-Rechtsstaatlichkeit stellt sicher, dass Entscheidungen politischer Entscheidungsträger der Kontrolle unabhängiger Gerichte unterstellt sind
-Aber: richterliche Entscheidungen des Gerichtshofs immer auch in einem politischen Kontext zu sehen – gerade in einer Rechtsordnung wie der europäischen (noch sehr neu) (Sichtweise Supranationalismus bzw. Institutionalismus):
-Ein/e Richter_in pro Mitgliedsstaat = 27
-1952 im Vertrag von Paris begründet – sitzt in Luxemburg
-Ernannt durch einstimmigen Beschluss der Regierungen für 6 Jahre (Wiederernennung möglich); alle drei Jahre Hälfte der Richter neu ernannt
o Meist keine polarisierenden Persönlichkeiten
-Unabhängig, aber seine Entscheidungen sind im politischen Kontext zu sehen
-Generalanwält_innen machen nach mündlicher Verhandlung Vorschlag für ein Urteil
-Entscheidungen mit einfacher Mehrheit: abweichende Meinungen werden nicht aufgezeichnet (Unterschied bspw. zum Supreme Court)
-Mitgliedsstaaten sind für korrekte Umsetzung von EU-Richtlinien verantwortlich – wozu die MS innerhalb eines bestimmten Zeitraums zu verpflichtet sind
-Kommission überwacht die Umsetzung von EU-Recht (als Hüterin der Verträge)
o Staaten haben Zeit diese Richtlinie umzusetzen
o Kommission prüft dies – teils sehr aufwendig
-Möglichkeit eines „Vertragsverletzungsverfahrens“: Kommission leitet es ein, Zusammenarbeit mit Gerichtshof
o Selten aber: auch Mitgliedsstaaten können Verstöße geltend machen
-Mögliche Probleme bei Umsetzung von EU-Richtlinien
o Fehlende Mitteilung des Mitgliedsstaates
o Unvollständige oder inkorrekte Umsetzung in nationales Recht (absichtlich o. unabsichtlich
-Vertragsverletzungsverfahren erfolgen erst nach Prüfung durch Kommission → Ermessensspielraum!
-EU-Kommission darf weiterhin Verfahren gegen UK anstrengen – aufgrund eines Zusatzes im Austrittsprotokoll (Nordirlandprotokoll)
-Ineffizienz nationaler Bürokratie?
-Aber: Vertragsverletzungsverfahren erfolgen erst nach Prüfung durch Kommission. Ermessensspielraum. Strategisches Verhalten der Kommission und des Gerichtshofs gegenüber bestimmten Mitgliedsländern? (Vorwurf EU-skeptischer Regierungen)
o Institutionalismus: Supranationale Akteure berücksichtigen Präferenzen der Mitgliedsländer
o Schwieriger für Kommission und für Gerichtshof gegen einzelne Mitgliedsstaaten zu entscheiden, wenn alle anderen MS diesen unterstützen (oder auch hier – wie im Fall Polen-Ungarn – strategische Partnerschaften bestehen)
-Nichtigkeitsklage: Kläger beantragt Nichtigkeitserklärung einer Handlung eines EU-Organs, wegen Unrechtmäßigkeit
-Klagen können von den Mitgliedstaaten, den Organen selbst und von jeder natürlichen oder juristischen Person erhoben werden
Beispiel
-Wichtigstes und häufigstes Verfahren vor dem EuGH:
-Nationale Gerichte haben die Möglichkeit, dem EuGH direkt (z.B. an den nationalen Verfassungsgerichten vorbei) Fragen zur Vereinbarkeit von nationalem Recht mit europäischem Recht vorzulegen – kann als auch vom NRW-Landesgericht angerufen werden
-Auswirkungen von Vorabentscheidungen
o In der Praxis sind die Vorabentscheidungen sehr spezifisch und werden umgesetzt: regionale Gerichte können sich so national profilieren, da nationale Gerichte umgangen werden
o Signifikant und relevant für die Entwicklung von EU-Recht und Konstitutionalisierung der EU (mehr als internationale Organisation) – da eben sogar kleine Gerichte das EU-Recht prägen können
-Ablauf
o 1. Klage vor nationalem Gericht
o 2. Nationales Gericht reicht Rechtsfrage weiter an EuGH
o 3. Auslegung durch den EuGH
o 4. Weiterleitung der Ergebnisse zurück an nationales Gericht
o 5. Urteilsverkündung im spezifischen Fall am nationalen Gericht unter Berücksichtigung der EuGH-Auslegung
o Einzelpersonen können EU-Recht direkt einklagen.
o Direkte Durchgriffswirkung von Gemeinschaftsrecht
o „Jeder kann sich also auf die in dem EG-Vertrag enthaltenen Rechte berufen”
o Präzedenz-Fall: Van Gend en Loos gegen die Steuerbehörden der Niederlande.
§ Das Unternehmen wollte Formaldehyd aus Westdeutschland einführen und wurde mit einem Einfuhrzoll belegt.
§ Das Unternehmen sah einen Verstoß gegen den Vertrag von Rom, aber die Steuerbehörde argumentierte, dass der Vertrag von Rom keine individuellen Rechte für Personen oder Unternehmen vorsehen.
§ Das mit den Fällen befasste nationale Gericht ersuchte den EuGH um eine Entscheidung, und der EuGH stellte eindeutig fest, dass die Verträge den Bürgern und Unternehmen sehr wohl direkte Rechte verleihen
o „Durch die Gründung einer Gemeinschaft für unbegrenzte Zeit […] haben die Mitgliedstaaten ihre Souveränitätsrechte beschränkt und so einen Rechtskörper geschaffen, der für ihre Angehörigen und sie selbst verbindlich ist.“
§ Der italienische Staatsbürger Herr Costa besaß Aktien eines Elektrounternehmens Edisonvolta, das später verstaatlicht wurde. Der Fall ist als Costa vs ENEL bekannt.
§ Herr Costa, der die Verstaatlichung von Unternehmen ablehnte, argumentierte vor einem italienischen Gericht, dass dies gegen den Vertrag von Rom verstoße. Das italienische Verfassungsgericht argumentierte, dass sich Herr Costa nicht auf den Vertrag von Rom berufen könne, da dieser zeitlich vor dem Gesetz zur Verstaatlichung liegt.
o Der EuGH entscheidet:
§ Der Vertrag von Rom erlaubtes einzelnen Bürgern nicht, gegen die Verstaatlichung des Energiesektors zu klagen, dies kann nur die Kommission tun – Costa hat verloren ABER EuGH entscheidet damit praktisch nebenbei
§ Der Vertrag von Rom hätte Vorrang vor dem italienischen Recht gehabt, auch wenn dieses nach dem Vertrag verfasst wurde.
==> Entscheidungen einzelner Gerichte können extrem große Macht, Reichweite und Einfluss haben
-Die unmittelbare Wirkung und der Vorrang des EU-Rechts sind die Grundpfeiler der EU-Rechtsstruktur. Sie sind jedoch nicht in den Verträgen verankert.
-Sie verwandelten eine internationale Organisation in ein föderales politisches System.
-Aus dem Urteil des EuGH:
o "Aus all diesen Erwägungen folgt, dass das aus dem Vertrag stammende Recht, eine eigenständige Rechtsquelle, wegen seines besonderen und originären Charakters nicht durch innerstaatliche Rechtsvorschriften, wie auch immer sie ausgestaltet sein mögen, außer Kraft gesetzt werden kann, ohne dass es seinen Charakter als Gemeinschaftsrecht verliert und ohne dass die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt wird." – Gemeinschaft kann sonst nicht als Rechtsgemeinschaft funktionieren
-Intergouvernementalismus: Gerichtshof als Agent der MS - begrenzt
o MS akzeptieren Urteile, so lange diese in ihrem politischen und wirtschaftlichen Interesse sind
o Beispiel: Deutschland akzeptiert Cassis de Dijon Urteil (Verwirklichung des Binnenmarktes schreitet voran, obwohl ein kleiner Sektor der Wirtschaft negativ vom Urteil betroffen ist) – wegen allgemeiner Vorteile der Integration des Binnenmarktes
o MS ignorieren Urteile, die nicht ihren Interessen entsprechen
-Supranationalismus: Gerichtshof als Motor der Integration
o Gerichtshof als Motor der Integration
o Gerichtshof muss sich auf pro-europäische Kläger verlassen (z.B. multinationale Firmen)
o Subnationale Gerichte als Alliierte des Gerichtshofs: Vorabentscheidungsverfahren um eigene Rolle im nationalen politischen Prozess zu stärken
o Aber: keine konsistente pro-europäischen Urteile – Theorie enthält also durchaus Widersprüche
o Urteile politisch schwer zu revidieren (Einstimmigkeit / qualifizierte Mehrheit für Rechtsänderungen)
-Institutionalismus: Aktivismus des Gerichtshofs
o Prinzipal-Agenten Logik – Gerichtshof sollte mehr Handlungsspielraum haben, wenn Mitgliedsstaaten selbst im Rat blockiert sind (viele Vetospieler, Konflikte zwischen den Mitgliedsstaaten, Einstimmigkeit)
o EuGH als strategischer Akteur, der integrationsfreundliche Urteile fällen kann.
o “Legislative gridlock in the Council facilitated Court activism because only treaty revisions could rein in the Court. The freedom of the Court to interpret the Rome Treaty was thus the primary force propelling European integration during the Luxembourg compromise.“ – Garrett and Tsebelis (2001)
-1. Wer entscheidet über die Grenzen der Kompetenz der EU?
o Zum ersten Mal wurde eine Handlung einer EU-Institution (EZB) vom Bundesverfassungsgericht für nichtig, aber vom EuGH für legal erklärt
o BVerfG behauptet, dass jede Handlung, die seiner Ansicht nach außerhalb der Zuständigkeit der EU (ultra vires) liegt, als in Deutschland nicht anwendbar erachtet werden kann
o Problem: keine europäische Rechtsordnung, wenn alle nationalen Gerichte EU-Entscheidungen für nichtig erklären können
-2. Wie könnten Mitgliedsstaaten stattdessen reagieren?
o Nationale Gerichte könnten an eigenes Mitgliedsland appellieren, im Rahmen des EU-Gesetzgebungsprozess darauf hinzuwirken das betreffende EU-Gesetz zu ändern
o Nationale Verfassungen anpassen
o Exit
-3. Entscheidung könnte andere nationale Gerichte dazu ermutigen, Autorität des EuGH anzufechten (Polen? Ungarn?)
==> Reaktion der Komission
o Leitet Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland ein, stellt dieses aber im Dezember 2021 ein:
o "Die Bundesregierung habe überzeugend dargelegt, dass Deutschland den Vorrang des EU- Rechts und das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit anerkenne"
==> Frage wie BR das sicherstellen will, da sie selbst keinen Einfluss auf das BverfG hat
Zuletzt geändertvor 5 Monaten