhöhung der Mineralölsteuer im Rahmen der Ökologischen Steuerreform), auf eine geringe Akzeptanz in der Bevölkerung stoßen

Informations- und Partizipationsrechte der Bürgerinnen und Bürger

  • Informationsrechte: Nach dem 2005 verabschiedeten, auf die Aarhus-Konvention zurückgehenden Bundesumweltinformationsgesetz (UIG) hat jede Person Anspruch auf freien Zugang zu Umweltinformationen (§ 3 Abs. 1 UIG). Dabei kann jede/r BürgerIn ohne Begründung einen Antrag auf Information bei einer informationspflichtigen Stelle stellen. Die Behörde ist zu deren Herausgabe verpflichtet, sofern die entsprechenden Informationen verfügbar sind und nicht bestimmte Versagensgründe vorliegen (z.B., wenn es um laufende Gerichtsverfahren geht). Die Behörde muss dann im Einzelfall prüfen, ob das öffentliche Interesse an der Bekanntgabe überwiegt (UBA 2009).

  • BürgerInnen können z.B. Anfragen stellen zum Zustand von Umweltmedien (z.B. Luft, Wasser, Landschaften), zu Umweltfaktoren wie Strahlungswerten oder zu umweltrelevanten Maßnahmen wie gesetzlichen Regelungen, Abkommen oder Verwaltungsvorschriften. Das Umweltinformationsgesetz hat dabei die Funktion eines informationellen Policy-Instruments und trägt zur umweltpolitischen Information und Willensbildung der BürgerInnen bei. Beispielsweise verlangte im Jahr 2000 ein Verein zum Schutz des Rheins bei der zuständigen Behörde die Herausgabe von Abwasserdaten, weil er bei einem Chemieunternehmen eine umweltgefährdende Abwasserbehandlung vermutete. Das Chemieunternehmen versuchte, die Herausgabe der Daten zu verhindern, da das Abwasser nicht den unmittelbaren Zustand des Gewässers beeinflusse. Das Verwaltungsgericht Düsseldorf entschied 2002, dass die untersuchten Abwässer durchaus geeignet seien, den Zustand des Gewässers, in das sie abgeleitet würden, zu beeinträchtigen. Daher sei dem Verein der Zugang zu diesen „Umweltinformationen“ zu gewähren


    Beteiligungsrechte in der Bauordnung, Raumplanung und Fachplanung: Insbesondere bei Verfahren der Bauordnung, Raumplanung und Fachplanung existiert eine ganze Reihe von rechtlich geregelten Beteiligungsverfahren für Bürgerinnen und Bürger, bei denen es durch die Aarhus-Konvention und die Gesetze zu deren Umsetzung zu Veränderungen in den Verfahren zur Beteiligung der Öffentlichkeit kam (Details bei Keupp/Zschiesche 2010: 19 ff.). In allen Planfeststellungsverfahren mit Umweltverträglichkeitsprüflingen (UVP) muss eine Beteiligung der Öffentlichkeit zu Umweltauswirkungen stattfinden. Das heißt, dass Unterlagen nach § 6 UVPG (d.h. Umweltverträglichkeitsstudien) öffentlich auszulegen sind und Einwände von jedem/jeder BürgerIn schriftlich oder zur Niederschrift erhoben werden können. In einem Erörterungstermin wird dann versucht, Einigkeit zu erzielen. Gelingt dies nicht bei allen Eingaben entscheidet die Behörde über diese und informiert alle Betroffenen und Träger von Einwänden schriftlich mit Begründung (Fürst/ Scholles 2008: 166). Auch in der Bauleitplanung nach BauGB sind Formen der Öffentlichkeitsbeteiligung gesetzlich geregelt: In einem zweistufigen Verfahren sollen zunächst Planungsabsichten durch die Planer im Rahmen öffentlicher Veranstaltungen im Sinne einer vorgezogenen verfahrensoffenen Bürgerbeteiligung offengelegt werden. Dabei sollen BürgerInnen schon in einem frühen Planungsstadium Gelegenheit erhalten, Einwände vorzubringen, alternative Konzepte zu bewerten und so tatsächlich Einfluss auf die weitere Planung auszuüben. In der zweiten Stufe erfolgt ein förmliches Auslegungsverfahren analog zur UVP. Auch in der Landschaftsplanung ist zudem seit 2005 durch die Einführung der strategischen Umweltprüfung die formale Beteiligung der Öffentlichkeit Pflicht.

Partizipation durch direktdemokratische Verfahren

  • Neben diesen Beispielen für formalisierte und gesetzlich geregelte Möglichkeiten der Öffentlichkeitsbeteiligung bei kommunalen und regionalen Planungsvorhaben mit Umweltauswirkungen können BürgerInnen auch durch direktdemokratische Verfahren Einfluss auf umweltrelevante Entscheidungen nehmen. Diese Verfahren, die in Deutschland auf der kommunalen und der Landesebene (nicht aber auf der Bundesebene) verankert sind (Kost 2013), haben in den letzten Jahren eine zunehmende Bedeutung für die Umweltpolitik gewonnen. Dabei können Volksbegehren und -entscheide sowie Bürgerbegehren und -entscheide, jeweils abhängig von institutionellen Regelungen zu Themenausschlüssen, Quoren und Fristen, in unterschiedliche Richtungen wirken. Zum einen können sie helfen, umweltpolitische Themen mit Nachdruck auf die politische Agenda zu bringen.

  • Ein Beispiel finden sich in Hamburg, wo 2017 der Naturschutzbund (NABU) die Initiative „Hamburgs Grün erhalten“ startete, bei der es um den Erhalt von Grünflächen angesichts reger Bautätigkeit im Stadtstaat ging. Die Volksinitiative erhielt mehr als das Doppelte der erforderlichen 10.000 Stimmen und war damit, wie der rot-grüne Senat im Juni 2018 bekannt gab, in der ersten Phase erfolgreich. Fortan verhandelten der Hamburger Senat und NABU mehrere Monate über mögliche Lösungen miteinander, anstatt direkt in die nächste Phase, das Volksbegehren, zu gehen. Im April 2019 einigten sich die beteiligten Akteure auf einen Kompromiss. Demnach hält der Senat an seinem ehrgeizigen Wohnungsbauprogramm mit 10.000 Baugenehmigungen jährlich fest, verpflichtet sich aber, die Anteile von Grünflächen bei 30 Prozent der Gesamtfläche Hamburgs dauerhaft zu erhalten, ebenso wie die aktuellen Anteile an Naturschutzgebieten, Landschaftsschutzgebieten sowie Biotopverbunde und die Naturqualität der Grünflächen zu verbessern

  • Bundesweite und sogar internationale Beachtung fand das Bayrische Volksbegehren zum besseren Schutz der Artenvielfalt, welches im Jahr 2018 unter dem Motto „Rettet die Bienen“ durchgeführt wurde. Während Biodiversität zunächst eher als abstraktes Konzept erscheint, hat der nachgewiesene, gravierende Verlust heimischer Insektenarten (Hallmann et al. 2017) offenbar das Potential, Menschen zu aktivieren. In kritischer Auseinandersetzung mit der eher permissiven, vor allem auf freiwilligen Maßnahmen basierenden Naturschutzpolitik des Freistaates gelang es den Initiatoren, bis Mitte Februar 2019 annähernd eine Million Unterschriften für einen Gesetzesvorschlag zu gewinnen, der insbesondere die konventionelle Landwirtschaft zu einer einem grundlegenden Wandel vielfältiger Praktiken zwingen und den Anteil der ökologischen Landwirtschaft ausbauen sollte. Damit einher ging eine aufgeheizte Debatte im ganzen Land über Landwirtschaft und Naturschutz. Letztlich übernahm die Bayrische Landesregierung den Gesetzestext des Volksbegehrens vollständig, und dieser wurde vom Landtag im Juli 2019 beschlossen. Dies dürfte zu einem gravierenden Wandel der Bayrischen Agrar- und Naturschutzpolitik führen

  • Wirkten in den gerade genannten Fällen die direktdemokratischen Verfahren für eine stärkere Berücksichtigung von Umweltinteressen, so gibt es auch Fallgruppen, wo dies anders gelagert ist. Der Ausbau der Windenergie ist, wie bereits erwähnt, ein wichtiger Pfeiler der Energiewende. Nach einer repräsentativen Befragung sind zwar 93 % der Deutschen für den Ausbau der erneuerbaren Energien. Wenn die Befragten aber mit der Option konfrontiert sind, dass eine Windkraftanlage in ihrer direkten Nachbarschaft gebaut werden soll, schmilzt die Unterstützung auf 55 % (AEE 2018). Aber auch Naturschutzgruppen bekämpfen Windkraftanlagen, weil diese eine Gefahr für Vögel, Fledermäuse und Insekten darstellen (z.B. Fachagentur Windenergie an Land 2015 und 2019). Für beide Akteursgruppen eröffnen kommunale Verfahren für Bürgerbegehren und Bürgerentscheide Möglichkeit, den Bau von Windkraftanlagen zu verhindern oder zumindest einzuschränken (dies immer, wie oben erwähnt, in Abhängigkeit von den institutionellen Rahmenbedingungen)

  • Eine Auswertung der „Fachagentur Windenergie an Land“ identifizierte zwischen 2009 und 2018 206 Bürgerbegehren zu (d. h. in der Mehrheit gegen) Windenergieprojekten. Es ergeben sich große Unterschiede zwischen Ländern mit vielen Verfahren (Schleswig-Holstein, Bayern, Hessen) und Ländern mit wenigen oder ohne Verfahren. In etwa 44 % der Fälle sind diese Verfahren erfolgreich oder teilweise erfolgreich. Es kommt dann entweder zu einer vollständigen Verhinderung des Projekts oder zu Auflagen, etwa die Höhe eines Windparks betreffend, die u. U. einen wirtschaftlichen Betrieb nicht erlauben und damit das Projekt im Ergebnis ebenfalls verhindern.

  • Ein typischer Fall trug sich in der Gemeinde Rieseby in Schleswig-Holstein zu. 2013 hatte dort der Gemeinderat beschlossen, den Flächennutzungsplan zu ändern, um den Bau eines Windenergieparks in Saxtorf zu ermöglichen. Zwei Investoren hatten die Absicht, hier sechs 200 m hohe Windräder zu bauen. 2014 sammelte eine Bürgerinitiative 386 Stimmen für eine Beschränkung der Höhe der Windräder auf 100 m. In dem im März 2015 durchgeführten Bürgerentscheid sprachen sich 56,5 % der Abstimmenden für eine solche Beschränkung aus (Datenbank Bürgerbegehren o.J.). In der Folge wurden die Windräder zunächst nicht gebaut, da Investoren erläuterten, dass diese mit einer Höhe unter 180 m nicht wirtschaftlich betrieben werden könnten. Ein solches Projekt könnte erneut Gegenstand direktdemokratischer Verfahren werden

Weitere Partizipationsformen

  • Darüber hinaus gibt es eine Vielzahl im weitesten Sinne umweltpolitischer Partizipationsmöglichkeiten jenseits gesetzlich normierter Teilnahmeansprüche: So haben im Zuge der Umsetzung der Nachhaltigkeitspolitik in Folge der Konferenz für Umwelt und Entwicklung 1992 (Rio-Konferenz) viele BürgerInnen in zahlreichen Agenda 21-Initiativen mitgearbeitet, um lokale Nachhaltigkeitsziele und - Strategien zu entwickeln, auch wenn die Bilanz der Lokale Agenda-Prozesse eher gemischt ausfällt (Rosier 1999). Insbesondere in der Naturschutzpolitik werden Planungen durch „Runde Tische“ in der Landschaftsplanung oder durch gesteuerte Moderationsverfahren unter Einbeziehung der lokalen Bevölkerung angewendet. Beim Bundesförderprogramm Naturschutz „chance.natur“, bei welchem es um die Umsetzung von bundesweit bedeutsamen Naturschutzgroßprojekten geht, kann, falls erforderlich, in der Planungsphase eine externe Moderation zur Klärung von Konflikten eingesetzt werden

  • BefürworterInnen einer verstärkten Partizipation von BürgerInnen (Heinrichs 2005: 54) erwarten, dass deren frühzeitige Einbindung in Planungsprozesse helfen kann, diese mit Informationen zu versorgen, um damit späteren Umsetzungsblockaden durch gerichtliche Klagen und Protesten vorzubeugen. Zudem wird argumentiert, dass Beteiligung gerade bei konfliktreichen Prozessen, wie z.B. Planungen für Großschutzgebiete (z.B. Nationalparks), dafür sorgt, dass eine höhere Akzeptanz unter den Betroffenen erzielt wird. Außerdem könnte die frühzeitige Beteiligung von BürgerInnen durch verschiedene Partizipationsverfahren auch über das einzelne Projekt hinaus zu einer Steigerung der Legitimation von Entscheidungen führen, also ein Mittel zur Milderung der verbreiteten Unzufriedenheit mit den etablierten Strukturen repräsentativer Demokratie („Politikverdrossenheit“) darstellen.

  • Schließlich werden die oben beschriebenen etablierten und gesetzlich geregelten Beteiligungsverfahren als zu wenig bürgerfreundlich, attraktiv und als zu technisch betrachtet, als dass sie dem Anspruch einer breiten Partizipation der Öffentlichkeit vollständig Rechnung tragen könnten. Die Diskussion um das Großprojekt Stuttgart 21 im Jahr 2010 - ein Verfahren, das bereits die notwendigen formalen Verfahren der Öffentlichkeitsbeteiligung durchlaufen hatte, bevor aufgrund zahlreicher Bürgerproteste ein Schlichtungsverfahren in Form eines Runden Tisches mit bundesweiter Beachtung durchgeführt wurde - belegt diese Sichtweise. Ein weiterer Aspekt, der für eine stärkere Partizipation von BürgerInnen spricht, ist, dass gerade im lokalen und regionalen Rahmen BürgerInnen über wichtige Erfahrungen und Wissensbestände verfügen, die helfen können, zielgerichtete und Erfolg versprechende umwelt- und naturschutzpolitische Prozesse und Maßnahmen durch eine Verbreiterung der Wissensbasis umzusetzen. BürgerInnen und Bürger verfügen u.U. über Wissen in Bezug auf lokale Gegebenheiten und Erfahrungen mit bestimmten Maßnahmen, die Experten oder Planer nicht haben

  • Allerdings hat die Umwelt(protest)forschung schon lange erkannt, dass die meisten BürgerInnen vor allem dann bereit sind, sich zu engagieren, wenn bestimmte Einrichtungen (Müllverbrennungsanlagen, Windkraftanlagen oder Stromleitungen) in ihrer unmittelbaren Nachbarschaft geplant sind. Dies ist auch als „NIMBY-Phänomen“ („not in my backyard“) bezeichnet worden

  • Insgesamt können BürgerInnen auf verschiedenen Wegen versuchen, umweltpolitische Entscheidungen zu beeinflussen. Neben der Beteiligung an Wahlen, dem Engagement in Umwelt- und Naturschutzverbänden oder Bürgerinitiativen gibt es, wie gezeigt, zum einen formalisierte Beteiligungsformen bei Planungsvorhaben im Rahmen direktdemokratischer Verfahren und zum anderen weniger formalisierte Partizipationsformen, insbesondere in der lokalen und regionalen Umwelt- und Naturschutzpolitik.


Wissenschaftliche Beratung in der Umweltpolitik


  • Wissenschaftliche Politikberatung und daraus folgend wissenschaftliche Beratungsakteure spielen eine besonders wichtige Rolle im umweltpolitischen Prozess. Sie ist grundsätzlich an der Schnittstelle des politisch-administrativen und des Wissenschaftssystems angesiedelt und reflektiert die gestiegene Komplexität politischer Entscheidungen und den wachsen den Informationsbedarf der Politik. Wissenschaftliche Politikberatung bedeutet die Zurverfügungstellung wissenschaftlicher Erkenntnisse für Akteure des politisch-administrativen Systems als Adressaten. In der Umweltpolitik ist die Rolle der Wissenschaft und in Folge der wissenschaftlichen Politikberatung zentral: Viele Umweltprobleme wurden überhaupt erst durch neue Erkenntnisse in der Wissenschaft „entdeckt“ (z.B. das Ozonloch in den 1970er Jahren) bzw. konnten erst verstanden werden, nachdem die Naturwissenschaften entsprechende natürliche Zusammenhänge und ihre Wechselwirkungen mit menschlichen Aktivitäten erforscht hatten (z.B. beim menschengemachten Klimawandel und dessen prognostizierten Konsequenzen).

  • Dabei wird in der Literatur davon ausgegangen, dass es angesichts gestiegener Komplexität und Unsicherheiten umweltpolitischer Entscheidungen sowie neu auftauchender Problemlagen (siehe Kap. 3) einen wachsenden Bedarf an wissenschaftlicher Politikberatung gibt. ExpertInnenberatung und Wissenschaft beeinflussen daher den Verlauf umweltpolitischer Prozesse und das Zustandekommen umweltpolitischer Entscheidungen in besonderem Maße. Lidskog und Sundqvist resümieren dazu: „Environmental problems demand thorough scientific investigation, and scientific expertise is increasingly at the forefront of environmental policy formulation.“

  • Wissenschaftliche Politikberatung kann mit Schmid als eine „teilweise öffentliche Beratung einer demokratischen Institution mit dem Ziel, einen Problemlösungsbeitrag zu leisten“ definiert werden. Die Adressaten von Politikberatung können staatliche Institutionen (die Regierung, (Ministerial-) Verwaltung, Parlamente, Gerichte) sowie auch Verbände und Parteien sein. Wissenschaftliche Beratungsakteure nehmen sowohl die Funktion der wissenschaftlichen Analyse und Erklärung von Ist-Zuständen (z.B. Identifizierung und Erklärung des Zustandekommens und der Ursache-Wirkungszusammenhänge von Umweltproblemen) als auch die der Unterbreitung wissenschaftlicher Vorschläge über Soll-Zustände (z.B. anzustrebende Umweltziele und entsprechende umweltpolitische Maßnahmen) wahr. Ein wichtiges Problem ist dabei, dass die wissenschaftlich als erstrebenswert betrachteten Soll-Zustände nicht unbedingt zugleich den Wünschen einer Gesellschaft, also normativ-politischen Ansprüchen, entsprechen müssen (Renn 2003). Daher sollte wissenschaftliche Politikberatung neben der Analyse von Ist-Zuständen und Beschreibung möglicher Soll-Zustände auch am Gemeinwohl orientierte Problembewertungen als gesellschaftliches Orientierungswissen bereitstellen

Akteure wissenschaftlicher Politikberatung

  • Akteure wissenschaftlicher Politikberatung können individuelle WissenschaftlerInnen sowie wissenschaftliche Institutionen im Hochschulsystem und darüber hinaus sein (Universitäten, Institute der Leibniz- oder Helmholtzgemeinschaft, Ressortforschungseinrichtungen, Sachverständigenräte, etc.). Daneben existiert eine Fülle von gemeinnützigen oder privaten Organisationen und Think Tanks als praxisorientierte Forschungsinstitute sowie Einrichtungen von Interessenverbänden und ihren Forschungsinstituten: das Institut der Deutschen Wirtschaft, das von Verbänden der Wirtschaft und Unternehmen finanziert wird sowie das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung IMK, das größtenteils von der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung finanziert wird.

  • Diese und weitere äußern sich mit wissenschaftlich fundierten Beratungsvorschlägen im umweltpolitischen Prozess und werden regelmäßig von den verschiedenen Akteuren des politisch-administrativen Systems mit mittel- und langfristigen oder Ad-hoc-Politikberatungsaufträgen beauftragt. Darüber hinaus äußern sich manche dieser wissenschaftlichen Einrichtungen oder einzelne WissenschaftlerInnen auch ohne konkreten Beratungsauftrag, indem sie ihre umweltpolitischen Positionen öffentlich darstellen, z.B. durch Veröffentlichungen oder in den verschiedenen Medien. Für die deutsche Umweltpolitik können die Akteure und Institutionen wissenschaftlicher Umweltpolitikberatung folgendermaßen systematisiert werden:

    • Formal institutionalisierte Sachverständigenbeiräte der Bundesregierung oder einzelner Ministerien, z.B. Der Rat von Sachverständigen für Umweltfragen (SRU), 1971 beim Bundesministerium des Innern eingerichtet, und der Wissenschaftliche Beirat Globale Umweltveränderungen (WBGU);

    • • Ressortforschungseinrichtungen, darunter auch den Ministerien nachgeordnete Behörden, die Politikberatungsaufgaben erfüllen, z.B. Umweltbundesamt UBA, Bundesamt für Naturschutz BfN, Bundesamt für Strahlenschutz BfS und Bundesamt für kerntechnische Entsorgungssicherheit BfE im Geschäftsbereich des BMU (s.o.);

    • • Enquete-Kommissionen des Deutschen Bundestages (z.B. Schutz der Erdatmosphäre, 10. Legislaturperiode);

    • • Büro für Technikfolgenabschätzung (TAB) beim Deutschen Bundestag sowie wissenschaftlicher Dienst des Deutschen Bundestages zur Beratung des Deutschen Bundestages und seiner Ausschüsse als Gegengewicht gegenüber dem Informationsvorsprung der Exekutive;

    • • Universitäten, deren WissenschaftlerInnen Politikberatungsaufträge wahrnehmen bzw. die sich durch Stellungnahmen politikberatend äußern, bekannt ist hier z.B. das seit 1986 bestehende Forschungszentrum für Umweltpolitik der FU Berlin;

    • • Institute der Leibniz- oder Helmholtzgemeinschaft, z.B. das Potsdam Institut für Klimafolgenforschung (PIK) oder das Umweltforschungszentrum Leipzig-Halle (UFZ);

    • • öffentlich finanzierte außeruniversitäre Forschungsinstitute, die nicht den beiden großen Gemeinschaften Helmholtz oder Leibniz angehören, z.B. das IASS (Institut für transformative Nachhaltigkeitsforschung) in Potsdam, das 2009 gegründet wurde und vom BMBF sowie dem Land Brandenburg finanziert wird sowie

    • • privat oder öffentlich finanzierte Think Tanks als praxisorientierte Forschungsinstitute, z.B. das Öko-Institut in Freiburg, das Institut für Ökologische Wirtschaftsforschung (IÖW), ecologic in Berlin oder das Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie.

Formen wissenschaftlicher Politikberatung

  • Als Formen wissenschaftlicher Politikberatung existieren unterschiedliche Varianten (siehe zu Folgendem Pregernig 2007): Zum einen regelmäßige externe Gutachten, die z.B. der SRU seit 1974 in regelmäßigen Abständen (derzeit alle vier Jahre) veröffentlicht. Diese dienen der „Gesamtevaluation der Umweltsituation und Umweltpolitik“ (SRU 2010). Daneben veröffentlicht der Umweltrat auch Sondergutachten zu spezielleren Umweltpolitikthemen (jüngst z.B. Demokratisch regieren in ökologischen Grenzen – Zur Legitimation von Umweltpolitik 2019, SRU 2019). Ähnlich, wenngleich deutlich weniger umfangreich und oftmals tagesaktuell, erstellen die verschiedenen Beratungsinstitute kurze externe Stellungnahmen zu aktuellen umweltpolitischen Themen oder „policy briefs“.

  • Des Weiteren gibt es die Ressortforschung, die im Geschäftsbereich einzelner Ministerien weisungsgebunden wissenschaftsbasierte Beratungsleistungen für einzelne oder mehrere Ressorts erbringt und dabei Forschung entweder selbst durch wissenschaftliche MitarbeiterInnen betreibt (Eigenforschung) oder Auftragsforschung extern, z.B. als Beratungsaufträge an Universitäten, vergibt (extramurale Ressortforschung). In der Umweltpolitik wichtig sind die vier Ressortforschungseinrichtungen im Geschäftsbereich des BMU, das UBA, das BfN, das BfS und das BfE, die jeweils Politikberatungsaufträge für das BMU und andere Ministerien wahrnehmen und im jährlichen Ressortforschungsplan festgelegte Forschungsvorhaben nach außen vergeben und steuern. Daneben beauftragen Ministerien auch verschiedenste wissenschaftliche Institutionen direkt mit der Erstellung von Gutachten und Forschungsaufträgen

  • Neben diesen stärker formell-institutionalisierten Beratungsformen existieren auch zahlreiche mehr informelle Kontakte zwischen WissenschaftlerInnen und ExpertInnen und politisch-administrativen Akteuren anlässlich von Fachtagungen, informellen Treffen, Veranstaltungen usw. Darüber hinaus äußern sich wissenschaftliche ExpertInnen häufig in den Medien (z.B. durch Interviews in Tageszeitungen, Auftritte in TV-Talkshows, Internet-Blogs, Sozialen Netzwerken wie Facebook usw.) und liefern dort Einschätzungen und Empfehlungen zur Umweltpolitik auch ohne konkreten Beratungsauftrag politischer Akteure ab. Solche Formen von Politikberatung können eine wichtige Funktion i.S. des Agenda Setting zur Thematisierung von Umweltproblemen leisten. Manche sprechen bei wissenschaftlicher Politikberatung, die auf solchen Wegen insbesondere die Aufklärung der BürgerInnen zum Ziel hat, auch von Gesellschaftsberatung . Insgesamt kann festgehalten werden, dass in der Umweltpolitik auf den verschiedensten Kanälen Politikberatung allgegenwärtig ist und WissenschaftlerInnen und andere ExpertInnen auf unterschiedlichsten Wegen am umweltpolitischen Diskurs teilnehmen

Politikberatung im umweltpolitischen Prozess

  • Wie bereits in Kapitel 3 ausgeführt, spielen wissenschaftliche Erkenntnisse in der Umweltpolitik eine besonders wichtige Rolle. Folgt man dem Modell des Politikzyklus, kann wissenschaftliche Expertise in allen Phasen eine Rolle spielen (Tils 2006). Insbesondere diejenigen Beispiele springen ins Auge, in welchen die wissenschaftliche „Entdeckung“ von Umweltproblemen für eine umweltpolitische Problemwahrnehmung und politisches Agenda Setting gesorgt hat. Man denke nur an den Bericht des Club of Rome über die Grenzen des Wachstums 1972 oder die medienwirksame wissenschaftliche Thematisierung des Themas „Klimawandel“, verstärkt seit den 1980er Jahren, die zu politischen Maßnahmen geführt haben. Jüngere, spektakuläre Beispiele sind das Bienensterben, oder allgemeiner, der katastrophale Rückgang der Biodiversität durch Artensterben, die zunächst wissenschaftlich diskutiert und dann eine politische Debatte sowie politische Maßnahmen zur Folge hatten

  • So findet sich im Koalitionsvertrag 2018 der Großen Koalition ein eigener Abschnitt zu „Ackerbaustrategie und Insektenschutz“ und innerhalb der EU wurden drei mit dem Bienensterben in Verbindung stehende Insektizide (sog. Neonikotinoide) 2018 auf Ackerflächen und in Gewächshäusern verboten. Die „Agenda-Setting“-Funktion der Wissenschaft lässt sich daher in der Umweltpolitik besonders gut erkennen. Für die Abschätzung der Bedeutung der wissenschaftlichen Politikberatung für umweltpolitische Prozesse wurden neben diesen Beobachtungen in der Wissenschaftssoziologie und Politikberatungsforschung speziellere Modelle entwickelt, um die Rolle der wissenschaftlichen Politikberatung für die Umweltpolitik realistisch einzuschätzen.

  • Grundlegend ist hier die Einsicht, dass es meist nicht die eine, objektiv richtige Erkenntnis gibt, sodass im politischen Prozess immer Unsicherheiten verbleiben und dass die Verwendung wissenschaftlicher Erkenntnisse durch politische Akteure keineswegs selbstverständlich ist. Auch heute stellt das lineare Politikberatungsmodell eine noch häufig vorherrschende Vorstellung des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Politik dar: „Diesem Verständnis zufolge formuliert die Politik die Fragen und die Wissenschaftler beantworten sie“. Diese weit verbreitete Vorstellung einer linearen Sequenz zwischen politischer Problemdefinition, wissenschaftlicher Beratung und politischer Entscheidung wurde jedoch durch empirische Forschungen in Frage gest

  • Wichtige Abweichungen von diesem linearen Modell des Wissenstransfers ergeben sich daraus, dass erstens politische Prozesse nicht immer (oder sogar eher selten) linear geordnet verlaufen (siehe Kap. 6); zweitens ist die unterstellte strikte Trennung zwischen Erzeugung wissenschaftlichen Wisens und politischer Anwendung realitätsfern; und drittens wird bei dem Modell weitgehend ausgeblendet, dass politische Akteure macht- und interessenbasiert handeln und somit wissenschaftliche Erkenntnisse immer erst im politischen Prozess durchgesetzt werden müssen

  • Der Wissenschaftssoziologe Peter Weingart spricht in diesem Zusammenhang auch von einer „Politisierung von Expertise“ (Weingart 2006: 42), d.h., dass wissenschaftliche Expertise von den Akteuren im politischen Prozess unterschiedlich, auch zur Durchsetzung eigener Interessen, genutzt wird und dass wissenschaftliche Beratungsakteure eben nicht nur neutrale Lieferanten wissenschaftlicher Sachrationalität sein können, sondern selbst zu politischen Akteuren und somit zum aktiven Bestandteil des politischen Prozesses werden. Miller bringt diese Politisierung wissenschaftlicher Politikberatung in der Umweltpolitik einprägsam auf den Punkt, wenn er schreibt: “It is generally acknowledged that environmental policies ought to be guided by sound science, but the scientific process and public policymaking are fundamentally incompatible. This does not stop the combatants in the policy wars from exploiting science for their own ends“.

  • Weil wissenschaftliche Erkenntnisse eine so große Rolle in der (Umwelt-) Politik spielen, identifiziert Weingart zudem eine „Verwissenschaftlichung von Politik“, d.h., dass Politik immer mehr von Erkenntnissen der Wissenschaft abhängig wird. Im Gegensatz zum linearen Wissenstransfermodell scheinen Modelle, die wissenschaftliche Politikberatung als inkrementellen Prozess verstehen, in welchem wissenschaftliche Erkenntnisse auch durch Zufalle getrieben, langsam zu politischen Akteuren „durchsickern“ (Weiss 1980) oder aktiv durch politische Bündnispartner oder durch besondere Akteure (Policy Entrepreneure) durchgesetzt werden, besser dazu geeignet, die Realität wissenschaftlicher Politikberatung gerade in der Umweltpolitik zu erfassen. Häufig produzieren wissenschaftliche ExpertInnen bestimmte Vorschläge, die von diesen Akteuren erst zu sogenannten Policy-Ideen weiterentwickelt werden, die dann Gegenstand des politischen Prozesses werden.

  • Ausgehend von wissenschaftlicher Expertise werden dabei nicht rein wissenschaftliche Problemlösungen, sondern diejenigen wissenschaftlich fundierten, anwendbaren politischen Lösungen relevant, für die sich wissenschaftliche und politische Akteure als Bündnispartner im politischen Prozess stark machen. Beispielsweise entstanden die in den 1990er Jahren entwickelten Ökosteuerkonzepte und die jüngst verstärkte Idee der Einführung einer CO2-Steuer auf diesem Weg von zunächst rein wissenschaftlich diskutierten Idealvorstellungen zu auch von politischen Akteuren aufgegriffenen und kontrovers diskutierten Instrumentenalternativen (Böcher 2009). Ein weiteres wichtiges Argument gegen das lineare Modell stellt das empirische Phänomen des Expertendilemmas gerade in der Umweltpolitik dar (s. z.B. Renn 2017): Voraussetzung eines linearen Wissenstransfers wäre, dass es für umweltpolitische Fragen immer nur eine wissenschaftlich fundierte Lösung gibt. Tatsächlich existieren jedoch meist mehrere wissenschaftliche Fundierungen für Expertenmeinungen zu einem Thema, so dass umweltpolitische Entscheidungen unter Unsicherheit (siehe Kap. 3) stattfinden und wissenschaftliche Politikberatung hier nicht zu einer rationaleren Politik (im Sinne eindeutiger Lösungen) führt. Typisch ist eher der „Dissens der Experten“

  • Dieses Expertendilemma hat zur Folge, dass das „Politische“ in politischen Entscheidungen, also der Kampf um Werte und Interessen in Bezug auf bestimmte Lösungen, gar nicht wissenschaftlich im Sinne linearer Beratungsmodelle wegrationalisiert werden kann. Bei kontroversen Themen wie der Debatte um die Verlängerung der Zulassung des Unkrautvernichters „Glyphosat“ wird genau dies deutlich: die wissenschaftliche Datenlage ist nicht eindeutig, es muss also politisch entschieden werden, was mit dem Stoff und seiner Anwendung weiter geschieht und mit welcher Wahrscheinlichkeit einer gesundheitsschädlichen Wirkung die Politik diesen eher verbietet oder weiter in Verkehr lässt.

  • Wichtig ist zu betonen, dass trotz der Rolle wissenschaftlicher Politikberatung in der Umweltpolitik Sachfragen nicht durch die Wissenschaft allein entschieden werden kann. Letztlich entscheidet die Politik über umweltpolitische Maßnahmen und die Frage, inwieweit dabei wissenschaftliche Erkenntnisse zur Anwendung gelangen. Solche Entscheidungen werden naturgemäß auf der Basis einer Kombination von politischen Überzeugungen und wissenschaftlichen Fakten, aber keineswegs nur auf letzteren beruhen. Weingarts Vorstellung von „Politisierung von Expertise“ und „Verwissenschaftlchung von Politik“ drückt exakt dieses Wechselspiel zwischen macht- und interessengetriebenen kontroversen politischen Diskussionen über wissenschaftsbasierte Alternativen auf der einen, aber auch das Angewiesensein der Umweltpolitik auf wissenschaftliche Lösungen auf der anderen Seite aus.

  • Weingart hat auf der Basis solcher Überlegungen ein Modell der „rekursiven Politikberatung“ entwickelt, das die Politikberatungswirklichkeit auch in der Politikberatung Umweltpolitik gut erfasst (Schenuit 2017; Weingart 2003: 94 f.; Weingart 2001: 139 ff.). Grundlegend ist dabei, dass die lineare Vorstellung einer Handlungskette zwischen Problemwahrnehmung, Beauftragung von Experten und politischer Entscheidung durch eine rekursive Schleife ersetzt wird (vgl. Weingart 2019; Lompe 2006: 31; Weingart 2001: 150). Für Weingart ist diese rekursive Kopplung eine Folge der zwei bereits genannten interdependenten Prozesse: „der Verwissenschaftlichung von Politik und der Politisierung von Wissenschaft“ (Weingart 2001: 140). Dabei zeigt sich eine Verwissenschaftlichung der Politik daran, dass viele der im politischen Prozess behandelten politischen Probleme (z.B. Klimawandel, Umweltverschmutzung etc.) zunächst in der Wissenschaft wahrgenommen und durch die Wissenschaft selbst kommuniziert werden – und zwar unabhängig von einem konkreten Auftragsverhältnis. Wissenschaft bringt als Akteurin im politischen Prozess Themen auf die politische Agenda, zu deren Lösung sie wiederum durch die Politik beauftragt werden kann. Die Grundannahme des rekursiven Modells ist, dass wissenschaftliche Politikberatung nicht geradlinig verläuft (Weingart 2019; Weingart 2003: 94).

  • Die Politisierung von Wissenschaft entsteht aus den in vielen Fragen herrschenden wissenschaftlichen Unsicherheiten und den damit einhergehenden divergierenden Expertenurteilen, die von politischen Interessengruppen jeweils im eigenen Sinne interpretiert und für sich in Anspruch genommen werden. Die gerade aufgrund der Uneindeutigkeit des Verhältnisses zwischen Wissenschaft und Politik mögliche „Politisierbarkeit der wissenschaftlichen Expertise“ tritt auf, wenn die Politik das ihr offerierte Wissen in einem Sinne umdeutet, der nicht den Intentionen der wissenschaftlichen Beratung entspricht. Anstatt den politischen Prozess durch „objektive“ Fakten zu rationalisieren, erfüllt wissenschaftliche Politikberatung dann eine „legitimatorische Funktion“ für die Handlungen politischer Akteure, welche die in linearen Modellen angenommene Trennung von wissenschaftlichen Fakten und Werturteilen in Frage stellt

  • Aber auch eine weitere Grundannahme des rekursiven Modells reflektiert die Kritik an linearen Politikberatungsmodellen: In diesen erscheinen wissenschaftliche Akteure zumindest implizit häufig als am politischen Entscheidungsprozess uninteressierte WissensvermittlerInnen. Tatsächlich können WissenschaftlerInnen im politischen Prozess jedoch unterschiedliche Rollen wahrnehmen, indem sie zum einen als Wissenschaftler Forschungsergebnisse produzieren, zudem jedoch auch andere Rollen wahrnehmen, um die Integration wissenschaftlicher Erkenntnisse in den politischen Prozess zu unterstützen oder sich gar für bestimmte politische Maßnahmen einsetzen, die Konsequenzen ihrer wissenschaftlichen Überzeugungen sind. Die aktuelle, im Zuge der „Fridays-for-Future“-Demonstrationen entstandene, vor allem von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern getragene „Scientists-for-Future“-Initiative ist dafür ein sehr gutes Beispiel, bei dem Wissenschaftler letztendlich zu klimapolitischen Akteuren werden

  • Die Bedeutung solcher wechselseitiger Integrationstätigkeiten zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und politischen Anforderungen und Rationalitäten wird im RIU-Modell der wissenschaftlichen Politikberatung besonders betont: Hierbei wird im Anschluss an Weingarts Überlegungen wissenschaftliche Politikberatung als wechselseitiger Selektions-Prozess zwischen Forschung (Research) und macht- und interessenbasierter politischer Verwertung (Utilization) verstanden, der innerhalb besonderer Prozesse der Integration stattfindet, innerhalb derer u.a. auch WissenschaftlerInnen bestimmte Integrationsrollen wahrnehmen können. WissenschaftlerInnen produzieren also nicht nur Expertise, sondern agieren auch im politischen Prozess im Sinne von Policy EntrepreneurInnen61, um der von ihnen favorisierten Expertise zur Durchsetzung zu verhelfen. Wissenschaftliche PolitikberaterInnen werden dann zu Akteuren im politischen Prozess, die ihre eigenen Interessen vertreten, sei es, dass sie sich für eine politische Position engagieren oder die Interessen der von ihnen vertretenen Disziplin wahrnehmen (Weingart 2001: 147). So kommen das rekursive und das RIU-Modell der vielgestaltigen Rolle wissenschaftlicher Politikberatung in umweltpolitischen Prozessen sehr nahe.

Funktionen wissenschaftlicher Politikberatung

  • Im Anschluss an die zuvor getroffenen Überlegungen kann man zusammenfassen, wie wissenschaftliche Politikberatung im umweltpolitischen Prozess wirkt. Wissenschaftliche Politikberatung erfüllt bestimmte Funktionen für politische Akteure und politische Prozesse, dient dabei aber nicht notwendigerweise dem Idealbild einer Sachrationalisierung der Politik. Unterschieden werden kann vielmehr nach Pregernig (2007: 67) zentral zwischen denjenigen Funktionen, bei denen die Policy-Dimension des politischen Prozesses im Vordergrund steht und Funktionen, bei denen die Politics-Dimension im Mittelpunkt steht: hier geraten Expertise und wissenschaftliche Politikberatung ins Spannungsfeld gesellschaftlicher Interessen und Machtauseinandersetzungen, es kommt also im Sinne Weingarts zu einer „Politisierung von Expertise“.

  • Politikwissenschaftliche Perspektiven der Analyse wissenschaftlicher Politikberatung:

    • Policy-Perspektive: Wissenschaftliche Politikberatung erlangt Beachtung und Bedeutung aufgrund ihrer Sachinhalte und hat eine epistemologische Funktion. Politischer Prozess als Problemlösungsprozess: „Sachrationalität“. Angestrebt wird eine auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhende sachrationale Verbesserung der Politik

    • Politics-Perspektive: Der inhaltliche („epistemologische“) Kern wissenschaftlicher Politikberatung tritt zugunsten einer politischen Funktion von Wissenschaft zurück. Politischer Prozess als Macht- und Interessenkonflikt: „Politische Rationalität“. Wissenschaftliche Beratung wird von politischen Akteuren zur Verfolgung und Legitimation eigener Interessen in Dienst genommen.

  • Dabei werden u.a. folgende Funktionen der wissenschaftlichen Politikberatung für politische Prozesse diskutiert:

    • Problemerkennungs- und Frühwarnfunktion: Diese Funktion von Politikberatung dient den in klassischen Politikberatungsmodellen formulierten Vorstellungen wissenschaftlicher Politikberatung als Beitrag zur Aufklärung und Sachrationalisierung der Politik. Wissenschaftliche Informationen werden bereitgestellt, die der politische Prozess im Sinne von Problemlösung anwenden kann. Politische Akteure fragen Expertise nach, um politischen Herausforderungen frühzeitig auf einer wissenschaftlich fundierten Grundlage zu begegnen und Prognosen und Lösungsmöglichkeiten zu erhalten.

    • Entscheidungsunterstützungsfunktion: In Vorbereitung von Policy-Entscheidungen wird wissenschaftliche Politikberatung im Sinne von „Entscheidungsberatung“ zur Hilfe genommen. Dabei sollen die „Beschaffung, Aufbereitung und Analyse von Informationen ein Politikfeld auf die jeweiligen Voraussetzungen, Merkmale und mögliche Folgen verschiedener möglicher Entscheidungen hin ausleuchten und damit zur Behebung der Orientierungsunsicherheit der Politik beitragen“. Diese Funktion von Politikberatung dient der Meinungsbildung und Entscheidungshilfe für politische Akteure.

    • Legitimations- und Rechtfertigungsfunktion: Hier dient Expertise als Legitimation einer längst beschlossenen politischen Linie, die nur nachträglich durch Zurückgreifen auf ExpertInnenwissen als in der Sache unvermeidbar gerechtfertigt wird. Häufig werden dabei ExpertInnenmeinungen zur Rechtfertigung von bei der Bevölkerung besonders unpopulären Maßnahmen (als dem unvermeidbaren wissenschaftlichen Sachzwang folgend) herangezogen.

    • Verschleierungs- und Feigenblattfunktion: Wissenschaftliche Argumente dienen den am politischen Prozess beteiligten Akteuren dazu, ihre (Eigen-) Interessen durchzusetzen und diese unter Bezug auf wissenschaftliche Expertise zu verschleiern. Diese Funktion lässt sich zum Beispiel anhand von Verbänden illustrieren, die häufig eigene wissenschaftliche Forschungsinstitutionen unterhalten, um ihre Entscheidungen durch wissenschaftlichen Sachverstand rechtfertigen zu können.

    • Verzögerungs- und Vermeidungsfunktion: Wenn PolitikerInnen in bestimmten Problembereichen nicht in der Lage sind, Entscheidungen durchzusetzen, werden häufig Gutachten in Auftrag gegeben oder Expertenkommissionen eingesetzt, um Zeit zu gewinnen und gleichzeitig den Eindruck politischer Handlungsfähigkeit zu erwecken (symbolische Politik).

    • Überzeugungsfunktion: Wissenschaftliche Expertise wird benutzt, um in politischen Konflikten Gegner von einer bestimmten Auffassung zu überzeugen



Institutionelle Rahmenbedingungen der Umweltpolitik


Rational Choice Institutionalismus und normativer Institutionalismus

  • Tatsächlich gibt es nicht den einen Neo-Institutionalismus, sondern vielmehr verschiedene Institutionentheorien, Institutionalismen, deren Gemeinsamkeiten im Grunde übersichtlich sind: Die erste Gemeinsamkeit besteht in der Annahme, dass Institutionen wichtiger für den politischen Prozess sind als irgendetwas anderes (Peters 2012: 176). Zweitens, im Gegensatz zum Behavioralismus, betrachten die Institutionalismen Individuen nicht für sich alleine, sondern vielmehr als eingebettet in eine Reihe von Institutionen (Peters 2012). Hier hören die Gemeinsamkeiten der Institutionentheorien bereits auf. Sogar die Definition, was eine Institution ist, unterscheidet sich zwischen den Institutionalismen, von denen wir nun die wichtigsten beiden vorstellen.

  • Der Rational Choice Institutionalismus resultierte zunächst insbesondere aus Arbeiten, die in den 1980er Jahren untersuchten, wie institutionelle Rahmenbedingungen die Entscheidungsergebnisse im US-Kongress erklären können. Der Rational Choice Institutionalismus basiert auf den Annahmen des Utilitarismus, dass also Individuen ihre eigenen Interessen verfolgen, indem sie rationale Kalkulationen anstellen (Peters 2019). Diese Idee von Individuen, die die Rendite verschiedener Entscheidungsoptionen kalkulieren, haben March und Olsen „the logic of consequentiality” genannt.

  • Während die Einrichtung von Institutionen selber das Ergebnis von rationalem Handeln von Akteuren ist, welche Unsicherheiten und Transaktionskosten mindern wollen, ist es die Eigenschaft von Institutionen, dass sie Regeln für Entscheidungen etablieren, indem sie festlegen, wer über was auf der Basis welcher Regeln entscheiden darf. Diese Regeln zu verändern, kann bedeuten, das Entscheidungsergebnis zu verändern. Daher stellen sich z.B. Kiser und Ostrom Politik als drei Welten vor, in denen auf einer Ebene die institutionellen Regeln für die nächste Ebene getroffen werden. Während Präferenzen als gegeben angenommen werden (und als den Institutionen exogen, Peters 2019), kalkulieren Akteure ihre rationalen Strategien innerhalb dieser institutionellen Settings. Im Rational Choice Institutionalismus können Institutionen formal oder informal sein, aber sie sind auf politische Institutionen im weiteren Sinne („Spielregeln”) beschränkt

  • Diese Vorstellung davon, wie Akteure und Institutionen interagieren, ist aus verschiedenen Gründen kritisiert worden. So wurde die Annahme vollständiger Rationalität in Frage gestellt (s.o.). Weder seien Akteure immer vollständig über ihre eigenen Interessen informiert (stattdessen entschieden sie oft unter einem „Schleier der Unwissenheit”, Simon 1972), noch strebten sie immer an, ihren Nutzen zu maximieren (stattdessen mag es sein, dass sie sich für eine Option entscheiden, die ihnen „gut genug“ erscheint, ohne alles Alternativen zu kennen

  • Zweitens, Autoren des normativen Institutionalismus (mit starken Bezügen zur soziologischen Organisationstheorie, wie DiMaggio & Powell 1983) haben argumentiert, dass die Annahmen der Rational Choice Theorie nicht in der Lage seien, Transaktionen im echten Leben vollständig zu erfassen. Dies sei der Fall, weil soziale Normen (an Stelle von oder ergänzend zu rationalen Interessen) als andere Kategorie von Institutionen individuelles Verhalten beeinflussen. So argumentieren March und Olsen, Handlungen basierten oft eher darauf, normative angemessenes Verhalten zu identifizieren, anstatt die Rendite zu kalkulieren, die aus alternativen Entscheidungen resultierten. Es sei nicht diese „logic of consequentiality”, sondern die „logic of appropriateness”, die Akteurshandeln in erster Linie antreiben:

    “Actors seek to fulfill the obligations encapsulated in a role, an identity, a membership in a political community or group, and the ethos, practices and expectations of its institutions. Rules are followed because they are seen as natural, rightful, expected, and legitimate”. (MARCH and OLSEN, 2009, S. 2)

  • Insofern seien es soziale Normen, die definieren, welche Policies innerhalb einer Organisation akzeptabel seien (Peters 2019). Aus dieser Perspektive werden nicht nur formale Institutionen betrachtet, sondern auch soziale Regeln, die in Strukturen von Ressourcen und Bedeutung wurzeln. Institutionen in diesem Sinne sind den Präferenzen nicht exogen (wie der Rational Choice-Institutionalismus annimmt), sondern sie können Präferenzen prägen und verändern

Vetospieler-Theorie zur Erklärung von Nicht-Wandel

  • Der US-Politologe Peter Katzenstein hatte in den 1980er Jahren untersucht, warum sich in Deutschland (im Gegensatz etwa zu den USA oder Großbritannien) Regierungswechsel vergleichsweise wenig in gewandelten Policies niederschlagen. Er beschrieb, wie in Deutschland Koalitionsregierungen, das Parteiensystem, der kooperative Föderalismus und andere Faktoren „constrain bold policy initiatives“ (Katzenstein 1987: 80f.) und sich insofern – trotz veränderter Regierungsmehrheiten – zugunsten von Policy-Stabilität und zuungunsten von Wandel auswirken. In diese Richtung argumentiert auch die einige Jahre später entwickelte Vetospieler-Theorie, die insbesondere auf George Tsebelis zurückgeht. Sie betrachtet Regierungssysteme danach, in welchem Maße ihre institutionellen Grundstrukturen Vetopositionen begründen.

  • Als Vetospieler gilt dabei „an individual or collective actor whose agreement [...] is required for a change in policy“ . Von diesen Vetospielern hängt ab, wie wahrscheinlich Policy-Wandel in einem politischen System ist. Genauer wird angenommen, dass es drei Faktoren sind, die einen Einfluss auf Politikstabilität oder Politikwandel haben: erstens die Anzahl der Vetospieler, zweitens die inhaltliche Policy- Distanz zwischen den Vetospielern und zum Status quo und drittens die Kohäsion (d.h. der inhaltliche Zusammenhalt) der (kollektiven) Vetospieler.

  • In der kritischen Auseinandersetzung mit dem Ansatz wurden zudem die Interaktionsorientierung und das strategische Verhalten der Vetospieler als weitere Einflussfaktoren auf Stabilität oder Wandel von Policies identifiziert. Während in der „engen“ Variante der Vetospieler-Theorie lediglich institutionelle Vetospieler, wie etwa im deutschen Regierungssystem der Bundesrat, der Bundestag und das Bundesverfassungsgericht (sowie mit sehr begrenzter Vetomacht der Bundespräsident oder früher die deutsche Zentralbank), und parteipolitische Vetospieler erfasst werden63, betrachten weitere Varianten auch beispielsweise einflussreiche Verbände, die durch ihre Position Policy-Wandel verhindern können

  • In der deutschen Umweltpolitik können unter anderem die Bundesländer als (potenzielle) Veto-Player agieren. So waren es vor allem die direkt vom Strukturwandel des durch die Bundesregierung beschlossenen Kohleausstiegs betroffenen Bundesländer Brandenburg, Sachsen-Anhalt und Sachsen mit ihren Regierungen, die versucht haben, aufgrund landespolitischer Interessen den Kohleausstieg innerhalb der hierfür 2018 gegründeten Kommission „Wachstum, Beschäftigung und Strukturwandel“ zu verzögern. Am Ende stand ein Kompromiss, der den Kohleausstieg für spätestens 2038 vorsieht, den Braunkohleregionen in den genannten Ländern aber zugleich Strukturhilfen des Bundes in Milliardenhöhe zusichert . Da in der eingesetzten Kommission ein Konsens mit den Bundesländern notwendig war, in diesen jedoch teilweise 2019 wichtige Landtagswahlen anstanden, konnten die Länder hier als potenzielle Veto-Player eine machtvolle Position einnehmen. Dennoch erklärt sich gerade in der Umweltpolitik fehlender Wandel im Sinne einer ausbleibenden restriktiven Regulierung weniger durch den Widerstand von Vetospielern im engeren Sinne, sondern vielmehr meistens durch den Protest einflussreicher Wirtschaftsverbände

Pfadabhängigkeit und Erklärung ausbleibenden oder begrenzten Wandels

  • Eine der wichtigsten Thesen des historischen Institutionalismus lautet, dass einmal getroffene politische Entscheidungen, wenn es um die Formierung oder die Gestaltung politischer Institutionen oder policies geht, einen kontinuierlichen Einfluss auf die weitere – auch mittel- und langfristige – Entwicklung dieser Policy ausüben (Peters 2019: 80). Peters nennt diesen permanenten Einfluss früher getroffener Entscheidungen daher treffend „the legacy of the past“ (Peters 2019: 80). In der deutschsprachigen Literatur spricht man auch von politischer „Erblast“ (Ostheim/Schmidt 2007: 85): „Politik, die hier und heute gemacht wird, wird durch vergangene Policy-Entscheidungen und ‚ererbte‘, also von den Vorgängerregierungen übernommene Politikinhalte, -verfahren und -strukturen beeinflusst“

  • Dies meint, dass bestimmte grundlegende, früher einmal getroffene politisch-institutionelle Entscheidungen einen bestimmten langfristigen politischen Pfad determinieren, welcher in der Zukunft nur schwer wieder verlassen werden kann. Solche institutionellen Pfade können dabei sogar absichtsvoll von Regierungen angelegt werden, da sie aufgrund der Unsicherheit, nach der nächsten Wahl im Amt zu bleiben und weiter regieren zu können, ein Interesse daran haben, solche institutionellen Regelungen zu schaffen, die auch eine andere Regierung nicht einfach wieder abschaffen kann

  • Man spricht hier von der Pfadabhängigkeit politischer Entscheidungen. Einmal eingeschlagene politische Pfade können zwar verändert werden, dies jedoch nur durch enormen politischen Druck oder mit Hilfe externer Ereignisse wie z.B. Naturkatastrophen (Peters 1999: 64). Aufgrund dieser Pfadabhängigkeiten sind daher in der Politik inkrementelle Änderungen, also sehr begrenzter Wandel, viel häufiger anzutreffen als radikale politische Veränderungen. Ähnlich hat der Wirtschaftshistoriker und Nobelpreisträger Douglas C. North, ein Vertreter der Neuen Institutionenökonomik, argumentiert, dass einmal geschaffene Institutionen selbst dann Bestand haben, wenn sie sich gegenüber Alternativen eigentlich als unterlegen oder ineffektiv erweisen.

  • Aus gesamtgesellschaftlicher Sicht nachteilige Institutionen haben so Bestand, weil sie Akteuren, die sich an diese Regelungen angepasst haben und von diesen profitieren, die Verfolgung ihrer Interessen ermöglichen. Man spricht hier von sogenannten „Lock-In-Effekten“: Akteure sind „eingeschlossen“ durch die ihnen zugutekommenden Erträge aus dem Bestand und der Nicht-Veränderung der Institutionenstruktur. Einmal eingeschlagene institutionelle Pfade sind also auch deshalb schwer wieder zu verändern, weil sich bestimmte politische und gesellschaftliche Akteure mit diesen arrangiert haben und alles daransetzen, dass die ihnen durch diese Regelungen gesicherten Vorteile nicht genommen werden.

  • Welchen Beitrag kann die These der Pfadabhängigkeit zur Analyse der Umweltpolitik leisten? Sie kann sowohl zur Erklärung begrenzten als auch ausbleibenden umweltpolitischen Wandels beitragen. Einige Beispiele sollen dies deutlich machen: Wenn man die Verwendung und den Wandel umweltpolitischer Instrumente betrachtet, fällt auf, dass im Prinzip bis heute das seit dem Beginn der Umweltpolitik in den 1970er Jahren angewendete Ordnungsrecht und die damit einhergehende Verwendung regulativer Instrumente dominiert. Die Verwendung dieser Instrumente war aufgrund der damaligen umweltpolitischen Problemstruktur (Gefahrenabwehr ausgerichtet auf schnelle Erfolge) und des gleichzeitig begrenzten Wissens über umweltpolitische Instrumentenalternativen nachvollziehbar. Dass allerdings selbst als seit den 1980er Jahren umweltpolitische Instrumentenalternativen verstärkt diskutiert und in Teilbereichen als überlegen gegenüber dem Ordnungsrecht angesehen wurden, immer noch das Ordnungsrecht dominierte und ökonomische Instrumente nur selektiv und schleppend eingeführt wurden, kann auch mit der These der Pfadabhängigkeit erklärt werden.

  • Der einmal eingeschlagene Pfad einer Umweltpolitik, die hauptsächlich durch regulative Instrumente steuert, ist nur schwer zu verlassen, weil sich die beteiligten Akteure auch mit diesem institutionellen Pfad arrangiert und kein gesteigertes Interesse an Alternativen haben. So zeigen Jacob und Jörgens, dass Staaten mit einer langen Umweltrechtstradition größere Schwierigkeiten haben, die vielen medial segmentierten Umweltgesetze in ein sektorübergreifendes Umweltrahmengesetz zu integrieren, als solche Länder, wo sich das Umweltrecht noch im Aufbau befindet

  • Ein anderes Beispiel stellt die Gemeinsame Agrarpolitik der EU (GAP) dar: seit Jahrzehnten wird hier die Ablösung von umweltpolitisch nicht sinnvollen und insbesondere große Betriebe fördernden Flächenprämien (klassische Agrarsubventionen) diskutiert. Zwar hat es innerhalb der GAP in den letzten Jahren durchaus einige wichtige Veränderungen, auch hinsichtlich umweltpolitischer Erfordernisse (z.B. das sogenannte „Greening“, also Honorierung von Umweltleistungen innerhalb der Ersten Säule der EU GAP) gegeben, dennoch kann nach wie vor nicht von einem grundlegenden Wandel in Richtung ökologisch sinnvoller Agrarförderung gesprochen werden (zur Kritik siehe z.B. Heinrich-Böll-Stiftung et al. 2019). Politikfeldanalytisch kann man dies damit erklären, dass mit der gemeinsamen EU-Agrarpolitik seit ihrem Entstehen in den 1950er Jahren ebenfalls ein institutioneller Pfad bestritten wurde, der einmal eingeschlagen und mit Vorteilen für viele Akteure behaftet nur äußerst schwer zu verändern ist. Viele agrarpolitische Akteure haben sich im Sinne von „Lock-In“ mit dem System arrangiert, profitieren davon und wollen die einmal erlangten Vorteile nicht wieder aufgeben. Selbst in Zeiten zahlreicher Agrarskandale und einer entsprechenden öffentlichen Thematisierung gelingen hier Veränderungen trotz bekannter und breit diskutierter Alternativpfade nur sehr schleppend

  • Ein weiteres aktuelles Beispiel stellt die Frage nach der Besteuerung des Flugverkehrs dar. Hier wurden in jüngerer Zeit aufgrund der klimapolitischen Wirkungen der durch den Flugverkehr entstehenden Emissionen Konzepte zu einer möglichen Bepreisung von Flügen z.B. durch die Einführung einer Steuer auf Flugbenzin („Kerosinsteuer“) diskutiert. Ohne in diesem Rahmen zu sehr ins Detail gehen zu können, soll eine wichtige Pfadabhängigkeit des internationalen Flugverkehrs genannt werden, die die gesamte Flugverkehrspolitik prägt: die Chicago-Konvention, die bereits 1944 entstand und heute von 192 Staaten ratifiziert ist, stellt hier ein wichtiges „Legacy of the past“ dar. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg und den enormen technischen Fortschritten beim Flugzeugbau sollten mit der Chicago-Konvention gerade der weltweite Austausch und die Ausweitung der Flugverkehrsströme in zukünftigen Friedenszeiten gewährleistet werden, insbesondere zur Stärkung der Weltwirtschaft.

  • In Orientierung an dieser Chicago-Konvention, nach welcher Kerosin nur sehr begrenzt besteuert werden darf, hat sich in den für die Regelung des Flugverkehrs entscheidenden bilateralen Air Service Agreements eine Art Standardparagraph etabliert, der die Steuerfreiheit des Flugzeugstreibstoffs in beiden Vertragsstaaten garantiert. In der EU war die Besteuerung von Kerosin längere Zeit tatsächlich verboten, durch die Energiesteuerrichtlinie 2003/96 besteht für ihre Mitgliedsstaaten die Möglichkeit, zumindest national oder in zwischenstaatlichen Vereinbarungen innerhalb der EU abzuweichen und Kerosin zu besteuern. Dies wird jedoch mit Blick auf mögliche Wettbewerbsverzerrungen zwischen EU- und nicht-EU Fluggesellschaften, etwaiger Nachteile als Standort für Umsteigeverbindungen sowie Einbußen im Reiseverkehr zwischen den jeweiligen Unterzeichnern, nur zögerlich in Angriff genommen

  • Wie bereits oben erwähnt, gibt es in der deutschen Umweltpolitik Fälle von „Blockaden“, die mit dem Vetospieler-Theorem erklärt werden können, und Fälle, in denen Umweltpolitik pfadabhängig verläuft. Dabei können früher eingeschlagene Pfade umweltpolitischen Wandel komplett verhindern oder mehr oder weniger stark begrenzen


Föderale Kompetenzverteilung und Föderalismusreform


  • Die Frage, wie innerhalb des deutschen Bundesstaates die Kompetenzen für die Gesetzgebung verteilt sind, bestimmt grundlegend die institutionelle Logik einzelner Politikfelder. Das Grundgesetz kannte bis zur Föderalismusreform I von 2006 grundsätzlich vier Kategorien von Gesetzgebungskompetenzen:

    1. die ausschließliche Landeskompetenz (diese galt immanent; grundsätzlich sind die Länder für alles, was nicht anders genauer geregelt ist, zuständig, Art. 31 GG);

    2. die ausschließliche Bundeskompetenz (Art. 71 GG);

    3. die konkurrierende Gesetzgebung nach Art. 72 Abs. 1 GG mit Erforderlichkeitsvorbehalt für den Bund und Sperrwirkung für die Länder, sofern der Bund von der Kompetenz Gebrauch gemacht hatte;

    4. die Rahmengesetzgebung (Art. 75 GG). Die Regelungen müssen ausfüllungsbedürftig und ausfüllungsfähig sein.

  • Die Umweltpolitik ist ein Bereich, in dem – u.a. aufgrund übergeordneter Regelungserwägungen – in den 1970er Jahren in starkem Maße eine „Unitarisierung“ der Kompetenzen beim Bund stattgefunden hat: so wurden die Bereiche Luftreinhaltung, Lärmbekämpfung und Abfallbeseitigung in den Kompetenzkatalog für die konkurrierende Gesetzgebung aufgenommen. Die Folge war einerseits die weitgehende Begrenzung der Landeskompetenzen in der Umweltpolitik auf Naturschutz und Landschaftspflege sowie Wasserschutz (hier hatte der Bund nur die Kompetenz für die Rahmengesetzgebung nach Art. 75 Nr. 3 und 4 GG, siehe Volkery 2007) und andererseits ein zunehmender Einfluss der Länder über den Bundesrat auf die Bundesgesetzgebung

  • Während diese Zentralisierung der Kompetenzen der Etablierung des Politikfeldes insgesamt zuträglich war, führte der zunehmende Einfluss der Länder über den Bundesrat auf die Bundesgesetzgebung, die Bestandteil der von Scharpf so bezeichneten „Politikverflechtung“65 ist (Scharpf 1985; Posse 1986), durch die Überlagerung föderaler Konfliktlinien mit parteipolitischen Konfliktlinien zu einer Anfälligkeit der Entscheidungsfindung für Blockaden. Auch wenn es etwa in der Abfallpolitik einige Beispiele gibt, in denen die Beteiligung des Bundesrates durch Veto-Positionen zu jahrelangen Entscheidungsverzögerungen geführt hat, geht man insgesamt davon aus, dass es in der Umweltpolitik nicht systematisch zu „Reformblockaden“ gekommen ist

  • Während diese Zentralisierung der Kompetenzen der Etablierung des Politikfeldes insgesamt zuträglich war, führte der zunehmende Einfluss der Länder über den Bundesrat auf die Bundesgesetzgebung, die Bestandteil der von Scharpf so bezeichneten „Politikverflechtung“ ist, durch die Überlagerung föderaler Konfliktlinien mit parteipolitischen Konfliktlinien zu einer Anfälligkeit der Entscheidungsfindung für Blockaden. Auch wenn es etwa in der Abfallpolitik einige Beispiele gibt, in denen die Beteiligung des Bundesrates durch Veto-Positionen zu jahrelangen Entscheidungsverzögerungen geführt hat, geht man insgesamt davon aus, dass es in der Umweltpolitik nicht systematisch zu „Reformblockaden“ gekommen ist

  • Reform von 2006 – um nur die umweltpolitisch relevanten Felder zu nennen – u.a. für das Jagdwesen, den Naturschutz und die Landespflege, Bodenverteilung, Raumordnung und Wasserhaushalt galt. Unter der Voraussetzung des Artikels 72 (Erforderlichkeitsklausel) durfte der Bund wesentliche Grundzüge in Rahmengesetzen regeln, während die Länder dann verpflichtet waren, Landesgesetze zu erlassen. Diese Konstellation erwies sich für die Umweltpolitik aus drei Gründen als problematisch: Erstens erforderte die vollständige Umsetzung von EU-Recht in diesen Bereichen regelmäßig, dass zuerst ein Bundesgesetz und dann 16 Landesgesetze beschlossen werden mussten, was immer wieder zu verspäteter Umsetzung und entsprechenden Vertragsverletzungsverfahren führte

  • Zweitens hatte der Bund im Laufe der Zeit die Rahmengesetzgebung in einigen Bereichen sehr stark ausgedehnt, was jedoch mit zwei Urteilen des Bundesverfassungsgerichts in den Jahren 2004 und 2005 deutlich eingeschränkt wurde. Drittens waren für die geplante Realisierung des Umweltgesetzbuchs umfassendere Kompetenzen des Bundes erforderlich, was eine Abschaffung der Rahmengesetzgebung in diesen Bereichen nahelegte

  • Letztlich waren auch die Länder bereit, die Rahmengesetzgebung zugunsten der konkurrierenden Gesetzgebung aufzugeben (was zunächst die Kompetenzen des Bundes stärkt), sie wollten aber im Gegenzug vom Bundesrecht abweichen können. Der Kompromiss, der zur Lösung dieser vielschichtigen Interessenkonstellation gefunden wurde, war die Einführung der Abweichungsgesetzgebung, die eine neue Kompetenzart im föderalen Zuständigkeitsgefüge Deutschlands darstellte. Für die Bereiche Jagdwesen, Naturschutz und Landschaftspflege, Bodenverteilung, Raumordnung und Wasserhaushalt (also wichtige umweltbezogene Rechtsgebiete) sowie Hochschulzulassung und Hochschulabschlüsse wurde die Rahmengesetzgebung abgeschafft und die konkurrierende Gesetzgebung eingeführt, wobei die Erforderlichkeitsklausel66 aufgehoben wurde.

  • Im Gegenzug wurde den Ländern für diese Bereiche nun erlaubt, durch Abweichungsgesetze von einmal beschlossenem Bundesrecht abzuweichen. Von der Abweichung ausgenommen sind allerdings für das Jagdwesen das Recht der Jagdscheine, für den Naturschutz die allgemeinen Grundsätze des Naturschutzes, der Artenschutz und der Meeresnaturschutz sowie für den Wasserhaushalt die stoff- und anlagenbezogenen Regelungen. Überdies wurde die Erforderlichkeitsklausel auch für die Bereiche Luftreinhaltung und Lärmbekämpfung abgeschafft, für den Bereich der Abfallwirtschaft wurde sie hingegen aufrechterhalten

  • Damit stellte die Föderalismusreform I von 2006 für die Umweltpolitik eine gravierende Zäsur dar. Die Einführung der Abweichungsgesetzgebung war im Vorfeld vor und direkt nach der Föderalismusreform für die umweltpolitischen Bereiche sehr skeptisch beurteilt worden. Für den Bereich der Naturschutzpolitik wehrte sich das Bundesumweltministerium lange gegen die Abweichungsgesetzgebung, weil man befürchtete, in den Bereichen Naturschutz und Gewässerschutz würde es zu einem „Deregulierungswettbewerb zwischen den Ländern“ kommen (Scharpf 2009: 101). Der Sachverständigenrat für Umweltfragen bemängelte, die Gestaltungsspielräume der Länder durch die Abweichungsgesetzgebung seien (für die Bereiche Naturschutz und Landschaftspflege ebenso wie für den Wasserhaushalt und die Raumordnung) „unangemessen weit“ und „konturenlos“ und gefährdeten Belange des Umweltschutzes von übergeordneter Bedeutung (SRU 2006: 11ff.); zugleich seien die abweichungsfesten Kerne zu vage bestimmt. Die Neuregelung berge die Gefahr eines „regulativen Wettbewerbs ‚nach unten‘“, „gerade in den ‚weicheren‘ Materien des Naturschutz-, Planungs- und Verfahrensrechts“. Auch andere Beobachter befürchteten eine „Deregulierung und Ökonomisierung“ sowie eine „Aufweichung durch Abweichung“

  • Lediglich Kloepfer erwartete für den Umweltschutz einen „befruchtende[n] Wettbewerb […] um das beste Konzept“, da auch in der Vergangenheit die Länder oft „Motor einer Entwicklung im Umweltschutzrecht waren“ (Kloepfer 2012: 426). Es wurden aber auch die Erwartung formuliert, dass die Länder die Abweichungsgesetze nur beschließen würden, um bestehendes Landesrecht zu bestätigen (z. B. von Stackelberg 2012: 88; Schneider 2013: 675f.). Teilweise wurde die Abweichungskompetenz auch als taktisches Instrument betrachtet, das den Bund „zu einem zurückhaltenden Umgang mit den hinzugewachsenen Kompetenzen bewegen sollte“ (Petschulat 2015: 387), oder um – formell über den Bundesrat oder auch informell – mehr Einfluss auf die Bundesgesetzgebung im Hinblick auf eine „länderfreundliche Bundesgesetzgebung“ zu nehmen

  • Allerdings weiß man bislang nur unvollständig, wie sich diese Veränderung der föderalen Kompetenzstruktur auf die materielle Umweltpolitik auswirkt, denn es gibt bislang dazu keine systematischen empirischen Untersuchungen. Neben einigen rechtswissenschaftlichen Beiträgen, die teils relativ früh erschienen sind und auch eine andere Fragestellung verfolgen gibt es zwei politikwissenschaftliche Überblicksbeiträgen. Die Naturschutzpolitik erwies sich bald als abweichungsintensiv. So wurden hier bereits bis zum 31.12.2012 161 Abweichungsgesetze beschlossen, es folgte der Bereich Wasserhaushalt mit 60 Abweichungen, während die Anzahl der Abweichungen in den Bereichen Jagdwesen (10) und Raumordnung (7) bis Ende 2012 gering blieb. In einer explorativen Studie stellen Töller und Roßegger für die Naturschutzpolitik fest, dass die Länder die Möglichkeit der Abweichungsgesetzgebung durchaus nutzen. In zeitlicher Hinsicht wurde besonders umfangreich direkt zu Beginn der Abweichungsmöglichkeit abgewichen: 62 % der Abweichungen wurden gleich im ersten Jahr (März 2010 - Februar 2011) beschlossen, aber 38 % auch danach. Besonders häufig weichen Schleswig-Holstein und – mit einigem Abstand – Bayern, Hamburg, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt ab.

  • Anhand der Abweichungen zum Vertragsnaturschutz wurde in dieser Untersuchung auch exemplarisch ausgewertet, ob die Bundesländer die Abweichungsgesetzgebung nur nutzen, um vorher (aus der Zeit der Rahmengesetzgebung) bestehende landesrechtliche Regelungen wiederherzustellen, oder ob sie darüber hinaus neue Regelungen („substantielle Abweichungen“) beschließen und ob diese eine Abweichung vom Bundesnaturschutzgesetz „nach oben“ oder „nach unten“ erkennen lassen. Es stellt sich heraus, dass die Länder in der Tat substantielle Abweichungen beschließen und hierbei – z. B. im Hinblick auf die Instrumente des Naturschutzes – eigene Akzente setzen, die teils auf eine Schwächung, teils aber auch auf eine Stärkung des Vertragsnaturschutzes gegenüber den Regelungen des BNatSchG hinauslaufen könnten. Mitunter nimmt dasselbe Land auch zuerst eine Stärkung und dann – nach einem Regierungswechsel – eine Schwächung des Vertragsnaturschutzes vor. Eine systematische Untersuchung der Abweichungen sowie ihrer Ursachen steht jedoch noch aus


Der Vollzug von Umweltpolitik in den Ländern


  • Unabhängig davon, ob Umweltgesetze auf der Bundes- oder der Landesebene verabschiedet werden, erfolgt der Vollzug der Umweltpolitik im deutschen System des „Vollzugsföderalismus“ durch die Länder, wodurch diese erhebliche den Ländern umweltpolitische Gestaltungsmacht erhalten . Sie führen Vorsorge-, Überwachungs-, Sanierungs- und Sanktionsmaßnahmen durch und stellen hierfür die administrativen Strukturen sowie die erforderlichen Ressourcen zur Verfügung. Die Organisation des Umweltschutzes in den Ländern kann dabei zwei grundsätzlichen Modellen folgen:

    • • dem Gebietsorganisationsmodell, bei dem alle Verwaltungsaufgaben in einem räumlichen Gebiet von einer Verwaltungseinheit (z.B. Landkreisamt, Bezirksregierung) wahrgenommen werden;

    • • dem Aufgabenorganisationsmodell, bei dem die Fachaufgaben vertikal von der oberen bis zu den unteren staatlichen Verwaltungsebenen fachlich vernetzt oder in einer ebenenübergreifenden fachlichen Säule gebündelt sind.

  • Einerseits sind in den letzten annähernd 30 Jahren durch die quantitative und qualitative Fortentwicklung des Umweltrechts, nicht zuletzt auf der europäischen Ebene, die Anforderungen an die vollziehenden Verwaltungen gewachsen. Andererseits kam es durch Reformen im Rahmen der New-Public-Management-Bewegung, angetrieben ebenso durch Haushaltsprobleme wie auch durch (eher ideologisch bedingte) „antibürokratische Affekte“, wie etwa die Bestrebungen zur Verfahrensbeschleunigung, zu deutlichen Einschnitten in die Kapazitäten der Umweltbehörden, auch wenn es erhebliche Unterschiede zwischen den Ländern gibt. Als Extremfall kann hier Niedersachsen gelten, wo es zu einem radikalen Umbau gekommen ist, während es z.B. in Bayern gelang, Einsparungen innerhalb hergebrachter Verwaltungsstrukturen zu erzielen

  • Drei wesentliche Entwicklungen lassen sich (vor allem in den Flächenländern) identifizieren (Ebinger 2009: 59ff.): Erstens ist es vielfach zu einer Fusion von Fachbehörden gekommen; zweitens wurden in vielen Bundesländern Sonderbehörden (z.B. staatliche Umweltämter) in die allgemeine Umweltverwaltung eingegliedert; drittens kam es zu einer Kommunalisierung von Aufgaben, d.h., den Kommunen wurde ein Teil der Verwaltungsaufgaben übertragen, die zuvor auf überkommunaler Ebene wahrgenommen winden. Zugleich ist der Umweltbereich, gerade auf der kommunalen Ebene, überdurchschnittlich von Personalabbau und Mittelkürzungen betroffen, wobei die Einspännigen im Bereich Naturschutz besonders gravierend sind. Ein Paradebeispiel für diese Entwicklungen ist Baden-Württemberg, das zum 01.01.2005 sämtliche unteren Fachbehörden des Umwelt- und Naturschutzes in die dreistufige Allgemeine Verwaltung des Landes eingliederte. Aufgelöst wurden neun Staatliche Gewerbeaufsichtsämter, vier Gewässerdirektionen und vier Bezirksstellen für Naturschutz und Landschaftspflege.

  • Aufgaben und Personal wurden auf die vier Regierungspräsidien sowie die 44 Landkreise und kreisfreien Städte aufgeteilt. Die kommunale Ebene erhielt nun umfassende Zuständigkeiten für den Umweltschutz, insbesondere in den Bereichen Gewässer-, Arbeits- und Immissionsschutz (Ebinger 2009: 60). Etwas anders gelagert ist die Entwicklung in Niedersachsen: Hier wurden durch die Verwaltungsreform vom 01.01.2005 die Bezirksregierungen einschließlich ihrer Umweltreferate sowie das Landesamt für Ökologie aufgelöst. Der neue Niedersächsische Landesbetrieb für Wasserwirtschaft und Küsten- und Naturschutz (der zuvor ohne Naturschutz firmiert hatte) übernahm als Nachfolgebehörde der Bezirksregierungen viele Aufgaben im Umweltschutz. Weitere Aufgaben gingen an die staatlichen Gewerbeaufsichtsämter, die Kreise und kreisfreien Städte

  • Bisherige Studien kamen zu dem Ergebnis, dass die Entwicklung insgesamt zu einer deutlichen Schwächung des Umwelt- und Naturschutzes geführt hat. Im Einzelnen wurden folgende Mechanismen identifiziert: Erstens eine Repolitisierung der Verfahren (d.h. Stärkung des Einflusses allgemeinpolitischer Argumente in umweltpolitischen Genehmigungs- und Aufsichtsverfahren, Ebinger 2009: 64) und damit einhergehend die Gefahr, „dass umweltpolitische Belange zugunsten anderer Erwägungen an Bedeutung verlieren“; zweitens eine Marginalisierung der Umweltverwaltung. Erfahrene und hochspezialisierte Arbeitsteams wurden auseinandergerissen (SRU 2007: 200), die UmweltexpertInnen sitzen seither meist mit vielen anderen Verwaltungen unter einem Dach und büßten an fachlicher Eigenständigkeit ein. Damit einher dürfte auch ein Kompetenzproblem gehen, denn viele Aufgaben, wie etwa die immissionsschutzrechtliche Anlagengenehmigung, setzen umfangreiche technisch-wissenschaftliche Kenntnisse voraus, die auf der kommunalen Ebene nur bedingt gegeben sind sowie drittens (insbesondere im Naturschutz) eine Flexibilisierung, d.h., eine Neigung, hoheitliche Maßnahmen zugunsten kooperativer Maßnahmen zurückzudrängen

  • Auch aus größerem zeitlichen Abstand betrachtet, zeigt sich, dass es nach verschiedenen Reformen der Umweltverwaltungen heutzutage Anzeichen für eine Mangelverwaltung gibt, dabei jedoch erhebliche Unterschiede zwischen den Verwaltungskapazitäten der Länder bestehen (Bogumil et al. 2016). Die Studie von Bogumil et al. zur Umweltverwaltung in Baden-Württemberg im Vergleich zu Bayern, NRW und Niedersachsen kommt zu dem Ergebnis, dass in der Folge in der Umweltpolitik einen „kritisch niedrigen Umsetzungsgrad der verabschiedeten Gesetze gibt“. Hierfür sind bei zunehmender Anzahl von EU-Verordnungen, Gesetzen und Rechtsverordnungen neben widersprüchlichen und schwer verständlichen Regeln selbst die mangelnden Verwaltungskapazitäten ursächlich. So ging in Baden-Württemberg zwischen 2006 und 2015 (für dieselben Aufgaben) die Personalausstattung infolge der Verwaltungsreform und verschiedener Einsparrunden um 25 % zurück. Damit steht das Land gegenüber den Vergleichsländern an letzter Stelle. Bayern hat die beste Personalausstattung, gefolgt von Niedersachsen und NRW. Daher verwundert es nicht, dass die Kontrolle des Vollzugs des Umweltrechts in Industrieanlagen z.B. in Bayern noch vergleichsweise umfassend, in anderen Bundesländern hingegen nur noch anlassbezogen erfolgt

  • Die Mangelverwaltung fällt in den Landratsämtern ausgeprägter aus als in den Regierungspräsidien. Im Ergebnis führen mangelhafte Ressourcen dazu, dass Notfallmaßnahmen und öffentlich positiv wahrgenommene Aufgaben Priorität genießen, während freiwillige Aufgaben und solche, deren Nichterledigung nicht direkt auffällt, im Zweifelsfalle vernachlässigt werden . Die daraus resultierenden nachteiligen Wirkungen betreffen nicht nur die Umwelt, sondern auch kleinere Unternehmen, die im Hinblick auf die umweltrechtlichen Anforderungen nicht angemessen beraten werden. Aber auch Landesumweltministerien können wesentliche Steuerungs- und Kontrollaufgaben aus Personalmangel nicht mehr wahrnehmen



Analysekonzepte und politische Prozesse in der Umweltpolitik


  • Prinzipiell gibt es zwei verschiedene Arten, wie man – zur Erklärung des Zustandekommens einer bestimmten Policy (einschließlich Varianz oder Wandel) – die einzelnen (oben behandelten) Erklärungsfaktoren mit einer Fragestellung und einem theoretischen Rahmen verbinden kann: Entweder kann man diese Erklärungsfaktoren (insbesondere Akteurseigenschaften vs. Institutionen) als sich gegenseitig ausschließende, also als konkurrierende Faktoren verstehen. Dies ist die Vorgehensweise insbesondere der vergleichenden Staatstätigkeitsforschung, die mit großen Fallzahlen und quantitativen Methoden (v.a. Regressionsanalysen) arbeitet. In der Umweltpolitikforschung gibt es einige wenige solcher Studien.

  • So geht beispielsweise die bereits erwähnte Studie von Liefferink und seinen Kollegen der Frage nach, ob die Strenge der umweltpolitischen Regulierung durch das ökonomische Entwicklungsniveau, die Institutionenstruktur, Kultur, Problemdruck, Handelsoffenheit oder EU-Mitgliedschaft bestimmt wird. Die meisten derartigen Studien untersuchen als zu erklärendes Phänomen allerdings nicht die eigentliche Umweltpolitik, sondern die Umweltleistung (etwa als Aggregatwert aus verschiedenen Emissionswerten etc., siehe Kap. 2.5) und gehen z.B. der Frage nach, ob diese durch die Beteiligung linker Parteien an der Regierung oder korporatistische Strukturen der Interessenvermittlung beeinflusst wird oder von den Institutionen des Regierungssystems

  • Studien, die das Zustandekommen von Policies in dieser Weise zu erklären versuchen, beschäftigen sich jedoch überwiegend mit anderen Politikfeldern als der Umweltpolitik, insbesondere mit der Sozialpolitik. Dies liegt u.a. daran, dass diese Vorgehensweise die Reduktion komplexer Politiken auf relativ einfache Zahlen erfordert, ein Vorgehen, das für die Sozialpolitik leichter möglich erscheint als für die Umweltpolitik

  • Alternativ zu einer Betrachtung verschiedener Erklärungsfaktoren kann auch nur die Wirkungsweise eines einzelnen Erklärungsfaktors analysiert werden.69 So hat Seeger, wie bereits erwähnt, untersucht, ob es einen Unterschied für die Umweltpolitik der Bundesländer macht, welche Parteien regieren. Töller hat in der Analyse der deutschen Frackingpolitik ebenfalls untersucht, welche Rolle Parteipolitik spielt. Newig et al. haben untersucht, ob partizipative Verfahren zu mehr Umweltschutz führen . Töller und Roßegger untersuchen in der oben erwähnten Studie, wie sich die Föderalismusreform auf die Naturschutzpolitik auswirkt (Töller/Roßegger 2018). Gründinger hat eine Studie zum Einfluss von Lobbyismus auf das deutsche Emissionshandelssystem vorgelegt, Seibt zum Einfluss von Wirtschaftsverbänden auf die deutsche Erneuerbare-Energien-Politik (Seibt 2015). Böcher hat untersucht, welche Rolle das Umweltbundesamt im Rahmen der Implementierung eines speziellen Falls innerhalb der europäischen Abfallpolitik spielt

  • Die zweite Variante, die ebenfalls darauf abzielt, das Zustandekommen einer bestimmten Policy (einschließlich Varianz oder Wandel) zu erklären, besteht darin, dass man verschiedene Erklärungsfaktoren miteinander kombiniert. Dazu wird üblicherweise ein analytischer Rahmen, wie etwa der in der Politikfeldanalyse sehr gebräuchliche akteurzentrierte Institutionalismus (AZI), verwendet. Dabei handelt es sich nicht um eine Theorie, sondern eine Forschungsheuristik, die den Blick auf einzelne oder die Kombination mehrerer Faktoren lenkt, die für die Erklärung von Policies von Bedeutung sind.

  • Der akteurzentrierte Institutionalismus ist anschlussfähig sowohl an institutionalistische als auch an akteursbezogene Erklärungsansätze. Hiermit kann es gelingen, das Zustandekommen umweltpolitischer Regelungen aus einem komplexen Zusammenspiel sowohl institutioneller Vorgaben als auch akteursbezogener Faktoren (z.B. Interessen, Überzeugungen, Parteipolitik etc.) zu erklären. Dies reflektiert den politikwissenschaftlichen Forschungsstand, denn soziale Phänomene (also auch Policies) sind in aller Regel nicht alleine durch einen einzelnen Faktor befriedigend erklärbar, sie sind vielmehr multikausal bedingt. Insbesondere, wenn man nicht mit rivalisierenden Hypothesen und Regressionsanalysen, sondern mit einer Kombination von Faktoren und qualitativen Analyseverfahren arbeitet, muss man sich notwendigerweise enger mit dem Verlauf politischer Prozesse befassen

  • Bei solchen Prozessanalysen liegen immer – implizite oder explizite – Annahmen über die Natur und Logik politischer Prozesse zugrunde. Die Neue Politische Ökonomie beispielsweise verwendet ein einfaches Konzept politischer Prozesse: sie sind der Kontext, in welchem für Akteure auf der Basis von Plausibilitätsannahmen bestimmte Interessen unterstellt werden und Aussagen darüber getroffen werden können, welche Akteursinteressen sich im politischen Prozess durchsetzen (Braun 1999). Dieses Zusammenspiel der Interessen determiniert das Politikergebnis, ohne dass dabei politische Prozesse eine Eigenlogik entfalten oder Institutionen eine besondere Rolle spielen. Das Verdienst der NPÖ-Analysen gerade zur Umweltpolitik besteht ohne Zweifel darin, grundlegende Interessenstrukturen aufzudecken und z.B. Hinweise darauf zu liefern, warum im politischen Prozess Wirtschaftsinteressen häufig mächtiger sind als Umweltschutzinteressen.

  • Sie können Phasen des politischen Prozesses erhellen, in denen es vorrangig um Macht und Interessen geht, also Politik ein Nullsummenspiel darstellt. Ganz allgemein können NPÖ-Ansätze politische Beharrung besser erklären als politische Veränderung und haben aufgrund ihrer deterministischen Grundannahmen Schwierigkeiten, dynamische Prozesse hinreichend zu erklären

  • In der Politikfeldanalyse gibt es eine Reihe unterschiedlicher Vorstellungen von politischen Prozessen, welche eine solche Dynamik des politischen Prozesses annehmen und die wir im Folgenden anhand zweier besonders häufig verwendeter Ansätze in idealtypischer (d.h. zugespitzter) Weise skizzieren: das Modell des Politikzyklus (Policy-Cycle), der politische Prozesse vorrangig als aus mehreren aufeinanderfolgenden Phasen bestehende Problemlösungsprozesse konzipiert (6.1), und den Multiple-Streams-Ansatz (MSA), der politische Maßnahmen (Policies) als das Ergebnis eines eher zufälligen Zusammentreffens verschiedener Ströme versteht (6.2). Dabei geht es uns nicht darum, verschiedene Erklärungsansätze insgesamt hinsichtlich ihrer Stärken und Schwächen zu diskutieren (denn dann müssten wir auch den besonders in der angelsächsischen Policy-Analyse populären Advocacy-Coalitions-Ansatz oder andere lern- oder diskursanalytische Ansätze diskutieren, was den Rahmen dieses Lehrbuchs bei Weitem sprengen würde). Uns geht es vielmehr darum, auf einem gedachten „Kontinuum“ der Analyse (umwelt-) politischer Prozesse zwei möglichst unterschiedliche Konzepte vorzustellen und zu kontrastieren.



Politik als Problemlösungsprozess: Der Politikzyklus


  • In der Politikfeldanalyse sehr beliebt ist das Modell des Politikzyklus. Der Politikzyklus stellt eine Phasenheuristik dar, die eine Reihe von Phasen benennt, die politische Prozesse durchlaufen können, an deren Ende das Politikergebnis, also die Produktion einer Policy, steht. Die einzelnen Phasen sind: 5. 1. die Problemdefinition, 6. 2. das Agenda Setting, 7. 3. die Politikformulierung, 8. 4. die Implementation, 9. 5. die Evaluation. Da es sich um ein Kreislaufmodell handelt, folgt auf die Evaluation üblicherweise eine erneute Problemdefinition, in seltenen Fällen auch die Terminierung, d.h., die Beendigung einer Policy

  • Die Heuristik des Politikzyklus ist ein nützliches Instrument, wenn es darum geht, einen politischen Prozess für die Analyse zu strukturieren (siehe z.B. Aden 2012: 89ff.). Er lenkt die Aufmerksamkeit beispielsweise darauf, dass Probleme nicht einfach da sind, sondern zuerst als solche definiert (Problemdefinition) und auf die politische Agenda gelangen müssen (Agenda Setting). Das ist für die Umweltpolitik eine besonders wichtige Erkenntnis, denn viele Umweltprobleme sind, wie oben bereits angesprochen, in starkem Maße wissensabhängig, so dass ein Problembewusstsein oft erst entstehen kann, wenn entweder Schadensfalle eintreten oder wissenschaftliche Studien bekannt werden, die z.B. die Schädlichkeit einer Substanz oder eines Prozesses beweisen oder zumindest deutliche Hinweise darauf geben. Beispiele sind die naturwissenschaftlichen Beweise für die Ozonschädlichkeit der FCKW in den 1970er Jahren, die Schädlichkeit von Chemikalien, wie z.B. PCP in Holzschutzmitteln, in den 1980er Jahren oder in jüngerer Zeit die Problematiken von Feinstaub und Stickoxiden in der Luft. Damit ein gesellschaftlich wahrgenommenes Problem auch auf die politische Agenda kommen kann, muss es Fürsprecher haben. Zudem müssen Konzepte vorliegen, mit welchen Instrumenten man dem Problem zu Leibe rücken kann. Damit eine Policy beschlossen wird, bedarf es politischer Mehrheiten.

  • Schließlich weist die gesonderte Betrachtung der Implementationsphase zu Recht auf einen Umstand hin, der heute selbstverständlich erscheint, der aber tatsächlich erst durch die Implementationsforschung der 1970er Jahre deutlich geworden ist: Die Verabschiedung ‘schöner' Gesetze bedeutet noch nicht, dass sich in der realen Welt irgendetwas ändert, denn die Implementation ist höchst voraussetzungsvoll: sie setzt im Wesentlichen implementierbare Gesetze, handlungsfähige (und -willige) Vollzugsbehörden und kooperationswillige Adressaten voraus. Gerade die Umweltpolitik ist für Implementationsdefizite besonders anfällig

  • Insofern ist der Politikzyklus nützlich, weil er – typisch für Heuristiken – auf Aspekte hinweist, die wichtig sein könnten. Er hat aber drei gravierende Schwächen. Die erste Schwäche ist in der Literatur ausgiebig diskutiert worden und muss hier nicht vertieft betrachtet werden: Der Politikzyklus beinhaltet eine idealtypische Abfolge von Phasen, die in realen politischen Prozessen ganz anders vorkommen kann. Die zweite Schwäche ist ebenfalls bereits diskutiert worden: der Politikzyklus hilft, Prozesse zu strukturieren und damit zu verstehen, er erklärt sie aber nicht, d.h., er enthält keinerlei theoretische Aussagen oder Annahmen, die zum Verständnis, warum eine bestimmte Policy so und nicht anders zustande gekommen ist, beitragen. Aus diesem Grunde ist der Politikzyklus für konkrete empirische Analysen der Umweltpolitik als erster Schritt nützlich, um den Prozess zu strukturieren und den Blick auf besonders interessierende Phasen des politischen Prozesses zu lenken. Er ist jedoch wenig hilfreich, wenn es um eine theoretisch gehaltvolle erklärende Analyse des umweltpolitischen Prozesses und seiner Ergebnisse geht.

  • Das dritte Problem ist besonders gravierend: Der Politikzyklus trägt den Problemlösungsbias in sich, und damit hat er gewissermaßen die Politikfeldanalyse als solche „infiziert“. Als Problemlösungsbias bezeichnet man (kritisch) eine Sichtweise politischer Prozesse in der Steuerungstheorie und der Politikfeldanalyse, die nicht fragt, „ob politische Akteure primär an der Lösung gesellschaftlicher Probleme orientiert sind, sondern unterstellt, dass dieses ihr dominantes Ziel [...] ist“. Dass politische Prozesse primär als Problemlösungsprozesse zu verstehen seien, ist eine der Grundannahmen der Politikfeldanalyse, wenngleich sie in den verschiedenen Beiträgen unterschiedlich stark ausgeprägt ist. Zu finden ist sie bereits beim Urvater der Politikfeldanalyse, Harold Dwight Lasswell, der politische Prozesse als „problem-solving activity“ beschreibt. Stark ausgeprägt ist die Annahme z.B. auch in der Einführung von Schneider/Janning (2006), die das entsprechende Kapitel bereits mit „Der Politik-Zyklus als Problemverarbeitungsprozess“ überschreiben und „Problemlösung“ sogar als Äquivalent für Policies verwenden (S. 48); Auch Howlett et al. sehen Probleme und „Lösungen“ als relativ eng gekoppelt: „... policy-making is fundamentally about constrained actors attempting to match policy goals with policy means in a process that can be characterized as ‘applied problem-solving.’”,

  • auch wenn die Autoren einräumen, dass dieser Prozess verkompliziert werden kann, z.B. durch unterschiedliche Problemwahrnehmungen, Wissen, Ideen und Normen. Die tiefere Ursache einer solchen Betrachtung liegt wohl auch in der Herkunft des Modells aus der Easton'schen Systemtheorie. Demnach besteht Politik im Kern darin, dass Forderungen (demands) an das politische System herangetragen und dort zu Outputs (politischen Entscheidungen) verarbeitet werden. Im Sinne eines kybernetischen Regelkreises ist es die Funktion des politischen Systems, durch Problemverarbeitung gesellschaftliche Inputs zu reduzieren. Das häufig kritisierte Problem eines solchen Politikverständnisses ist, dass politische Prozesse selbst, also das Herz dieses Regelkreises, als Black Box im Dunkeln bleiben und eben auch, dass Politik auf Problemlösung verengt wird.

  • Verschiedene Autoren haben sich kritisch mit der Wahrnehmung von Politik als Problemlösung auseinandergesetzt. Sie haben darauf hingewiesen, dass die Sichtweise von Politik als „Problemlösung“ zu einer Stilisierung politischer Prozesse führt und systematisch Aspekte wie Macht, Ideologien oder Zufall ausblendet. Mit einer solchen Fehldeutung von Politik als eher technischer Problemlösungsprozess würden die wahren Mechanismen politischer Prozesse verschleiert und somit nicht kritisch analysiert (Greven 2008). Dabei wird von den erwähnten Kritikern wie auch von uns nicht in Frage gestellt, dass PolitikerInnen und BürokratInnen auch von einem Interesse an Problemlösung angetrieben werden können. Ein Verständnis politischer Prozesse als Problemlösungsprozesse halten wir aber für eine „Rationalitätsfiktion“. Gemeint ist damit nicht Zweck-Rationalität im Sinne individueller Nutzenmaximierung (rational choice), sondern Rationalität im Sinne eines sachrational ausschließlich am Problem orientierten Entscheidungsprozesses. Diese verengte Interpretation politischer Prozesse führt – das werden wir weiter unten anhand der Umweltpolitik noch zeigen – nicht nur zu einer etwas verzerrten Wahrnehmung, sondern dazu, dass man Policies nicht adäquat erklären kann.


Politik als Zufallsprodukt: Der Multiple-Streams-Ansatz


  • Der Multiple-Streams-Ansatz (MSA) wurde in einem 1984 erstmals erschienenen Buch von dem amerikanischen Politikwissenschaftler John Kingdon entwickelt. Er verfolgte damit zunächst nicht die Entwicklung eines Analysemodells, sondern wollte vorrangig für seine Fälle aus der US-amerikanischen Gesundheits- und Verkehrspolitik erklären, warum manche (mitunter eher marginale) Probleme politisch thematisiert werden, während andere unbeachtet bleiben, und warum bestimmte Maßnahmen (Policies) in die Auswahl kommen und andere nicht (Kingdon 2003: 5ff.). Kingdon beschränkte sich dabei bewusst auf die Phasen des Agenda-Settings und der politischen Entscheidung. Da Kingdon selbst nach dem Band von 1984, der in mehreren Auflagen (zuletzt 2003) erschienen ist, keine Ambitionen hatte, den Ansatz weiter auszuarbeiten, hat sich u.a. Zahariadis mit dem MSA befasst und ihn weiterentwickelt.

  • Der Ansatz von Kingdon (1984; 2003) geht auf das sogenannte Garbage-Can-Modell von Cohen, March und Olsen (1972) zurück und sieht Regierungssysteme zunächst als organisierte Anarchien, die durch formale Regeln und Organisationen nur unzureichend beschrieben werden können. Innerhalb dieser Regierungssysteme gibt es drei Ströme, die sich relativ unabhängig voneinander fortbewegen: den Problems-Strom, den Policy-Strom und den Politics-Strom

  • Den Problems-Strom beschreibt Kingdon als das konkurrierende Nebeneinander einer ganzen Reihe potenzieller Probleme, die grundsätzlich alle auf die Agenda gelangen könnten. Das Auftauchen eines bestimmten Problems auf der politischen Agenda wird aus der Perspektive des MSA insbesondere möglich durch bestimmte Indikatoren (hier übersetzen Zahlen wie Arbeitslosenquoten oder Meinungsumfragen komplexe Materien in einfache Botschaften, Kingdon 2003: 90ff.); durch „focusing events“ wie Krisen (z.B. ein Flugzeugabsturz oder eine Umweltkatastrophe), die die öffentliche Aufmerksamkeit auf ein bestimmtes Problem lenken; oder durch eine (negative) Evaluation früherer Politikentscheidungen

  • Den Policy-Strom bezeichnet Kingdon auch als „politische Ursuppe“ (Kingdon 2003: 116ff.): hierin ‚schwimmen‘ zahlreiche denkbare Lösungen für unterschiedliche Probleme und zum Teil auch völlig unabhängig von konkreten Problemen, fleißig produziert von FachpolitikerInnen, ExpertInnen, Think Tanks und Bürokraten. Grundsätzlich sind daher sehr unterschiedliche Policies denkbar. Allerdings muss sich eine Policy durch bestimmte Eigenschaften auszeichnen, um in den Politikformulierungsprozess eingespeist zu werden: so muss sie normativ akzeptabel und technisch realisierbar sein, und es muss gewährleistet sein, dass der Vorschlag ohne allzu große Widerstände implementiert werden kann.

  • Der dritte Strom ist der Politics-Strom und enthält insbesondere die öffentliche Meinung („national mood“), die Macht von gesellschaftlichen Organisationen sowie politische Mehrheiten und politische Ideologien

  • Zu Policy-Wandel kommt es insbesondere, wenn gleichzeitig ein bestimmtes Policy-Problem auf die Agenda gelangt, sich Veränderungen im Politics- Strom ergeben (etwa durch Wahlen, öffentlichen Stimmungsumschwung oder den Druck mächtiger organisierter Interessen) und eine geeignete Policy zur Hand ist (Kingdon 2003: 165). Policy Entrepreneure als wichtige Schlüsselakteure haben dabei die zentrale Aufgabe, thematisierte Probleme mit bestimmten Policies zu verbinden und damit auch die Gelegenheit, „to push their pet solutions, or to push attention to their special problems“ . Unter diesen Voraussetzungen und in diesem „critical moment in time“ öffne sich ein „politisches Gelegenheitsfenster“ („policy window“) für einen Wandel.

  • In diesem Modell politischer Prozesse spielen Zufalle und Eigendynamiken eine wichtige Rolle. Politik ist kein rationaler Prozess der schrittweisen Problemlösung, sondern vielmehr eine manchmal chaotische Kopplung von Problemen und Lösungen. Kingdons Fallstudien „don't have the flavor of a rational, comprehensive approach to problem solving. Often the participants are not solving problems at all.“ Nach der Überzeugung von Cohen, March und Olsen, auf die sich Kingdon bezieht, ist Politik: ... a collection of choices looking for problems; issues and feelings looking for decision situations in which they might be aired; solutions looking for issues to which they might be the answer; and decision-makers looking for work.“

  • Das heißt, nicht selten suchen sich die Lösungen ihre Probleme und nicht umgekehrt (Kingdon 2003: 18), ein Umstand, der in jüngerer Zeit im Kontext der Umweltpolitik auch als „problem surfing“ bezeichnet worden ist. Dabei verfolgen PolitikerInnen eben andere Ziele als die Lösung von Problemen, z.B. das Ziel, sich selbst zu positionieren. Mit einer solchen Sicht politischer Prozesse verabschiedet man sich zwangsläufig von der Vorstellung, Politik sei vorrangig Problemlösung. Stattdessen werden „Staat und Regierung als Träger eines Gemeinwohls entmystifiziert, [...] als einheitlich handelnde Akteure entzaubert“ und als konfligierende Einheiten erfasst

  • Der Ansatz wird in u.a. der Umweltpolitikforschung verwendet, um Politikwandel zu erklären. So arbeitet Brunner mit dem Ansatz, um „the sudden move from overgenerous grandfathering to tight caps and auctioning within the German emission trading regime in the first half of 2007“ zu erklären. Ideal lässt sich mit diesem Ansatz der Atomausstieg von 2011 erklären: Durch das Unglück von Fukushima als „focusing event“ und ein sich erneut öffnendes „Policy-Window“ geriet die Atomenergie als gravierendes Problem auf die politische Agenda („Problem-Strom“), nachdem sie gerade erst als Lösung für das Klimaproblem umgedeutet worden war. Die bevorstehenden Landtagswahlen und die atomkritische Stimmung in der Bevölkerung („Politics- Strom“) führten dazu, dass der Atomausstieg als Lösung wieder aufgegriffen wurde („Policy-Strom“) – und das von einer Regierung, die mit dem Ziel seiner Abschaffung angetreten war

  • Allerdings ist auch der MSA in verschiedener Hinsicht kritisiert worden: Erstens gilt es als umstritten, ob dieser erklärtermaßen für die USA entwickelte Ansatz überhaupt für europäische (in der Regel parlamentarische) Regierungssysteme verwendbar ist (Zahariadis 2007); zweitens sind die Annahmen insgesamt sehr allgemein und erlauben es kaum, empirisch überprüfbare Hypothesen abzuleiten, die falsifizierbar sind. So sei der MSA so allgemein formuliert, dass seine Aussagen ex-post auf jeden beobachteten politischen Wandel übertragbar seien und anschließend die entsprechenden drei Ströme, die Policy-Windows und die Policy Entrepreneure anhand des Falles so rekonstruiert würden, dass der MSA die Erklärung leisten kann. Salopp ausgedrückt wird kritisiert, dass der Ansatz immer passe bzw. im Nachhinein passend gemacht wird. Drittens wird bezweifelt, dass die drei Ströme tatsächlich unabhängig voneinander seien. Viertens schließlich ist vielfach kritisiert worden, dass Institutionen in diesem Ansatz keine relevante Rolle spielen und Interessen in ihrer Bedeutung unterschätzt werden, was für eine umfassende Erklärung umweltpolitischer Prozesse problematisch ist.

  • Der MSA ist in den letzten Jahren stark in den Fokus der Policyanalyse gerückt, und es gibt eine Reihe von neueren Beiträgen, die sich u.a. zur Aufgabe gemacht haben, ihn zu überarbeiten und besser anwendbar zu machen, auch wenn dabei sehr oft einzelne Aspekte des Ansatzes im Mittelpunkt stehen, z.B. die Rolle von Policy Entrepreneuren im politischen Prozess oder die Rolle von Focusing Events

  • Innerhalb einer grundsätzlicher angedachten Erweiterung des MSA haben z.B. Zohlnhöfer et al. versucht, die Rolle formaler Institutionen für den politischen Prozess besser zu verankern. Weitere Erweiterungen beziehen sich insbesondere auf die Anwendung des MSA auf andere Länder und politische Systeme. Ein jüngeres Beispiel ist die Analyse deutscher arbeitsmarktpolitischer Reformen anhand eines erweiterten MSA durch Zohlnhöfer (2014). Weitere Erweiterungen des MSA betreffen die Integration von Aspekten des politischen Prozesses über Agenda-Setting und Politikentscheidung hinaus sowie hinsichtlich bestimmter politikfeldanalytischer Konzepte (z.B. Politiknetzwerke, transnationale policy communities. Zudem galten eigenständige MSA-orientierte Untersuchungen den Eigenschaften der Policy-Windows (Herweg 2015: 340 ff.) und den Verkopplungsmechanismen der verschiedenen Ströme. Hinsichtlich der letztgenannten Aspekte werden z.B. unterschiedliche Verkopplungsmechanismen, die beim Agenda-Setting und bei der Entscheidungsfindung auftreten, voneinander unterschieden

  • Was einzelne, im MSA relevante, Aspekte und deren Weiterentwicklung angeht, wird insbesondere (von Anfang an relativ unabhängig vom MSA) die Rolle von Policy-Entrepreneuren für politische Prozesse diskutiert und deren Funktion als zentrale Akteure für die Entstehung von Politikwandel herausgestellt. Insgesamt ist der MSA ein mittlerweile vielgenutzter, wenn auch nicht unumstrittener Ansatz, um politische Prozesse, auch in der Umweltpolitik, besser analysieren und deren Verlauf besser erklären zu können


Politische Prozesse in der Umweltpolitik


  • Gerade in der Umweltpolitik kann man anhand vieler Beispiele zeigen, dass eine Wahrnehmung politischer Prozesse als reine Problemlösungsprozesse nicht nur zu einer leicht verzerrten, letztlich aber adäquaten Wahrnehmung, sondern mitunter auch zu falschen Ergebnissen führt. Stattdessen hilft etwa die Perspektive des MSA, politische Prozesse und ihre Ergebnisse besser zu erklären. Ein Beispiel hierfür ist die Diskussion über umweltpolitische Instrumente, die häufig von der (alltagstheoretischen) Vorstellung beherrscht ist, die am Gemeinwohl orientierten PolitikerInnen wählten dasjenige Instrument im Sinne eines Werkzeugs aus, das für ein definiertes Problem am besten geeignet ist („Instrumentenkasten-Philosophie“,). Das führt dann z.B. dazu, dass sich Ökonomen wundern, wenn die marktwirtschaftlichen Instrumente aus den ökonomischen Lehrbüchern kaum Anwendung finden, obwohl sie die (vermutlich) effektivsten und effizientesten verfügbaren Instrumente sind Was dabei ausgeblendet wird, ist, dass solche Instrumente (s.o.) in unterschiedlich hohem Maße Kosten transparent machen und es daher in den politischen Prozessen zu stärkeren Konflikten kommen kann, was die Verabschiedung solcher Policies gerade behindert. Auch die politischen Risiken, die Entscheidungsträger eingehen, wenn sie völlig neue Instrumente (z.B. Quote-Zertifikatsmodelle) erstmalig verwenden, werden häufig nicht thematisiert.

  • Zudem wird die ideologische Dimension von Instrumenten ausgeblendet. Policy-Instrumente sind keinesfalls rein technische Mittel zur Erreichung politischer Ziele, sondern in sich und ihren zugrunde liegenden ideologischen Konzepten schon politisch. Handlungsformen haben fast immer eine ideologische Dimension, die Vorstellungen davon enthält, was der Staat ist, was er tun und wie er dies tun soll. Daher haben auch parteipolitische Akteure neben ihrem Interesse an Umweltschutz ganz unterschiedliche Präferenzen für politische Instrumente, die eine normative Vorstellung davon transportieren, wie die Welt sein soll (siehe auch Kap. 2.4). Ellen Immergut hat darauf hingewiesen, dass Akteure, die sich für bestimmte Instrumente entscheiden, immer auch für die Weltbilder dahinter, z.B. für bestimmte Demokratiemodelle, entscheiden

  • Vor allem im Kontext der „Standort-Deutschland-Debatte“ ab 1994 bekam z.B. die Verwendung von Umweltvereinbarungen in Deutschland, die bis dahin eher pragmatisch und problembezogen erfolgt war, eine erstaunliche Eigendynamik. In einem politischen Klima der Deregulierung gerieten Vereinbarungen zum „Selbstzweck“ und wurden für alle möglichen und unmöglichen Probleme verwendet. Dies demonstriert die Erklärungskraft des Multiple-Streams-Ansatzes in der Umweltpolitik, denn wir haben es hier mit Policies zu tun, die ein „Eigenleben“ führen und relativ unabhängig von den Problems, befördert durch Politics, etwa ein Klima der Deregulierung und entsprechende politische Mehrheiten, favorisiert werden. Ähnlich ist es mit verhaltenswissenschaftlich informierten Instrumenten, die heute beliebt sind und für viele in Frage kommende Probleme erwogen werden, weil sie ein gleichermaßen modernes wie liberales „Image“ haben.

  • Ein anderes Beispiel stellt das umweltpolitische Instrument des Emissionshandels dar. Von Umweltökonomen lange als effizientes und treffsicheres umweltpolitisches Instrument gepriesen, sprechen andere wirtschaftskritischere Autoren von, Ablasshandel gegen Klimawandel“ und fordern alternative Instrumente gegenüber dem Markt als umweltpolitische Koordinationsmechanismen. Die Konjunktur von marktbasierten Lösungen kann also abschwingen, wenn ökonomische Krisen auftreten und im öffentlichen Diskurs wirtschaftskritischere Positionen an Einfluss gewinnen. Dies hat dann nichts damit zu tun, welches Instrument rein sachrational das geeignetste sein könnte.

  • Zum Problemlösungsbias gehört auch die gerade in der Umweltpolitik sehr verbreitete funktionalistische Annahme, dass Policies (insbesondere sogenannte „weiche“ Instrumente), wenn sie nicht erfolgreich sind, durch andere, z.B. stärker autoritative Instrumente abgelöst werden. Das ist eine Annahme, die auch hinter der Metapher einer „Kooperation im Schatten der Hierarchie“ steht: Wenn kooperative Politik nicht erfolgreich ist, wird sie durch autoritative Politik ersetzt, oder wie Claus Offe formuliert hat: „Bei Fehlentwicklungen, Regelverletzungen usw. [können] staatliche Organe jederzeit auf dem Weg der ‚Ersatzvornahme‘ einschreiten“ (Offe 1987: 318). Ein Feld, in dem üblicherweise so argumentiert wird, sind z.B. Umweltvereinbarungen.

  • Genauer wird häufig (implizit oder explizit) angenommen, dass Vereinbarungen dann fortgesetzt werden, wenn sie erfolgreich sind, und dann beendet werden, wenn sie nicht erfolgreich sind, denn im Kern geht es ja um Problemlösung. In einer empirischen Studie über Umweltvereinbarungen konnte etwa im Bereich Abfallpolitik gezeigt werden, dass Erfolg oder Misserfolg von Vereinbarungen kaum eine Rolle spielt für die Frage, ob eine Vereinbarung fortgesetzt oder aufgekündigt und durch eine gesetzliche Maßnahme ersetzt wird. Es gibt Maßnahmen, die fortgesetzt wurden, obwohl sie erfolglos waren (z.B. lange Zeit die Verpackungsverordnung mit DSD), und zwar, weil Alternativen mehrfach im Bundesrat scheiterten. Und es gibt Maßnahmen, die abgelöst wurden, obwohl sie leidlich erfolgreich waren (wie die Altauto-Regelung), und zwar z.B., weil das europäische Recht dies verlangte. Ein aktuelles Beispiel hierfür ist die 2016 geschlossenen Vereinbarung des BMU mit dem Handelsverband HDE zur Reduzierung von Plastiktüten (BMUB/HDE 2016). Obwohl die Vereinbarung maßgeblich dazu beigetragen hat, den Pro-Kopf-Verbrauch von Plastiktüten innerhalb von zwei Jahren um rund zwei Drittel zu senken (BMU 2018), kündigte die Bundesumweltministerin im September 2019 an, ein Verbot von Plastiktüten einführen zu wollen

  • Zwar kommt man, wie gezeigt, mit einem Verständnis politischer Prozesse, das die Politik nicht als sachrationalen Problemlösungsprozess versteht, schon deutlich weiter, aber ein weiteres Problem kann der MSA bislang nicht lösen: dass nämlich viele umweltpolitische Analysen die Bedeutung von Institutionen (in einem Verständnis als den umweltpolitischen Prozess rahmende Regeln) vernachlässigen. So kann man beispielsweise bei einer vergleichenden Betrachtung der Verwendung von kooperativen Instrumenten in Deutschland und den USA zeigen, dass in beiden Fällen Institutionen eine wichtige Rolle spielten, um zu erklären, warum sich staatliche Akteure auf kooperative Politikformen einlassen – allerdings spielen in beiden Fällen unterschiedliche Institutionen eine Rolle. In Deutschland waren es vor allem das europäische Recht sowie (in Maßen) die Rolle des Bundeskartellamtes, während es in den USA vor allem die rechtlich gesicherten Beteiligungs- und Klagerechte der Umweltverbände waren, die die amerikanische Umweltbehörde EPA motiviert haben, kooperative Instrumente in der Umweltpolitik auszuprobieren, weil man so „an den Umweltverbänden vorbei“ regeln kann (Töller 2008). In der deutschen Debatte um Ökosteuern der 1990er Jahre wurde lange Zeit gefordert, reine CO2-Steuern einzuführen und Kritik geäußert, dass die tatsächliche Ausgestaltung auf den lange existierenden Mineralölsteuern basiert. Jedoch macht die deutsche Finanzverfassung klare Vorgaben für neue Steuern, und eine Reihe von Gutachten geht davon aus, dass eine wirkliche CO2- Steuer nicht konform mit dem deutschen Grundgesetz wäre (Böcher 2012a).

  • Auch diese Detailfrage zur Ausgestaltung von Ökosteuern und zur Erklärung des am Ende des politischen Prozesses stehenden Politikergebnisses (Policy) „Ökologische Steuerreform“ kann nur dann hinreichend erklärt werden, wenn man Institutionen wie das geltende Verfassungsrecht in ihrer den umweltpolitischen Prozess prägenden Wirkung in die Analyse einbezieht. Dass diese institutionelle Rahmenbedingung nach wie vor sehr relevant ist, zeigt die aktuelle Diskussion um die mögliche Einführung einer CO2-Steuer im Rahmen der Klimapolitikbeschlüsse der Bundesregierung 2019. Hier wurden erneut möglicherweise verfassungswidrige Aspekte eines solchen Instruments diskutiert

  • Ebenso kann man den Atomkonsens von 2000/2001 nicht verstehen, wenn man nur die parteipolitischen Positionen innerhalb der rot-grünen Regierung einerseits und die Interessen und Machtpositionen der Energiekonzerne andererseits betrachtet. Warum am Ende ein „Konsens“ zustande kam, der inhaltlich vergleichsweise lange Restlaufzeiten vorsah und in der Form als rechtlich unverbindliche Vereinbarung zustande kam, hat vor allem auch institutionelle Ursachen: Eine gesetzlich verfügte Befristung der einmal unbefristet erteilten Betriebsgenehmigungen für die Atomkraftwerke hätte möglicherweise (das Ganze war zwischen den zu Gutachten herangezogenen Juristen höchst umstritten, siehe di Fabio 1999; Denninger 2000; Koch 2000) einen Eingriff in die in Art. 14 GG festgelegte Eigentumsgarantie dargestellt, der die Energiekonzerne zu enormen Entschädigungsforderungen berechtigt hätte und dann für die Allgemeinheit sehr teuer geworden wäre. Daher war der Verhandlungsweg ein institutionell verursachter Versuch der Risikominimierung auf Seiten staatlicher Akteure, der aber natürlich Auswirkungen auf den Inhalt (insbesondere die vereinbarten Restlaufzeiten) hatte, denn einer Verhandlungslösung müssen beide Seiten zustimme

  • Wir sehen also, dass man mit dem Prozessverständnis des MSA einerseits vieles besser erklären kann als mit dem Prozessverständnis des Policy-Cycles. Andererseits gelingt es auch mit dem MSA nicht, den wesentlichen Einfluss der Institutionen zu berücksichtigen.



Ansatz eigendynamischer politischer Prozesse (AEP) zur Erklärung von Umweltpolitik


  • Abschließend stellen wir unseren „Ansatz eigendynamischer politischer Prozesse“ (AEP) vor, den wir zur Analyse und Erklärung von Umweltpolitik (Policies) verwenden und den wir bereits an anderer Stelle zur Erklärung von Instrumentenwahl und Instrumentenwandel in der Umweltpolitik vorgestellt haben (Böcher/Töller 2007). Dieser geht von Überlegungen von Larry Kiser und Elinor Ostrom (1982) aus und begreift (ähnlich wie der akteurzentrierte Institutionalismus von Mayntz und Scharpf) das Zusammenspiel des Handelns von Akteuren mit den Einflüssen relevanter Institutionen als zentrale Erklärungsfaktoren. Hinzu kommen zur Analyse der Umweltpolitik insbesondere Problemstrukturen, die Bandbreite alternativer Maßnahmen sowie situative Aspekte (siehe Abb. 13) als weitere Erklärungsfaktoren. Der Ansatz enthält aber ein Verständnis politischer Prozesse, das stark von Kingdons Multiple-Streams-Ansatz inspiriert worden ist. Die folgende Abbildung soll deutlich machen, dass in politischen Prozessen immer grundsätzlich mehrere Policies möglich sind.

  • Unser Ansatz steht dabei in der Tradition empirisch-analytischer Politikforschung und folgt einem analytischen Wissenschaftsverständnis (Krott 2012). Damit sollen umweltpolitische Prozesse ohne die gerade in der Umweltpolitikforschung häufig anzutreffende (oft implizite) normative Schlagseite analysiert werden, indem kausale Mechanismen in der Umweltpolitik transparent und einer empirischen Analyse zugänglich gemacht werden. Diese Analyse soll Hinweise darauf liefern, wie umweltpolitische Prozesse verlaufen und wie und warum umweltpolitische Policies zustande kommen. Die Erklärungsfaktoren Akteure und ihre Handlungen, Institutionen, Problemstrukturen, (Maßnahmen-) Alternativen und situative Aspekte beeinflussen umweltpolitische Ergebnisse. Es ist zu beachten, dass sich die einzelnen Erklärungsfaktoren: . 1. (über das gemeinsame Scharnier der Akteure und ihrer Handlungen) wechselseitig beeinflussen und 2. jeweils für sich – einer Eigendynamik unterliegen.

  • Eigendynamik ist das Gegenkonzept zur Problemlösung: Akteure verhalten sich in politischen Prozessen so, wie es ihrer eigenen Dynamik entspricht, also z.B. geleitet von Interessen an bestimmten, profilierungsfähigen Problemen und Politiken. Instrumente werden so behandelt, wie es ihrer eigenen Dynamik entspricht: nicht sachrational als technisches Mittel zur Erreichung eines Ziels, sondern auch (oder vor allem) nach ideologischen und interessengeleiteten Gesichtspunkten; Probleme verhalten sich eigendynamisch, insofern die Auswahl relevanter Probleme etwa mit der Profilierungsmöglichkeit für Akteure oder mit dem Vorhandensein einfacher oder gut vermittelbarer Lösungen zu tun hat. Institutionen entwickeln eigene Dynamiken, indem sie nicht nur zielgerichtete Anpassungs- sondern auch eigenwillige Ausweichreaktionen provozieren

  • So werden Policies erzeugt, jedoch nicht zwangsläufig im Sinne einer Problemlösung, der ein linearer Politikprozess vorausgeht. Mit der Verabschiedung einer Policy kommt der politische Prozess zudem nicht zu einem Ende – vielmehr wirken die Politik(zwischen)ergebnisse wieder auf den politischen Prozess ein und beeinflussen weitere politische Prozesse und Policies.

  • Unser Ansatz ist im Kern handlungstheoretisch: Policies im Allgemeinen und Umweltpolitiken im Besonderen sind das Resultat von Akteurshandeln. Akteure können dabei, wie oben in Kap. 4.1 ausgeführt, individuelle, kollektive oder korporative Akteure sein. Akteurshandeln kann grundsätzlich sowohl durch Interessen zweckrational (allerdings auf der Basis von „Bounded Rationality“) im Sinne von Machterwerb und Machterhaltung als auch durch kognitive und normative Überzeugungen wertrational geleitet werden. Parteipolitisch gesteuertes Akteurshandeln beispielsweise ist eine Mischung aus beidem.

  • Ob im Einzelfall zweckrationales oder wertrationales Handeln zum Tragen kommt, ist zum Beispiel von der politischen Problemstruktur abhängig: Produziert die Problemstruktur einen reinen Verteilungskampf, bei dem es darum geht, dass bestimmte Gruppen nur auf Kosten anderer gewinnen können (redistributive Politik), liegt es nahe, dass insbesondere zweckrationales Handeln dominiert. Geht es dagegen um die Diskussion von politischen Alternativen, bei denen Kosten- und Nutzenverteilung noch nicht klar sind, oder es gelingt bestimmten Akteuren, zum Beispiel unterstützt durch besondere situative Aspekte wie Katastrophen, ihre Policy-Vorstellung gegenüber anderen durchzusetzen, auch wenn diese dabei „verlieren“, können wertrationale Aspekte relevant sein und Policy-Wandel wird möglich.

  • Dabei ist das Handeln von Akteuren fast immer institutionell geprägt. Sei es, dass institutionelle Regeln Akteuren überhaupt das formelle Recht einräumen, zu handeln, sei es, dass Institutionen Handlungen blockieren, zumindest klare Vorgaben für erlaubte und unerlaubte Handlungen machen oder Ausweichstrategien provozieren (siehe Kap. 5.1). Ob und wie Akteure in Policy-Prozessen handeln, hängt vom Vorhandensein und der Struktur politisch definierter Probleme, der Konjunktur öffentlicher Diskurse über alternative politische Maßnahmen, der Verfügbarkeit geeigneter Instrumente und auch von politischen Logiken ab. Hiermit kann etwa das Bedürfnis einer Ministerin gemeint sein, sich mit einer umweltpolitischen Initiative angesichts einer bevorstehenden Landtagswahl zu profilieren, das Interesse eines Abgeordneten, sich als Fachpolitiker hervorzutun oder das Interesse des Umweltbundesamtes, seine eigenen institutionellen Ressourcen zu sichern, indem es zu einem bestimmten Umweltthema öffentlich Stellung bezieht oder gar zu umweltpolitischen Themen eine vom BMU abweichende Position vertritt

  • Hier kommt unsere oben bereits skizzierte Grundannahme ins Spiel, die unseren Ansatz von anderen Ansätzen unterscheidet: Politische Prozesse sind keine (bzw. nur in den allerseltensten Fällen) reinen Problemlösungsprozesse (ob Policies tatsächlich am Ende Probleme lösen oder vielmehr, wie Greven [2008] zu Recht anspricht, neue Probleme schaffen, ist letztlich eine Frage der Evaluation). Das heißt, politische Prozesse werden nicht alleine dadurch angetrieben, dass ein politisches Problem klar definiert und dann eine passende und mehrheitsfähige Lösung gesucht wird. So schreiben Smeddinck/Tils in ihrem Beitrag über die Rolle der Ministerialbürokratie beim Zustandekommen des Bundes-Bodenschutzgesetzes: „Das in frühen Politikfeldanalysen hochgehaltene Stimulus-Response-Schema, wonach erst ‚objektive‘ Probleme entstehen, der politische Sektor darauf mit Programmen reagiert und sie – möglicherweise gegen Widerstand – durchsetzt, hat mit den faktischen Abläufen politischer Gesetzgebungsprozesse nicht (mehr) viel gemein.“

  • Politische Prozesse werden vielmehr durch zwei wesentliche Faktoren bestimmt: erstens können weder die politischen Akteure noch die Öffentlichkeit eine beliebige Anzahl von Themen zur selben Zeit behandeln. Weil also Zeit und Aufmerksamkeit knappe Güter sind, müssen Akteure Themen nach bestimmten Relevanzkriterien ordnen. Zweitens führen die einzelnen Aspekte (die wir als Erklärungsfaktoren benennen, insbesondere Akteure, Probleme, Institutionen und (Maßnahmen)-Alternativen) ein „Eigenleben“, oder, um es anders zu formulieren, sie entwickeln sich eigendynamisch. Das heißt, sie bewegen sich zunächst aus eigenem Antrieb und sind nicht vollständig steuerbar

  • Die Dynamik von Akteuren und Akteurshandeln in der Umweltpolitik lässt sich durch die klassische Differenzierung zwischen politischen Akteuren und Verwaltungsakteuren zumindest präzisieren. Dürfte den Akteuren in der Ministerialverwaltung noch eher eine Orientierung an Problemadäquanz unterstellt werden, so geht es ebenso auch um die Verwirklichung einer spezifisch fachlichen Sicht der Dinge oder um die Erhaltung von organisatorischen Ressourcen. Bei politischen Akteuren spielt sicherlich die Akzeptanz von Themen und Maßnahmen bei der Wählerschaft eine wichtige Rolle, aber ebenso geht es darum, eigene Ideologien zu verwirklichen, Stimmen oder Ressourcen zu maximieren, wichtige Interessenvertreter zu gewinnen, sich zu profilieren, sich gegenüber anderen Akteuren durchzusetzen, Handlungsfähigkeit zu demonstrieren, Allianzen zu schmieden, Tauschgeschäfte vorzunehmen etc.. Probleme zu lösen ist prinzipiell nur eines von vielen möglichen Motiven, die Akteure verfolgen.

  • Ein Beispiel hierfür ist der Fall des PCP-Verbots aus dem Jahr 1987: Der Stoff wurde zu Beginn der 1980er Jahre noch in Holzschutzmitteln verwendet, stand aber schon länger im Verdacht, schwere Gesundheitsschäden auszulösen. 1985 wurde auf der Basis einer 1984 geschlossenen freiwilligen Vereinbarung die Produktion von PCP in Deutschland eingestellt. Eine Verbotsverordnung wurde 1986 vom ersten Umweltminister Walter Wallmann in Angriff genommen und von Klaus Töpfer dann verabschiedet, als vor dem Hintergrund des Sandoz-Unglücks von 1986 die Opposition die schleppende Implementation des Chemikaliengesetzes kritisierte – das Problem PCP hatte sich da (jedenfalls auf der regulativen Ebene) aber schon weitgehend erledigt

  • Die Eigendynamik von Problemen in der Umweltpolitik lässt sich, wie in diesem Band an vielen Stellen schon angesprochen, mit den Überlegungen Kingdons gut erfassen. Nicht allein die Schwere einer ökologischen Sachlage gibt den Ausschlag dafür, ob etwas als umweltpolitisches Problem definiert wird (manchmal scheint das Gegenteil der Fall zu sein). Die wichtigsten Anlässe, über die umweltpolitische Probleme definiert werden, sind:

    • Unfälle und Umweltkatastrophen, die in der Regel bereits bestehende und einem Fachpublikum durchaus bekannte Risiken und Gefahrenlagen einem breiteren Publikum bewusst machen und damit erheblich zur Problemdefinition beitragen können. Bislang die prominentesten Beispiele sind der Reaktorunfall von Tschernobyl, der massiv zu einer Wahrnehmung der Kernenergie als Problem (und nicht als Lösung, wie zuvor lange angenommen) beigetragen hat, und die japanische Atomkatastrophe von Fukushima. Diese förderte – bis auf die Tatsache, dass auch moderne Reaktortypen in Industriestaaten, in denen hohe Sicherheitsstandards herrschen, durch Naturkatastrophen gefährdet sein können – für die grundsätzliche Gefahrenbewertung nicht wirklich neue Erkenntnisse zutage, führte aber zu einer neuen Bewertung bereits bestehender Erkenntnisse. In der Literatur über die policy-verändernde Wirkung von Krisen wird zwar davon ausgegangen, dass Krisen zu einer öffentlichen Thematisierung führen, ein Policy-Wandel, zumal wie der deutsche Atomausstieg nach Fukushima, ist aber die absolute Ausnahme .

    • • Wissenschaftliche Erkenntnisse, die die Existenz vieler Umweltprobleme (von den Gesundheitsgefahren durch Asbest und PCP über die Ozonzerstörung durch FCKW und die Klimaschädlichkeit von CO2-Emissionen bis hin zur Feinstaubproblematik) überhaupt erst bekannt machen und auf die politische Agenda bringen

  • Manchmal spielen beide Faktoren auch zusammen. So verabschiedete die EG nach dem verheerenden Dioxin-Unglück von Seveso in Italien 1976 im Jahr 1982 die sogenannte Seveso-Richtlinie und später die Seveso II- und die Seveso III-Richtlinie, die eine Reihe von Maßnahmen zur Verhinderung solcher Industrieunfalle enthielten. Auf der Basis dieser drei Seveso-Richtlinien wurde u.a. eine europaweite Datenbank aufgebaut, die Industrieunfalle auflistet und auch Informationen über ihre Ursachen enthält. Diese EG-weite Sammlung und Auswertung von Daten ergab unter anderem, dass bei 90 % aller Industrieunfälle Managementfehler ursächlich sind , was wiederum die Basis für neue, stärker am Management ansetzende Regelungsansätze war. Allerdings müssen sowohl Unfälle und Katastrophen als auch wissenschaftliche Erkenntnisse von Akteuren aufgegriffen und aktiv thematisiert werden

  • Ein aktuelleres Beispiel aus der Landesumweltpolitik zeigt ein ähnliches Muster: So wurde in Sachsen-Anhalt erst, nachdem 2013 massive Hochwasserprobleme mit katastrophalen Folgen auftraten, ein umfangreiches Förderprogramm zum Hochwasserschutz für Städte und Gemeinden aufgelegt, das von 2016 bis 2020 insgesamt 20 Mio. Euro bereitstellt. Die Gefahren möglicher Hochwasser waren jedoch bereits zuvor bekannt – erst als das Ereignis eintrat und massive ökonomische Folgen für viele Betroffene hatte, wurde es auch politisch relevant und für die LandespolitikerInnen zu einem wählerstimmenwirksamen Thema, das eine öffentlichkeitswirksame Lösung erfordert

  • Damit ganz allgemein Probleme auch aufgegriffen werden, müssen sie sich zu einer politischen Profilierung der Akteure eignen. Je komplizierter aber die Problemstruktur und je stärker die Betroffenheit manifester gesellschaftlicher Interessen, „desto weniger neigen die politischen Handlungsträger dazu, diese Themen überhaupt aufzugreifen. So strukturierte Themen lasen sich nicht so gut öffentlich kommunizieren und erschweren das Übermitteln klarer Botschaften über die eigenen Organisationsziele“. Das in Kapitel 3.3 genannte Beispiel des Bodenschutzes als persistentes umweltpolitisches Problem ist dafür ein gutes Beispiel

  • Probleme werden zudem nicht unabhängig davon definiert, ob es für sie eine Lösung gibt, denn Probleme ohne Lösungen (oder ohne einfache Lösungen) sind politisch nicht gut zu vermitteln. Ein Beispiel sind die persistenten Umwelprobleme, also diejenigen Probleme, die z.T. gerade unthematisiert bleiben, weil bei ihnen die herkömmlichen, sektoralen, technikorientierten Mittel nicht greifen. Auch Probleme, die zu ihrer Behebung eine umfassende Veränderung von Lebensstilen erfordern (man denke nur an die verschiedenen Lebensmittelskandale), werden eher nicht thematisiert. Wenn Nicht-Thematisierung solcher Probleme nicht mehr möglich ist, kann es zu symbolischer Umweltpolitik kommen. Diese ist immer dann wahrscheinlich, wenn das Problem kompliziert und der Problemdruck groß ist, gesellschaftliche Interessen konfligieren und es keine einfachen Lösungen gibt

  • Die Definition von Problemen und entsprechenden Problemlösungen verläuft aber ebenfalls nicht linear, sondern höchst widersprüchlich und eigendynamisch. So werden wissenschaftliche Erkenntnisse häufig nur dann von politischen Akteuren aufgenommen, wenn sie sich von ihnen Vorteile im politischen Prozess erhoffen. Zudem existieren oft mehrere wissenschaftlich begründbare Problemlösungen, die paradoxerweise nicht zu einer größeren und gesicherten Wissensbasis, sondern zu einer größeren Unsicherheit bei politischen Akteuren führen können. Außerdem können einstige Problemlösungen zu neuen Problemen werden, die sogar wieder zu neuen Problemlösungen transformieren können.

  • Das Beispiel Kernenergie macht dies abermals deutlich: Einst als Technik zur Sicherung der Energieversorgung betrachtet, wurde Kernkraft nach Tschernobyl zunehmend als Sicherheitsproblem und im Kontext von Ausstiegsszenarien diskutiert. In Zeiten des Klimawandels wurde Kernkraft zwischenzeitlich wieder eine politisch diskutierte Problemlösung, zumindest um als CO2-arme Energiequelle für eine Übergangszeit vor dem Umstieg auf erneuerbare Energien zu dienen. Mit Fukushima rückte diese Sichtweise wieder in den Hintergrund. Gerade dieses Beispiel macht deutlich, wie sich politische Probleme und ihre Bewertung in den Augen der politischen Akteure angesichts sich verändernder Problemstrukturen dynamisch verändern: von rein sachrationaler politischer Problemlösung keine Spur.

  • Auch verfügbare Alternativen politischer Maßnahmen verhalten sich in einer Weise eigendynamisch, die oft relativ unabhängig von den politisch definierten Problemen ist. Dies kann man insbesondere auf der Ebene umweltpolitischer Instrumente erkennen: Bestimmte Instrumente werden von manchen stark favorisiert, von anderen kategorisch abgelehnt. Zwar hat sich insgesamt in den letzten 20 Jahren das Spektrum möglicher Maßnahmen deutlich erweitert, nicht zuletzt durch die Realisierung von Instrumenten, die zuvor lange Zeit nur in ökonomischen Lehrbüchern zu finden waren, sowie auch durch die systematische Evaluation von Instrumenten, die auch das Lernen innerhalb von Ländern und über Ländergrenzen hinweg erlaubte. Hierbei spielten u.a. auch die EU und die OECD eine wichtige Rolle. Allerdings müssen Instrumente, um tatsächlich ausgewählt zu werden, durch zwei „Filter“ gelangen, einen institutionellen und einen ideologischen Filter.

  • Der institutionelle Filter wurde bereits erwähnt: Es gibt (nicht nur im deutschen Regierungssystem) institutionelle sehen Regierungssystem) institutionelle Schranken für bestimmte Instrumente und Maßnahmen, wie etwa verfassungsmäßige Schranken für bestimmte Abgaben oder für solche Maßnahmen, die in das Eigentum (oder andere Grundrechte) Dritter eingreifen. Auch die EU lehnt bestimmte Maßnahmen auf der nationalen Ebene ab, sei es, weil diese als Handelsschranke oder als Wettbewerbsverzerrung wahrgenommen werden, oder sei es, weil sie als nicht ausreichend rechtssicher für die Umsetzung von Richtlinien eingeschätzt werden

  • Unter den institutionellen Filter kann man auch das Pfadabhängigkeitsargument fassen. Insbesondere dort, wo es eine differenzierte Policy schon gibt, sind gravierende Kurswechsel mit erheblichen Kosten für die Adressaten und politischen Risiken des Scheiterns und des Glaubwürdigkeitsverlusts für die politischen Akteure verbunden. Das hat gerade in der Umweltpolitik auch viel mit der Verfestigung emotionaler und normativer Prägungen bestimmter Policy- Ansätze zu tun. Ein Beispiel ist die in Deutschland in hohem Maße emotional aufgeladene Abfallpolitik, in der es sich als besonders schwierig erwies, für neue Argumente Glaubwürdigkeit zu gewinnen. Hier haben sich Überzeugungen, die den wissenschaftlichen Stand der 1990er Jahre widerspiegeln, z. B., dass die stoffliche der thermischen Verwertung (Verbrennung) auf jeden Fall ökologisch überlegen oder dass Mehrweg- der Einwegverpackung aus ökologischer Sicht immer vorzuziehen sei, erheblich verfestigt.

  • Neue Erkenntnisse, z. B. dass bei vollständiger Berücksichtigung aller ökologischen Kosten manche Einwegverpackungen ökologisch weniger schädlich sind als Mehrweggebinde oder bei Abfällen mit hohem Brennwert eine thermische Verwertung ökologisch ebenso sinnvoll sein kann wie Stoffrecycling, ließen sich daher nur schwer in Maßnahmen umzusetzen, was aus einer Problemlösungsperspektive nicht erklärbar ist. Allerdings ist Pfadabhängigkeit nicht immer ein schlagendes Argument. Insbesondere wenn die Veränderungsimpulse von der Europäischen Union oder aus dem internationalen Kontext kommen, sind Pfadwechsel durchaus möglich.

  • Der ideologische Filter bezieht sich auf die Kompatibilität von Instrumenten mit bestimmten Ideologien (oder, etwas weicher formuliert: Diskursen). So hatten wir bereits ausgeführt, dass Instrumente immer auch eine symbolische Dimension enthalten. Wie schon erwähnt, lehnten Umweltverbände und Grüne ökonomische Instrumente lange ab, weil diese umweltschädliches Verhalten nicht verbieten, sondern vielmehr zum Gegenstand betriebswirtschaftlichen Kalküls machen. Dass gerade dieser Umstand diese Instrumente (zumindest im Idealfall) besonders treffsicher macht, haben diese Akteure lange Zeit übersehen.

  • In neuerer Zeit wird, wie schon erwähnt, der Handel mit Emissionszertifikaten auch als „Ablasshandel“ kritisiert, da sich hier Unternehmen Verschmutzungsrechte kaufen und sich so von ihren „Sünden“ freikaufen können. Ähnlich werden freiwillige Instrumente von Liberalen grundsätzlich bevorzugt, weil sie mit relativ wenig Intervention einhergehen. Diese ideologische Dimension ist im Zeitverlauf aber stark wandelbar. So war der Deregulierungsdiskurs Mitte der 1990er Jahre relativ einflussreich auf die deutsche Umweltpolitik und hat „weiche“ umweltpolitische Instrumente eher befördert, „harte“ hingegen herausgefiltert

  • Tatsächlich spielt auch bei Wirtschaftsakteuren Ideologie eine wichtige Rolle. So zeigen empirische Studien, dass Unternehmen und Wirtschaftsverbände häufig bestimmte Maßnahmen bevorzugen und andere ablehnen, und zwar ohne die genauen Kosten zu kennen, die die eine oder andere Maßnahmen mit sich bringen würde. Darüber hinaus sind, wie bei Kingdon angesprochen, Fragen der technischen Machbarkeit wichtig. Wichtig ist im Übrigen auch die diskursive Rahmung einer Maßnahme. So können die gleichen Programmvorhaben mit identischen Regelungsinhalten thematisch unterschiedlich „gerahmt“ werden und damit unterschiedliche Profilierungseffekte erzielen: Beispielsweise macht es einen Unterschied, ob der Ausstieg aus der Atomenergie als ein Diskurs über den Einstieg in eine neue Energieform geführt wird oder als reiner Ausstiegsdiskurs

  • Dass politische Maßnahmen nicht ohne weiteres als Mittel zum Lösen von Problemen verstanden werden sollten, zeigt sich auch an der sogenannten „symbolischen Gesetzgebung“, mit der sich insbesondere die Umweltpolitikforschung schon seit einiger Zeit beschäftigt. Hiermit sind nicht Maßnahmen gemeint, die trotz guter gesetzgeberischer Absicht die Ziele nicht vollständig erreichen, sondern vielmehr solche Maßnahmen, die „vom Gesetzgeber wider besseres Wissen verabschiedet werden“ . Solche Maßnahmen dienen in – jedenfalls für den Insider – erkennbarer Weise nicht dem Lösen bestimmter Umweltprobleme, sondern vor allem dem Erzeugen eines Eindrucks in der Öffentlichkeit, dass etwas „getan“ wird. Das von Newig entsprechend analysierte Ozongesetz von 1995 ist ein Beispiel hierfür: die ambitionierten Ziele des Gesetzes waren von Vornherein nicht durch materielle Regelungen unterfüttert

  • In Kap. 5 hatten wir ausgeführt, dass Institutionen eher zu Kontinuität als zu Wandel in der Policy beitragen. Gleichwohl verhalten sich auch Institutionen als Einflussfaktoren im politischen Prozess eigendynamisch im von uns hier beschriebenen Sinne: Sie rufen nicht nur lineare Anpassungsreaktionen hervor im Sinne der Lösung eines Problems. Diese verkürzte Sichtweise ist beispielsweise in der frühen Europäisierungsforschung oft verwendet worden, so als gehe es bei der Umsetzung von Richtlinien in den Mitgledstaaten immer nur um richtige Umsetzung im Sinne von „Compliance“. Tatsächlich geht es gerade bei der Umsetzung von Richtlinien in den Mitgliedstaaten häufig darum, z.B. die Anpassungskosten gering zu halten oder einen eigenen Regelungsansatz zu „retten“.

  • An verschiedenen Stellen dieses Bandes wurde zudem auf eine andere „Eigenheit“ der Auswirkung von Institutionen hingewiesen: Ihre möglichen Effekte, oder sagen wir ruhig „Risiken“ für bestimmte Projekte sind meist unklar. Wie sich Verfassungsinstitutionen, wie z.B. die Eigentumsgarantie im Grundgesetz oder die Binnenmarktnorm im EU-Vertrag, tatsächlich auswirken, weiß man in der Regel erst nach Entscheidungen von Gerichten, vorher herrscht Rechtsunsicherheit als Bedingung für politisches Handeln. Gerade deshalb provozieren Institutionen Ausweichreaktionen, sogenannte „Evasion“ . Das haben wir auf der nationalen Ebene beobachtet, wo, wie weiter oben erwähnt, 2000 die rot-grüne Bundesregierung (nicht nur, aber vor allem) den Atomausstieg im Konsens statt durch hierarchische Intervention realisierte, weil sie das aus der Institution der Eigentumsgarantie des Grundgesetzes (Art. 14) resultierende Risiko eines Entschädigungsanspruchs der Energiekonzerne vermeiden wollte.

  • Ebenso entschied sich die Bundesregierung v.a. in den 1980er und frühen 1990 Jahren angesichts des (realen, aber im Einzelnen unklaren) Risikos, mit nationalen Produktverboten gegen das Recht des europäischen Binnenmarktes zu verstoßen (während die EG zu dieser Zeit noch nicht in der Lage war, eigene Produktregulierungen zu verabschieden), für „weiche“ kooperative Lösungen zum Ausstieg etwa aus der Nutzung bzw. Herstellung von Asbest, PCP, FCKW und auch zur Regelung der Entsorgung von Batterien (Töller 2012). Einen ganz ähnlichen Mechanismus hatten wir auch in Kap. 5.5 angesprochen: Angesichts des realen, aber letztlich unklaren Risikos, dass nationale Importrestriktionen für Tropenholz gegen das Freihandelsregime verstoßen und daher vor dem der WTO-Schiedsgericht scheitern würden, und zugleich der Unfähigkeit der internationalen Gemeinschaft, sich im Rahmen der UN auf eine Waldkonvention zu einigen, forcierten verschiedene Kräfte (Umweltverbände ebenso wie Nationalstaaten) Anfang der 1990er Jahre die Schaffung freiwilliger Zertifizierungssysteme .

  • Auch Institutionen wirken also auf eigendynamische Weise auf politische Prozesse ein, die nicht vorrangig oder jedenfalls nicht alleine auf die Lösung ökologischer Probleme abzielt. Allerdings wirken Institutionen, indem sie beeinflussen, wie Akteure ihre Optionen wahrnehmen. Die Entscheidung, etwa über Evasion oder Nicht-Evasion, treffen letztlich die Akteure, und deren Einschätzung kann sowohl zwischen Regelungsbereichen als auch im Zeitverlauf variieren. So entschied sich die Bundesregierung in der Stoffregulierung in vielen Fällen für die „Evasion“ in kooperative Regelungen, im Fall der PCP-Regulierung aber für Konfrontation: die PCP-Verbotsverordnung von 1987 geriet ins EG-Notifizierungsverfahren und schlussendlich vor den EuGH. Im Falle des Atomausstiegs maß die Bundesregierung 2011 – unter dem Eindruck von Fukushima – der Problematik des Eigentumsschutzes deutlich weniger Bedeutung zu als eine andere Bundesregierung 10 Jahre zuvor.

  • Die von uns benannten Faktoren spielen also in einer Weise zusammen, die nicht in erster Linie an Problemlösung orientiert ist, sondern die stark von den Eigendynamiken der Faktoren bestimmt wird. In der Tat öffnen sich dann politische Gelegenheitsfenster in eher unvorhersagbarer Weise, wenn ein für dringlich erachtetes Problem, eine durch den institutionellen und den ideologischen Filter gerutschte Maßnahme und Akteure zusammentreffen, die sich von diesem Problem und dieser Maßnahme irgendetwas versprechen (das kann, muss aber nicht Problemlösung sein).

  • Kompliziert wird die Sache auch dadurch, dass politische Prozesse oft nicht einmal durch ein unumstrittenes und klares Problem charakterisiert sind. Außerdem kann auch umstritten sein, was übehaupt das Problem (und was die Lösung) ist. In vielen politischen Prozessen verfolgen verschiedene Akteure mit unterschiedlichen Problemen oder Programmen auch unterschiedliche Ziele, so dass es zu einer Gemengelage verschiedener und durchaus konfligierender Problembündel und Zieloptionen kommt. Manche Akteure verfolgen sogar eine „hidden agenda“, also Ziele, die u.U. nicht einmal unter Bezug auf Gemeinwohlaspekte offen vertreten werden können.

  • Zusammengefasst stellt der von uns vorgeschlagene Ansatz eigendynamischer politischer Prozesse einen Analyserahmen für die Umweltpolitik dar, der umweltpolitische Policies als Phänomene erfasst, die abhängig sind vom Zusammenspiel der im umweltpolitischen Prozess beteiligten Akteure und ihren Handlungen, die wiederum wechselseitig beeinflusst werden durch Institutionen, verfügbare (Instrumenten-)Alternativen, Problemstrukturen und situative Aspekte. All diese erklärenden Faktoren haben wir in diesem Lehrbuch zu erläutern versucht. Wir haben dargestellt, welche Besonderheiten diese Faktoren aufweisen und welchen Beitrag ihre Untersuchung zur Beschreibung und Erklärung umweltpolitischer Prozesse leistet.

  • Mit diesem Analyserahmen verbunden ist ein Plädoyer für eine nüchterne bzw. eine „positive“ Analyse der Umweltpolitik im Sinne der analytischen Wissenschaftstheorie, um „normativ bedingte Fehleinschätzungen und Vorurteile zu vermeiden und zu verhindern. Natürlich sind normative Aussagen zur Umweltpolitik wichtig, sie gehören aber für uns nicht in den Fokus einer politikfeld- analytischen Betrachtung. Vielmehr kann die Analyse in diesem Sinne zu Ergebnissen führen, aus denen umweltpolitisch interessierte Leserinnen und Leser oder umweltpolitische Akteure ihre normativen Vorstellungen zur Umweltpolitik entwickeln.

  • Daher gehen wir auch davon aus, dass es in der Realität politischer Prozesse eben nicht nur darum geht, aus normativer Sicht wünschenswerte umweltpolitische Problemlösungen zu erzeugen. Vielmehr sorgt die Eigendynamik politischer Prozesse und der verschiedenen relevanten Faktoren dafür, dass erstens politische Problemlösungen nicht zwangsläufig erzeugt werden müssen und zweitens, dass umweltpolitische Prozesse nicht linear verlaufen und steuerbar sind. Häufig kommen als „sinnvoll“ erachtete umweltpolitische Maßnahmen nur nach Umwegen oder jahrelangem Hin und Her im politischen Prozess zustande, häufig existieren Lösungen länger, als das umweltpolitische Problem politisch identifiziert und diskutiert wird. Und mit vielen „Lösungen“ werden Ziele verfolgt, die nicht in erster Linie mit Problemen zu tun haben. Das sind aber eben keine Zeichen politischer Irrationalität, sondern ist vielmehr gerade politischen Logiken, also der politischen Sachrationalität, wie wir sie verstehen, geschuldet.

  • Unser Anliegen ist es, den Blick auf diese Eigenheiten (umweltpolitischer) Prozesse zu lenken und Faktoren und Aspekte zu benennen, die einzeln oder im Zusammenspiel auf ihre Wirkungen für den umweltpolitischen Prozess und Umwelt-Policies hin empirisch untersucht werden können. Wie der umweltpolitische Prozess tatsächlich verläuft bzw. verlaufen ist, stellt dann eine Frage dar, der empirisch nachgegangen werden muss. Wir hoffen, mit unserem Ansatz eigendynamischer Prozesse (AEP) dazu einen geeigneten und für konkrete empirische Untersuchungen fruchtbaren Rahmen zu liefern.


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Maya G.

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